Historical Saison Band 107

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

ZWEI ROMANE VON CHRISTINE MERRILL

EIN GEFÄHRLICH VERFÜHRERISCHER BESCHÜTZER

Lady Olivia sollte Michael Solomon hassen – nicht begehren! Schließlich ist der aufdringliche Detektiv von ihrem überfürsorglichen Bruder beauftragt, auf Schritt und Tritt auf sie aufzupassen. Aber warum flirtet er deshalb so verführerisch mit ihr? Statt nach ihrer Freiheit verzehrt sie sich plötzlich ungewollt nach Michaels Küssen …


LADY RACHEL UND DER DUKE

Nie hat Lady Rachel die zärtlichen Berührungen des Duke of Scofield vergessen. Als sie ihren heimlichen Geliebten nach zwei Jahren erstmals wiedertrifft, fühlt sie sich sofort erneut zu ihm hingezogen. Doch obwohl auch seine Augen bei ihrem Anblick vor Verlangen glänzen, weist er sie jäh zurück. Was verbirgt er vor ihr?


  • Erscheinungstag 20.04.2024
  • Bandnummer 107
  • ISBN / Artikelnummer 8090240107
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Christine Merrill

HISTORICAL SAISON BAND 107

1. KAPITEL

Michael Solomon stieg die Treppe in seinem Haus an der Gracechurch Street hinab, hochzufrieden mit dem erfreulichen Morgen und seinem Leben im Allgemeinen.

So fühlte er sich oft, wenn er eine neue Stellung antrat und seinem Erfolg vertraute. Morgen nach dem Dinner würde ihm ganz anders zumute sein, wenn er einen ganzen Tag lang die Dummheiten der Aristokratie verkraftet hatte. Aber zumindest vorerst war die Welt noch in Ordnung.

In heiterer Stimmung betrat er das Frühstückszimmer und küsste die Wange der Frau, die ihn am Tisch erwartete. „Guten Morgen, Mama.“

Strahlend lächelte sie ihn an und schenkte ihm Kaffee ein. „Hast du gut geschlafen, mein Lieber?“

„Danke, sogar ausgezeichnet.“ Michael erwiderte das Lächeln und häufte Rühreier mit Schinken auf seinen Teller.

„Das beruhigt mich. Zweifellos ist es vorteilhaft, wenn man eine neue Aufgabe ausgeruht und gestärkt übernimmt.“ Die Fingerspitzen aneinandergelegt, beugte sie sich eifrig vor. „Worum geht es denn diesmal? Wirst du Juwelendiebe jagen? Erpressern das Handwerk legen? Französische Schmugglerbanden aufspüren?“

Seufzend schüttelte er den Kopf. Seine Mutter würde nie begreifen, dass die Klienten eines Privatdetektivs absolute Diskretion erwarteten. Natürlich durfte er niemanden über ihre Probleme informieren.

„Nichts ist so aufregend, wie du dir’s ausmalst“, erwiderte er. „Ich werde die Stellung eines Leibwächters antreten und eine Erbin betreuen.“ Diese Erklärung ließ die Arbeit interessanter erscheinen, als sie wahrscheinlich verlaufen würde. Der jungen Lady drohten minimale Gefahren, ausgenommen jene, die sie selbst heraufbeschwören würde.

„Ist sie sehr hübsch?“ Fasziniert hob Michaels Mutter die Brauen.

„Keine Ahnung, ich habe sie noch nicht kennengelernt.“ Wahrscheinlich war sie hübsch. Nach seiner Erfahrung wirkten sich genug Geld und ein Adelstitel sogar auf die äußere Erscheinung hässlicher Mädchen vorteilhaft aus. Doch das kümmerte ihn nicht. In solchen Dingen musste er sich keine Meinung bilden, und er durfte auch keine Gefühle für Frauen hegen, die er nicht erobern konnte.

„Und warum braucht sie einen Leibwächter?“, erkundigte sich Mama. „Droht ihr eine Entführung?“

Resignierend gab er sich geschlagen. „Sie hat sich mit einem unpassenden Mann eingelassen, und die beiden dürfen nicht durchbrennen. Das soll ich verhindern.“

„Oh …“ Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. „Warum übernimmst du eine so schreckliche Aufgabe und stellst dich junger Liebe in den Weg?“

„Irgendwer muss es tun“, entgegnete er und verhehlte seine Verblüffung, weil ausgerechnet Mama am Sinn seiner neuen Tätigkeit zweifelte.

„Vielleicht ist das die einzige Chance der jungen Dame auf eine glückliche Zukunft. Und es wäre so romantisch, wenn sie mit ihrem Liebsten davonläuft …“

„Eher töricht. Sie ist die Schwester eines Dukes, und er wird entscheiden, wen sie heiraten soll. Vermutlich ist der betreffende Mann ihrer nicht würdig. Sonst würde ihr Bruder ihn nicht so entschieden ablehnen.“

„Ah, die Schwester eines Dukes!“ Begeistert stürzte sie sich auf diese Information, die er unwillkürlich ausgeplaudert hatte. „Mal sehen … Wer hat eine heiratsfähige Schwester? Exeter? Norfolk?“

„Die Identität meiner Klienten erörtere ich nicht gern, das weißt du“, betonte er und versuchte sich auf sein Frühstück zu konzentrieren.

„Folbroke ist Einzelkind, Felkirk hat einen Bruder.“

„Warum wirst du nicht Privatdetektivin, Mama? Sicher wärst du viel erfolgreicher als ich.“ Michael biss in einen Toast, um zu bekunden, er sei außerstande, weitere Fragen zu beantworten.

„Sag bloß nicht, es ist Hugh Scofield!“ Aufmerksam beobachtete sie sein Gesicht, um seine Reaktion zu erkunden. „Er ist es, nicht wahr? Ach, du meine Güte!“

Um zu kapitulieren, schwenkte er seine Serviette und kaute weiter.

„Also tatsächlich … Für so einen Mann solltest du nicht arbeiten. Angeblich hat er seinen Vater erstochen, dann ohne einen einzigen Trauertag das Erbe und den Sitz im Parlament übernommen.“

„Nur weil ganz London ein Gerücht kennt, muss es keineswegs der Wahrheit entsprechen.“

Nach allem, was Michaels Recherchen vor seiner Akzeptanz dieses Auftrags ergeben hatten, war der alte Duke ermordet worden. Der neue war schwarz gekleidet zum Begräbnis erschienen. Ansonsten hatte er kein Bedauern über den Verlust gezeigt.

Doch der Mangel an Tränen war kein stichhaltiger Beweis, und es gehörte nicht zu Michaels Aufgaben, Spekulationen anzustellen. „Sorg dich nicht um mich, Mama. Als ich den Mann kennenlernte, erschien er mir nicht mörderischer oder wahnsinniger als die anderen Aristokraten, die mir begegnet sind. Und er wird mich wohl kaum töten, weil ihm diese Tat keinen Gewinn brächte.“

Er hatte die Stimmung auflockern wollen, aber sein Humor verfehlte die erhoffte Wirkung. Missbilligend runzelte seine Mutter die Stirn. „Nun sollst du die Liebe seiner Schwester zerstören, die nur eins will – weg von diesem grässlichen Mann!“

„Schätzungsweise hat er einen geeigneten Bräutigam für seine Schwester ausgesucht. Er ist immerhin ihr Vormund und fühlt sich verpflichtet, ihre Heirat mit dem falschen Mann zu verhindern.“

Ihre Augen verengten sich. „Zweifellos hast du den Auserwählten, mit dem sie weglaufen will, unter die Lupe genommen. Was stimmt denn nicht mit ihm?“

„Soweit ich es feststellen konnte, ist er ein ehrbarer Gentleman“, antwortete Michael achselzuckend. „Aber ich muss ihn nicht beurteilen, solange Scofield mich bezahlt. Und es ist meine Aufgabe, die Wünsche des Dukes zu erfüllen. Also werde ich keine Kontakte zwischen seiner Schwester, Lady Olivia, und Alister Clement gestatten.“

„Vermutlich wurde die andere Schwester nicht erwähnt. Wie ich den Klatschkolumnen entnehme, ist sie seit Monaten verschwunden. Und wenn man an Hugh Scofields Leumund denkt …“

„Da sind ominöse Spekulationen überflüssig, weil es um eine andere Geschichte geht“, unterbrach Michael seine Mutter und griff nach dem Toastständer. „Wahrscheinlich bereut der Duke, dass er mich nicht schon früher engagiert hat. Und du solltest deine Zeit nicht mit den Affären der Hautevolee vergeuden“, fügte er hinzu, obwohl die Ermahnung zwecklos war. Von dieser Gesellschaftsschicht waren die Solomons weit entfernt. Deshalb verstand er nicht, warum sich seine Mutter dermaßen für die Aktivitäten von Leuten interessierte, die ihr nie begegnen würden.

