Historical Saison Band 110

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DAS HEIMLICH BEGEHREN DER LADY ALIXE von BRONWYN SCOTT

Seit Merrick St. Magnus splitternackt vor ihr aus dem See stieg, fragt sich Lady Alixe, ob es im Leben nicht doch mehr gibt als ihre geliebten Schriftstudien. Eines Nachts trifft sie in der Bibliothek auf den Mann mit dem prachtvollen Körper und der unverschämt direkten Art … Dass eine Intrige im Gange ist, ahnt sie nicht!

SCHÖNE ERBIN IN GEFAHR von BRONWYN SCOTT

Um sein stattliches Erbe als Earl antreten zu können, muss Ashton Bedevere eine reiche Dame ehelichen. Ein glücklicher Zufall, dass er die Bekanntschaft der wohlhabenden, schönen und heißblütigen Genevra Ralston macht. Doch Ashes skrupelloser Cousin Henry verfolgt denselben Plan, und Genevra gerät in höchste Gefahr …


  • Erscheinungstag 24.08.2024
  • Bandnummer 110
  • ISBN / Artikelnummer 8090240110
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Bronwyn Scott

HISTORICAL SAISON BAND 110

1. KAPITEL

Merrick St. Magnus machte keine halben Sachen. Das galt auch, wenn es um die legendären Greenfield-Zwillinge ging. Just in diesem Moment posierten die beiden verführerischen Kurtisanen unterschiedlich leicht bekleidet auf dem langen venezianischen Diwan seines Gesellschaftszimmers. Den Blick auf die erste der beiden Zwillingsschwestern geheftet, pflückte Merrick eine Orangenscheibe von einem Silbertablett und tauchte das Fruchtstück gelassen in Puderzucker, als ob er gegen die durch das tiefe Dekolleté zur Schau gestellten Reize unempfänglich wäre.

„Eine Versuchung verdient eine weitere, ma chère“, sagte er in schmeichelndem Tonfall, während er die Blicke vielsagend über ihren Körper wandern ließ. Es entging ihm nicht, dass sich der Pulsschlag an ihrem schwanenhaft gebogenen Hals angesichts seiner Verführungskünste erhöhte. Merrick ließ die Orangenscheibe über ihre leicht geöffneten Lippen gleiten, wobei sie mit der Zungenspitze den Puderzucker aufleckte und die Bereitschaft vermittelte, weit mehr als die eigenen Lippen lecken zu wollen.

Er begann, den Abend zu genießen. Mehr als das, er genoss die Aussicht, die Wette zu gewinnen, die seit einer Woche die Seiten des berüchtigten Wettbuchs im White’s Club füllte. Gleich morgen würde er die Gewinne einstreichen. Er stand also kurz davor, eine ansehnliche Summe zu erhalten, die ihm über die jüngste Pechsträhne an den Spieltischen hinweghelfen würde. Selbstverständlich hatten bereits andere Männer fleischlichen Verkehr mit den Greenfield-Schwestern gehabt, doch noch keinem war es gelungen, die Nacht mit beiden zugleich zu verbringen.

Am anderen Ende des Diwans zog der zweite Zwilling einen koketten Schmollmund. „Was ist mit mir, Merrick? Stelle ich etwa keine Versuchung dar?“

„Du, ma belle, bist eine wahre Eva.“ Merrick ließ die rechte Hand über der Platte mit den Früchten schweben, als ob er mit großer Bedächtigkeit über die Auswahl der Frucht nachdenken würde. „Ah, für dich, meine Eva, eine Feige, denke ich – wegen der paradiesischen Freuden, die einen Mann in deinem Garten Eden erwarten.“

Die literarischen Anspielungen hätte er sich sparen können. Sie zog erneut eine Schnute und sah ihn verwirrt an. „Mein Name ist nicht Eva.“

Merrick unterdrückte ein Seufzen. Denk an das Geld, Merrick! Er setzte ein verwegenes Lächeln auf, schob ihr die Feige in den Mund und machte ihr ein Kompliment, das sie verstehen würde. „Ich kann nie sagen, wer von euch beiden die Hübschere ist.“ Allerdings konnte er mit Bestimmtheit sagen, wer die Klügere war. Er legte eine Hand auf den entblößten Bauch von Zwilling Nummer zwei und zog mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis auf ihrer nackten Haut. Sie lächelte verlegen. Der erste Zwilling hatte die Hände auf Merricks Schultern gelegt und zog ihm mit massierenden Bewegungen das Hemd aus dem Hosenbund. Es war an der Zeit, die Sache in Angriff zu nehmen.

Das war der Moment, in dem etwas Unvorhergesehenes geschah – sein Diener klopfte laut gegen die Tür.

„Jetzt nicht!“, rief Merrick, aber das Klopfen hielt an.

„Vielleicht will er sich zu uns gesellen“, mutmaßte der erste Zwilling von der Unterbrechung unbeeindruckt.

Fillmore, sein treuer Diener und Mann für jede Lebenslage, ließ sich nicht beirren. „Es handelt sich um einen Notfall, Mylord!“, rief er durch die Tür.

Verflucht! Merrick sah sich gezwungen, aufzustehen und nachzusehen, was Fillmore wollte. Er erhob sich mit wehenden Hemdschößen und gab den Zwillingsschwestern je einen galanten Handkuss. „Einen Moment, mes amours.“

Zielstrebig durchquerte er das Zimmer und öffnete nur einen Spaltbreit die Tür. Fillmore wusste natürlich, was sein Herr hier drinnen tat, und wahrscheinlich sogar weshalb. Das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass der Diener zum Augenzeugen von alldem werden sollte. Wenn Merrick darüber nachdachte, kam ihm die ganze Szenerie ein wenig erniedrigend vor. Er war bankrott und tauschte das Einzige, was er besser als alles andere konnte, gegen das ein, was er mehr als alles andere brauchte: Liebesdienste gegen Geld – auch wenn niemand sonst das so betrachtete.

„Ja, Fillmore?“ Merrick hob eine Braue und blickte Fillmore streng an. „Worin besteht unser Notfall?“

Fillmore war kein gewöhnlicher Diener. Merricks gehobene Braue beeindruckte ihn ebenso wenig wie den nicht so klugen Zwilling literarische Anspielungen. Fillmore warf sich in die Brust und sagte: „Ihr Notfall, Mylord, ist Ihr Vater.“

„Fillmore, ich glaube, Ihnen ist bewusst, dass ich meine Probleme als unsere gemeinsamen Probleme betrachte.“

„Ja, Mylord, wie Sie sagen, unser Notfall.“

„Nun, heraus damit, was ist passiert?“

Fillmore reichte ihm einen Briefbogen, der bereits entfaltet war.

Merrick hob erneut eine Braue. „Sie können mir auch gleich sagen, dass Sie die Nachricht schon gelesen haben.“ Also wirklich. Fillmore hätte sich wenigstens den Anschein von Zerknirschtheit darüber geben können, anderer Leute Post zu lesen. Das war zwar gelegentlich von Vorteil, aber eben nicht besonders vornehm.

„Er kommt in die Stadt. Übermorgen wird er hier sein“, fasste Fillmore den Inhalt des Schreibens zusammen.

Jeder Teil von Merrick, der sich noch nicht im Zustand der Versteifung befand, versteifte sich nun vor Anspannung. „Das bedeutet, er könnte bereits morgen Nachmittag hier sein.“ Sein Vater war hervorragend darin, früher als vorgesehen, einzutreffen – und zwar mit Vorsatz. Sein Vater wollte ihn überrumpeln. Merrick konnte nur Vermutungen darüber anstellen, wie lange sein Vater bereits unterwegs war, bevor er die Nachricht mit der Ankündigung seiner Ankunft endlich losgeschickt hatte. Das konnte nur eines bedeuten: Es würde um eine Abrechnung gehen.

Diese Schlussfolgerung warf folgende Fragen auf: Welche Gerüchte hatten den Marquis schnurstracks in die Stadt getrieben? War es das Rennen im offenen Zweispänner nach Richmond? Wahrscheinlich nicht. Das lag schon Wochen zurück. Wenn das Rennen der Anlass wäre, wäre der Vater schon längst hier. War es die Wette um die Opernsängerin? Zugegebenermaßen hatte diese Angelegenheit viel mehr Aufsehen erregt, als es Merrick lieb war. Allerdings war es nicht das erste Mal gewesen, dass ein größeres Publikum an seinen skandalösen Affären Anteil nahm.

„Wissen Sie, weshalb er kommt?“ Merrick überflog den kurzen Brief.

„Das lässt sich schwer sagen. Wir haben ihm so viele Anlässe geboten.“ Fillmore seufzte entschuldigend.

„Ja, ja, ich nehme an, es spielt keine Rolle, welcher Vorfall ihn in die Stadt treibt. Es geht nur darum, dass wir bei seiner Ankunft nicht da sind, damit sich keine Notwendigkeit ergibt, ihn willkommen zu heißen.“ Merrick fuhr sich unruhig durch das Haar. Er musste nachdenken, und er durfte keine Zeit verlieren.

