Historical Saison Band 111

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DIE SKANDALÖSE AFFÄRE DES EARLS von BRONWYN SCOTT

Der Earl will sie sprechen – die schöne Gouvernante Maura ist entsetzt! Denn nachdem sie sich seinen leidenschaftlichen Liebkosungen hingegeben hat, entlässt er sie bestimmt. Oder hat er herausgefunden, dass sie in Wirklichkeit auf der Flucht ist? Maura fällt aus allen Wolken, als der Earl sie bittet, ihn zu heiraten!

IN DEN ARMEN DES FORDERNDEN DUKES von MILLIE ADAMS

Plötzlich schmiegt sich die unschuldige Beatrice an ihn – und sie werden erwischt! Natürlich wird Philip Byron, Duke of Brigham, ihre Ehre retten und sie heiraten. Doch jeder Tag ist eine Qual: Philip spürt, wie sich Beatrice nach seinen Berührungen verzehrt, und weiß dabei, dass er eine Zumutung für jede Lady ist …


  • Erscheinungstag 05.10.2024
  • Bandnummer 111
  • ISBN / Artikelnummer 8090240111
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Bronwyn Scott, Millie Adams

HISTORICAL SAISON BAND 111

PROLOG

Mai 1835, London – offizielle Eröffnung der Saison

Man erzählte sich, Riordan Barrett könne eine Frau aus meterweiter Entfernung allein durch seine Blicke zum Höhepunkt bringen. Aus nächster Nähe mit Lady Meachams üppigen Kurven konfrontiert, boten sich ihm schier unbegrenzte Möglichkeiten der Verführung. Riordan legte flink eine Hand auf den Rücken besagter Lady und sann über diese Möglichkeiten nach, während er sie durch die Menschenmenge führte, die sich im Sommerset House versammelt hatte, um mit der Eröffnung der jährlichen Kunstausstellung der Royal Academy den Beginn der Saison zu begehen.

Lady Meacham warf ihm einen koketten Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, woran sie dachte. Er wusste, was sie wollte, was sie alle wollten. Sie wollte, dass die Gerüchte über ihn der Wahrheit entsprachen. Sie wollte das außergewöhnliche Vergnügen erleben. Er war gern dazu bereit, wollte sich ebenfalls für eine kleine Weile darin verlieren. Er war gut darin, sich in Vergnügungen zu verlieren. Kartenspiel, Wetten, Rennen, Trinkgelage – die üblichen Laster eines Gentleman – er kannte sie alle. Er war ein großer Verführer, und in den Schlafzimmern von Ehefrauen anderer Männer ging er ein und aus. Er und die Lady Meachams dieser Welt wussten, warum. Vergnügen war nur ein anderes Wort für Flucht, ein weniger verzweifelt klingendes Wort.

Bereits verzweifelt, obschon die Saison gerade erst beginnt … Wann hatte der strahlende Londoner Frühling mit den glitzernden Bällen und wunderschönen Frauen seinen Glanz verloren? Riordan verdrängte den Gedanken und schob Lady Meacham vor Turners jüngstes Werk: eine Darstellung des brennenden House of Lords and Commons. Der Brand hatte sich im letzten Oktober ereignet. Wenn es gut lief, würde er sich in Kürze den verlockenden Reizen der Lady widmen und auf seinem Bett ausgestreckt alles um sich herum vergessen.

Riordan senkte den Kopf an Lady Meachams Ohr und begann ernsthaft mit dem Spiel der Verführung. „Achten Sie darauf, wie Turners Pinselstrich die Kraft der Flammen vermittelt, wie die Verwendung der Gelb- und Rottöne die gewaltigen Temperaturen des Infernos veranschaulicht.“ Die Art und Weise, wie er dabei mit den Fingern über ihren rechten Arm strich, legte nahe, dass er selbst ein ganz anderes Feuer entfachte. Ihm stieg Lady Meachams Parfüm in die Nase – ein teurer, schwerer Duft. Er bevorzugte etwas Süßeres, Frischeres.

„Sie sind ein Experte, wenn es um gefährliche Flammen geht“, murmelte Lady Meacham, während sie ebenso unauffällig wie einladend mit den Brüsten seinen Ärmel streifte.

„Ich bin ein Experte in vielen Dingen, Lady Meacham“, erwiderte Riordan leise.

„Vielleicht sollten Sie mich Sarah nennen.“ Sie tippte ihm scherzhaft mit ihrem zusammengeklappten Fächer auf den Unterarm. „Sie verstehen so viel von Kunst. Ich muss Sie fragen, ob Sie auch selbst malen?“

„Ich versuche mich ein bisschen auf diesem Gebiet.“ Einst war er mit einem weit größeren Anspruch an die Malerei herangegangen. Doch irgendwann zwischen damals und heute hatte die Malerei aufgehört, einen zentralen Platz in seinem Leben einzunehmen – sehr zu seinem Bedauern und zu seiner eigenen Verwunderung. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie es dazu gekommen war.

Lady Meacham – Sarah – sah durch ihre langen Wimpern zu ihm auf, und ein selbstgefälliges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Und was malen Sie?“

Diese Unterhaltung lief genau in die von ihnen beiden beabsichtigte Richtung. Riordan hatte seine Antwort parat. „Akte, Sarah. Ich male nackte Körper. Sie regen die Fantasie an.“

Lady Meacham lachte auf, ein kehliger Laut, der seine ungezogene Antwort mit der Bestätigung belohnte, dass sie gern bereit war, den überhitzten Great Room des Sommerset House gegen eine intimere Adresse jenseits des Piccadilly einzutauschen.

Vertraulich ließ sie eine Hand auf seinem Ärmel ruhen. „Sie haben wirklich keinen Funken Anstand im Leibe, nicht wahr?“

Er legte eine Hand auf ihre behandschuhte Rechte, senkte die Stimme zu einem leisen löwenhaften Knurren, das nur für sie bestimmt war. „Nicht den Hauch eines Funkens, fürchte ich.“

Ihre Augen leuchteten angesichts der Versprechungen, die diese Aussage heraufbeschwor, und sie lächelte wissend mit ihren zum Küssen einladenden Lippen. „Diese Eigenschaft weiß ich an einem Mann ganz besonders zu schätzen.“

Sie war mehr als willig und stellte gar keine Herausforderung dar. Dass es gar keine Mühe kostete, sie zu verführen, war etwas enttäuschend. Dennoch hätte er mehr Begeisterung über die Eroberung empfinden sollen. Sarah Meacham war in der Tat heiß begehrt. Ihr Ehemann hatte mit seiner Mätresse die Stadt verlassen, und im White’s munkelte man, dass sie darüber nachsann, sich erstmals seit der Geburt des zweiten Sohnes im letzten August einen Liebhaber zu gönnen. Es waren hohe Wetten darauf abgeschlossen worden, wer dieser Liebhaber sein würde.

Ein Freund hatte ihm in einem Brief darüber berichtet, und Riordan war in die Stadt gekommen, um die Wette zu gewinnen. Schließlich durfte man nicht zulassen, dass man sich erzählte, Riordan Barrett würde nachlassen und sein Bruder Elliott habe ihn endlich zur Vernunft gebracht. Die Schicksalsgöttinnen hatten nun einmal verfügt, dass Elliott, der Erbe, gut, so unendlich gut sein sollte, und Riordan, der Zweitgeborene, schlecht, so furchtbar schlecht – der natürliche Gegenentwurf zu seinem heiß geliebten Bruder. Also war er jetzt hier, sehr früh in die Stadt gekommen, und hatte einen Besuch bei seinem Bruder in Sussex abgekürzt, um die Ehefrau eines anderen Mannes zu verführen und jedem zu beweisen, dass Riordan Barrett noch immer so sündhaft und verrucht war, wie es die Gerüchte besagten.

Das alles kam ihm eher schäbig vor, wenn er über die Einzelheiten nachsann oder wenn es nicht genug zu trinken gab. In den letzten Monaten hatte Riordan von Letzterem immer mehr benötigt, um sich von Ersterem abzuhalten. Stets führte er seinen silbernen Flachmann in seiner Gehrocktasche mit sich, und just in diesem Moment war er für seinen Geschmack viel zu nüchtern.