Seufzend starrte sie ins Leere. „Auch ich bin mit deinem Vater durchgebrannt.“

„Das weiß ich.“

„Vor all den Jahren war’s ein Riesenskandal. John Solomon, Gott sei seiner Seele gnädig, sagte zu mir …“

„Bitte.“ Michael biss auf seine Lippen und versuchte sich gegen die Geschichte zu wappnen, die nun folgen würde. „Reden wir nicht über die Ansichten dieses Mannes. Da ich ihn nicht kennengelernt habe, würden sie mir nichts nützen.“

Seine Mutter seufzte wieder. Das klang so traurig, dass er seine Ungeduld bereute. „Außer seinen Ansichten hat er nichts hinterlassen, das ich dir übermitteln könnte. Nach unserer Hochzeit wurde er von seiner Familie enterbt.“

„Natürlich.“ Dank seiner Fähigkeiten vermochte Michael für den Lebensunterhalt seiner Mutter zu sorgen, denn das Phantom John Solomon hatte nichts dazu beigetragen.

„Nachdem er verschwunden war, wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte.“ Mit bebenden Fingern zog sie ein Taschentuch aus einem Ärmel und betupfte ihre Augen.

„Das hast du mir erzählt“, erwiderte er und verzichtete auf das Wort tausendmal. „Aber seither sind über neunundzwanzig Jahre vergangen.“

„Trotzdem sind jene Ereignisse so frisch in meinem Gedächtnis, als wären sie erst gestern passiert.“

Wortlos nickte er und verkniff sich einen Protest. Wären ihre Erinnerungen tatsächlich so lebhaft, würden sich die Geschichten nicht bei jeder Schilderung ändern. Zudem würde sie nicht so viele kluge Kommentare eines Mannes kennen, mit dem sie höchstens ein Jahr verbracht hatte.

Seit Michael denken konnte, erzählte sie ihm so viel über seinen Vater, dass der Eindruck einer lebenslangen Ehe entstand. Schon vor langer Zeit hatte er die rege Fantasie seiner Mutter erkannt, ihre Neigung, alles Mögliche zu erfinden. Auf diese Weise hoffte sie seine Ehrfurcht vor John Solomon zu wecken und ihm den Verlust des Vaters zu erleichtern.

Manche Männer nahmen sich ihre Väter zum Vorbild. Hingegen war Michael – von seinem Vater im Stich gelassen – stets bemüht gewesen, eigenständige Gedanken zu entwickeln, Ziele anzusteuern, die seinem Wesen entsprachen. Mochte seine Mutter auch an ihrem Leitbild namens John Solomon festhalten – für solche Illusionen hatte er keine Verwendung.

Nun lächelte sie träumerisch. „Immerhin verbindet dich etwas mit Lady Olivia. Ihr habt beide eure Väter verloren.“

„Allerdings“, stimmte er zwischen zusammengebissenen Zähnen zu und schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Mama hatte ihr Bestes getan, um ihn in einem anständigen Rahmen großzuziehen, und sie verdiente seine Dankbarkeit. Aber wenn er auch an das dumme Zeug gewöhnt war, das sie zu schwatzen pflegte – einen so haarsträubenden Unsinn hatte sie noch nie geäußert. Niemals würde die Tochter eines Dukes irgendwas mit einem Bastard gemein haben, den die Familie seines Vaters nicht anerkannte.

Lady Olivia Bethune umklammerte den Henkel eines Korbs etwas fester, als die Kutsche ihres Bruders vor einem unscheinbaren Haus in einem ebenso unscheinbaren Stadtteil hielt.

Auf der Bank gegenüber schreckte ihre Zofe Molly hoch und versuchte vorzugeben, sie wäre zwischen den beiden letzten Stationen nicht eingeschlafen.

Beschwichtigend hob Liv eine Hand und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. „Für uns beide war es ein langer Tag. Diesmal müssen Sie mich nicht ins Haus begleiten, wenn es Ihnen unangenehm ist.“

„Aber Seine Gnaden sagten …“, begann das Mädchen.

„Was mein Bruder nicht weiß, macht ihn nicht heiß“, versicherte Liv. „Und nicht einmal er würde sich beschweren, wenn ich Mrs. Wilson ohne Anstandsperson besuche. Sie ist über achtzig und fast taub. Was könnte sie mir denn antun?“

„Gar nichts.“ Bewundernd lächelte Molly ihre Herrin an. „So freundlich ist es von Ihnen, Mrs. Wilson und den anderen Witwen Körbe mit Leckerbissen zu bringen, Mylady. Meine Schwester arbeitet im Haushalt des Earl of Enderland, und seine Gemahlin ist längst nicht so großzügig wie Sie. Keinen Gedanken würde sie an die Menschen verschwenden, die das Schicksal vernachlässigt.“

„Zweifellos würde mein Bruder Hugh es vorziehen, wenn ich genauso dächte. Doch da er offensichtlich beschlossen hat, dass ich das Leben einer alten Jungfer führen soll, möchte ich mich allmählich an das Handeln einer Wohltäterin gewöhnen.“

Molly runzelte verwirrt die Stirn. „Sicher halten Sie das nicht für eine Belastung, Mylady. Ganz im Gegenteil! Nach diesen allwöchentlichen Besuchen sehen Sie geradezu glücklich aus.“

„Nun, es tut meiner Seele gut, wann immer ich diese alten Damen erfreue. Wenn ich nicht mehr hier bin, werden sie ihre Körbe weiterhin bekommen. Dafür will ich sorgen.“

„Nicht mehr hier?“, wiederholte die Zofe verständnislos.

„Natürlich meine ich – wenn ich auf dem Land bin.“ Liv lachte leise, um ihren Fauxpas zu überspielen. In Zukunft musste sie besser auf ihre Wortwahl achten. „Hugh und ich können nicht das ganze Jahr in London verbringen. Aber die Damen sollen nach meiner Abreise keine Enttäuschung erleben.“

„Ach so …“, seufzte das Mädchen erleichtert.

„Und nun möchte ich Sie nicht über Gebühr beanspruchen, Molly. Heute Nachmittag haben Sie die schweren Körbe oft genug geschleppt. Jetzt schaffe ich’s ohne Ihre Hilfe. Ruhen Sie sich aus, während ich ein Schwätzchen mit Mrs. Wilson halte. Danach fahren wir heim.“

Ehe die Zofe erneut zu protestieren vermochte, wandte Liv sich zum Wagenschlag, den der Kutscher geöffnet hatte. Den Korb in der Hand, stieg sie aus, erklomm die wenigen Eingangsstufen und klopfte an die Tür der Witwe. Sie musste sich nicht bemühen, geräuschvoll gegen das Holz zu hämmern. Denn die schwerhörige alte Frau würde sie ohnehin nicht einlassen.

Sofort schwang die Tür auf. Eine kraftvolle Hand umfasste ihren Arm und zog sie über die Schwelle. Hinter ihr wurde die Tür geschlossen und versperrt.

„Ich dachte schon, du kommst nicht.“ So wie jede Woche hatte Alister Clement in dieser Wohnung, der letzten Station ihrer Wohltätigkeitstour, auf sie gewartet. Er wollte sie umarmen und küssen, zuckte jedoch zurück, als ein Räuspern in einer Ecke des kleinen Raums erklang.

„Hier dulde ich kein obszönes Gefummel!“, erklärte Mrs. Wilson, beugte sich in ihrem Sessel vor und hob drohend einen bebenden Zeigefinger.

„Da haben Sie völlig recht, Madam“, stimmte Liv zu und entfernte sich von Alister, um ihre Sittlichkeit zu beweisen. „Niemals würden wir Sie in Verlegenheit bringen, nachdem Sie so freundlich waren, bei unseren Begegnungen als Anstandsdame zu fungieren.“ Lächelnd ging sie zu der alten Frau und drückte ihr den Korb in die Hände. „Da haben Sie etwas Kalbsfußgelee, einen Laib Brot und einen sehr guten Käse. Und einen Beutel mit Ihren Lieblingsbonbons.“ Den zweiten Beutel mit den Münzen – im Tuch verborgen, das den Stilton einhüllte – erwähnte sie nicht. Es wäre taktlos gewesen, auf die zusätzliche Bestechung hinzuweisen, die Mrs. Wilsons Schweigen garantierte.

Und sie schwieg tatsächlich. Mit einer Hand hielt sie den Korb auf ihrem Schoß fest, mit der anderen ertastete sie den Beutel mit den Bonbons, nahm eins heraus und steckte es in den Mund.

Nur leises Schmatzen störte die Stille im Zimmer. Dann ging Liv wieder zu ihrem Liebsten, umfasste seine Hand und führte ihn zu einem Sofa. Nachdem sie Platz genommen hatte, konnten sie von der Straße aus nicht mehr durch das Fenster beobachtet werden. „So lange waren wir nicht zusammen. Wie eine Ewigkeit kam es mir vor.“

„Erst letzte Woche trafen wir uns hier“, erinnerte er sie. „Bedauerlicherweise sehen wir uns seltener, seit dein Bruder sich nicht mehr auf den Hausarrest deiner Schwester Margaret konzentriert. Dagegen kann man nichts machen.“

Nach Livs Meinung ließe sich sehr wohl einiges unternehmen. Doch es stand ihr nicht zu, so etwas vorzuschlagen. Alister hofierte sie bereits über zwei Jahre lang. Seither waren sie genauso weit wie am ersten Tag von einer Hochzeit entfernt. Natürlich durfte sie ihre eigene Entführung nicht planen. Das wäre undamenhaft und undankbar, weil er sie schon so lange geduldig umwarb. Deshalb erwähnte sie diese Möglichkeit nicht. Stattdessen lächelte sie ihn schmachtend an und beteuerte: „Wenn ich dich nicht jeden Tag sehe, vermisse ich dich ganz schrecklich. Nachdem meine Schwester verschwunden ist, muss ich mich mit der Gesellschaft meines Bruders begnügen, und ich fühle mich sehr einsam.“

Alister nickte voller Mitleid und warf einen Blick in Mrs. Wilsons Richtung, bevor er Livs Hand ergriff und einen raschen Kuss darauf drückte. „Das verstehe ich. Und da du Peg endlich nicht mehr berücksichtigen musst, sehe ich keinen Grund, unsere gemeinsame Zukunft noch länger hinauszuzögern.“

„Endlich?“ Nur kurzfristig erlosch Livs liebevolles Lächeln.