„Sind wir sicher, dass das klug ist?“, erkundigte sich der Diener. „Ich meine, ausgehend von dem letzten Abschnitt des Briefes wäre es vielleicht besser, wir blieben und würden uns angemessen reumütig geben.“

Merrick zog ein finsteres Gesicht. „Seit wann nehmen wir eine reumütige Haltung an, wenn es um meinen Vater geht?“ Er hatte nicht die geringste Angst vor dem Marquis. Die Stadt zu verlassen, war kein Akt der Feigheit. Hier ging es darum, von der eigenen Willensfreiheit Gebrauch zu machen. Er würde seinem Vater nicht die Genugtuung verschaffen, einen weiteren seiner erwachsenen Söhne zu kontrollieren. Sein Vater dominierte jeden, den er in die Finger bekam, einschließlich Merricks älterem Bruder Martin, dem Erben. Auf keinen Fall wollte Merrick eine weitere Marionette des Vaters werden.

„Seit er ankündigt, Ihre sämtlichen Bezüge zu streichen, bis wir unsere Lebensweise bessern. Das steht weiter unten“, erläuterte Fillmore.

Merrick war nie der Schnellste gewesen, wenn es ums Lesen ging. Gespräche waren viel unterhaltsamer als jede Lektüre. Am Ende des Briefes lauerte tatsächlich der Satz, der so kalt formuliert war, dass Merrick beinahe die barsche Stimme seines Vaters zu hören meinte: Ich friere deine sämtlichen Bezüge ein, bis Du Dich läuterst und Deine Angewohnheiten besserst.

Merrick lachte verächtlich auf. „Er kann uns die Bezüge kürzen so viel er will, da wir sie ohnehin nicht anrühren.“ Schon vor Jahren war er zu der Erkenntnis gelangt, dass er sich nur von seinem Vater befreien konnte, wenn er sich nicht auf dessen finanzielle Zuwendungen verließ. Daher lag das Geld gut verstaut und niemals angerührt auf einem Konto bei Coutts. Merrick hatte sich entschieden, seinen Lebensunterhalt durch Kartenspiel und einträgliche Wetten zu bestreiten. Normalerweise reichte das für Miete und Kleidung. Sein wohlverdienter Ruf in Bezug auf die Freuden des Schlafzimmers sorgte für alles Weitere.

Sein Vater konnte ihm die Bezüge so lange streichen wie er wollte. Das beunruhigte Merrick nicht. Vielmehr beunruhigte ihn die Tatsache, dass sein Vater überhaupt kam. Das Einzige, worauf sie sich geeinigt hatten, war die Notwendigkeit, sich voneinander fernzuhalten. Merrick wusste die stumpfsinnigen Moralvorstellungen des Vaters ebenso wenig zu schätzen wie der Vater deren flexiblere Auslegung durch seinen Zweitgeborenen. Die väterliche Anwesenheit in London versetzte der laufenden Saison den Todesstoß, und es war gerade erst Juni. Aber so leicht ließ Merrick sich nicht außer Gefecht setzen.

Er musste sich rasch etwas überlegen, und das war nur ohne die Zwillinge möglich. Merrick schloss die Tür, kehrte zu den beiden zurück und verbeugte sich galant. „Meine Damen, ich bedauere es sehr, aber es handelt sich um einen dringenden Notfall. Daher müsst ihr leider gehen.“

Und das taten sie dann auch, und beraubten ihn unwissentlich der Gelegenheit, zweihundert Pfund zu gewinnen – zu einem Zeitpunkt, an dem das Geld knapp und seine Zeit noch knapper war.

„Fillmore, wie viel sind wir schuldig?“ Merrick streckte sich der Länge nach auf dem entvölkerten Diwan aus. Im Geiste rechnete er die Zahlen zusammen: Die Rechnungen des Stiefelmachers, des Schneiders und verschiedener Händler mussten beglichen werden, bevor er aufbrach. Er würde seinem Vater nicht die Genugtuung verschaffen, die Schulden des Sohnes zu begleichen.

Verdammt! Er saß ganz schön in der Klemme. Für gewöhnlich hatte er seine Finanzen im Griff, doch zuletzt hatte ihn seine Menschenkenntnis im Stich gelassen. Er hätte niemals mit Stevenson Karten spielen dürfen. Schließlich war der Mann bekannt dafür, ein gerissener Betrüger zu sein.

„Siebenhundert Pfund einschließlich der Monatsmiete für die Zimmer“, sagte Fillmore.

„Wie viel haben wir?“

„Etwa achthundert sind vorhanden“, gab der Diener Auskunft.

Es war, wie Merrick vermutet hatte – genug um die Rechnungen zu begleichen und noch einen kleinen Rest übrigzuhaben. Auf keinen Fall war es genug, um einen weiteren Monat in der Stadt zu überleben, erst recht nicht während der Saison. London war verflucht teuer.

Fillmore räusperte sich. „Darf ich darauf hinweisen, dass sich unsere Ausgaben deutlich reduzieren würden, wenn wir im Stadthaus der Familie wohnten? Wie bisher Zimmer in einer angesagten Nachbarschaft zu mieten, ist eine Verschwendung.“

„Sie meinen, ich soll im Stadthaus meines Vaters wohnen, und zu allem Überfluss auch noch jetzt, wo er nach London kommt? Nein, darauf dürfen Sie nicht hinweisen. Ich wohne schon seit Jahren nicht mehr mit meinem Vater unter einem Dach. Damit werde ich jetzt ganz sicher nicht anfangen, zumal es genau das ist, was er erreichen will.“ Merrick seufzte. „Holen Sie mir die Einladungen vom Kaminsims.“

Auf der Suche nach einer Eingebung, durchforstete Merrick den Stapel. Gab es einen Kartenabend mit hohen Einsätzen, ein Junggesellenwochenende in Newmarket, das ihn aus der Stadt brachte, oder irgendetwas anderes, was die derzeitige Lage erleichterte? Doch es war nichts Vergnügliches zu entdecken: ein Hauskonzert, ein Venezianisches Frühstück, ein Ball – alles in London, alles nutzlos. Dann, ganz am Ende des Stapels, wurde er fündig: die House Party des Earl of Folkestone. Folkestone lud zu zweiwöchiger Geselligkeit auf seinen Familiensitz in Kent. Das lag drei Tagesreisen auf öden Straßen entfernt, und brachte ihn vermutlich in noch ödere Gesellschaft. Aber jetzt kam Merrick die Veranstaltung geradezu ideal vor. Folkestone war ein mürrischer Traditionalist, aber Merrick kannte dessen Erben, Jamie Burke, aus gemeinsamen Zeiten in Oxford. Außerdem hatte Merrick zu Beginn der Saison Lady Folkestones Soirée besucht, was erklärte, wem er die Einladung verdankte. Er hatte sich bei ihr als Vorzeigegast profiliert, indem er so lange mit allen Mauerblümchen geflirtet hatte, bis sie erblüht waren. Frauen wie Lady Folkestone schätzten männliche Gäste, die ihre Pflichten kannten, und Merrick war bei der Umsetzung dieser Pflichten unübertroffen.

„Packen Sie unsere Sachen, Fillmore. Wir reisen nach Kent“, verkündete Merrick mit einer Entschlossenheit, die nicht seiner Stimmungslage entsprach. Er gab sich keinen Illusionen hin, dass eine House Party in Kent die Antwort auf seine Probleme war. Sie bot nur eine befristete Rettung. London war teuer, ja, aber seine Freiheit war noch viel teurer.

Die Straße nach Kent lässt sich durchaus mit dem Weg in die Hölle vergleichen, dachte Merrick drei Tagesritte später mit grimmiger Miene. Gerade tauchten zwei Wegelagerer vor ihm auf – und das am helllichten Tag! Merrick zügelte sein Pferd und schimpfte leise. Verflucht und noch mal verflucht! Er war nur noch zwei Meilen von der verdammten House Party entfernt. So unauffällig wie möglich griff er nach der Pistole in seinem Reisepaletot.

Es war verflixt seltsam für Wegelagerer, um drei Uhr nachmittags einen Überfall zu wagen, wenn die besseren Kreise sich gerade gegenseitig zum Tee besuchten. Doch angesichts der wirtschaftlichen Lage im Land wunderte er sich auch darüber nicht mehr. Zu dumm, dass er gerade jetzt allein war. Fillmores Pferd war mit dem Gepäck beladen, weshalb Merrick vor ein paar Stunden beschlossen hatte, vorauszureiten.

„Ist die Straße hier zu Ende, werte Herren?“, rief Merrick und vollführte mit seinem Pferd eine kunstvolle Drehung. Die Pferde der zwei Männer wirkten gepflegt und gut genährt. Großartig. Da war er also ausgerechnet auf ein Duo außergewöhnlich erfolgreicher Straßenräuber gestoßen! Merrick umschloss mit der rechten Hand die Pistole. Er hatte seine Rechnungen getilgt, und die letzten Pfundnoten waren sorgfältig in seiner Tasche verstaut. Er war nicht gewillt, die kleine finanzielle Reserve herzugeben, die ihm geblieben war.