Riordan tastete nach dem Flachmann, wurde jedoch von einem Lakaien unterbrochen, der sich ihm mit einem Präsentierteller näherte, auf dem ein versiegelter Brief lag. „Mylord, bitte verzeihen Sie die Störung. Dies ist für Sie abgegeben worden mit dem Hinweis auf äußerste Dringlichkeit.“

Verwundert betrachtete Riordan den Brief. Er war kein Mann, der sich für politische Ränke oder geschäftliche Investitionen interessierte, denen man ständig seine Aufmerksamkeit widmen musste. Kurz und gut, er war keinesfalls die Art von Mann, die man normalerweise mit Schreiben von äußerster Dringlichkeit behelligte. Er brach das Siegel und überflog die vier kurzen Zeilen, geschrieben in der peniblen Schrift von Browning, dem Anwalt der Familie. Dann las er sie erneut, in der Hoffnung, die Wiederholung würde die Nachricht weniger entsetzlich machen.

„Ich hoffe, Sie haben keine schlechten Nachrichten erhalten?“, erkundigte sich Lady Meacham und blickte ihn aus ihren weit geöffneten haselnussfarbenen Augen an.

Ihre Besorgnis war Beweis genug, dass er so kreidebleich war, wie er sich fühlte. Keine schlechten Nachrichten – die schlimmste Nachricht, die er sich vorstellen konnte. Binnen eines Tages würde sie sich in ganz London verbreiten, doch London würde sie nicht von ihm erfahren. Keinesfalls wollte er sich seine Gefühle gegenüber seiner jüngsten Eroberung inmitten der Kunstausstellung der Royal Academy anmerken lassen. Er riss sich zusammen, schenkte Lady Meacham ein verruchtes Lächeln, das über seine Erschütterung hinwegtäuschte. „Meine Liebe, ich fürchte, meine Pläne haben sich geändert.“ Er verbeugte sich kurz und lächelte süffisant. „Würden Sie mich bitte entschuldigen? Es sieht so aus, als ob ich Vater geworden wäre.“

Am liebsten hätte er nach seinem Flachmann gegriffen, aber das würde nichts bringen. Es gab nicht genügend Brandy auf der Welt, um die Nachricht abzumildern. Er würde Hilfe benötigen. Er würde jede Hilfe annehmen, die er bekommen konnte.

1. KAPITEL

„Ich nehme jede Stelle an, die Sie haben.“ Maura Harding saß kerzengerade da und hatte die behandschuhten Hände sittsam im Schoß gefaltet. Sie wollte freundlich und nicht verzweifelt klingen. Sie war nicht verzweifelt. Maura zwang sich zumindest, das zu glauben. Wenn sie es nicht glaubte, würde es auch kein anderer tun. Verzweiflung würde sie zu einer leichten Beute machen. Die Leute spürten Verzweiflung, wie Hunde Angst rochen.

Es war halb elf am Morgen. Sie war ohne Umwege von der Postkutschenstation zu Mrs. Pendergasts „Vermittlungsagentur für junge Damen aus gutem Hause“ gegangen, und sie brauchte bis zum Anbruch der Nacht eine Anstellung. Bis hierhin war alles nach Plan verlaufen, doch jetzt beäugte Mrs. Pendergast sie skeptisch über die Ränder ihres Lorgnons und zögerte.

„Sie haben keinerlei Referenzen.“ Mrs. Pendergasts eindrucksvoller Busen hob sich missbilligend.

Maura holte tief Luft und wiederholte stumm und gebetsmühlenartig das Mantra, das ihr auf der langen Reise aus Exeter Kraft verliehen hatte: In London wird es Rettung geben. Sie würde nicht einfach aufgeben, weil sie keine Empfehlungsschreiben vorzuweisen hatte. Schließlich hatte sie gewusst, dass dies ein naheliegendes Hindernis war. „Es ist das erste Mal, dass ich nach einer Anstellung suche, Madam.“ Das erste Mal, dass ich einen falschen Namen annehme, das erste Mal, dass ich Devonshire verlassen habe, das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt bin … eine ganze Menge erste Male, Mrs. Pendergast, wenn Sie das nur wüssten.

Mrs. Pendergast hob zweifelnd die Brauen und verzog das Gesicht. Sie legte den von Maura mit größter Sorgfalt geschriebenen Lebenslauf auf dem Tisch ab und starrte Maura frostig an. „Ich habe keine Zeit für Spielchen, Miss Caulfield.“

Nun, der falsche Name hörte sich für Maura falsch an, die ihr ganzes Leben lang Miss Harding gewesen war. Ahnte Mrs. Pendergast das? Klang der Name auch in ihren Ohren falsch? Hegte sie einen Verdacht?

Mrs. Pendergast erhob sich, um zu signalisieren, dass die Unterredung beendet war. „Ich bin sehr beschäftigt. Gewiss ist Ihnen nicht entgangen, dass mein Wartezimmer mit jungen Damen überfüllt ist, die Referenzen haben und darauf erpicht sind, von mir an einen Haushalt vermittelt zu werden. Ich schlage vor, dass Sie Ihr Glück woanders versuchen.“

Das war eine Katastrophe. Sie konnte nicht von hier fort, ohne eine Anstellung zu haben. Wohin sollte sie sonst gehen? Sie kannte keine anderen Agenturen, die Hausangestellte vermittelten. Von Mrs. Pendergasts Agentur wusste sie nur, weil ihre eigene Gouvernante sie einmal erwähnt hatte. Maura ließ sich blitzschnell eine Entgegnung einfallen. „Ich verfüge über Besseres als Referenzen, Madam. Ich besitze Fähigkeiten.“ Sie wies auf das abgelegte Papier. „Ich bin sehr gut in feinen Näh- und Stickarbeiten, ich kann singen und tanzen und spreche fließend Französisch. Selbst mit den Techniken der Aquarellmalerei kenne ich mich hervorragend aus.“ Maura hielt inne. Ihre Fertigkeiten schienen Mrs. Pendergast nicht zu beeindrucken.

Wenn die Argumente scheiterten, konnte man immer noch betteln. „Bitte, Madam, ich weiß sonst nicht, wo ich hingehen soll. Haben Sie denn nicht irgendetwas für mich? Ich könnte einer betagten Lady als Gesellschafterin dienen, ein junges Mädchen als Gouvernante betreuen. Ich würde jede Aufgabe bewältigen. Es gibt doch gewiss irgendeine Familie in London, die mich brauchen kann.“

Eigentlich hatte sie es sich nicht so schwer vorgestellt. London war eine große Stadt, in der es ganz andere Möglichkeiten gab als im ländlichen Devonshire, wo jeder jeden kannte. Genau diesem Umfeld hatte Maura unbedingt entfliehen wollen. Sie wollte nicht, dass man sie kannte, obgleich sie rasch einsehen musste, dass diese Entscheidung Konsequenzen hatte. Sie war nun eine Fremde an einem fremden Ort, und ihr sorgfältig ausgearbeiteter Plan war in Gefahr.

Mauras flehentliche Bitte zeigte Wirkung. Mrs. Pendergast setzte sich wieder hin und öffnete eine Schublade. „Es könnte sein, dass ich doch etwas für Sie habe.“ Sie kramte in der Schublade und zog einen Ordner heraus. „Es handelt sich nicht um eine Familie im klassischen Sinne. Keine der jungen Damen, die da draußen warten, würde die Anstellung annehmen. In den letzten Wochen habe ich bereits fünf Gouvernanten dorthin geschickt. Und alle haben die Flucht ergriffen.“

Mit diesen rätselhaften Worten schob Mrs. Pendergast den Ordner auf sie zu. „Der Gentleman ist ein Junggeselle mit zwei Mündeln, die er vor wenigen Wochen von seinem Bruder geerbt hat.“

Laura hörte nur mit halbem Ohr zu. Ein Hochgefühl erfasste sie und lähmte ihr Auffassungsvermögen.

Mrs. Pendergast schüttelte missbilligend den Kopf. „Die Rahmenbedingungen sind heikel. Der neue Earl ist ein zügelloser Lebemann. Abend für Abend und Nacht für Nacht frönt er seinen Lastern und widmet sich wer weiß welchen Ausschweifungen, während die Kinder verwahrlosen. Und dann ist da noch die Sache mit seinem Bruder.“ Erneut schüttelte sie den Kopf und sah Maura bedeutungsvoll über den Rand des Lorgnons hinweg an. „Die Art und Weise, wie er zu Tode gekommen ist, war hochgradig schockierend und kam völlig unerwartet. Wie ich bereits sagte, ist das Ganze sehr bedenklich, aber falls Sie möchten, können Sie die Stelle haben.“

Falls? Natürlich nahm sie das Angebot an. Unter den gegebenen Umständen durfte sie nicht wählerisch sein. Allmählich erkannte Maura die Nachteile einer so überstürzten Flucht, doch ihr war keine andere Wahl geblieben. „Ich nehme die Stelle gerne an. Ich danke Ihnen. Sie werden es nicht bereuen.“ Sie hätte sich weiter überschwänglich bedankt, wenn Mrs. Pendergast nicht warnend die rechte Hand gehoben hätte.