„Nun …“ Halb amüsiert, halb geringschätzig runzelte Alister die Stirn. „Trotz der beklagenswerten Wahl ihres Ehemanns sollten wir froh sein, dass sie unter der Haube ist.“

„Diese Wahl erscheint ihr sicher nicht beklagenswert“, entgegnete Liv, eine dezente Schärfe in der Stimme. „Mein Bruder erlaubt mir keinen Kontakt mit ihr, weil er ihren schlechten Einfluss auf mich fürchtet. Wie ich den wenigen Informationen entnehme, die er mir verrät, ist sie sehr glücklich mit Mr. Castell verheiratet.“

„Mutmaßlich ist der Mann immer noch ein Journalist“, bemerkte Alister missbilligend. „Nicht die allerbeste Partie, die deine Schwester machen konnte, und sie gereicht der Familie Bethune keineswegs zur Ehre. Aber wenn sie zufrieden ist, sollte man’s ihr gönnen“, fügte er hinzu und rümpfte die Nase, als würde Pegs Glück den Hautgout der ungewaschenen Unterschicht verströmen.

„Jedenfalls ist sie Hughs Joch entronnen.“

„Und sie wird wohl kaum ins Scofield House zurückkehren und ihn demütig um Verzeihung bitten. Außerdem müssen wir nicht befürchten, sie könnte auf unserer Schwelle landen, wenn wir verheiratet sind.“

Liv blinzelte, von einer beängstigenden Vision verwirrt. In ihrer Fantasie erschien eine zerlumpte, verhärmte Peg, klopfte an die Tür der frischvermählten Clements und wurde abgewiesen. Dann erhellte sich ihre Miene. Sie schenkte dem Liebsten ein zärtliches Lächeln, entwand ihm ihre Hand und ließ ihre Finger über seine Weste wandern. „Wenn sich meine Schwester und mein Schwager eines Tages in der Nähe unseres Hauses aufhalten, wirst du mir gewiss nicht verwehren, sie einzuladen.“

Bevor er antwortete, entstand eine kurze Pause, und Liv gewann den Eindruck, er würde genau das beabsichtigen. Aber anscheinend wollte er die Stimmung nicht verderben, denn er antwortete: „Natürlich nicht.“

„Sehr gut.“

„Und Peg will sicher nicht bei uns wohnen“, ergänzte er – außerstande, seine Erleichterung zu verhehlen. „Ich weiß, das hast du befürchtet, weil sie sonst eurem Bruder völlig hilflos ausgeliefert gewesen wäre. Und der hätte ihr keine Saison genehmigt.“

„Eigentlich habe ich’s nicht befürchtet …“ Darauf hätte sie sich sogar gefreut. Als die Ältere hatte sie erwartet, vor Peg zu heiraten. Nur zu gern hätte sie die kleine Schwester in ihrem ehelichen Heim aufgenommen.

Doch Peg war zuerst mit ihrem Liebsten durchgebrannt – und irgendetwas hatte Livs „Entführung“ stets verhindert. Entweder war das Wetter zu schlecht für die lange Fahrt nach Schottland gewesen – nach Gretna Green, wo alle jungen Paare ohne Einwilligung der Eltern heiraten durften. Oder Alister hatte wegen dringender Geschäfte nicht verreisen können. Oder er hatte erklärt, er würde lieber noch eine Weile auf die Heiratserlaubnis ihres Bruders warten.

„Hätte es dich wirklich so sehr gestört, wenn Peg zu uns gezogen wäre?“

Diesmal zögerte er nicht, bevor er antwortete. Merkte er vielleicht, dass die Pause vorhin ein Fehler gewesen war? Wollte er den Fauxpas wiedergutmachen? „Selbstverständlich nicht. Aber am Anfang einer Ehe ist ein Hausgast eher ungünstig. Und ich hätte deine Gesellschaft nur widerstrebend mit Peg geteilt.“

Liv verzichtete auf den Einwand, Lady Margaret würde kein „Gast“ sein, sondern ein Familienmitglied. Sicher war eine Diskussion über ein Thema, das seit der Flucht ihrer Schwester keine Rolle mehr spielte, völlig sinnlos.

Alister hielt ihr Schweigen für Zustimmung, legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. „Nachdem das geklärt ist, sollten wir unsere Zukunft planen.“

Hatte er die Hochzeit bisher wegen seiner Angst hinausgezögert, Peg könnte bei ihnen wohnen? Hatte er ihre geliebte Schwester für ein lästiges Anhängsel gehalten? Das kränkte Liv, doch sie konzentrierte sich lieber auf die Tatsache, dass es nun wirklich nichts mehr gab, das eine Heirat verhinderte. Und so nickte sie lächelnd. „Falls du schon Pläne geschmiedet hast – die würden mich sehr interessieren.“

Argwöhnisch musterte er die alte Frau, die in der anderen Ecke des kleinen Raums saß und sich gerade wieder ein Bonbon in den Mund schob. Ob sie irgendetwas von dem Gespräch in ihrem Wohnzimmer gehört hatte, ließ sie sich nicht anmerken. Doch sie wirkte eher gleichgültig. Anscheinend versuchte sie nicht einmal, die Ohren zu spitzen.

Alister wandte sich wieder zu Liv und drückte ihre Hand. „Komm nächste Woche wie üblich hierher und nimm nicht nur den Geschenkkorb mit, sondern pack die Sachen, die du unbedingt brauchst, in einen zweiten. Wir schleichen durch die Hintertür aus dem Haus, mieten eine Droschke und fahren nach Schottland. Ein paar Tage später sind wir verheiratet.“

Schon so bald …

Allerdings musste sie bedenken, dass er zwei Jahre auf sie gewartet, die verächtliche Ablehnung ihres Bruders erduldet hatte. Nach Papas Tod hatte er die Trauerzeit berücksichtigt, die üblen Gerüchte ignoriert, die sich um den Verdacht rankten, Hugh hätte den Vater ermordet. Jetzt wollte er endlich mit ihr durchbrennen, und es wäre unfair, wenn sie ihn noch länger hinhielte.

Lächelnd erwiderte sie den Druck seiner Finger. „Also – dann bis nächste Woche.“

Alister nickte zufrieden und hauchte einen keuschen Kuss auf ihre Wange. „Nun musst du in deine Kutsche zurückkehren, bevor die Zofe sich fragt, was du so lange hier machst. Nächste Woche sehen wir uns wieder.“ Die ungewohnte Glut in seinem Blick gefiel ihr, beunruhigte sie aber auch ein bisschen, wie sie sich eingestand.

Um ihre Nerven zu besänftigen, holte sie tief Luft. „Je früher, desto besser.“

2. KAPITEL

Noch sechs Tage …

Nachdem sie so lange von der Heirat geträumt hatte, fühlte sie sich jetzt, fast am Ziel ihrer Wünsche, seltsamerweise wie betäubt. Sie hatte ganz andere Emotionen erwartet. Ungeduld, freudige Aufregung, so kurz vor der Flucht nach Gretna Green. Und sie hatte geglaubt, von beglückenden Fantasien beseelt, würde sie kaum Schlaf finden.

Stattdessen war sie in einen unruhigen Schlummer gefallen und immer wieder von Albträumen geweckt worden – schweißgebadet, einen Angstschrei auf den Lippen.

Warum die bösen Träume plötzlich zurückkehrten, verstand Olivia nicht. Nach der Ermordung des Vaters war sie fast jede Nacht von diesen grausigen Visionen heimgesucht worden. Jetzt, zwei Jahre später, hatten sie ihre Nachtruhe nur mehr ein - oder zweimal im Monat gestört. Erst seit Peg sie mit Hugh und den Dienstboten in dem großen, stillen Haus alleingelassen hatte, wurde sie wieder viel zu oft von den beklemmenden Träumen gepeinigt. Fast täglich erwachte sie mit der Erinnerung an ihren erstochenen Vater, wie er über dem Schreibtisch zusammengesunken war. Und das Bild wirkte so lebhaft, als hätte sie die schreckliche Realität eben erst gesehen.

An diesem Morgen war sie länger im Bett geblieben, um sich von dem Traum zu erholen, und lauschte den Schlägen der großen Standuhr in der Halle. Wie eine zum Tode Verurteilte, der ihr Leben allmählich entglitt. Sicher nur eine vorübergehende Depression. Auf der Fahrt nach Schottland würde sie sich besser fühlen. Fern von diesem Haus, ohne all die qualvollen Erinnerungen in ihrem Reisegepäck.