Die beiden Wegelagerer, unterhalb der Augen mit schwarzen Halstüchern maskiert, blickten einander an. Einer von ihnen lachte und parodierte Merricks Höflichkeit. „Für Sie ist sie hier zu Ende, werter Herr.“ Der Mann winkte schwungvoll mit seiner Pistole. „Wir wollen nicht Ihr Geld, wir wollen Ihre Kleidung. Seien Sie so gut, und ziehen Sie sich rasch aus.“ Die grünen Augen des zweiten Räubers funkelten belustigt.

Der Pistolengriff des Mannes schimmerte im Sonnenlicht. Merrick ließ seine Waffe los und lächelte wissend. „Ashe Bedevere und Riordan Barrett! Wie schön euch hier zu treffen, ihr alten Halunken!“

Der grünäugige Mann zog das Halstuch nach unten. „Wie hast du uns erkannt?“

Merrick grinste. „Niemand anderer in England hat Smaragde in den Griff seiner Pistole einfassen lassen.“

„Verdammt, es war ein schöner Streich.“ Ashe blickte vorwurfsvoll auf die Waffe, als ob sie den Spaß absichtlich vereitelt hätte. „Weißt du, wie lange wir hier herumgesessen und auf dich gewartet haben?“

„In der Sonne zu warten, ist eine staubige Angelegenheit“, ergänzte Riordan.

„Warum habt ihr denn überhaupt hier auf mich gewartet? Ich wüsste nicht, dass wir verabredet waren.“ Merrick reihte sich neben den beiden Freunden ein, und gemeinsam ritten sie weiter.

„Wir haben dein Pferd gestern Abend vor dem Gasthof gesehen, und der Stallknecht sagte, du wärst auf dem Weg nach Folkestone wegen der House Party“, gestand Ashe mit spitzbübischem Grinsen. „Da wir ebenfalls dahin unterwegs sind, kam uns die Idee, unser Wiedersehen mit dir auf besondere Weise zu feiern.“

„Das hätten wir auch gestern bei einem kühlen Bier und Kaninchenragout feiern können“, wandte Merrick ein. Einen Freund mit erhobener Pistole zu begrüßen, war ein bisschen verrückt, selbst für Ashes Maßstäbe.

„Offen gestanden hätte das nicht halb so viel Spaß gemacht. Außerdem waren wir gestern mit der Schankkellnerin und ihrer Schwester beschäftigt.“ Riordan zog einen Flachmann aus seiner Tasche und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. „Die Saison war bisher gar nicht lustig. London hat sich von der langweiligsten Seite gezeigt.“

So langweilig, dass selbst eine House Party in Kent mehr Reiz besitzt? Das schien Merrick nicht sehr glaubwürdig. Merrick musterte seinen Freund. Riordans Miene verriet einen gewissen Überdruss, doch Ashes überraschender Vorschlag lenkte Merrick davon ab, dieser Beobachtung auf den Grund zu gehen.

„Was haltet ihr von einem Bad?“

Merrick drehte den Kopf in Ashes Richtung. „Was? Ein Bad?“ War Ashe völlig verrückt geworden? Er hatte schon lange angenommen, dass der Freund, dem nichts riskant genug war, manchmal nicht alle Tassen im Schrank hatte.

„Nicht in einem Zuber, alter Knabe!“, entgegnete Ashe, die Gedanken des Freundes erratend. „Hier draußen, bevor wir zu der House Party gehen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es einen großen Teich – genau genommen einen kleinen See – hinter dem nächsten Hügel und ein wenig abseits der Straße. Es wäre eine gute Gelegenheit, um den Schmutz der Reise loszuwerden. Außerdem könnten wir ein letztes Mal die Natur genießen, bevor wir von der gekünstelten Förmlichkeit einer ländlichen House Party umgeben sind, wo …“, Ashe machte eine wirkungsvolle Pause, bevor er mit theatraler Geste fortfuhr, „… alles natürlich sein sollte, es aber unglücklicherweise nicht ist.“

„Das ist eine ausgezeichnete Idee! Ein kühles Bad ist jetzt genau das Richtige. Was meinst du, Merrick?“ Riordan stimmte mit den Füßen ab, indem er seinen Fuchs mit den Fersen zum Galopp antrieb. Über die Schulter rief er den beiden anderen zu: „Beeilt euch, Jungs! Ich habe den Flachmann!“

„Aber du weißt nicht, wohin!“, riefen Ashe und Merrick wie aus einem Munde. Das war schon immer so gewesen. Bereits in Oxford hatte Riordan den Details keine Beachtung geschenkt, hatte nur das Vergnügen des Augenblicks gekannt und nicht auf die Konsequenzen geachtet. Merrick tauschte einen vielsagenden Blick mit Ashe aus.

„Ein Grund mehr, mich einzuholen …“

Unter Hufgetrappel wehten die Worte Merrick und Ashe entgegen, die sich das kein zweites Mal sagen ließen und sofort ihre Pferde antrieben.

Sie erreichten den kleinen See, der genauso war, wie Ashe ihn in Erinnerung gehabt hatte: eine schattige Oase, die von einem kleinen Bach gespeist wurde, und sich hervorragend für ein sommerliches Bad eignete. Von etwaigen Blicken war das kühle Nass durch ein Wäldchen und dicht belaubte Weiden verdeckt. Merrick verlor keine Zeit, sich die Kleidung vom Leib zu reißen. Zu verlockend war die Aussicht, das kalte Wasser auf der erhitzten Haut zu spüren. Er tauchte in den See, ohne zuvor mit einer Zehe die Temperatur zu prüfen.

Das Wasser umspülte seinen Kopf, und er spürte, wie alle Anspannung von ihm abfiel. Es war eine Wohltat. Mit kraftvollen Zügen tauchte er bis in die Mitte des Sees. Jeder Zug entfernte ihn weiter von London, von seinem Vater und von seinem ständigen Kampf um das Recht, er selbst zu sein, obgleich er gar nicht recht wusste, wer er war. Im Wasser fühlte er sich frei und rein. Eine unbändige Freude erfasste ihn, als er prustend auftauchte, und das Wasser aus den Haaren schüttelte. Ashe beobachtete ihn, herrlich nackt auf einem Felsen posierend wie ein Meeresgott. Merrick schwamm zu ihm, langte hoch, bekam Ashes rechtes Bein zu fassen und zog daran. „Komm schon rein, das Wasser ist herrlich!“

Ashe schrie laut auf, als die Schwerkraft und Merrick ihn in den Teich beförderten. „Riordan, komm her und hilf mir!“

Riordan genehmigte sich noch rasch einen Schluck aus dem Flachmann, bevor auch er sich in das plätschernde Getümmel warf. Lachend rangen die Freunde im Wasser miteinander, kletterten die Böschungen hoch, stießen einander unter Jubelschreien wieder in den See und sprangen ausgelassen hinterdrein. Einen solchen Spaß hatte Merrick schon seit Jahren nicht mehr erlebt. Londons feine Gesellschaft wäre entsetzt gewesen, wenn sie drei ihrer Mitglieder in dieser nackten Ungezwungenheit und Ausgelassenheit erblickt hätten. Aber warum sollten sie sich diese Freude nicht gönnen? Schließlich gab es niemanden, der sie sah.

2. KAPITEL

Glücklicherweise konnte niemand sie so sehen. Alixe war bewusst, dass sie in dem praktischen amorphen Kleid in trostlosem Olivgrau und den abgewetzten Halbstiefeln ganz und gar nicht wie die Tochter eines Earl aussah. Ihre Familie würde Zustände bekommen. Wieder einmal. Andererseits wollte ihre Familie so wenig Ärger wie möglich. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb die Eltern ihr den Spaziergang überhaupt erlaubt hatten, obgleich die Ankunft der Gäste für die von ihnen lang ersehnte sommerliche House Party unmittelbar bevorstand.

Im Augenblick wäre es Alixe sogar gleichgültig gewesen, wenn sich der König höchstpersönlich zu Besuch angekündigt hätte. Sie hatte noch einen kostbaren Nachmittag ganz für sich allein, und nur das zählte. Das Wetter war herrlich, und sie genoss ihre Wanderung zur Grenze des Familiengrundstücks. Da ihr nach Verbotenem zumute war, würde sie sich vielleicht auch ein wenig darüber hinauswagen. Sie hatte ein Ziel vor Augen – ein altes Sommerhaus, das sich am äußersten Rand der familiären Besitztümer befand. Dort konnte sie es sich mit ihren Abschriften und Notizen bequem machen. Alles hatte sie sorgfältig in die Stofftasche gepackt, die über ihrer Schulter hing.

Sie näherte sich dem Sommerhaus. Der Pfad war immer dichter von Farn überwuchert, je tiefer sie sich in das Unterholz wagte. Sie lächelte und schob ein wenig von dem üppigen Gestrüpp zur Seite. Hier unter den Bäumen war es angenehm kühl. Ah, da war es! Sie beschleunigte ihre Schritte und nahm zwei der zerbröckelnden Stufen, die zum Eingang führten, auf einmal.