„Ich werde es nicht bereuen, aber Ihnen könnte es leidtun. Haben Sie überhaupt zugehört, was ich gesagt habe, Miss Caulfield?“

„Ja, Madam.“ Das war nicht gänzlich gelogen. Sie hatte die meisten Worte vernommen. Sie hatte gehört, dass von einem neuen Earl und dessen zwei Mündeln die Rede gewesen war, und irgendetwas über das fragwürdige Ableben des vorherigen Earls. Das alles klang halb so schlimm, als Mrs. Pendergast es wirken ließ. Maura hatte eine Anstellung, und das war alles, was zählte. Jetzt konnte das Leben weitergehen.

Mrs. Pendergast musterte sie noch immer ungläubig. „Also dann wünsche ich Ihnen Glück. Egal wie es ausgeht, ich will Sie auf keinen Fall wieder hier sehen. Ohne Referenzen ist dies die einzige Stelle, die ich Ihnen anbieten kann. Ich lege Ihnen daher nahe, sich zu bemühen und nicht an den widrigen Umständen zu scheitern, wie es bei den anderen fünf der Fall gewesen ist.“

Maura stand auf und verbarg ihr Erstaunen. In ihrer Euphorie war ihr offenbar doch etwas Wichtiges entgangen. „Die anderen fünf?“

„Die anderen fünf Gouvernanten. Ich hatte es doch erwähnt, Miss Caulfield. Haben Sie das mit dem liederlichen Lebemann ebenfalls überhört?“

Maura hob das Kinn, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte doch nicht so gut zugehört, wie sie gedacht hatte. „Sie haben mir alles deutlich vor Augen geführt, Madam. Ich danke Ihnen vielmals.“ Dass der Earl von liederlicher Art war, bereitete ihr großes Unbehagen. Möglicherweise geriet sie vom Regen in die Traufe, indem sie einen lasterhaften Mann gegen den anderen eintauschte. Allerdings bezweifelte sie, dass irgendjemand so ekelhaft sein konnte wie Wildeham, der Mann, den ihr Onkel für sie als Ehemann vorgesehen hatte. Überdies bezweifelte sie, viel von diesem lasterhaften Earl of Chatham zu sehen. Liederliche Lebemänner waren gewiss keine Stubenhocker, wenn um sie herum die Vergnügungen Londons lockten. In der Tat war es schwierig, ausschweifend zu sein, wenn man zu Hause blieb.

Eine Stunde später gelangte sie mit einer Droschke vor das Stadthaus des Earl of Chatham am Portland Square und bezahlte den Kutscher mit ihren letzten Münzen. Sie hielt es für sinnvoll ausgegebenes Geld. Zu Fuß hätte sie Stunden gebraucht, und den Ort womöglich gar nicht gefunden. London war beängstigend! Noch nie hatte sie so viele Leute, so ein Gedränge gesehen. Der Verkehr, die Gerüche und der Lärm genügten, um selbst die beherzteste ländliche Seele in Angst und Schrecken zu versetzen. Maura beschattete mit einer Hand die Augen und blickte zu dem Stadthaus hoch.

Es passte hervorragend hierher. Mit seinen vier hoch aufragenden Stockwerken war es ebenfalls beängstigend. Es half alles nichts. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie ergriff ihr Gepäck und stieg die Stufen hoch, um ihrer Zukunft ins Auge zu blicken. Sie würde versuchen, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Positiv war auf jeden Fall, dass bisher alles nach Plan lief. Auch die Adresse konnte sich sehen lassen.

Als sie aus Exeter aufgebrochen war, hatte sie sich niemals träumen lassen, eine Anstellung im Haus eines Earls zu finden. Selbstverständlich hatte sie früher niemals in Erwägung gezogen, jemals eine Anstellung suchen zu müssen, geschweige denn Exeter zu verlassen. Doch in den letzten Monaten war sie mit vielen „niemals“ konfrontiert worden, die zuvor für sie undenkbar gewesen waren.

Als Tochter eines Gentleman und Enkelin eines Earls war sie mit anderen Erwartungen aufgewachsen. Allerdings hätte sie nicht auf den gewohnten Komfort verzichten müssen. Ihr Onkel hatte beteuert, dass sie nach ihrer Heirat mit Wildeham ein bequemes Leben führen würde. Sie jedoch war nicht bereit gewesen, den Preis dafür zu bezahlen. Selbst jetzt, wo Exeter viele Meilen weit entfernt lag, ließ sie dieser Preis in der Mittagssonne erschaudern.

Ihr Widerwille, sich dem Wunsch des Onkels zu fügen, hatte ihr Bleiben unmöglich gemacht. Daher war sie nun hier – eine auf sich gestellte Fremde, die bereit war, ihr Leben neu zu beginnen. Das war eine hübsche Umschreibung dafür, dass sie alle Verbindungen zu der Familie ihres Onkels abgebrochen hatte. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, denn zu dem geforderten Opfer hatte sie sich nicht durchringen können. Es gab kein Zurück, aber ihr Onkel würde sie zweifellos suchen. Sie durfte nicht zulassen, dass er sie fand. Sie wollte im Haushalt des Earls untertauchen und hoffte, ihr Onkel würde irgendwann aufgeben und einen anderen Weg finden, um seine Verbindlichkeiten gegenüber dem abscheulichen Baron zu tilgen.

Entschlossen hob Maura den Türklopfer mit dem Löwenkopf an und ließ ihn geräuschvoll gegen die Tür fallen. Von innen hörte sie lautes Herumrennen, einen Aufschrei, gefolgt von einem Krachen und Gekicher. Maura zuckte zusammen, als sie hörte, wie etwas auf dem Boden zerschellte. Ein schriller Schrei war zu vernehmen. „Ich bin die Erste! Ich darf die Tür öffnen!“ Dann strömte das Chaos hinaus zu Maura.

Die Tür sprang auf, geöffnet von einem nachlässig gekleideten Mann, der keine Schuhe, nur Strümpfe trug, das dunkle Haar zerzaust und mit wehenden Hemdschößen. Noch nie hatte sie einen Butler in einem solchen Aufzug erlebt. Aber Maura blieb keine Zeit, um den seltsamen Anblick genauer zu bewerten. Hinter ihm liefen zwei Kinder im Vestibül um die Wette. Rutschend kamen sie hinter dem Mann zum Halten und … Wumms!

Der Schwung der beiden löste eine Kettenreaktion aus, die alle auf einen Haufen zu Boden warf, Maura ganz zuunterst, die in einem Gewirr aus Armen und Beinen in die blauesten Augen blickte, die sie je gesehen hatte. Obgleich sich zuoberst kreuz und quer zwei Kinder stapelten, wurde ihr vor allem bewusst, dass diese blauen Augen mit einem ausgesprochen muskulösen Männerkörper einhergingen, der gerade höchst ungehörig auf ihr lag.

„Hallo.“ Er grinste zu ihr hinunter und sein dunkelbraunes Haar fiel ihm in die Stirn.

„Ich bin wegen der An …stellung hier“, brachte sie mühsam hervor und bedauerte sogleich ihre Wortwahl.

„Das sehe ich.“ Seine Augen funkelten verschmitzt.

Offenbar störte ihn die ungewöhnliche Lage, in die sie geraten waren, ganz und gar nicht. Wer auch immer er war, kein Hauslehrer oder Lakai, der etwas auf sich hielt, legte ein solches Verhalten an den Tag. Lachend, vermutlich über sie lachend, erhob er sich und half den kichernden Kindern auf.

Offenbar hielten alle den Vorfall für einen großen Spaß. Die Kinder redeten beide gleichzeitig. „Hast du gesehen, wie ich um die Ecke geflitzt bin?“

„Ich habe mich am Pfosten des Treppengeländers festgehalten und mich mit der Wirkung einer Steinschleuder in das Vestibül katapultiert.“

Steinschleuder? Katapultiert? Du liebe Güte, wer hatte diese Kinder erzogen?

„Das war großartig, William. Es war, als ob du eine Kanonenkugel wärst!“, brachte der blauäugige Mann seine unangebrachte Begeisterung zum Ausdruck.

„Wir haben Tante Cressidas Vase zerbrochen!“ Das kleine Mädchen kicherte nervös.

Der Mann zauste dem Mädchen lächelnd das Haar. „Keine Sorge, die Vase war ohnehin hässlich.“

Unfassbar! Hatte er ihre Gegenwart völlig vergessen? Maura hatte den Oberkörper bereits aufgerichtet und kämpfte gerade mit ihrer Kleidung und dem Gepäck, als er ihr eine Hand reichte. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Seine tiefe Baritonstimme klang gelassen und freundlich.