Livs Alltag war seit Pegs Verschwinden unerträglicher denn je. Wie in einem Gefängnis kam sie sich vor. Alle Türen ließ ihr Bruder bewachen, um unerwünschten Besuchern den Zutritt zu verwehren. Nur in Begleitung ihrer Zofe oder mehrerer Wächter konnte sie ausgehen.

Nach dem Tod des alten Dukes hatte Hugh seinen beiden Schwestern jeden gesellschaftlichen Umgang untersagt. Sie durften keine Soireen besuchen, keine Verehrer ermutigen, keine Freundschaften pflegen, alle Einladungen wurden abgelehnt. Vor diesen Einschränkungen war Peg mit dem erstbesten Mann weggelaufen, der ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Aus demselben Grund würde auch Liv die Flucht ergreifen. Außerdem musste sie das Scofield House verlassen, um sich von den bedrückenden Erinnerungen an den ermordeten Vater zu befreien.

Als verheiratete Frau würde sie viele Vorteile genießen. Niemals würde Alister ihr verbieten, einkaufen zu gehen oder Freundinnen zu besuchen. Wenn sie Mrs. Clement war, nicht nur Scofields Schwester, konnte sie sich auf Einladungen zu Bällen und Dinnerpartys freuen. Nach ihrer Trennung von dem skandalösen Bruder müsste die Hautevolee sie allmählich akzeptieren. Bald würde sie ein normales Leben führen.

Bei diesem Gedanken fühlte sie sich besser. Zu Papas Lebzeiten, bevor Hugh die Kontrolle über die Zukunft seiner Schwestern übernommen hatte, war ihr Leben normal verlaufen. Zumindest Liv, die Ältere, hatte eine Saison genossen, getanzt und geflirtet, von mehreren Gentlemen umworben. Bis der entsetzliche Mord alles geändert hatte …

Sekundenlang schienen alle Fasern in ihrem Innern zu gefrieren. Andere Erinnerungen an jene Nacht verdrängten die Gegenwart. An das Geschrei, das Blut, Hughs Hände auf ihren Armen. Energisch hatte er sie geschüttelt, um sie einer Panik zu entreißen, und sie aus dem Arbeitszimmer gezerrt, weg von der Leiche …

Liv atmete tief durch, verdrängte die Schreckensvision und stieg aus dem Bett.

Nach der Morgentoilette kleidete sie sich mit Mollys Hilfe an. Dann entließ sie die Zofe und trat ans Fenster. Während sie die grünen Zweige betrachtete, die in einer sanften Sommerbrise schwankten, besserte sich ihre Laune. In einer knappen Woche würde sie die Vergangenheit in diesem Haus zurücklassen, das jahrelang erhoffte Leben beginnen. Ihr Blick streifte das Gatter des hinteren Gartens, und sie malte sich aus, wie sie ein letztes Mal hindurchgehen würde, um niemals wiederzukommen.

Und dann blinzelte sie verwirrt. Auf der Bank unter dem Lorbeerbaum, in der Gartenmitte, saß ein fremder Mann und las ein Buch. Oder er erweckte diesen Anschein. Sein Hut war tief in die Stirn gezogen, und die Krempe verdeckte die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen – oder um zu vertuschen, dass er ein Nickerchen hielt? In lässiger Pose hatte er einen Fußknöchel über das andere Knie gelegt.

Liv starrte ihn an und wunderte sich über seine dreiste Attitüde. So selbstbewusst saß er da – als würde ihm das ganze Scofield-Anwesen gehören … Und wie war er in den Garten gelangt? Hugh hatte einen Wächter beim Gatter postiert, der allen Fremden den Zutritt verwehren sollte.

Allerdings sah der Mann nicht wie ein unbefugter Eindringling aus. Eine gepflegte, gutgekleidete Erscheinung. Unter dem Hut schimmerte sorgsam gestutztes goldblondes Haar. Vermutlich hatte er genau die strahlenden blauen Augen, die dazu passen würden. Unter der Hutkrempe zeigte sich ein markantes energisches Kinn, das auf einen standhaften Charakter schließen ließ.

Ärgerlich reckte sie ihr eigenes Kinn hoch und beschloss, sich nicht beeindrucken zu lassen.

Diesen Mann würde sie genauer unter die Lupe nehmen. Sie ging nach unten und durch den Küchentrakt in den hinteren Garten.

Bei der Hundehütte hielt sie inne. Schnaufend watschelte der alte Mops Caesar zu ihr.

„Du sollst bellen, wenn Eindringlinge in den Garten schleichen, du Dummkopf!“, schimpfte sie und starrte den Mann an, der auf der Bank saß.

In früheren Zeiten hätte Caesar wütend geknurrt. Aber jetzt wedelte er nur fröhlich mit dem Schwanz. Seufzend beobachtete sie, wie seine Gefährtin Cleopatra herbeieilte, sich neben ihm postierte und ihre Herrin ebenso freundlich begrüßte. Auch sie beachtete den Fremden nicht.

Wider besseres Wissen bückte sich Liv und kraulte beide Hunde zwischen den Ohren. „Uns allen raubt die Liebe den Verstand, Caesar. Seit Cleo aufgetaucht ist, bist du völlig nutzlos – aber wenigstens glücklich. Darüber sollte ich mich freuen.“

Ein letztes Mal tätschelte sie den Mops, bevor sie zu dem Mann auf der Bank ging. Als er nicht aufblickte, räusperte sie sich. Noch immer zeigte er keine Regung. Vorsichtig trat sie gegen einen seiner Stiefel und rief: „Verzeihen Sie!“

Ohne zu erschrecken, schob er seinen Hut nach hinten und blinzelte.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Diese Augen leuchteten so azurblau, wie sie es vermutet hatte. Um seine Lippen begann ein ziemlich verwirrendes Lächeln zu spielen. „Was möchten Sie denn?“, erkundigte er sich.

„Ob – ob ich was möchte?“, stammelte sie, verblüfft über die dreiste Frage.

Er nickte. „Nun, das dachte ich, nachdem Sie mich angesprochen haben.“

„Hier sind Sie in einem privaten Garten.“

„Das weiß ich. In einem öffentlichen Park würde ich nicht schlafen.“

„Dieser Park gehört zum Stadthaus meines Bruders, des Duke of Scofield.“

„Auch das weiß ich.“

„Wenn er Sie hier ertappen würde, wäre er sehr ungehalten.“

„O nein, er wäre ungehalten, wenn ich mich woanders befände. Weil er mich engagiert hat, damit ich auf Sie aufpasse.“

„Was, Sie arbeiten für meinen Bruder?“ Entgeistert schüttelte Liv den Kopf. „Wie die Männer, die er normalerweise einstellt, sehen Sie nicht aus.“ Hughs typische Wachtposten waren riesengroße vulgäre Kraftprotze, während dieser Mann eher wie ein Gentleman wirkte.

„Der Duke hat erwähnt, seine früheren Aufpasser seien nicht besonders tüchtig gewesen“, berichtete er achselzuckend. „Deshalb hat er sie bis auf die Nachtwächter entlassen. Jetzt scheint er nicht mehr auf die Muskeln, sondern auf die Intelligenz seines Wachpersonals zu achten.“

„Also wirklich, Sie sind genauso eitel wie …“ Abrupt verstummte sie. So eitel wie attraktiv, hätte sie beinahe gesagt. Natürlich spielte sein Aussehen keine Rolle. „Wenn Sie für meinen Bruder arbeiten, sollten Sie nicht im Garten herumlungern.“

„Ja, ich arbeite für Ihren Bruder“, bestätigte er. „Was nicht bedeutet, dass ich von Ihnen Befehle entgegennehme. Ich wusste, Sie würden nicht weggehen, denn ich sah Sie am Fenster Ihres Schlafzimmers, Mylady. Und ich musste nicht hinter dem Haus auf und ab gehen, um etwas zu verhindern, das ohnehin nicht passiert.“

Die früheren Bewacher hatten schweigend ihre Pflichten erfüllt, niemals gewagt, das Wort an Liv oder ihre Schwester zu richten. Und dieser Mann benahm sich geradezu unverschämt. Als würden keine Standesunterschiede zwischen ihnen bestehen! Aber trotz ihrer Empörung fand sie ihn immerhin interessant. Wenn Hugh ihn schon am ersten Tag hinauswarf – nur der Himmel mochte wissen, wen ihr Bruder danach engagieren würde.

„Während Sie schliefen, hätte ich an Ihnen vorbeigehen und weglaufen können“, warf sie ihm vor.

„Ohne mir einen guten Tag zu wünschen?“, konterte er in gespielter Überraschung. „Das wäre sehr unhöflich gewesen.“

Da sie ihn nicht kannte, hätte sie ihn ignorieren dürfen. „Wir wurden einander nicht vorgestellt. Also musste ich nicht mit Ihnen reden.“

„Ich bin Mr. Michael Solomon“, stellte er sich vor und betonte das Wort „Mister“, als würde es ihm ein besonderes Vergnügen bereiten, dass ein Niemand ohne Adelstitel berechtigt war, ihr Kommen und Gehen zu kontrollieren.