Alixe öffnete die Tür und atmete auf. Dieses alte Sommerhaus war wie für sie geschaffen. Sie hatte vor, es in einen Zufluchtsort für sich zu verwandeln. Was sie dafür brauchte, würde sie gewiss auf dem Dachboden des Herrenhauses finden. Sie stellte ihre Tasche auf dem Boden ab und blickte sich in dem zu einer Seite offenen Raum um. Es handelte sich eher um einen geräumigen Pavillon als um ein richtiges Haus, doch der verwunschene Ort bot unbegrenzte Möglichkeiten. Hier konnte sie allein sein, fern von diesem ekelhaften Nachbarn Archibald Redfield, weit weg von allem und jedem und von der Erwartungshaltung und den Plänen ihrer Eltern. Alixe schloss die Augen und atmete tief ein. Ja, zum Glück war sie endlich allein!

Dann hörte sie es: Etwas, das gegen ihre Einsamkeit sprach. Sie drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs. Ein Vogelschrei? Der Laut wiederholte sich – und es handelte sich eindeutig um keinen Vogel. Es klang nach menschlichen Schreien.

Du meine Güte!

Der See.

Alixe zögerte keine Sekunde. Bestimmt steckte jemand in Schwierigkeiten. Sie hastete durch das Gebüsch auf die Schreie zu.

Atemlos brach Alixe durch das Dickicht auf die Lichtung vor dem See und kam abrupt zum Stehen. Sie erkannte auf einen Blick, dass nichts und niemand in Gefahr war, außer ihrem Zartgefühl, doch es war zu spät, um sich unbemerkt zurückzuziehen. Drei Männer tollten – ja, tollen war das einzig treffende Wort dafür – tollten im Wasser herum. Sie tauchten, rangen aufjauchzend miteinander und blickten in ihre Richtung.

Oje! Sie haben mich bemerkt.

Das hatte sie nun davon, die gute Samariterin spielen zu wollen. Besorgt war sie losgerannt, um – wie sich jetzt herausstellte – drei Männern zur Hilfe zu eilen, die nackt im See herumtollten. Einer von ihnen hätte wenigstens den Anstand haben können, tatsächlich zu ertrinken.

„Hallo, machen wir zu viel Lärm? Wir dachten, es wäre niemand in der Nähe!“, rief einer von ihnen unbeeindruckt von ihrem plötzlichen Erscheinen. Er verließ seine Kameraden und watete auf das Ufer zu. Zentimeter für Zentimeter gab das zurückweichende Wasser den Blick auf seinen prachtvollen Körper frei, bis Alixe sich in zwei Dingen ganz sicher war: Erstens hatte sie niemals in ihrem Leben einen so wohlgestalteten Mann gesehen, und zweitens war dieser umwerfend gebaute Fremde ohne jeden Zweifel nackt.

Sie hätte wegsehen sollen. Aber wohin? In seine Augen? Die waren von hypnotisierender Schönheit. Es gab keinen Himmel, der blauer war. Auf seinen Brustkorb? Der bot einen viel zu attraktiven Anblick – vor allem der Waschbrettbauch, der an der Taille schlank zulief.

Bauch!

Oh Gott, sie hatte weder gewollt, dass das Wasser so tief sank noch ihr Blick. Noch immer bewegte er sich auf sie zu, als ob ihn seine Nacktheit gar nicht störte. Sie musste dem Einhalt gebieten, oder sie würde noch mehr zu sehen bekommen, als seinen göttergleichen Waschbrettbauch.

Ihre gute Erziehung ließ sie vollkommen im Stich. Sie konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie alles sah. Sie hätte etwas sagen sollen. Was sagte man zu einem nackten Mann am See?

Sie entschied sich, Gelassenheit zu demonstrieren und so zu tun, als ob sie ständig auf nackte Männer stoßen würde. „Sie brauchen nicht für mich aus dem Wasser kommen! Ich bin sofort wieder weg. Ich hörte Schreie und dachte, jemand bräuchte Hilfe.“

Gut. Ihre Stimme hatte einigermaßen normal geklungen.

Alixe entfernte sich rückwärts vom Wasser und stolperte prompt über einen Holzstamm, der halb in den Schlamm des Ufers eingesunken war. Sie fiel unsanft auf den Po. Sie spürte, dass sich ihre Wangen röteten. So viel zum Thema normal.

Der Fremde lachte nicht unfreundlich, und kam noch näher. Sie sah seine vollständig entblößte Männlichkeit. Sie konnte nicht anders, als ihn anstarren. Er bot einen so prachtvollen Anblick, dass sie ihre Verlegenheit für einen Moment vergaß, und ihre Neugier die Oberhand gewann. Der Mann war wunderschön – auch dieser Teil von ihm war in einem wilden, ursprünglichen Sinne wundervoll. Das hatte sie nicht erwartet.

„Es scheint, als ob schließlich doch jemand Hilfe bräuchte.“ Der unbekannte nackte Mann beugte sich mit ausgestreckter Hand über sie – nicht, dass sie seiner Hand viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte, solange es andere baumelnde Körperteile in nächster Nähe zu betrachten gab.

„Nein, nicht nötig, es ist alles in Ordnung“, wehrte sie hektisch ab. Ihr Sinn für Anstand und Sitte war zurückgekehrt, und mit ihm Verwirrung und Scham.

„Seien Sie nicht so stur, und reichen Sie mir Ihre Hand. Sie wollen doch nicht noch einmal hinfallen.“ Beharrlich streckte er ihr die Hand entgegen.

„Oh ja, meine Hand.“ Alixe reichte ihm ihre Rechte, als ob sie deren Existenz gerade erst entdeckt hätte, und hob den Blick zu seiner Brust und seinem Gesicht. Er grinste sie an. Sein Lächeln war breit und vergnügt, und seine Augen waren blauer als das Himmelblau an einem strahlend schönen englischen Sommertag.

Er zog Alixe auf die Beine, wobei er wegen seiner fehlenden Bekleidung nicht im Geringsten in Verlegenheit zu sein schien.

„Ihr erster nackter Mann, nehme ich an?“

„Was?“ Sie brauchte einen Moment um die Frage zu verstehen. Es war schon schwer genug, die Blicke von der Gegend seiner Oberschenkel abzuwenden, geschweige denn, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren. In der Hoffnung, ihre Würde zurückzuerlangen, bemühte sie sich um eine weltläufige Antwort. „Nein, ich habe in der Tat eine Menge davon in …“ Sie zögerte. Wo sollte sie nackte Männer gesehen haben?

„In der Kunst?“, fragte er entgegenkommend. Wassertropfen funkelten wie Diamanten in seinen flachsblonden Haaren.

„Ich habe den David gesehen“, erwiderte sie, die Herausforderung annehmend. Das entsprach der Wahrheit. Sie hatte Abbildungen von Michelangelos berühmter Statue gesehen. Allerdings konnte der gezeichnete David diesem Fremden nicht das Wasser reichen, der seine körperlichen Vorzüge unverfroren im Sonnenlicht präsentierte. Sie ließ die Blicke am Ufer entlangschweifen, um an besagten Vorzügen vorbeizusehen. Es war alles seine Schuld. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sich mit den Kleidungsstücken zu bedecken, die ganz in der Nähe lagen. Welcher Mann blieb nackt stehen, wenn eine Lady zugegen war? Jedenfalls nicht die Art von Mann, dem sie in den vornehmen Kreisen ihrer Eltern zu begegnen pflegte.

Hastig griff sie nach dem nächsten Kleidungsstück. „Sie sollten sich lieber bedecken, Sir.“ Alixe hielt ihm das Hemd hin. Natürlich war es zu schade, doch es gehörte nun einmal zu den zwingenden gesellschaftlichen Konventionen. Niemand stand einfach ohne Kleidung herum und führte ein Gespräch.

Er nahm das Hemd und blickte sie mit lachenden Augen an. „Sollte ich das? Ich hatte den Eindruck, Sie würden den Anblick genießen.“

„Ich denke, der Einzige, der das genießt, sind Sie“, widersprach Alixe, wobei sie sich sehr um jene Empörung bemühte, die sie angesichts seines Angriffs auf ihr Zartgefühl hätte empfinden müssen.

Er hob herausfordernd eine Braue. „Ich gebe es wenigstens zu.“

Diese Bemerkung erregte Alixes Zorn. Sie straffte die Schultern. „Sie haben überhaupt keine Manieren.“ Aber einen Körper wie ein Gott und das Gesicht eines Engels. „Ich muss gehen.“ Sie wischte sich über das Kleid, um die Hände zu beschäftigen. „Wie ich sehen kann, ist hier niemand in Gefahr. Daher mache ich mich auf den Weg.“ Es gelang ihr, die Lichtung zu verlassen, ohne über einen irgendeinen Baumstamm zu stolpern.