„Es geht schon.“ Maura zog an ihrem Reisekostüm, glättete die Röcke und bemühte sich, wieder Ordnung in die Begegnung zu bringen. „Ich bin die neue Gouvernante. Mrs. Pendergast hat mich heute Ihrem Haushalt zugeteilt. Ich würde gern mit Lord Chatham sprechen.“

Seine Augen funkelten noch verwegener als zuvor. „Sie sprechen bereits mit ihm.“ Er verbeugte sich galant, was im Widerspruch zu seiner nachlässigen Aufmachung stand. „Der Earl of Chatham, zu Ihren Diensten.“

„Sie sind der Earl?“ Maura vermied es, ihn mit geöffnetem Mund anzustarren. Liederliche Lebemänner waren gemeinhin keine attraktiven, athletischen Männer, die mit den Augen flirteten.

Lachfalten bildeten sich an seinen Augenwinkeln. „Ich glaube, das haben wir geklärt. Nun, wie soll ich Sie nennen?“ Er blickte sie mit einem Lächeln an, bei dem seine strahlend weißen Zähne zur Geltung kamen und angesichts dessen die meisten Frauen wahrscheinlich weiche Knie bekommen hätten. Maura gefiel der Gedanke besser, weiche Knie zu haben, weil sie vor der Haustür zu Boden gerissen worden war. Er wandte sich an die Kinder, die aus großen Augen zu ihm aufsahen und ihn offensichtlich als Helden betrachteten. „Wir können sie schlecht neue Gouvernante nennen. Das ist kein Name.“ Erneut begannen die Kinder zu kichern.

Das kleine Mädchen lächelte ihn an und klatschte in die Hände. „Ich weiß es! Ich weiß es! Wir werden sie Sechs nennen.“ Das Mädchen knickste artig. „Hallo, Sechs. Ich bin Cecilia, und ich bin sieben. Dies ist mein Bruder William. Er ist acht.“ Erneut lachte sie. „Sechs, sieben, acht. Wir sind eine Zahlenreihe. Das ist lustig. Onkel Ree, hast du meinen Witz verstanden? Sechs, sieben, acht?“

„Gewiss habe ich ihn verstanden, mein Schätzchen. Das war bisher der lustigste.“ Der Earl lächelte das Kind nachsichtig an und legte seine rechte Hand auf die deutlich kleinere Rechte des Mädchens. Die Geste war liebenswert und löste bei Maura eine seltsame Rührung aus.

„Vielleicht sollten wir ins Haus gehen“, schlug Maura vor, die bemerkt hatte, dass die kleine Versammlung vor der Eingangstür bereits die Blicke der Passanten auf sich zog.

„Oh ja, verzeihen Sie mir.“ Der Earl setzte sich in Bewegung und führte sie und die Kinder in das Vestibül, in dem ein Dienstmädchen gerade die Reste von Tante Cressidas Vase zusammenfegte. „Nun können wir einander vorstellen, wie es sich gehört und …“ Er hielt inne und runzelte die Stirn, während er nach den rechten Worten suchte. „Und eine Tasse Tee zusammen trinken. Das ist jetzt genau das Richtige. Sie müssen mir wirklich verzeihen. Offenbar habe ich vor Begeisterung meine Manieren vergessen, als die scheußliche Vase zu Boden fiel.“ Lächelnd strich er sich mit einer Hand durch das dunkle Haar.

Er war ihr sympathisch. Darauf war sie nicht vorbereitet. Ich bin nicht davon ausgegangen, meinen Dienstherrn zu mögen, dachte Maura, als sie und die Kinder im Gesellschaftszimmer Platz nahmen. Sie hatte mit einem Mann im fortgeschrittenen Alter gerechnet mit ergrauten Koteletten, lüsternen Augen und grabschenden Händen – mit einem Mann wie Baron Wildeham, dem Kumpan ihres Onkels.

Der Tee wurde gebracht, und Maura blickte unauffällig zur Tür. „Leisten Ihre Mündel uns beim Tee Gesellschaft?“ Es standen vier Tassen auf dem Tablett. Die beiden Kinder blieben doch gewiss nicht zum Tee?

Der Earl blickte sie fragend an und wies auf William und Cecilia. „Meine Mündel sind bereits hier.“ Dann lachte er ungezwungen. „Hat Ihnen Mrs. Pendergast nicht gesagt, dass es sich um eine Siebenjährige und einen Achtjährigen handelt? Diese verschlagene alte Frau! Kein Wunder, dass sie doch wieder jemanden gefunden hat.“

Maura setzte sich noch gerader hin als zuvor und hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. „Sie erwähnte, dass die Mündel jung seien.“

„Da hatte sie recht. Ich brauche Sie als Gouvernante für William und Cecilia.“ Der Earl bedeutete ihr mit einer Geste, den Tee einzuschenken.

Maura war froh, ihre Hände mit etwas beschäftigen zu können, während sie ihre Gedanken sammelte. Es handelte sich also nicht um zwei Mädchen, die kurz vor dem Debüt standen und deren Einführung in die Gesellschaft beaufsichtigt werden sollte. Weshalb war sie von dieser falschen Erwartung ausgegangen? Stattdessen ging es um die Betreuung von zwei recht vorlauten Kindern, die auf Strümpfen durch das Vestibül schlidderten und im Haus Wettrennen veranstalteten. Mit dieser Aufgabe würde sie sicher zurechtkommen. Schließlich hatte sie ihrer Tante tatkräftig geholfen, deren Kinder großzuziehen.

„Wie trinken Sie Ihren Tee, Mylord?“ Sie hielt die Hände über den Zucker und das Kännchen mit der Sahne.

Er winkte ab. „Ich bevorzuge ihn so, wie er ist, und Sie können mich Riordan oder Mr. Barrett nennen, wenn Sie möchten.“

Eine Spur Verbitterung lag in seiner Stimme. Was hatte Mrs. Pendergast über den Tod seines Bruders gesagt? Der neue Earl schien den Titel nur widerstrebend angenommen zu haben. Maura wünschte sich, sie hätte genauer zugehört.

„Weder die eine noch die andere Anrede würde sich gehören, wie Sie nur zu gut wissen.“ Sie reichte ihm seine Teetasse und schenkte ihm ein Lächeln, in der Hoffnung, keine Unstimmigkeit aufkommen zu lassen. Es war bestimmt nicht gut, wenn man gleich am ersten Tag Meinungsverschiedenheiten mit seinem Dienstherrn hatte. „Ich sollte Sie Lord Chatham nennen.“ Erneut lächelte sie und suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Wie hatten sich ihre Gouvernanten am ersten Tag verhalten? Sie nippte an ihrem Tee, während sie sich darüber den Kopf zermarterte.

„Lord Chatham?“ Er hob eine Braue, was die Aufmerksamkeit unweigerlich auf seine Augen lenkte – zwei blaue Flammen, die vor Leben und Verwegenheit flackerten.

„Ich denke, das wäre unter den gegebenen Umständen das Beste.“ Sie wusste, dass es das Beste war. Seinen Hang zur Ungezwungenheit wollte sie nicht unterstützen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Gehrock anzuziehen oder das Hemd wieder ordentlich in die Pantalons zu stecken.

Zu ihrer Überraschung lachte er, beugte sich zu ihr vor und lächelte sie verrucht über den Rand seiner Teetasse an. „Vor der Eingangstür waren Sie nicht unter Umständen, sondern unter mir.“

„Lord Chatham! Es sind Kinder zugegen.“ Doch den Kindern schien es nichts auszumachen. Sie lachten. Das taten sie sehr viel, zweifellos durch die Unverfrorenheit ihres Vormunds dazu ermutigt. Gelächter war schön und gut, aber sie würden lernen müssen, sich ein bisschen zurückzuhalten.

„Das stimmt.“ Er rieb sich einen Moment lang nachdenklich das Kinn, obgleich sie den Eindruck nicht loswurde, dass er sich über sie lustig machte. „Wenn wir uns an Förmlichkeiten halten, kann ich Sie auch nicht einfach Sechs nennen.“ Wieder lächelte er und flirtete ungeniert mit seinen überaus blauen Augen.

Cecilia ließ die Schultern sinken und hockte niedergeschlagen auf der Stuhlkante. „Ich will sie aber Sechs nennen. Es macht meinen Witz kaputt, wenn wir es anders halten.“

Lord Chatham zuckte fragend mit einer Braue, während er auf Mauras Entgegnung wartete.