Dann reichte er ihr seine rechte Hand, die sie nicht beachtete. Schweigend musterte sie ihn, pikiert über seine ungenierte Attitüde.

„Und Sie sind Lady Olivia Bethune“, fügte er hinzu und gab vor, die Brüskierung nicht zu bemerken. „Wenn Sie wollen, nennen Sie mich Michael. Wahrscheinlich werden wir uns in den nächsten Wochen öfter sehen, also gibt es keinen Grund für übertriebene Förmlichkeiten.“

Niemals würde sie fremde Männer mit ihren Vornamen anreden, nicht einmal, wenn sie einen höheren Status einnahmen als gewöhnliche Diener. Und sie fand sogar harmlose Vertraulichkeiten mit einem Mann, der wie Michael Solomon aussah, auf unerklärliche Weise gefährlich.

„Die Namen der Aufpasser, die für meinen Bruder arbeiten, habe ich mir nie gemerkt“, betonte Liv, um ihn auf seinen Platz zu verweisen.

„Vermutlich, weil sie sich nicht vorgestellt haben“, erwiderte er lächelnd. „Freut mich, dass ich der Erste bin.“

„Aber …“

Er hob eine Hand – eine Geste, die keine Zensur darzustellen, sondern Komplimente abzuwehren schien. „Sicher werden Sie besser mit mir zurechtkommen als mit Ihren früheren Bewachern. Immerhin haben wir einen vielversprechenden Anfang gemacht. Schon an meinem ersten Tag sind Sie in den Garten gekommen, um mit mir zu reden.“

„Normalerweise vermeide ich Konversationen mit meinen Gefängniswärtern!“, fauchte Liv. Gewiss, ihre früheren Bewacher waren große, grobschlächtige Kerle gewesen. Vor einigen hatte sie sich sogar gefürchtet. Mr. Solomon strahlte allerdings irgendetwas aus, das ihr auf andere Art Angst einjagte. Mit einem tiefen Atemzug erinnerte sie sich an ihren gesellschaftlichen Status und ihre Rolle bei dieser Unterhaltung. „Hätte ich einen Ihrer Vorgänger schlafend auf der Gartenbank angetroffen, wäre es mir selbstverständlich notwendig erschienen, auch ihn auf seine Pflichten hinzuweisen.“

„Sollen wir ins Haus gehen und im Wohnzimmer plaudern? Vielleicht würde der Duke das unschicklich finden. Aber wenn Sie es vorziehen …“ Trotz seiner Unschuldsmiene bemerkte sie ein ausdrucksvolles Glitzern in seinen Augen. Deutlich genug verriet es ihr, dass er die Absurdität seines Vorschlags erkannte.

„Verschwinden Sie einfach!“, fuhr sie ihn an. „Das würde ich vorziehen! Die Gefangenschaft in meinem Elternhaus missfällt mir gründlich. Denn ich habe wahrlich nichts verbrochen, um eine solche Strafe zu verdienen.“ Was Hugh diesem Mann über sie erzählt hatte, wusste sie nicht. Wäre es möglich, sein Mitgefühl zu erregen? Würde er Verständnis für ihre missliche Lage aufbringen? „Schätzungsweise glauben Sie, mein Bruder hätte Sie eingestellt, damit Sie meine Mesalliance verhindern. Doch es ist egal, welchen Bräutigam ich wählen würde. Aus völlig unverständlichen Gründen will Hugh mich zwingen, das Leben einer alten Jungfer zu führen. Er verbietet mir Kontakte mit der Gesellschaft – oder mit jemandem, der mir zur Flucht verhelfen könnte.“

„Da er Ihr Vormund ist, steht es ihm zu, solche Entscheidungen zu treffen“, meinte Mr. Solomon achselzuckend.

„Aber Sie müssen ihn nicht in seinem ungerechten Verhalten unterstützen. Wären Sie ein Ehrenmann, würden Sie so eine Stellung niemals annehmen.“

„Wäre ich finanziell unabhängig, wie die Männer in Ihrer Familie, Mylady, müsste ich überhaupt nicht arbeiten. Aber was Sie vielleicht überraschen wird – die meisten Männer dürfen nicht wählerisch sein, wenn sie eine Stellung antreten. Und womöglich ist es sogar ehrenwert, wenn man eine mutwillige junge Dame davon abhält, sich selber zu schaden.“

Verstört schnappte sie nach Luft. Klang seine Stimme so bitter, weil er spürte, dass der Hinweis auf seine Situation wohl kaum ihr Mitleid erwecken würde? „Dass Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, hat nichts mit der ungebührlichen Handlungsweise meines Bruders zu tun. Ich habe wirklich nichts verbrochen, das meine Gefangenschaft rechtfertigt.“

„Wie auch immer, das betrifft mich nicht.“

„Natürlich kann ich kein Verständnis von jemandem erwarten, der von einem Mörder bezahlt wird.“ Liv lächelte frostig. „Und ich stimme Ihnen zu – das alles geht Sie nichts an. Vielleicht sollte ich sogar froh über mein Schicksal sein. Denn ich lebe noch. Falls Hugh meinen Tod wünschte, läge ich schon längst unter der Erde. Und Sie?“ Mit schmalen Augen musterte sie Mr. Solomon. „Um Ihretwillen hoffe ich, er wird Sie einfach nur entlassen, wenn mir die Flucht gelingt, und Ihnen nichts Schlimmeres antun.“

Ehe er zu antworten vermochte, machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte ins Haus zurück.

Michael schaute Lady Olivia Bethune nach, die erbost ins Haus stapfte – anders konnte man ihr ungraziöse Gangart nicht bezeichnen. So ungelenk durften sich Damen nicht bewegen, nicht einmal, wenn sie in Wut gerieten. Offenkundig hatte er sie mit seiner Taktik erzürnt, den harmlosen Dummkopf zu spielen, und das amüsierte ihn köstlich.

Weil er bei der Arbeit, für die er bezahlt wurde, im Garten saß, war Lady Olivia beleidigt. Offenbar gehörte sie zu den überheblichen, machtbewussten Herrschaften, die ihre Dienstboten zwangen, stets geschäftig zu wirken, selbst wenn es nichts zu tun gab. Wäre sie von seiner Ruhepause auf der Bank nicht provoziert worden, hätte sie gar nicht mit ihm gesprochen. Mehr oder weniger hatte sie bekundet, die früheren Wachtposten wären ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig gewesen.

Umso erstaunlicher fand Michael ihre Abschiedsworte. Eine Warnung vor ihrem Bruder? So wie die meisten Londoner schien sie Scofield für den Mörder ihres Vaters zu halten. Wenn ihn sogar seine Schwester verdächtigte, war das Gerücht wohl kaum aus der Luft gegriffen.

Andererseits – bei dem kurzen Einstellungsgespräch hatte der neue Arbeitgeber ziemlich kaltblütig gewirkt, jedoch nicht mordlustig. Michael war schon ein paar Mal für Mörder tätig gewesen, und die hatten sich stets bemüht, möglichst harmlos zu erscheinen. Aber Scofield benahm sich wie die meisten ranghohen Aristokraten. Was man über ihn dachte, interessierte ihn nicht im Mindesten.

Und er hatte keine Symptome irgendeiner Geisteskrankheit gezeigt. Immerhin ein tröstlicher Faktor. Auch für Verrückte hatte Michael schon gearbeitet, und das war nicht besonders angenehm gewesen. Solche Menschen waren furchtbar unzuverlässig. Wenn das Gehalt gezahlt werden sollte, verloren sie manchmal vollends den Verstand und stammelten blanken Unsinn. Hingegen klang Scofields Stimme ruhig und fest, seine grünen Augen leuchteten so klar wie ein eisiger Dezembermorgen.

Das Einzige, was an diesem Mann abnorm wirkte, war das geradezu besessene Streben, seine Schwester von fremden Leuten fernzuhalten. Er hatte nur den Namen eines unpassenden Verehrers genannt, während Lady Olivia sich als Opfer einer ungerechten Gefangenschaft bezeichnete.

Falls das ein melodramatischer Versuch war, Michaels Mitgefühl zu gewinnen und ihn gegen seinen Arbeitgeber aufzuhetzen, würde sie keinen Erfolg erzielen. Gewiss würde es ihm viel besser gefallen, die Partei einer so attraktiven jungen Dame zu ergreifen. Doch hier ging es um ein Geschäft. Trotz allem, was seine Mutter glauben mochte – er wurde nicht für Flirts mit hübschen Aristokratinnen bezahlt.

Wie er sich allerdings eingestand, war es unmöglich, Lady Olivia anzuschauen und nicht an einen Flirt zu denken.

Ihre Augen funkelten vor Intelligenz, verblassten aber zum Blaugrau eines bewölkten Himmels, wenn sie ihn musterten und verschleierten, was sie von ihm hielt. Obwohl ihr glattes blondes Haar zu einem strammen Knoten festgesteckt war, wusste er, es würde sich wie weiche Seide anfühlen – sollte es ihm jemals gelingen, es von all den Nadeln zu befreien. Und ihr Körper war ein betörendes Wunder, das aus reizvollen Kurven bestand, von Korsettstangen und einem dezenten, sehr teuren Kleid umgeben.