Belustigt beobachtete Merrick, wie sie verschwand. Er schob die Arme in die Ärmel seines Hemdes – ein verspäteter Auftakt, sich zu bedecken, wie es sich gehörte. Vielleicht hätte er sie nicht so gnadenlos necken dürfen. Doch es war nur Spaß gewesen, und sie war nicht verschüchtert vor ihm zurückgewichen. Er erkannte, wann eine Frau neugierig und wann sie ernsthaft erschrocken war. Dieses weibliche Wesen mit dem tristen Kleid war nicht halb so verschämt, wie sie behauptet hatte. Ihre weit geöffneten, bezaubernden sherryfarbenen Augen hatten bei seinem Anblick zufrieden gefunkelt.

Merrick griff nach seinen Breeches und schlüpfte hinein. Selbstverständlich hatte sie versucht, wegzusehen, doch gegen eine gesunde Wissbegierde war schwer anzukämpfen, und diese Schlacht hatte sie von Anfang an verloren. Nicht, dass ihre unverblümte Musterung seiner männlichen Anatomie ihn gestört hätte. Sie war nicht die erste Frau, die ihn nackt sah. Er hatte sich von vielen Frauen nackt betrachten lassen.

Frauen mochten seinen schlanken muskulösen Körper. Lady Mansfield hatte ihn einmal ziemlich öffentlich zum achten Weltwunder erklärt. Lady Fairworth hatte Nächte damit zugebracht, ihn stundenlang anzustarren. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihn Dinge aus dem ganzen Zimmer holen zu lassen, um ihn splitternackt in Bewegung zu betrachten.

Es hatte ihm nichts ausgemacht. Er verstand das Begehren dieser erfahrenen Frauen, und sie, ihrerseits, verstanden seines. Aber heute war es anders gewesen. Ihre Blicke hatten etwas Unschuldiges gehabt. Er war eindeutig ihr erster nackter Mann gewesen. Selbst jetzt noch erregte ihn diese Vorstellung. Sie war überrascht gewesen, war aber nicht vor ihren Entdeckungen zurückgeschreckt. Sie hatte sie begrüßt. Ihre Reaktion hatte ungewohnte Empfindungen in ihm ausgelöst. Es war Jahre her, seit er für ein Mädchen der erste nackte Mann gewesen war.

Mehr als das, ihre offenherzige Reaktion hatte eine anziehende Wirkung auf ihn ausgeübt. Trotz ihrer Unbeholfenheit hatte er gespürt, dass sie sich zu helfen wusste. Hilflose Jungfern liefen nicht durch den Wald, um Ertrinkende zu retten. Die scharfzüngige Unterhaltung mit ihr hatte er ebenso genossen wie ihre freimütigen Blicke.

Alixes Wangen glühten noch immer, als sie in das Sommerhaus zurückgekehrt war. Sie machte es sich mit ihren Aufzeichnungen bequem, wild entschlossen nicht mehr an die Begegnung am See zu denken. Allerdings spielte ihr Verstand nicht mit. Stattdessen rief er ihr auf das Lebendigste die Einzelheiten des wohlgeformten Körpers mit dem Waschbrettbauch und der schlanken Taille in Erinnerung, die in seinen männlichsten Teil mündeten. Und dieses Lächeln. Selbst jetzt noch rief dieses verruchte Grinsen bei ihr ein seltsames Kribbeln hervor. Er hatte mit ihr geflirtet. Diese strahlend blauen Augen wussten genau, was sie taten. Er war sich bewusst gewesen, welches Gefühlschaos er bei ihr auslöste. Es war Jahre her, dass jemand mit ihr geflirtet hatte, auch wenn die heutigen Umstände ungewöhnlich gewesen waren.

Nun, mehr als ein wenig ungewöhnlich. Diese Begegnung war das Ungewöhnlichste, was ihr je widerfahren war. Bis vor einer halben Stunde hatte sie nie einen Mann ohne Kleidung gesehen. Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sie seit ihrem Debüt keinen Mann erblickt, der auch nur seine Weste abgelegt hatte. Ein Gentleman wagte es nicht, sie in Gegenwart einer Lady auszuziehen, selbst wenn es noch so heiß war. Der Fremde hingegen hatte weit mehr als die Weste ausgezogen und dennoch keine Anzeichen von Scham gezeigt. Daraus ließ sich schließen, dass er gewiss kein Gentleman war.

Erneut errötete Alixe. Sie hatte einen echten, lebendigen, nackten Mann gesehen.

Aus der Nähe.

Aus sehr großer Nähe.

Überaus nah. Und es war umwerfend gewesen. War das bei ihr nur Neugier oder schamlose Lüsternheit? Um diese Frage angemessen zu beantworten, musste sie genauer nachdenken. Sie war keine prüde Zierpflanze, die sich vor den Tatsachen des Lebens versteckte. Sie hatte den Anblick seines Körpers ebenso genossen wie er dessen Zurschaustellung. Alixe kämpfte gegen den Drang an, sich wie ein dummes Fräulein Luft zuzufächern. Sie musste sich auf die Notizen zu ihrer Übersetzung konzentrieren und mit dieser albernen Grübelei aufhören. Sie hatte heute nicht mehr gesehen als eines der Geschenke, die Gott der Menschheit gemacht hatte. Der halben Menschheit.

Dort unten.

Ihr Versuch, das Bild, das sie vor Augen hatte, durch eine erhabene philosophische Betrachtung zu vertreiben, scheiterte kläglich.

Es ließ sich nicht bestreiten: Sie war zu unruhig, um sich unter diesen Umständen auf die Übersetzungsarbeit einzulassen. Sie steckte die Papierbögen zurück in die Tasche. Um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, musste sie die Umgebung wechseln. Es war besser, wenn sie zum Herrenhaus zurückkehrte. Und wenn sie auf dem Rückweg wie eine törichte Närrin lächelte, dann war es eben so.

Als Alixe die Sicherheit ihrer Zimmer erreicht hatte, war sie wieder zur Ruhe gekommen. In der Tat hatte sie auf dem gesamten Rückweg zum Haus gelächelt. Sie konnte auch einfach während des Abends lächeln, der ihr bevorstand. Wenn die Gäste dachten, sie würde ihretwegen lächeln, sollten sie das gern tun. Schließlich wusste nur sie, worüber sie in Wahrheit lächelte. Davon abgesehen war sie zu der Einsicht gelangt, dass aus ihrem Geheimnis keinerlei Schaden erwuchs. Der Mann, dem sie am See begegnet war, kannte sie nicht, und sie kannte ihn nicht. Sie würden einander nie wiedersehen, außer vielleicht in ihren Träumen.

Allerdings ließ sich nicht bestreiten, dass sie sich weltgewandter fühlte als noch ein paar Stunden zuvor. Um das zu feiern, kleidete sie sich mit ein wenig mehr Sorgfalt als sonst. Sie bat Meg, ihre Zofe, das hellblaue Abendkleid mit der schokoladenbraunen Bordüre und dem tiefen Ausschnitt herauszulegen. Das Kleid war eines der wenigen Ausnahmen ihrer ansonsten betont schlichten Garderobe.

Sie hatte sich immer mehr für historische Manuskripte und Bücher interessiert als für prachtvolle Kleider, Bälle, Gesellschaften und Festivitäten. Eine Tatsache, die ihre Familie nicht akzeptieren wollte, obgleich sie inzwischen das fortgeschrittene Alter von sechsundzwanzig Jahren erreicht hatte und sich erfolgreich gegen jede Eheanbahnung gewehrt hatte. Trotz ihres entschiedenen Widerstandes hatte es die Familie noch nicht aufgegeben, den streitlustigen Blaustrumpf von Tochter unter die Haube zu bringen. Alixe hatte sich geweigert, in dieser Saison in die Stadt zu reisen, weshalb ihre hartnäckigen Eltern London zu ihr brachten, und zwar in Gestalt einer House Party, deren Gästeschar im Laufe des Tages eingetroffen war und sich jetzt für das Dinner versammelte.

Alixe legte ihre Perlenohrringe an und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Es wurde Zeit, nach unten zu gehen und so zu tun, als ob sie nie einen Mann ohne Kleidung gesehen hätte. Dazu war sie gewiss in der Lage. Entschlossen verließ sie das Zimmer.

„Alixe, da bist du ja.“ Ihr Bruder Jamie erschien am unteren Ende der Treppe. „Hübsch siehst du heute Abend aus. Du solltest öfter etwas Blaues tragen.“ Sie hakte sich bei ihm ein und war ausnahmsweise für seine Gegenwart dankbar. „Es gibt da ein paar Leute, die ich dir gern vorstellen würde.“

Sie unterdrückte ein Stöhnen. Jamie meinte es gut, aber er machte sich viel zu viele Gedanken um sie und ihre Zukunft. Ebenso wie ihre Eltern hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie zu verkuppeln.

„Alixe, alles ist gut. Es handelt sich um Freunde von mir, mit denen ich auf der Universität war. Und nun sei nett. Da drüben sind sie“, flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie in das Gesellschaftszimmer führte.