Du lieber Himmel! Der Mann war wirklich ein verflucht gut aussehender Teufel. Dann sah Maura, dass Cecilias Lippen zu beben begannen. Keinesfalls wollte sie eine Gouvernante sein, die einen ihrer Schützlinge innerhalb der ersten halben Stunde zum Weinen brachte. Um jeder Träne zuvorzukommen, sagte sie hastig: „Sex ist prima.“

Sex ist prima? Maura legte sich eine Hand auf den Mund, doch dafür war es viel zu spät.

„Ist das so? Das ist gut zu wissen“, sagte Lord Chatham heiter.

Maura wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Was war nur in ihre Zunge gefahren? Sie wandte sich an Cecilia. Alles war besser, als dem Earl in die Augen zu blicken. „Du darfst mich gern Sechs nennen, wenn du das möchtest, Cecilia. Das ist dann mein Spitzname zwischen uns.“

Das Mädchen strahlte sie an, und Maura wusste, dass sie das Kind für sich gewonnen hatte. Doch kaum hatte sie sich an diesem ersten kleinen Sieg erfreut, fragte Lord Chatham: „Und ich? Vielleicht sollte ich mir auch einen besonderen Namen für Sie ausdenken. Soll ich Sie …?“ Er sprach nicht weiter und blickte sie herausfordernd an.

„Miss Caulfield. Sie sollten mich Miss Caulfield nennen“, entgegnete Maura eilig. Die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. Sie musste sich Respekt verschaffen, bevor es gänzlich zu spät war. „Cecilia, du und William solltet nach oben gehen und spielen, während ich mit meinem Gepäck einziehe. Dann können wir am Nachmittag gemeinsam durch den Park spazieren, um uns besser kennenzulernen.“

Sofort wurde Maura bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, die Kinder fortzuschicken. Schließlich blieb sie jetzt mit dem unmöglichen Lord Chatham allein zurück. „Ich muss mich für meinen Versprecher entschuldigen.“

„Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen, Miss Caulfield.“ Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und musterte sie amüsiert. „Meiner Erfahrung nach können Ausrutscher sehr unterhaltsam sein.“

Diese Bemerkung brachte das Fass zum Überlaufen. Sie hob empört eine Braue. „Sie vergessen sich, Lord Chatham. In der letzten halben Stunde bin ich um meinen gesunden Menschenverstand gebracht worden, indem sie sich auf mich gestürzt, mir schöne Augen gemacht und mich in jeder erdenklichen Hinsicht durcheinandergebracht haben. Ich beginne zu begreifen, weshalb die anderen fünf Gouvernanten gegangen sind.“

„Nein, da irren Sie sich. Was Sie vielleicht erahnen, ist nicht einmal die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs.“ Mit einem Mal war die Heiterkeit aus seinen Augen verschwunden. Er stand auf und wirkte plötzlich wie eine eisige und unnahbare Version seiner selbst. „Die Haushälterin wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“

Ein Krachen und Kreischen erklang über ihren Köpfen, gefolgt von einem schrillen Aufschrei und leisem Kichern. Die Stimmen der Kinder waren zu hören, während die Dienstmädchen nach oben eilten, um die Spuren des jüngsten Desasters in einer ganzen Reihe von Desastern zu beseitigen, denen nicht nur Tante Cressidas Vase zum Opfer gefallen war. Maura war dem Earl zur Tür gefolgt und blickte die Treppe hoch. „Wie es scheint, brauchen Sie keine Gouvernante, Lord Chatham, Sie brauchen ein Wunder.“

Er lachte frostig in sich hinein. „Und Mrs. Pendergast hat mir Sie gesandt. Willkommen in Chatham House, Miss Caulfield.“

2. KAPITEL

Sie verspätete sich. Riordan warf einen Blick auf die Kaminuhr. Die Zeiger bewiesen, dass erst eine Minute verstrichen war, seit er zuletzt auf das Zifferblatt gestarrt hatte. Er wünschte, Miss Caulfield würde sich beeilen. Er war hungrig und bedauerte, sich bei ihrer Ankunft ungehobelt verhalten zu haben. Wahrscheinlich hatte sie wirklich nicht geahnt, worauf sie sich einließ. Dennoch, verspätet war verspätet. Als er den Butler gebeten hatte, die Einladung zu überbringen, hatte er betont, dass er um sieben Uhr zu speisen wünschte. Nun war es schon fünf nach sieben.

Normalerweise gehörte es nicht zu seinen Angewohnheiten, Gouvernanten zum Dinner einzuladen. Ganz gewiss nicht! Mit den ersten fünf hatte er nicht ein einziges Mal gespeist. Aber sie waren weder jung noch hübsch gewesen und hatten infolgedessen auch nicht den ganzen Nachmittag lang seine Gedanken beherrscht. Es waren vertrocknete alte Bohnenstangen gewesen, die viel zu sehr an Sitte und Anstand und viel zu wenig an das Leben dachten. Es war nicht verwunderlich, dass sie nicht geblieben waren. Wenn er sich mit einem auskannte, dann, wie man sich vergnügen konnte. Er fand, die Kinder sollten ihren Spaß haben, und wenn es das Einzige war, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Auf dieser Grundlage kam er ganz gut mit seiner neuen Rolle als Vater zurecht.

Er mochte Kinder. Er hatte bloß keine Ahnung, wie man sie erzog. Sein Bruder Elliott hatte sich damit besser ausgekannt. Elliott hatte Cecilia und William vor vier Jahren zu sich genommen, nachdem der Vater der Kinder an einem plötzlichen Fieber gestorben war. Nun war Elliot ebenfalls tot. Niemand hatte sich jemals vorgestellt, dass man ausgerechnet Riordan die Kinder anvertrauen würde.

Das Rascheln eines Kleides an der Tür verriet ihm, dass sein jüngster Versuch, eine Hilfe bei der Kindererziehung zu akquirieren, eingetroffen war.

„Verzeihen Sie meine Verspätung. Ich war davon ausgegangen, mit den Kindern zu Abend zu essen. Die Aufforderung kam für mich überraschend.“ Letzteres sagte sie ein wenig ungehalten.

Offensichtlich hatte sie ihm noch nicht verziehen. „Die Einladung“, verbesserte er sie mit einem Lächeln, das gewöhnlich jedes Eis zum Schmelzen brachte. Er hoffte, sein abschreckendes Verhalten mit dem Dinner wiedergutzumachen. Er konnte es sich nicht leisten, schon wieder eine Gouvernante zu vergraulen. Selbstverständlich wusste er, was er mit der Einladung zum Dinner gemeint hatte, aber die Wahl ihres Kleides deutete darauf hin, dass sie darüber rätselte, wie die Einladung zu verstehen war. War es ein Arbeitsessen? Handelte es sich um eine Art Willkommenseinladung zum Kennenlernen? Sie hatte sich eindeutig für Ersteres entschieden.

Sie hatte ein eher bescheidenes dunkelgrünes Popelin-Kleid, das mit weißer Spitze besetzt war, ausgewählt. Es war hübsch gemacht und hätte gut zu einer Teeeinladung bei der Gattin eines ländlichen Gutsherrn gepasst oder für einen nachmittäglichen Einkauf in einem Dorf. Doch es war weit davon entfernt, den modischen Ansprüchen für ein Dinner in London bei einem tonangebenden Lebemann zu genügen. Die Schlichtheit des Kleides und dessen einfacher Stoff standen in starkem Kontrast zu seiner mustergültigen Abendaufmachung.

„Gehen Sie heute noch aus?“ Sie betrachtete ihn kurz.

Offenbar versuchte sie, die Schwere ihrer Fehleinschätzung zu ermessen. Ihre Gedanken ließen sich leicht lesen, da sie eine ungewöhnlich aufrichtige Art besaß. Ihre Unerschrockenheit hatte ihm schon bei ihrer Ankunft gefallen, obgleich die erste Begegnung enttäuschend geendet hatte.

„Ja, aber mein Besuch ist nicht zeitlich festgelegt. Ich kann kommen, wann ich will.“ Seit er vom Tod seines Bruders erfahren hatte, hatte das abendliche Ausgehen einiges von seinem Reiz verloren. Eine dreimonatige Trauerzeit für Geschwister galt als das Übliche, wenn der Bruder oder die Schwester auf natürliche Weise verstorben waren. Bei Elliott war das nicht der Fall gewesen. Infolgedessen gab sich London gern damit zufrieden, dass Riordan nach einer Auszeit von zwei Wochen, in denen er die Kinder aus Chatham Court abgeholt hatte, seinen gewohnten Vergnügungen nachging.

Riordan nahm an, dass ihm diese Huld nur widerfuhr, weil die feinen Kreise nach Anlässen zu Tratsch und Klatsch gierten. Wenn er sich einer dreimonatigen Trauerzeit unterworfen hätte, wäre die Saison für die Lastermäuler um einige skandalöse Gerüchte ärmer und langweiliger geworden.