So zurückhaltend sie auch wirken mochte – Michael spürte das Feuer einer leidenschaftlichen Natur, das in ihr brannte. Auch ihr Bruder musste es bemerkt haben. Deshalb nahm er sie so streng an die Kandare. Wenn sie auch mädchenhafte Unschuld mimte – nur zu gern schlich sie nachts aus dem Haus und traf jemanden, mit dem sie noch nicht verheiratet war. Also musste ihre Ehre geschützt werden.

War dieser Clement der letzte Galan in einer langen Reihe von Indiskretionen? Michael malte sich aus, wie Lady Olivia im Mondlicht die Arme ausbreitete und verführerisch die Lippen öffnete.

Um die Vision zu verscheuchen, kniff er sekundenlang die Augen zusammen. Wie viele Männer sie schon gekannt hatte, spielte keine Rolle. Dass er sie nicht interessierte, hatte sie deutlich genug bekundet. Sicher war es keine mystische Lockung gewesen, die sie vorhin zu ihm getrieben hatte, sondern der Wunsch einer Ladyschaft, einen anscheinend saumseligen Dienstboten zu ermahnen.

Beinahe war sie volljährig. Sollte er seinen Arbeitsplatz länger als ein paar Monate behalten, würde er eine Frau bewachen, die das Recht hatte, ihren Bräutigam selbst zu wählen.

Und ich? Wenn er tatsächlich dumm genug wäre, Lady Olivia zu umwerben, würde sie ihn nicht heiraten – sondern Alister Clement oder irgendwen, der ihm glich. Dieser Mann, dem ihre Gunst bereits gehörte, entstammte einer anständigen Familie und war sehr gut situiert. Und er war sogar ein Mitglied desselben Clubs wie Scofield. Obwohl er keinen Adelstitel trug, hieß man ihn in den besten Kreisen willkommen. Hätte Michael eine Schwester, wäre Clement genau der Bewerber, dem er sie bedenkenlos anvertrauen würde. Seriös, verantwortungsbewusst, manierlich.

Nur da seine imaginäre Schwester von ebenso illegitimer Herkunft wäre wie er selber, würde Mr. Clement ihr niemals ein respektables Angebot machen, nämlich einen Heiratsantrag. Weshalb Michael ihn hasste.

Bei solchen Überlegungen war er wieder einmal froh, dass er ein Einzelkind war. Wenn er eine Schwester hätte, wäre sie womöglich so dumm wie Olivia Bethune und würde mit dem erstbesten Kerl weglaufen, der sie nehmen wollte.

Andererseits – der Bruder dieser Lady war vielleicht ein wahnwitziger Mörder. Nicht einmal seine Schwester schien ihm zu trauen. Wenn sie gute Gründe hätte, ihm zu entrinnen – wenn Michael herausfände, dass sie die Situation richtig beurteilte …

Er lehnte sich an den Baumstamm und zog seinen Hut wieder tiefer in die Stirn.

Wenn der entscheidende Moment anbrach, würde er erkennen, was zu tun war. Vorerst wollte er seine Pflicht erfüllen und Lady Olivias Zukunftspläne vereiteln.

3. KAPITEL

Scheinbar waren die letzten paar Tage vor der Abreise im Schneckentempo verstrichen. Unentwegt hatte Liv sich in schlaflosen Nächten gefragt, ob die Flucht gelingen würde. Soweit es möglich war, ging sie ihrem Bruder aus dem Weg, weil sie fürchtete, ein unbedachtes Wort oder ein Blick könnten ihre Absicht verraten.

Außerdem bemühte sie sich, ihrem neuen Bewacher nicht mehr zu begegnen. Keinesfalls durfte er den Eindruck gewinnen, sie wüsste es zu schätzen, wie vertraulich er mit ihr gesprochen hatte, und sein selbstzufriedenes Lächeln würde ihr gefallen.

Doch sie spähte immer wieder durch die Fenster an der Rückfront des Hauses, um festzustellen, ob Mr. Solomon sich im Garten aufhielt. Das geschah ziemlich oft, denn die Fenster ihres Schlafzimmers und ihres Lieblingsraums, des kleinen Privatsalons im Erdgeschoss, gingen nach hinten hinaus.

Manchmal hatte sie ihn im Garten gesehen, manchmal nicht. Diese Beobachtungen wiesen nicht auf einen geordneten Tagesverlauf hin. Wo mochte er sein, wenn er sich nicht zeigte? Im Haus? Auf der Vorderseite? War er verschwunden? Oder stand er direkt hinter ihr? Um diese Möglichkeit zu testen, drehte sie sich mehrmals abrupt um. Natürlich erblickte sie Mr. Solomon nicht. Aber in ihrer Fantasie hörte sie ihn triumphierend lachen. Bei jener bisher einzigen Begegnung hatte er ein so ungeheures Selbstbewusstsein demonstriert, dass er sich wahrscheinlich immer noch gratulierte, weil es ihm gelungen war, sie durcheinanderzubringen. Sicher malte er sich aus, sie würde vor harmlosen Schatten erschrecken und verstört überlegen, was beim nächsten Treffen geschehen würde.

Zum Glück würde sie sich bald in die Obhut ihres beruhigenden, vertrauenswürdigen Verlobten Alister begeben. Wenn er sie aus diesem beklemmenden Haus geholt hatte, würde sie Michael Solomon nie wiedersehen … Seltsam, dieser Gedanke war nicht so erfreulich, wie sie es erwartet hatte. Irgendein unberechenbarer Teil von ihr wünschte sogar, sie würde ihn jetzt, in diesem Moment, unten auf der Gartenbank entdecken und könnte ihn hänseln, bevor sie ihm für immer entwischte.

Als sie sich das vorstellte, musste sie lächeln. Dann schmückte sie die Vision aus, während sie den Korb, der auf ihrem Bett stand, mit ein paar Habseligkeiten füllte – mit Unterhemden, Strümpfen, der Perlenkette, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. An diesem Tag würde sie Mr. Solomon entkommen. Für den Rest seines Lebens würde er sie nicht vergessen – die Frau, die ihn übertölpelt hatte. Und vielleicht würde er ein bisschen wehmütig seufzen, weil nicht mehr zwischen ihnen passiert war.

Den Korb am Arm, verließ sie ihr Schlafzimmer – und seufzte ihrerseits. Eigentlich schade, dass sie nicht mehr Zeit miteinander verbracht hatten … Unter anderen Umständen hätten sie Freundschaft schließen können. Wären sie sich auf einer Dinnerparty begegnet, hätte sie seine Neckereien nicht unverschämt, sondern amüsant gefunden. Und in ihrer viel zu kurzen Saison hatte sie nur selten so attraktive und interessante Gesprächspartner wie Mr. Solomon kennengelernt.

Ihre Konversationen mit Alister verliefen eher langweilig. Bisher hatte er kein einziges Mal versucht, sie zu unterhalten. Stattdessen teilte er ihr mit, was er zu sagen hatte, und sie nickte zustimmend, weil er stets vernünftige Ansichten äußerte.

Vielleicht bessert sich die Situation, wenn wir verheiratet sind, dachte sie auf dem Weg nach unten, zur Küche. Dann müssten sie genug Zeit für längere, auch vergnügliche Gespräche finden. Und in absehbarer Zeit würde fröhliches Kinderlachen das eheliche Heim erfüllen. So wundervoll würde das sein, nach der Grabesstille im Scofield House …

In der Küche angekommen, musterte sie die Körbe, die auf dem Tisch standen – wie jede Woche von der Köchin und ihren Mägden mit Lebensmitteln für die Witwen und Waisen gefüllt. Liv stellte ihren Korb dazu.

Als sie den Kopf hob, sah sie Michael Solomon am anderen Ende des Raums stehen, eine dick mit Butter bestrichene Brotscheibe in der Hand.

Zunächst wusste sie nichts zu sagen. Nur mühsam bezwang sie den Impuls, ihren Korb wieder zu ergreifen, bevor Mr. Solomon womöglich das Abdecktuch entfernen und die Damenunterwäsche entdecken würde.

„Was machen Sie hier?“, fragte sie schließlich. Ihre Stimme klang viel zu hoch – im Gegensatz zu jenem angestrebten kühlen Tonfall, mit dem sie Vorwürfe ihres Bruders zu entkräften pflegte.

„Ich versuche mich nützlich zu machen“, erwiderte er, lächelte sanft und biss in sein Butterbrot. Dann trat er einen Schritt zurück und versperrte einem Küchenmädchen den Weg – als wollte er beweisen, wie völlig unnütz er bisher gewesen war. „Natürlich können Sie vor unserer Ausfahrt nicht all die Körbe allein zur Kutsche tragen, Mylady.“

„Das übernehmen die Lakaien, so wie jede Woche. Und wir werden nicht zusammen ausfahren, Mr. Solomon. Wie üblich wird mich meine Zofe begleiten.“ Bedauerlicherweise würde Liv noch einmal nach oben gehen und dem Mädchen erklären müssen, seine Dienste würden doch noch benötigt. Nachdem sie fast den ganzen Vormittag gebraucht hatte, um Molly einzureden, sie sollte den Nachmittag in ihrem Zimmer verbringen … Dort könnte sie sich richtig ausruhen, nicht in der Kutsche, wenn ihre Herrin die verschiedenen Bedürftigen besuchte.