Eine Gruppe Gentlemen stand in der Nähe der Flügeltür. Bei Jamies Eintreten drehten sich vier Augenpaare in Alixes Richtung. Einen der Männer kannte sie. Es handelte sich um einen älteren Gutsherrn aus der Nachbarschaft. Die anderen drei Augenpaare gehörten zwei dunkelhaarigen Teufeln und einem flachsblonden Engel – einem sehr ungezogenen Engel, einem Engel, den sie nackt gesehen hatte.

Alixe erstarrte. Sofort malte sie sich die peinlichen Szenarien aus, die sich daraus ergeben konnten. Vielleicht erkannte er sie, auch wenn sie in dem teuren Abendkleid kaum mehr wie das Mädchen aussah, das durch die Wälder gestreift war.

Stolz zog Jamie sie auf die Männer zu. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Begegnung durchzustehen. „Ich möchte euch meine Schwester, Lady Alixe Burke, vorstellen.“ Alixe, meine Liebe, dies sind meine alten Freunde aus Universitätstagen, von denen ich dir erzählt habe. Riordan Barrett, Ashe Bedevere und Merrick St. Magnus.

Großartig, nun hatte der Engel einen Namen.

„Enchanté, mademoiselle.“ Merrick beugte sich zum Handkuss vor, während er den Blick keine Sekunde von ihr abwandte. Er hatte schon früh gelernt, Frauen richtig einzuschätzen. Elegante Kleider und kunstvolle Frisuren täuschten über einiges hinweg und verrieten nicht viel über die Eigenschaften und Geheimnisse einer Frau. Um den wahren Charakter einer Frau zu erkennen, musste man ihr ins Gesicht sehen. In diesem Fall lenkten ihn weder das Kleid noch die Frisur ab.

Es war eindeutig sie.

Diese sherryfarbenen Augen mit den langen Wimpern hätte er immer und überall wiedererkannt. Sie waren das Ausdrucksvollste an ihr und sprachen für einen wachen Geist und Neugier. Hinzu kam der Mund. Merrick betrachtete sich als großer Kenner von Mündern, und dieser bettelte geradezu darum, geküsst zu werden. Nicht, dass er auf die Idee gekommen wäre, Jamie Burkes Schwester zu küssen. Sie war die Art von Mädchen, die für ihn tabu war. Er hatte heute schon viel zu sehr mit dem Feuer gespielt, auch wenn er nicht geahnt hatte, wen er vor sich gehabt hatte.

Sie senkte kurz den Kopf, hieß die Männer willkommen und entfernte sich mit der Entschuldigung, eine Freundin begrüßen zu wollen. Merrick beobachtete jedoch, dass sie sich nur neben Lady Folkestone und eine Gruppe älterer Damen stellte, die sich um den großen Kamin versammelt hatten. Er fand es nicht richtig, verschämten jungen Damen Unbehagen zu bereiten, aber in diesem Fall wusste er es besser. Alixe Burke war kein schüchternes Fräulein, auch wenn sie sich einen solchen Anschein gab. Es würde ihr nichts schaden, wenn er sie ein bisschen aufzog.

Jamie riss ihn aus seinen Gedanken. „Vielleicht könnte ich dafür sorgen, dass du Alixe zu Tisch führst, Merrick.“

Jamie gehörte zu den seltenen Gestalten, die Wünsche wahr werden ließen. In Oxford hatten sie nur einen Wunsch äußern müssen, und schon hatte Jamie ihn gewährt. Das hatte sich auch in den Jahren danach nicht geändert. Obgleich Merrick als zweiter Sohn eines Marquis rangniedriger war als ein paar andere Gäste, fand er sich tatsächlich als Tischnachbar von Alixe Burke wieder. Sie schien darüber alles andere als glücklich, was sie durch eine entsprechende Reserviertheit zum Ausdruck brachte. Das musste er ändern. Er wollte Überraschung, Lebendigkeit und Emotionen bei ihr sehen. Diese ausdruckslose, gelangweilte Miene, die sie in Gesellschaft aufsetzte, stand ihr nicht gut zu Gesicht.

„Miss Burke, ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns schon einmal begegnet sind“, murmelte er, als der erste Gang serviert wurde.

„Das ist sehr unwahrscheinlich. Ich bin nur ganz selten in London“, erwiderte sie kurz angebunden und lächelte frostig.

Er durchschaute ihre Taktik. Sie tat, als ob sie ihn nicht erkannt hätte. Entweder verhielt es sich tatsächlich so, oder sie hoffte, dass er sie nicht wiedererkannte. Das war alles Verstellung. Ihre linke Hand lag zur Faust geballt auf ihrem Schoß, ein deutliches Zeichen ihrer Angespanntheit.

„Dann sind wir uns vielleicht hier in der Gegend begegnet“, entgegnete Merrick freundlich, aber mit Nachdruck. Er wollte die faszinierende Frau zurück, die ihn mit solch unverblümter Neugier betrachtet hatte. Die Frau, die jetzt neben ihm saß, schien nur deren leblose Hülle zu sein.

Sichtlich verärgert legte sie ihren Löffel auf den Tisch und drehte sich zu ihm. „Lord St. Magnus, ich gehe auch in dieser Gegend selten aus. Ich verbringe meine Zeit im Kreis örtlicher Historiker. Sofern Sie sich also nicht mit der Restaurierung oder Übersetzung mittelalterlicher Dokumente aus Kent beschäftigen, sind wir einander mit großer Sicherheit nie begegnet.“

Merrick unterdrückte ein Grinsen. Er machte Fortschritte. Immerhin wurden ihre Antworten schon länger. „Aber bestimmt machen Sie doch gelegentlich einen Spaziergang, Lady Alixe, schlendern ein wenig durch die Wälder und besuchen den einen oder anderen See. Vielleicht sind wir uns dort begegnet.“

„Das wäre kein geeigneter Ort für eine Begegnung.“

Ihre Wangen röteten sich. Sie musste erkannt haben, dass das Spiel vorbei war, oder zumindest beinahe.

Merrick gewährte ihr einen Moment, um sich zu sammeln, während die Bediensteten die Vorspeisenteller abräumten. Der zweite Gang wurde gebracht, und Merrick feuerte seine nächste Salve ab. „Natürlich ist es vorstellbar, dass Sie mich einfach nur nicht wiedererkennen. Wenn es sich um die Begegnung handelt, die ich im Sinn habe, trugen Sie ein altes olivgrünes Kleid und ich mein Adamskostüm.“

Lady Alixe lachte leise in ihr Weinglas. „Wie bitte?“

„Mein Adamskostüm, das Gewand der Natur, meine hüllenlose Nacktheit.“

Sie stellte das Weinglas ab und sah ihn fest an. „Ich habe auch ohne Erläuterungen verstanden, was Sie gemeint haben. Allerdings begreife ich nicht, weshalb Sie mir den Vorfall in Erinnerung rufen wollen. Ein echter Gentleman würde eine Lady niemals so unverhohlen an eine derartig heikle und zufällige Begegnung erinnern.“

„Vielleicht gehen Sie von falschen Voraussetzungen aus, wenn Sie Ihre Schlüsse ziehen.“ Merrick kostete von der Pastete, dann lehnte er sich zurück und bereitete den nächsten Angriff vor.

„Sind Sie mit Syllogismen vertraut, Lady Alixe?“, fuhr er gelassen fort. „Der Mensch ist sterblich, Sokrates ist ein Mensch, daher ist Sokrates sterblich. In diesem Fall: Gentlemen bereiten Ladys keine Unannehmlichkeiten, Merrick St. Magnus ist ein Gentleman, daher redet er nicht über den kleinen nachmittäglichen Vorfall am See. Lautet so Ihre Argumentation, Lady Alixe?“

„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie und Ihre Freunde dort im Wasser herumtollen würden.“

„Ah, also erinnern Sie sich an mich?“

Sie schürzte die Lippen und kapitulierte. „Ja, Lord St. Magnus, ich erinnere mich an Sie.“

„Gut. Ich fände es bedauerlich, nicht erinnerungswürdig zu sein. Die meisten Ladys finden mein Adamskostüm unvergesslich.“

„Das kann ich mir denken.“ Sie aß ein Stück Rindfleisch mit der eindeutigen Absicht, das Gespräch zu beenden.

„Höre ich da in Ihrer Bemerkung einen weiteren Syllogismus heraus, Lady Alixe? Die meisten Ladys schätzen mein Adamskostüm, Lady Alixe ist eine Lady, daher …“

„Nein, es lässt sich kein weiterer Syllogismus ableiten. Ich bin eine Ausnahme.“

Merrick schenkte ihr ein ausdauerndes Lächeln. „Dann muss ich mich bemühen, Ihre Meinung zu ändern.“ Dies war bei Weitem die interessanteste Unterhaltung, die er seit Jahren geführt hatte. Wahrscheinlich, weil nicht von vornherein feststand, wie der andere reagierte und was letztlich dabei herauskam. Daran war er nicht gewöhnt. Bei den Frauen, mit denen er normalerweise zu tun hatte, war die Unterhaltung nur ein belangloses Geplänkel mit einem vorhersehbaren Ergebnis. Was nicht hieß, dass das Ergebnis nicht vergnüglich war, aber es war eben voraussagbar.