Der Butler kündigte das Dinner an. Riordan bot Miss Caulfield den Arm, insgeheim erfreut, dass diese Höflichkeitsbezeugung sie sichtlich verwirrte.

„Eine solche Förmlichkeit“, murmelte sie, bevor sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Riordan am Tisch für sie vorgerückt hatte. „Ich bitte um Verzeihung, nicht angemessen gekleidet zu sein. Ich war mir nicht sicher …“ Sie verstummte, und Riordan stellte sich vor, wie sie oben in ihrem Zimmer die Vorzüge des grünen Popelins gegenüber dem einen guten Seidenkleid, das sie vermutlich besaß, abgewogen hatte. „Sie hatten recht, das Seidene für einen besseren Anlass aufzuheben“, entgegnete er leichthin und setzte sich ebenfalls.

„Woher wissen Sie das?“

Der entrüstete Blick, den sie ihm zuwarf, verriet ihre Gedanken. Er hätte wetten können, dass sie annahm, in den Wänden ihres Zimmers wären Gucklöcher versteckt. Für eine junge Gouvernante war dies ein recht weltgewandter Gedanke, und das weckte seine Neugier.

Ihren Befürchtungen begegnete er mit einem Lachen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Caulfield. Es ist alles ganz einfach. Um Frauen zu verstehen, muss ein Mann deren Kleidung verstehen.“ Diese spezielle Fähigkeit hatte er sich vor langer Zeit angeeignet, und sie hatte ihm seither oft zum Vorteil gereicht.

Sie breitete die Stoffserviette auf ihrem Schoß aus und musterte ihn skeptisch. Riordan lehnte sich entspannt auf dem Stuhl zurück. Während der Lakai die Suppe servierte, betrachtete er Miss Caulfields zartes Antlitz im Kerzenschein. Bei ihrer Ankunft war das meiste von ihrem Haar unter dem Hut verborgen gewesen. Nun trug sie es hochgesteckt und zu einem hübschen Chignon gebunden, der verriet, wie lang und kräftig es war, während er den Blick auf ihren anmutigen Hals freigab. Unweigerlich stellte er sich vor, wie es sein würde, ihre Haarnadeln zu lösen und die Haarpracht durch seine Finger gleiten zu lassen. „Das Licht lässt Ihr Haar rot-golden leuchten. Wirklich bezaubernd“, sagte er, sobald der Lakai wieder verschwunden war.

Sie ging nicht auf sein Kompliment ein und warf ihm erneut einen strengen Blick zu. „Und was verrät Ihnen mein Kleid über mich?“

„Sie glauben mir das mit der Kleidung nicht, nicht wahr?“ Riordan legte seinen Suppenlöffel ab und sah sie vergnügt an. Andere Menschen genau zu beobachten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, war ihm schon immer leichtgefallen. Die meisten Frauen mochten es, wenn er mithilfe dieser Gabe den Wahrsager spielte. „Erlauben Sie, dass ich es Ihnen beweise. Sie tragen oft Grüntöne. Das passt hervorragend zu Ihrem Teint, dem rötlichen Haar und Ihren smaragdgrünen Augen. Grün ist Ihre Lieblingsfarbe. Habe ich recht?“

„Ja.“

Auch wenn er sie durcheinandergebracht hatte, waren ihre Manieren untadelig. Anmutig und behutsam aß sie die Suppe, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen vom Löffel tropfte. Seine neue Gouvernante war in der Tat wohlerzogen. Riordan senkte die Stimme. „Jetzt sind Sie neugierig geworden. Ich erkenne es an der Art und Weise, wie Sie sich ganz leicht vorbeugen.“

Ihre Augen funkelten. Das war ein gutes Zeichen.

„Also gut, wenn Sie so ein Menschenkenner sind, verraten Sie mir doch, weshalb eine Gouvernante ein Seidenkleid haben sollte?“

Die weitere Unterhaltung musste einen Moment warten, da der Fisch serviert wurde.

„Sie haben mehr als das eine“, entgegnete Riordan, nachdem sich der Lakai zurückgezogen hatte. Er war sich nicht sicher, woher er das wusste, doch es schien zu stimmen. Es war, als wäre sie für feine Stoffe und erlesenen Spitzenbesatz geschaffen. Riordan griff nach ihrer rechten Hand und strich kreisförmig über ihre Handfläche. „Sagen Sie mir, dass ich recht habe.“ Eine Gouvernante, die Seidenkleider trug und sich Gucklöcher in den Wänden ihres Zimmers vorstellte, war interessant und rätselhaft. „Sie sind keine gewöhnliche Gouvernante.“

Sie erstarrte und zog die Hand zurück. „Sie sind kein gewöhnlicher Earl.“ Sie wandte ihre gesamte Aufmerksamkeit dem bisher vernachlässigten Fisch auf ihrem Teller zu.

Er hatte einen empfindlichen Nerv getroffen. Faszinierend, aber nicht überraschend. Ihre Kleidung war maßgeschneidert. Das hatte er sofort bemerkt. Hübsch, jung, mit gut geschnittener Kleidung und einem mutigen Auftreten gegenüber einem Mann, den sie als ihren Dienstherrn ansehen sollte, war Miss Caulfield vermutlich mehr, als sie vorgab.

„Das spricht weder gegen Sie noch gegen mich, Miss Caulfield. Das Gewöhnliche hat mich nie sonderlich interessiert.“ Er würde es dabei belassen. Er wollte sie nicht weiter verunsichern oder ihr Angst einjagen. Schließlich war ihm nicht daran gelegen, dass sie die Flucht ergriff. Er brauchte eine Gouvernante, die blieb, und er war gewillt, über ein Geheimnis hinwegzusehen, das sie verbergen wollte.

Miss Caulfield hatte ihren Fisch gegessen, ohne dass ihr ein einziger Fauxpas unterlaufen wäre. Er beobachtete Frauen immer besonders genau während der Fischgänge. Es war die perfekte Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie waren, was sie zu sein vorgaben. Miss Caulfield war entschieden mehr, als sie vorgab. Anders als viele vermeintlich feine Damen hatte sie stets ein Stück Brot in der linken Hand behalten und die Gabel in der Rechten. Nicht ein einziges Mal hatte sie nach dem verpönten Messer gegriffen. Jeder, der wahrhaft vornehm war, wusste, dass der Fischsud auf den Messern Flecken hinterließ, sofern sie nicht aus Silber waren. Es bestätigte, was ihm bereits zuvor aufgefallen war: Sie besaß exzellente Tischmanieren, als ob sie jeden Abend bei Kerzenschein mit feinem Porzellan und Kristallgläsern an der Tafel eines Earls speiste.

Als das Rindfleisch serviert wurde, schweiften seine Gedanken in eine sinnlichere Richtung ab. Er stellte fest, dass er sein Augenmerk nicht auf ihre Manieren richten konnte, ohne über ihren hübschen Mund, die zum Küssen einladenden Lippen, nachzusinnen. Ganz zu schweigen von den Überlegungen, die ihm bei der Betrachtung ihres anmutigen Halses in den Sinn kamen, während sie schluckte. Das lenkte seinen Blick hinunter auf ihren Ausschnitt, was ihn zu einer Vielzahl verbotener Fantasien verführte, einschließlich der verlockenden Vorstellung, sie zu entkleiden und auf den Tisch zu legen.

„Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, fragte er in einem tiefen Tonfall, der eher schmachtend als besorgt klang. „Möchten Sie gern noch ein bisschen Wein?“ Er flirtete jetzt ganz bewusst, während er herausfordernd mit den Fingern den Stiel seines leeren Weinglases streichelte und sich fragte, ob sie ihn wegen seines Verhaltens zur Rede stellen würde. Sie tat es.

„Lord Chatham, verraten Sie mir, ob Sie mit jeder Frau flirten, der Sie begegnen, oder nur mit den Gouvernanten?“

Das war kühn und mutig von ihr. Nicht jede Angestellte hätte das gewagt. Gut für sie. Riordan hatte wenig Verwendung für Leute ohne Rückgrat. Er griff nach der Weinflasche und schenkte ihr nach, um einen Anlass zu haben, sich zu ihr vorzubeugen und noch mehr Unheil anzurichten. „Ich versichere Ihnen, dass ich gerade nicht flirte. Wenn ich mit Ihnen flirten würde, Miss Caulfield, würde es sich deutlicher bemerkbar machen.“ Aber natürlich flirtete er mit ihr, allerdings für seine Verhältnisse zurückhaltend, und das wussten sie beide.