„Für mich spielt es keine Rolle, ob das Mädchen mitkommt oder nicht.“ Mr. Solomon lächelte immer noch. „Je mehr wir sind, desto kurzweiliger wird der Ausflug.“

„Um die Frage, ob Molly mitkommt, geht es nicht“, fauchte Liv. „Sie werden nicht gebraucht, Mister!“

Jetzt nahm sein Lächeln bedauernde Züge an. „Wohl oder übel muss ich mich an Ihre Abneigung gewöhnen, Lady Olivia, denn ich werde Sie begleiten. Ich setze mich sehr gern neben den Kutscher – falls Sie sich dann besser fühlen.“

„Machen Sie, was Sie wollen!“, seufzte sie ärgerlich. „Da ich Sie anscheinend nicht zurückhalten kann! Unter diesen Umständen verzichte ich auf Molly.“

„Wunderbar, dann sind wir uns ja einig.“ Zwei Körbe in jeder Hand, verließ er das Haus durch die Hintertür und ging zur wartenden Kutsche.

Die Fahrt zum ersten Ziel verlief ereignislos. Michael Solomon sprang vom Kutschbock, nahm ihr den Korb aus der Hand und folgte ihr in die Wohnung einer älteren Witwe.

Respektvoll begrüßte die Frau ihre Gönnerin, dann musterte sie den Mann, der Ihre Ladyschaft begleitete und keine Livree trug. Weil sie ihre Neugier nicht verhehlte, stellte Liv ihn als Angestellten ihres Bruders vor. Sichtlich entzückt, erwiderte die Witwe sein charmantes Lächeln.

Die anderen Frauen starrten ihn genauso hingerissen an. All den Witwen, Großmüttern und altjüngferlichen Tanten begegnete er so ehrerbietig wie ranghohen Persönlichkeiten. Während er scherzte und sie mit galanten Komplimenten beglückte, kicherten sie wie Schulmädchen. Und sie erröteten geschmeichelt, wenn er sie mit seiner „seligen Mutter“ verglich. Die sich vermutlich bester Gesundheit erfreute, argwöhnte Liv.

Andererseits gefiel es ihr, wie freundlich er die alten Damen behandelte. Diese Wohltätigkeitstouren hatte sie ursprünglich nur unternommen, um Alister zu treffen. Doch die einsamen Frauen waren ihr allmählich ans Herz gewachsen. Und so fand sie es nicht verwerflich, dass Mr. Solomon ein bisschen flunkerte, um ihnen eine angenehme Abwechslung in ihrem öden Dasein zu bieten.

Dann steuerten sie das letzte Ziel an, und Liv geriet in ein Dilemma. Sicher konnte sie ihn nicht dazu überreden, in der Kutsche zu bleiben. Denn er wirkte kein bisschen ermattet – im Unterschied zu Molly, die solche Pausen stets für ein Nickerchen genutzt hatte. Wie sollte sie ihn daran hindern, ihr in das Haus zu folgen, wo Alister auf sie wartete? Natürlich würde Mr. Solomon die wundervollen Fluchtpläne vereiteln.

Wie sollte sie ihren Verlobten warnen? So verzweifelt sie sich auch den Kopf zerbrach – sie fand keinen rettenden Ausweg.

Als der Wagen vor Mrs. Wilsons Domizil hielt, beugte Liv sich aus dem Fenster und rief dem Lakaien zu, sie würde sich zu erschöpft fühlen, um diesen letzten Besuch zu verkraften, und sofort heimfahren.

Aber Mr. Solomon war bereits vom Kutschbock gesprungen und öffnete den Wagenschlag. „Reißen Sie sich zusammen, Lady Olivia! Ich helfe Ihnen die Stufen hinauf und trage den Korb. Diese arme Witwe dürfen Sie nicht enttäuschen. Und ich bin so stolz, weil ich einer großherzigen Wohltäterin beistehen darf.“

„Danke“, murmelte sie irritiert und reichte ihm den Korb. Sein heuchlerisches Lob beeindruckte sie kein bisschen.

„Den da nehmen Sie nicht mit?“, fragte er und zeigte auf den Korb, der ihr spärliches Reisegepäck enthielt.

„Nein“, erwiderte sie kurz angebunden.

Würde Alister ihren Bewacher überwältigen können? Wenn er das schaffte, würde sie durch die Hintertür aus dem kleinen Haus laufen. Doch er pflegte Probleme nicht gewaltsam zu lösen. Und wie Mr. Solomons breite Schultern andeuteten, war er durchaus imstande, plötzliche Attacken abzuwehren.

„Finden Sie diese Besuche bei den alten Damen nicht langweilig und ermüdend?“, fragte sie, als er ihr aus der Kutsche half, und schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln.

„O nein, ich finde diese Witwen sehr nett. Und ich bedaure, dass wir schon bei der letzten angelangt sind. Nur zu gern würde ich noch andere kennenlernen. Gehen Sie voraus, Mylady.“ Mit seiner freien Hand wies er auf das Haus. „Ich folge Ihnen, was immer Sie mir befehlen.“

Was nicht stimmte, denn er würde sich weigern, wenn sie ihn aufforderte, bei der Kutsche zu warten.

„Diesen letzten Besuch sollte ich allein erledigen“, betonte sie. „Mrs. Wilson ist sehr schüchtern. Wenn sie fremden Leuten begegnet, fühlt sie sich unsicher. Wahrscheinlich wären Sie ihr nicht willkommen.“

„Nur keine Bange, ich werde mich untadelig benehmen“, versprach er lächelnd.

„Aber Sie dürfen sich nicht die Mühe machen und mich überallhin begleiten. Das ist mir unangenehm.“ Nervös begann sie an dem Korb in seiner Hand zu zerren. „Es ist wirklich nicht nötig.“

„Ganz im Gegenteil.“ Mr. Solomon ließ den Korb so abrupt los, dass Liv beinahe aus dem Gleichgewicht geriet, und stieg die Eingangstreppe hinauf.

Beklommen eilte sie ihm nach. Nun würde er Alister in der kleinen Wohnung antreffen und sie sofort zur Kutsche zurückbringen, mit sanfter Gewalt hineinbugsieren und künftige Wohlfahrtstouren unterbinden.

Vor der Haustür blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Die Brauen vielsagend hochgezogen, musterte er sie.

Er wusste es. Noch schlimmer – schon die ganze Zeit hatte er es gewusst.

Warum, konnte sie sich nicht erklären. Jedenfalls würde er in dem kleinen Wohnzimmer genau das sehen, was er erwartete.

Liv fügte sich resignierend in ihr Schicksal und bedeutete ihm, an die Tür zu klopfen, die Mrs. Wilson nach wenigen Sekunden öffnete.

Als die alte Witwe den Fremden misstrauisch anstarrte, sagte Liv hastig: „Wie üblich haben wir Ihnen einen Korb gebracht.“

„Wie üblich?“ Mrs. Wilson blickte zwischen dem Neuankömmling auf ihrer Schwelle und dem anderen, der von seinem Stuhl in der Ecke aufgesprungen war, hin und her. Erstaunlich kampflustig ballte Alister die Hände.

Mr. Solomon betrat das Zimmer und lächelte die Witwe strahlend an. „Würden Sie mir die Ehre erweisen und mich unserer Gastgeberin vorstellen, Lady Olivia?“ Dann wandte er sich zu Alister. „Auch mit Mr. Clement sollten Sie mich bekannt machen.“

Unverhohlen, die Lippen zusammengepresst, bekundete Alister sein mangelndes Interesse an dieser Bekanntschaft. Nur eins zählte für ihn – der Mann würde den sorgsam geschmiedeten Fluchtplan vereiteln.

Liv schaute ihn hilflos an, dann stellte sie den Korb auf den Tisch und fragte die alte Frau: „Darf ich Ihnen Mr. Solomon vorstellen, Mrs. Wilson? Er arbeitet für meinen Bruder und wird mich in Zukunft bei meinen Ausfahrten begleiten.“ Nach einem weiteren verzweifelten Blick in Alisters Richtung ergänzte sie: „Ganz egal, ob ich es möchte oder nicht.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’am.“ Formvollendet beugte Michael Solomon sich über die Hand der Witwe und entlockte ihr ein Kichern. „Auch Ihre Bekanntschaft weiß ich zu schätzen, Mr. Clement“, fügte er mit einer knappen Verneigung vor Alister hinzu. „Sie war unvermeidlich, da ich engagiert wurde, um Sie an Lady Olivias Entführung zu hindern.“

In eisigem Schweigen starrte Alister ihn an.

Achselzuckend fuhr Mr. Solomon fort: „Vielleicht wollen Sie sich die Fakten nicht eingestehen, Sir. Aber Scofield wird Ihnen niemals gestatten, seine Schwester zu heiraten. An Ihrer Stelle würde ich Schadensbegrenzung betreiben, den Duke um einen Ausgleich für meinen Verzicht auf die Lady ersuchen und mich wieder meinen Geschäften widmen.“

„Wollte ich Geld von Scofield fordern, hätte ich das längst getan.“ Endlich brach Alister sein Schweigen. „Ich will einfach nur die Frau heiraten, die ich liebe. Und trotz Ihrer Einmischung, Mr. Solomon, werden wir auch weiterhin unsere gemeinsame Zukunft planen.“

Von seinen mannhaften Worten etwas besänftigt, schöpfte Liv neue Hoffnung.