Zu schade, dass die Etikette verlangte, sich der Tischnachbarin auf der anderen Seite zuzuwenden. Selbst wenn ihm die allgemeinen Anzeichen am Tisch entgangen wären, die den Wechsel ankündigten, Lady Alixes tiefer erleichterter Seufzer hätte ihn daran erinnert. Aber so leicht würde er sie nicht entkommen lassen.

Mit einer gewissen Boshaftigkeit lehnte sich Merrick dicht zu ihr vor – nah genug, um ihren Zitronen-Lavendel-Duft zu riechen – und flüsterte verschwörerisch: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir können darüber noch später am Abend weiterreden.“

„Darüber habe ich mir keine Sorgen gemacht.“ Es gelang ihr, ihn mit zusammengebissenen Zähnen anzulächeln.

„Doch, haben Sie.“

Lady Alixe drehte sich zu dem Tischnachbarn an ihrer anderen Seite, jedoch nicht, ohne Merrick unter dem Tisch noch einen gezielten Tritt gegen den Knöchel zu versetzen. Er hätte gelacht, wenn es nicht so schmerzhaft gewesen wäre.

3. KAPITEL

Das Dinner verlor danach für Merrick seinen Reiz. Die Frau eines Gutsherrn, die zu seiner Linken saß, ließ sich bereitwillig auf eine scherzhafte Unterhaltung ein, aber das war weit weniger aufregend als das Rededuell mit Lady Alixe.

Die Runde der Männer bei einer Karaffe Brandy nach dem Dinner schleppte sich dahin. Merrick war die meiste Zeit damit beschäftigt, die hübsche, aber unnahbare Lady Alixe gedanklich mit dem unverblümt neugierigen Mädchen am See in Einklang zu bringen. Lady Alixe besaß zweifellos einen trockenen Humor, doch sie hatte nicht wiedererkannt werden wollen, und das war nicht weiter verwunderlich. Falls jemand von ihrer Familie von der Begegnung Wind bekam, konnte das für sie beide fatale Konsequenzen haben.

Er musste also sicherstellen, dass Ashe und Riordan Verschwiegenheit darüber bewahrten. Wobei er sich die Frage stellte, ob die beiden in Lady Alixe überhaupt das Mädchen mit dem unförmigen olivgrünen Kleid wiedererkannt hatten? Sie waren ein Stück weiter draußen im See geblieben und hatten die Besucherin nur aus der Ferne gesehen. Überdies war Lady Alixe keine Frau, auf die einer der beiden auch nur einen zweiten Blick geworfen hätte. So unscheinbar wie möglich zu wirken, liegt offenbar in Lady Alixes Absicht, mutmaßte Merrick. Sie war mehr als ansehnlich und brauchte sich eigentlich nicht zu verstecken. Dennoch gab sie sich große Mühe, ihre Vorzüge zu verbergen, und ihre Scharfzüngigkeit hielt wahrscheinlich die meisten Männer davon ab, sie näher in Augenschein zu nehmen. Normalerweise hätte auch er bei ihr nicht näher hingesehen, wenn es die Begegnung am See nicht gegeben hätte.

Doch nun war seine Neugier auf Lady Alixe Burke erst recht geweckt, die sich offenbar bewusst von London und den Festivitäten der Saison fernhielt. Sie war alles andere als hässlich, wusste, wie man ein geistreiches Gespräch führte und war durch das väterliche Vermögen abgesichert. Sie hätte allen Grund dazu gehabt, in London Furore zu machen und den Junggesellen der feinen Kreise den Kopf zu verdrehen oder ihnen wenigstens gegen die Knöchel und Schienbeine zu treten. Merrick lachte leise in sich hinein. Ein Rätsel. Wenn es von außen betrachtet keinen Grund gab, weshalb sie nicht in London war, musste sie erst recht einen guten persönlichen Grund dafür haben. Er trank seinen Brandy aus und war begierig darauf, sich zu den Damen in das Gesellschaftszimmer zu begeben, um mehr über Lady Alixe herauszufinden.

Dort angekommen entdeckte er sie sofort. Sie war genau da, wo er sie vermutet hatte. Sie saß neben einer älteren Nachbarin auf einem Sofa und hörte sich geduldig deren Gerede an. Er erinnerte sich an das, was sie ihm erzählt hatte. Sie gab sich lebensfern und arbeitete mit örtlichen Historikern zusammen. Faszinierend.

Er näherte sich dem Sofa und überhäufte Lady Alixes Gesprächspartnerin mit schmeichelhaften Bemerkungen, bis die alte Dame ihm vermutlich alles verziehen hätte. Dann wandte er sich an Alixe Burke. „Dürfte ich Sie für einen kurzen Moment entführen, Lady Alixe?“

„Was können Sie mir denn jetzt noch zu sagen haben?“, fragte sie, nachdem Merrick sie unter dem Vorwand, mit ihr über ein Gemälde sprechen zu wollen, zu einer weit entfernten Wand geführt hatte.

„Ich denke, wir sollten vereinbaren, dass unsere Begegnung am See unter uns bleibt“, sagte Merrick leise. „Ich will ebenso wenig, dass Sie darüber schwätzen, wie Sie möchten, dass ich jemandem davon erzähle. Wir wissen beide, welchen Skandal das für uns zur Folge haben könnte.“

„Ich schwätze nicht.“

„Selbstverständlich nicht, Lady Alixe. Verzeihen Sie. Ich verwechselte Schwätzen mit Unter-dem-Tisch-Treten.“

Über diese Bemerkung ging sie geflissentlich hinweg. „Und Ihre Freunde werden ebenfalls nicht darüber schwätzen, darf ich annehmen?“

„Sie werden kein Wort darüber verlieren“, versprach Merrick.

„Dann haben wir eine Übereinkunft erzielt, und Sie müssen mich kein weiteres Mal mit ihrer Gegenwart behelligen.“

„Weshalb so unfreundlich, Lady Alixe?“

„Ich kenne Männer wie Sie.“

Er lächelte. „Was genau verstehen Sie unter einem Mann wie mir?“

„Einen Schwerenöter, der Frauen absichtlich in kompromittierende Situationen bringt.“

„Sind Sie denn jemals einem begegnet? Einem Schwerenöter, meine ich? Woran erkennen Sie ihn denn? Oh, ich vergaß, Sie haben den David betrachtet. Nun, zu Ihrer Kenntnisnahme, Frauen wie Sie kenne ich ebenfalls. Sie denken, nicht viel für Männer übrigzuhaben, aber das liegt nur daran, dass Sie noch nicht dem Richtigen begegnet sind.“

„Sie sind unverschämt und definitiv kein Gentleman.“

Merrick lachte. „Nein, das stimmt nicht. Das sollten Sie besser wissen, Lady Alixe. Wird jungen Damen im Schulzimmer nicht erzählt, dass man einen Gentleman auf den ersten Blick an seiner Kleidung erkennt?“

Sie sah ihn mit zusammengepressten Lippen an. „Ich gebe zu, dass ich dieses Kriterium vernachlässigen musste.“ Lady Alixe zeigte ihm die kalte Schulter und begab sich in Richtung des Servierwagens, der eben mit Tee und Gepäck in das Zimmer geschoben worden war.

Aus einer stillen Ecke beobachtete Archibald Redfield die lebhafte Unterhaltung zwischen St. Magnus und Alixe Burke. Er konnte nicht hören, was gesagt wurde, aber St. Magnus lachte, und Alixe Burke wirkte aufgebracht, als sie sich von ihm abwandte und auf den Servierwagen zuschritt. Das war nichts Neues. Seiner Ansicht nach war sie eine echte Xanthippe. Für scharfzüngige Frauen hatte er nicht viel übrig, außer sie waren reich oder wussten ihre Zungen anderweitig zu benutzen.

Glücklicherweise war die Tochter des Earls sehr reich, weshalb er ihre weniger anziehenden Eigenschaften in Kauf nahm. Nachdenklich trommelte er mit den Fingern auf die Armlehne. Die Dinge entwickelten sich zu Beginn nicht besonders großartig. Er war mit der eindeutigen Absicht zu der House Party gekommen, Alixe Burkes Wohlwollen zu gewinnen. Im Frühjahr diesen Jahres hatte sie seine Vorstöße unterbunden und ihn, wo es ging, gemieden. Nun hoffte er, verlorenen Boden gutzumachen. Er war eigens schon früh am Nachmittag gekommen, nur um feststellen zu müssen, dass sie irgendwo draußen durch die nahen Wälder spazierte. Vor dem Dinner war sie nicht in Erscheinung getreten, und bei Tisch hatte sie für ein Gespräch viel zu weit von ihm entfernt gesessen. Dieser Casanova aus London war ihm zuvorgekommen.