Er lachte und füllte sein Glas. „Stoßen wir auf, äh, unsere harmonische Zusammenarbeit an, Miss Caulfield. Zum Wohl.“

Maura stieß ihr erhobenes Glas ganz vorsichtig gegen das seine. Es war unmöglich, sich Lord Chathams verwegener Art und seinem Charme zu entziehen. Er war nun einmal so, das wurde ihr bewusst. Sie jedoch war anders und musste den nötigen Verstand für sie beide aufbringen. Möglicherweise flirtete er nach seinen Maßstäben nicht mit ihr, doch die Gesellschaft würde das anders sehen. Kein Wunder, dass Mrs. Pendergast ihn als liederlichen Lebemann bezeichnet hatte. Vermutlich gerieten fast alle Frauen in seiner Gegenwart in Verzückung. Jedenfalls mangelte es ihm gewiss nicht an weiblicher Aufmerksamkeit. Attraktiv, jovial und redegewandt, wie er war, musste er sich sicherlich bei der Eroberung von Frauen keine große Mühe geben.

Nun, sie würde er nicht erobern, falls er das mit seinem spielerischen Flirten beabsichtigte. So viel würde sie klarstellen, während das Dinner mit einem Gang aus Käse und Früchten seinen Abschluss fand. Nachdem sie von dem würzigen Cheddar gekostet hatte, ergriff sie das Wort. „Ich dachte, es würde bei diesem Dinner darum gehen, über die Kinder zu reden. Und jetzt haben wir die Mahlzeit fast beendet, ohne dass Cecilia und William zur Sprache gekommen sind.“ Noch direkter konnte sie kaum werden.

„Was möchten Sie über die Kinder wissen?“ Er schenkte sich erneut Wein ein, und Maura begann sich zu fragen, ob es das vierte oder bereits das fünfte Glas war. Wein verschwand aus seinem Glas, als wäre es Wasser.

„Wir könnten mit ihrem Stundenplan anfangen und vielleicht über die Inhalte ihres Unterrichts reden“, schlug Maura vor. Das war die sonderbarste Unterredung, die sie je gehabt hatte. Eigentlich war es nicht ihre Aufgabe, Fragen zu stellen. Sie war davon ausgegangen, Anweisungen zu erhalten.

„Ihr Stundenplan?“ Lord Chatham stach verärgert in sein Stück Käse. Sein Tonfall wurde mit einem Mal frostig, wie es bereits am Mittag der Fall gewesen war. „Sie haben keinen Stundenplan, Miss Caulfield. Ihr Leben ist auf den Kopf gestellt worden. Sie haben den Beschützer verloren, auf den sie vertraut hatten, und sie haben fünf Gouvernanten hintereinander in ebenso vielen Wochen ertragen. Seit dem Tod meines Bruders gab es keinerlei Stabilität in ihrem Leben.“

Maura ließ sich nicht einschüchtern. „Aber Sie waren doch zugegen. Gewiss haben Sie, auch in Abwesenheit von Gouvernanten, irgendeine Art von Ordnung in das Leben der Kinder gebracht.“

„Ein wenig, aber einen Stundenplan würde ich es wahrhaftig nicht nennen.“ Lord Chatham lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, sein Weinglas war schon wieder leer, und er hielt es nachlässig zwischen zwei Fingern. „Ich sehe, dass Sie von mir enttäuscht sind. Vielleicht hegen Sie zu große Erwartungen.“ Jetzt flirtete er nicht mehr, er klang selbstkritisch. „Bitte vergessen Sie nicht, dass ich ein Junggeselle bin, der sein Junggesellenleben führt. Wenn ich wüsste, wie man Kinder erzieht, wären Sie nicht hier.“ Er stellte das Glas ab und stand auf. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, es ist später geworden, als ich vorgesehen hatte, und ich werde noch woanders erwartet. Bitte bedienen Sie sich ohne mich von dem Käse und den Früchten.“ Er verbeugte sich kurz und verließ das Zimmer.

Es war der seltsamste Abgang, den sie je erlebt hatte, und ganz sicher der unhöflichste.

Sein Junggesellenleben, wahrhaftig! Maura schäumte noch vor Wut, als sie wieder oben in ihrem Zimmer war. Alles, was er tat oder sagte, verdeutlichte, dass er ein zügelloses Leben führte. Wahrscheinlich wurde er heute Abend noch auf mehreren Bällen erwartet, bevor er sich mit seinen Kumpanen in einer Spielhölle traf. Vor dem frühen Morgen würde er bestimmt nicht zurück sein.

Es hatte ihr auf der Zunge gelegen, ihn wegen seines verantwortungslosen Verhaltens zu tadeln, doch sie hatte ihn an diesem Tag bereits zweimal verärgert und wusste, dass er nicht der einzige Mann war, der sich des Nachts in der Stadt verlustierte, während er die ihm anvertrauten Kinder der Obhut anderer überließ. Das machte es allerdings nicht richtiger. Maura hielt gar nichts von dem Laissez-faire, mit dem die englische Aristokratie ihre Elternrolle betrachtete. Ihre eigene Erziehung war zum Glück anders verlaufen, und dafür würde sie ewig dankbar sein.

Außerdem war sie dankbar für ihr Bett. Sie löste den Chignon und legte die Nadeln sorgfältig in die kleine Schachtel auf der Kommode. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, und sie fühlte sich todmüde. Sie lächelte sich selbst im Spiegel zu, während sie sich umzog. Bereits in ihrem weißen Nachtgewand, blickte sie sich noch einmal genauer im Zimmer um. Es war kleiner, als sie es gewohnt war, aber es war ein hübscher Raum im dritten Stock. Von dem Fenster aus blickte man auf den Garten, und die Vorhänge wirkten sauber und neu. Tapeten in einem rosa Blumenmuster zierten die Wände, und auf dem Bett lag eine Tagesdecke in demselben Muster und passender Farbe. Eine Kleidermangel stand in einer Ecke und die kleine Kommode mit Schubladen in der anderen. Mehr brauchte sie nicht, und nach drei Tagen in der Postkutsche kam ihr das geradezu paradiesisch vor.

Selbstverständlich würde sie ein anderes Leben führen als das, wozu sie erzogen worden war. Dennoch hatte sie sich heute gut geschlagen. Sie hatte eine Anstellung gefunden, war durch Londons Straßengewirr zum Ziel gelangt und war dem umwerfend attraktiven Earl of Chatham begegnet. Für ein behütet aufgewachsenes Mädchen aus Devonshire war das kein schlechter Auftakt. Allerdings musste sie vorsichtig sein. Der Earl mochte unbekümmert wirken und sich nicht um ein geregeltes Leben für die Kinder sorgen, doch er war scharfsinnig.

Erschreckend rasch hatte er vermutet, dass sie keine gewöhnliche Gouvernante war. Sie hatte ihre wahre Identität verbergen wollen, und doch musste etwas an ihrem Verhalten sie verraten haben. Sie hoffte, dass er keine weiteren Mutmaßungen anstellte und auch nicht daran interessiert war, sich näher mit ihr zu befassen. Solange sie die Aufgabe gut erfüllte, sich um seine zwei Mündel zu kümmern, konnte sie darauf hoffen, dass er nicht genauer hinsah. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war jemand, der neugierig wurde, woher sie kam.

Maura sprang mit einem kleinen Hüpfer ins Bett, genoss es, sich auf dem kühlen Laken, unter der frisch duftenden Decke auszustrecken und das flauschige Kissen unter dem Kopf zu spüren. Als sie heute Morgen aus der Postkutsche gestiegen war, hatte sie erleichtert aufgeatmet. Diesen Tag hatte ihr Onkel für ihre Hochzeit vorgesehen. Wäre sie in Devonshire geblieben, wäre sie jetzt mit dem grässlichen Baron Wildeham verheiratet und ein Leben lang dessen abstoßenden Annäherungen ausgeliefert – ein Schicksal, das gewiss schlimmer war als eine Anstellung im Haus des Earl of Chatham.

Sie blies die Kerze auf dem Betttisch aus und flüsterte in die Dunkelheit: „Auf Sie, Lord Chatham. Auf unsere, äh, harmonische Zusammenarbeit. Zum Wohl.“

3. KAPITEL

Acton Humphries, den meisten in diesem Teil von Devonshire als Baron Wildeham bekannt, hatte es sich auf dem Diwan von Lucas Harding bequem gemacht, trank als Digestif ein Glas Brandy und beobachtete das Szenarium, das sich ihm bot. Hinter dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers ließ Harding aufgebracht den kristallenen Briefbeschwerer von einer Hand in die andere gleiten. Harding wirkte so erzürnt, dass ihm zuzutrauen war, dem Überbringer der schlechten Nachricht, der vor dem Schreibtisch stand, mit dem verbleiten Kristallobjekt den Schädel zu spalten. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, und er hatte schon immer zu jähzornigem Handeln geneigt.