Mr. Solomon lächelte ihn herausfordernd an. „Das bleibt Ihnen unbenommen, Clement. Aber da Sie nach so vielen Monaten nichts erreicht haben, zweifle ich an ihrem künftigen Erfolg.“ Dann wandte er sich an die Damen. „Wollen wir uns nicht setzen?“

„Nicht nötig“, entgegnete Liv. „Für uns alle war es ein langer Tag. Nachdem ich Mrs. Wilson den letzten Korb gebracht habe, sollten wir heimfahren.“

Zustimmend nickte Mr. Solomon, und sie warf ihm einen scharfen Blick zu, um ihm zu bedeuten, sie habe ihren Entschluss unabhängig von seinen Wünschen gefasst.

Hinter ihr verkündete Alister: „Noch ist es nicht vorbei, Solomon!“ Er packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. Voller Leidenschaft küsste er sie. Ebenso abrupt ließ er sie los und schaute in ihr schockiertes Gesicht. „Du hörst von mir“, flüsterte er. „Verlier nicht den Mut.“

Leicht benommen ging sie zur Tür, wo sie von Mr. Solomon erwartet wurde. Die blauen Augen von Zorn verdunkelt, die Kinnmuskeln angespannt, starrte er an ihr vorbei auf Alister.

Doch er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle, sein charmantes Lächeln kehrte zurück. Höflich verneigte er sich vor Mrs. Wilson, die den Beutel mit den Bonbons im Geschenkkorb gefunden hatte. Zufrieden lutschte sie an ihrer Lieblingsleckerei und beobachtete die Ereignisse in ihrem Wohnzimmer wie ein Bühnendrama.

„Sicher sehen wir uns bald wieder Ma’am“, kündigte er an.

Zahnlos erwiderte sie sein Lächeln und klatschte in die Hände, um ihre Vorfreude zu demonstrieren.

Mr. Solomon schob Liv zur Tür hinaus. Bevor er sie hinter sich schloss, rief er, ohne zurückzublicken: „Au revoir, Clement!“

Auf dem Weg zur Kutsche überlegte er, ob er eine brenzlige Situation inszenieren sollte, die ihm eine Chance bieten würde, dem kleinen Idioten mit einem gezielten Fausthieb die Nase zu brechen.

Er half Lady Olivia, in den Wagen zu steigen. Dann kletterte er nicht zum Fahrer auf den Kutschbock, sondern setzte sich ihr gegenüber. Erbost starrte sie ihn an, bevor sie die Tür betrachtete, als wollte sie ihm wortlos befehlen, wieder seinen üblichen Platz einzunehmen.

„Da Sie mich anschreien möchten, ist es diskreter und für uns beide besser, wenn es hier drin passiert.“

„Wagen Sie bloß nicht zu entscheiden, was ich möchte!“, zischte sie. Nach einem tiefen Atemzug erkundigte sie sich in etwas ruhigerem Ton: „Warum haben Sie mir diese Fahrt gestattet, obwohl Sie die ganze Zeit wussten, ich würde Alister treffen?“

„Ganz sicher war ich mir nicht“, gab Michael zu. „Irgendwo mussten Sie ihn wiedersehen, und diese Wohltätigkeitstour war eine günstige Gelegenheit.“ Wie inständig er gehofft hatte, er würde sich irren, verschwieg er. „Eine raffinierte Taktik! Wer sollte Ihnen verwehren, gute Werke zu vollbringen? Vermutlich war das Ihre Idee.“

Sie nickte, und er glaubte einen rosigen Hauch in ihren Wangen zu sehen. Freute sie sich über seine Anerkennung?

„Ich nehme an, Clements Intellekt reicht nicht aus, um solche Strategien zu entwickeln und umzusetzen. Wie lange besuchen Sie Mrs. Wilson schon, Mylady?“

„Seit fast drei Monaten.“

„Also haben Sie Ihrem Verlobten mehrmals perfekte Gelegenheiten geboten, mit Ihnen durchzubrennen“, meinte Michael lächelnd. „Und er ließ seine Chancen ungenützt verstreichen.“

Nur sekundenlang verdüsterte sich ihre Miene. Dann schüttelte sie den Kopf. „Zweifellos hatte er seine Gründe.“

„Konnte er Sie davon überzeugen?“

Aufmerksam beobachtete er Lady Olivias Reaktion. Wie er ihrem Zögern entnahm, hatten Clements Ausreden eher vage geklungen, und sie wollte nicht daran erinnert werden.

„Allem Anschein nach halten Sie nicht viel von Alister“, erriet sie.

„Und Sie zu viel, Mylady …“ Abrupt presste er die Lippen zusammen, um sich weitere kritische Äußerungen über ihren Verlobten zu untersagen.

Von einem Gentleman, der seine Liebste eher gleichmütig begrüßt und später nur hemmungslos geküsst hatte, um vor einem anderen Mann seine Besitzansprüche zu demonstrieren, hielt Michael tatsächlich nichts. Aber wenn er Clements Fehler aufzählte, würde Lady Olivia den Kerl umso energischer verteidigen, je länger diese Liste werden mochte.

Die Augen verengt, musterte sie ihn argwöhnisch und kräuselte die Lippen. „So schlau wie Sie können nicht alle Menschen sein, Mr. Solomon.“

Damit wollte sie ihm kein Kompliment machen. Trotzdem lachte er. „Besten Dank, Mylady. Ich glaube allerdings, Sie sind schlau genug, um es mit mir aufzunehmen. Deshalb werde ich sehr gern mit Ihnen zusammenarbeiten.“

„Wir arbeiten nicht zusammen!“, protestierte sie empört.

„Nun, wir spielen dasselbe Spiel, das wir aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.“ Lächelnd lehnte er sich in die Polsterung der komfortablen Kutsche zurück und genoss den Anblick der schönen Lady. Doch er würde gewiss nicht der Versuchung erliegen, wie seine Mutter romantische Träume zu hegen.

Lady Olivia starrte ihn entgeistert an. „Ist das alles nur ein Spiel für Sie?“

„Nicht alles. Ich bin ein Privatdetektiv, und die meisten Arbeiten, die ich erledige, sind nicht so interessant wie diese. Zum Beispiel werde ich von reichen Gentlemen beauftragt, die gestohlenen Juwelen ihrer Gemahlinnen aufzuspüren. Oder ich soll Einbrecher dingfest machen. Manchmal gehöre ich gleichsam zur Familie. Wenn ich etwa in Geheimnisse eingeweiht werde, den Schmuck beim nächstbesten Juwelier finde und vertuschen soll, dass der zweitgeborene Sohn ihn verkauft hat. Oder ich muss die Aufklärung eines Falls verheimlichen, weil Seine Lordschaft der Versicherung den Schadenersatz nicht zurückzahlen will.“

„Oh, das klingt wahnsinnig aufregend!“ Lady Olivias Augen begannen zu funkeln. Offensichtlich hatte sie ihren Liebsten vergessen.

„Vor allem hat es meine Enttäuschung über die menschliche Natur verstärkt. So viele Probleme würden gar nicht auftauchen, wenn Familienmitglieder einander besser verstünden.“

„Und wie soll ich meinem Bruder näherkommen? Warum er mich in seinem Haus gefangen hält, ist mir ein Rätsel.“

„Vielleicht mag er Clement einfach nicht.“

„Nein, das hat tiefer gehende Ursachen. Ein Mann, den ich mochte, wurde aus der Themse gezogen. Mit einem Messer im Rücken.“

Hatte er sich verhört? „Wie, bitte?“

Die Stirn gerunzelt, blickte sie zu Boden. „Bevor Sie sich eine Meinung über Hughs Beweggründe bilden, sollten Sie erforschen, wie Richard Sterling gestorben ist.“

„Behaupten Sie, Scofield hätte jemanden umgebracht?“, fragte Michael verwundert.

„Abgesehen von dem Mann, den er ermordet hat – was ganz London weiß?“ Ruckartig hob sie den Kopf und musterte ihn durchdringend.

„Ja, die Leute munkeln, der Duke hätte seinen Vater erstochen. Dafür gibt es keine Beweise.“

„In jener Nacht war ich im Scofield House“, erklärte sie schaudernd. „Ich fand die Leiche … Erst Papa. Dann Richard. Damals hatte Hugh meiner Schwester und mir gewisse Freiheiten gestattet. Das änderte sich, als Richard ihn um meine Hand bat. Mein Bruder wies ihn ab. Zwei Wochen später las ich in der Times, auf welche Weise Richard Sterling ums Leben gekommen war.“

„Moment mal …“ Verwirrt hob er eine Hand. „Also hatten Sie vor Clement einen anderen Verehrer?“

Lady Olivia schüttelte den Kopf. „Natürlich gab es Alister schon die ganze Zeit. Er hielt bei meinem Vater um mich a...

Autor

Christine Merrill
<p>Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
Mehr erfahren