Das konnte er nicht hinnehmen. Er hatte Alixe Burke schon vor geraumer Zeit als nächstes Ziel auserkoren. Sie war der Grund, weshalb er sich überhaupt in diesem verschlafenen Teil von Kent aufhielt. Er hatte seine Nachforschungen in London begonnen und nach unscheinbaren Erbinnen oder wohlhabenden alten Jungfern Ausschau gehalten. Mit anderen Worten hatte er nach Frauen gesucht, die für das Werben eines Mannes besonders empfänglich waren oder deren Familien sie unbedingt unter die Haube bringen wollten. Bei dieser Suche hatte er von Alixe Burke gehört, von einem Viscount, den sie abgewiesen hatte. Seitdem war sie nicht mehr in der Stadt gewesen. Also war er zu ihr gegangen und hatte so getan, als ob er ein Gentleman sei. Er war sogar so weit gegangen, ein altes Gutshaus in der Gegend zu erwerben, um die Scharade zu vervollständigen. Nachdem er solche Anstrengungen unternommen hatte, wollte er sich nicht von einem dahergelaufenen Lebemann aus der Stadt den Platz streitig machen lassen.

St. Magnus – wo hatte er den Namen schon einmal gehört? Oh ja, der Sohn des Marquis of Crewe. Immer in einen Skandal verwickelt – erst kürzlich war es um die Greenfield-Zwillinge gegangen. Redfield überlegte einen Moment. Möglicherweise konnten ihm St. Magnus und seine wilden Neigungen doch noch von Nutzen sein. Er würde abwarten und auf die richtige Gelegenheit warten.

Alixe hatte die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich für die Nacht auf ihre Zimmer zurückzuziehen. Das hätte sie bereits vor Stunden tun sollen. Vor dem Spiegel löste sie die Haarnadeln, schüttelte ihr befreites braunes Haar und seufzte erleichtert auf.

Der Abend war noch halbwegs gut gegangen, wenn sie berücksichtigte, dass sie diesmal in St. Magnus’ Gegenwart nicht zu Boden gestolpert war. Ihn zu treten, war vermutlich nicht die beste Wahl gewesen, doch alles in allem hatte sie den Auftakt für die House Party einigermaßen glimpflich überstanden. Bei Tisch war es ihr immerhin gelungen, dem Trommelfeuer seiner gewitzten Gesprächsführung ab und an etwas entgegenzusetzen. Das war nicht durchweg erfolgreich gewesen, hätte aber im Anbetracht der Umstände schlechter laufen können. Wäre sie nicht vom Pech verfolgt gewesen, wäre er überhaupt nicht aufgetaucht. Wenn es schlechter gelaufen wäre … Sie ertrug es kaum, daran zu denken. Immerhin hatte er ihre Begegnung nicht an die große Glocke gehängt und sich außerdem zu Verschwiegenheit verpflichtet.

Ihr Geheimnis war bei ihm sicher. Denn wenn es herauskam, musste er sie heiraten, und das war sicherlich das Letzte, was ein Merrick St. Magnus wollte. Ein Mann wie er wollte bezaubernde, elegante Frauen, die zu flirten wussten.

Alixe schenkte ihrem Spiegelbild ein verführerisches Lächeln, eines, das sie in der Öffentlichkeit niemals jemandem schenken würde. Sie zog das Mieder ihres Kleides ein wenig nach unten und zuckte kokett mit den Schultern. „Aber nein, St. Magnus, es liegt an Ihnen. Mit der Kleidung habe ich Sie kaum wiedererkannt.“ Sie warf den Kopf nach hinten und sprach mit leiser säuselnder Stimme weiter: „Sie besitzen also Kleidung. Das hatte ich mich nach all der Zeit schon gefragt.“ Eine weltgewandte Frau würde einen wunderschön manikürten Nagel seine Brust hinuntergleiten lassen und ihn mit schmachtenden Augen ansehen. Er würde genau wissen, was sie wollte. Und er würde es ihr geben. Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass sein Körper keine leeren Versprechungen machte. Allerdings war Alixe nur in der Einsamkeit ihres Zimmers eine solch weltgewandte Frau.

Sie schob das Mieder wieder nach oben und läutete nach der Zofe. Es wurde Zeit, sich und die Fantasie zu Bett zu bringen. St. Magnus war ein Mann, der für flüchtige Eskapaden berühmt war, niemand, der als Gatte infrage kam.

Sie wusste, was die Gesellschaft unter einer richtigen Ehe verstand. Es war das, was ihre wenigen farblosen Verehrer sich versprachen, wenn sie einen Blick auf sie warfen: einen Gewinn an Einfluss und Prestige durch die Heirat mit der Tochter eines Earls, eine ansehnliche Mitgift und einen fruchtbaren Schoß. Sie war viel mehr als das, doch niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, genauer hinzusehen. Das kam ihr gelegen. Sie wusste, wie die Wirklichkeit aussah. Deshalb hatte sie rechtzeitig beschlossen, sich auf das Land zurückzuziehen und sich ganz ihren historischen Studien zu widmen. Den Zwängen einer zwangsläufig unglücklichen Ehe wollte sie um jeden Preis entgehen.

Die Zofe betrat das Zimmer, half ihr aus dem Kleid und in das Nachtgewand, bürstete ihr das Haar aus und schlug die Bettdecke für sie auf. Es war jeden Abend dieselbe Routine, und so würde es bis an ihr Lebensende bleiben. Alixe schlüpfte unter die Bettdecke, schloss die Augen und versuchte, nicht mehr an den Tag zu denken. Doch Merrick St. Magnus’ Gesicht ließ sich nicht so leicht vergessen. Seine tiefblauen Augen schwirrten ihr im Kopf herum, und immer wieder kreisten ihre Gedanken um die Frage: „Sollte es nicht mehr geben als das Leben, das ich jetzt führe?“

Nach einer rastlosen halben Stunde warf Alixe die Decke zur Seite und schnappte sich den Morgenmantel. Sie fand einfach keinen Schlaf. Dann konnte sie die Zeit auch gleich nutzen und aufholen, was sie heute Nachmittag nicht geschafft hatte. Sie würde in die Bibliothek gehen und die Arbeit an ihrer Manuskriptübersetzung fortsetzen. Anschließend würde es ihr vermutlich besser gelingen, einzuschlafen. Wenn sie aufwachte, würde sie den Tag damit zubringen, St. Magnus aus dem Weg zu gehen. Ein Mann wie er war für ein Mädchen wie sie ein Gräuel. Frauen wollten St. Magnus nicht widerstehen, und sie war nicht so hochnäsig zu glauben, es verhielte sich bei ihr anders. Er konnte eine Frau nur in Schwierigkeiten bringen. Gnade der törichten Närrin, die sich tatsächlich in ihn verliebte!

Routine und das vorgegebene Programm für die Gäste der House Party halfen ihr in den folgenden Tagen, St. Magnus zu meiden. Sie achtete darauf, erst nach unten zu kommen, wenn die Männer bereits zu den geplanten Unternehmungen wie Fischen und Jagen aufgebrochen waren, während sich die Damen ihrer Korrespondenz und ihren Nadelarbeiten widmeten. Es gelang ihr zu verhindern, bei Tisch erneut neben ihm zu sitzen. Zum Verdruss ihres Bruders zog sie sich nach dem Dinner stets möglichst früh zurück und verbrachte die Abende in der Bibliothek.

Das hieß nicht, dass es ihr vollständig gelang, Merrick St. Magnus’ Gegenwart zu ignorieren. Ein paar verstohlene Blicke während der Mahlzeiten hatte sie sich schon gegönnt. Ihn gänzlich außer Acht zu lassen, war kaum möglich. Wenn er ein Zimmer betrat, stand er sofort im Mittelpunkt – eine strahlende Sonne, um die der Rest der Gesellschaft kreiste. Sie hörte seine tiefe Stimme auf den Gängen – immer heiter, stets zu Scherzen aufgelegt. Wenn sie friedlich auf der Veranda las, spielte er mit Jamie auf der angrenzenden Wiese Bowling. Wenn sie abends hinter dem Pianoforte Platz nahm, spielte er ganz in der Nähe Karten und bezauberte die älteren Damen. Rasch wurde klar, dass der einzige richtige Rückzugsort die Bibliothek war – ein Ort, den aufzusuchen, er keinen Anlass hatte. Ihr konnte das nur recht sein – Mädchen brauchten Zeit für sich.

4. KAPITEL

Je länger die House Party dauerte, desto mehr erwies sie sich als unterhaltsam, aber brav. Es gab eine Menge Gäste in genau dem richtigen Alter und in der richtigen Mischung für die vielen Unternehmungen, die Lady Folkestone sorgfältig vorbereitet hatte. Die Mädchen waren hübsch, und die Witwen in gewissem Alter ließen sich gern auf eine charmante Plauderei ein, aber alle verhielten sich ausgesprochen tugendhaft. Nach drei Tagen House Party kam Merrick zu dem Schluss, dass die weiblichen Gäste ebenso zuverlässig anständig waren wie die Greenfield-Zwillinge zuverlässig unanständig – ein Vergleich, den er vor der spätabends versamme...

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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