„Sie wollen mir also allen Ernstes erzählen, dass es meiner Nichte gelungen ist, Ihnen zu entkommen und unauffindbar zu sein?“, zischte Harding zähneknirschend, als der Bote seinen Bericht beendet hatte.

Acton setzte sich gerade hin, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. „Sicherlich verstehen Sie, wie unwahrscheinlich das ist“, wandte er sich seinerseits an den Mann vor dem Schreibtisch. „Sie ist eine wohlerzogene junge Lady, die in ihrem ganzen Leben nie über die Grenzen von Exeter hinausgekommen ist, und Sie und Ihre Gehilfen haben doch Erfahrung damit, Verschwundene zu finden.“ Seine gedehnte Sprechweise ließ ihn träge klingen, doch nur ein sehr dummer Mann würde sich von seiner scheinbaren Gleichgültigkeit täuschen lassen. Acton war ebenso erbost über die jüngste Entwicklung wie Harding. Seine jahrelange Kumpanei mit Lucas Harding litt seit der letzten Woche unter beträchtlicher Anspannung. Vier Tage bevor Hardings Nichte Maura die neue Baroness Wildeham werden sollte, und damit Actons Frau, hatte sich die undankbare Schönheit aus dem Staub gemacht.

„Es tut mir leid, dass wir keine besseren Neuigkeiten haben.“ Der Bote spürte, dass Actons Zorn unter der Oberfläche brodelte, und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Bessere Neuigkeiten? Sie haben überhaupt keine Neuigkeiten!“, schimpfte Harding und bedachte den Mann mit einer ganzen Reihe von Flüchen.

Dieser Zornesausbruch schien Acton gerechtfertigt. Mauras Verschwinden hatte ihren Onkel in eine heikle Lage gebracht und ließ ihn wie einen Narren aussehen. Harding hatte sich nicht vorstellen können, dass sein Hengst Captain gegen Actons Jupiter verlieren würde. Zur Tilgung von Hardings erheblicher Wettschuld war vertraglich vereinbart worden, dass dessen Nichte Actons Ehefrau werden sollte. Acton war gern bereit gewesen, die Begleichung der Wettschuld in Form einer Braut zu akzeptieren, da es sich um die bildhübsche Maura Harding handelte.

Als Harding den Handel abgeschlossen hatte, war er von der Fügsamkeit seiner Nichte ausgegangen. Nun hatte er weder die Braut noch Geld anzubieten, und der Zahltag rückte näher. Wenn es Harding nicht gelang, Maura zurückzuholen, war er ruiniert. Acton wusste nur zu gut, dass Harding nur ein einfacher Landadliger war, der nicht mehr als seinen Gutshof besaß. Wenn Acton das Haus zur Tilgung der Schuld übernahm, verlor Hardings Familie das Dach über dem Kopf: seine Ehefrau, die jungen Zwillinge und die beiden älteren Söhne. Es war nur gerecht, Maura gegen den Verlust des eigenen Zuhauses einzutauschen. Harding hatte sich um Maura gekümmert, seit sie sechzehn Jahre alt war, und so dankte sie es ihm? Einen solchen Ungehorsam würde Acton niemals dulden. Es war nun einmal das Los der Frauen im Leben, der Familie zu dienen. Ihn zu heiraten, war Mauras Pflicht, ihre Gegenleistung für die vier Jahre unter dem Dach ihres Onkels.

„Finden Sie sie“, befahl Harding, dessen Zorn sich ein wenig abkühlte. „Dehnen Sie die Suche aus. Klappern Sie erneut die Postgasthöfe in der Umgebung ab. Bestimmt wird sich jemand an sie erinnern.“

Acton hielt das nicht für die richtige Vorgehensweise. Falls Maura tatsächlich in einem solchen Gasthof Station gemacht hatte, waren die Chancen, sie zu finden, gering. Hunderte von Reisenden gingen in diesen Gasthöfen ein und aus, und die Erinnerung der Leute trübte sich rasch. Die Männer, die nach ihr suchten, liefen Gefahr, auf falsche Fährten gelockt zu werden. Acton wusste, dass Harding ernsthaft geglaubt hatte, sie in einem Dorf in der Nähe aufzuspüren oder bei dem Versuch, in Exeter Arbeit zu finden. Diesbezüglich hatte Harding sich geirrt, und die Spur wurde immer kälter. Jetzt war es an der Zeit, dass Acton die Dinge in die Hand nahm.

„Wie sieht es mit London aus?“, schlug er vor. „Wenn sich jemand verstecken will, erscheint mir das eine vernünftige Wahl, und dort haben wir noch keine Suche veranlasst.“ Ihr Verschwinden war erst vier Tage her. Seinen Berechnungen nach konnte sie gerade erst dort angekommen sein. Eine Spur in London, sofern es eine gab, würde noch fast heiß sein.

Harding schüttelte den Kopf. „Das ist höchst unwahrscheinlich, Wildeham. Maura hat kein Geld und verfügt über keine Fähigkeiten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könnte. Selbst wenn sie die Postkutschenfahrt hätte bezahlen oder sich erbetteln können, hätte sie nichts zum Leben, wenn sie die Stadt erreicht. Sie ist die Tochter eines Gentleman. Sie wurde dazu erzogen, zu heiraten, nicht zu arbeiten.“

Acton verstand Hardings Argument. Wenn ein wohlerzogenes Mädchen wie Maura dachte, in London eine Anstellung zu finden, würde sie rasch enttäuscht werden. Die Stadt würde sie gierig verschlingen. Das bereitete ihm durchaus Sorge. Er wollte keine tote oder geschändete Maura. Er wollte sie lebendig, unversehrt und reumütig – sehr reumütig.

Wildeham veränderte seine Sitzposition, um sich den ersten Zuckungen seiner Erregung anzupassen. Die Vorstellung von einer gefügigen Maura, die reumütig vor ihm kniete, bewirkte mehr als jedes Aphrodisiakum. Wenn jemand sie verschlang, war er es. Er hatte schon etliche Stunden damit zugebracht, sich auszumalen, welche Fantasien er mit ihr ausleben würde, wenn sie erst einmal ihm gehörte. Es würde ihr noch leidtun, dass sie fortgelaufen war. Es gab nichts Erregenderes, als mit einer Zuchtrute die glatten weißen Rundungen unberührter Pobacken auszupeitschen … Aber er schweifte ab. Er wandte seine Gedanken wieder der aktuellen Lage zu.

Maura Harding war verschwunden, und Acton war sich von Tag zu Tag sicherer, dass sie nach London gegangen war. Ihr Onkel sah nur das hübsche, wohlerzogene Mädchen. Acton hingegen hatte Gelegenheit gehabt, ihren Widerstand und ihre Entschlossenheit kennenzulernen. Harding und der Mann vor dem Schreibtisch konnten, so lange sie wollten, darüber reden, in Devonshire nach ihr zu suchen, aber sie hatten Maura nie wütend erlebt. Sie hatten nicht gesehen, wie sie versucht hatte, Acton eine Ohrfeige zu verpassen, nachdem er sie in eine Vorratskammer gedrängt hatte, um sie ein bisschen zu kitzeln. Sie waren nicht zur Zielscheibe ihrer spitzen Zunge geworden, die nicht an die französische Art erinnerte, die er bevorzugte. Die kleine Xanthippe hatte ihn gebissen, als er versucht hatte, sie zu küssen! Beinahe hatte sie seine Zunge in zwei Hälften geteilt. Für ihn war das grundsätzlich in Ordnung. Er mochte es rau und hart und schlug stets zurück – nicht zu hart, doch ausreichend, um seine überlegene Position als Mann zu verdeutlichen. Je mehr sich Maura wehrte, desto heftiger begehrte er sie. Er wollte sie um jeden Preis besitzen. Es wurde Zeit, dass er die Angelegenheit auf seine Weise regelte.

„Reden Sie etwa immer noch über eine Suche in der näheren Umgebung?“, mischte er sich erneut in das Gespräch am Schreibtisch ein.

„Unseres Erachtens ergibt das am meisten Sinn.“ Harding seufzte. „Sie kann nicht weit gekommen sein.“

Acton lächelte überheblich. „Von mir aus können Sie Ihre Bemühungen auf diese Weise fortsetzen, Harding. Das bezahlen Sie schließlich mit Ihrem Geld. Ich habe meinen eigenen Mann für besondere Aufgaben wie diese. Ich werde ihn auf meine Kosten nach London schicken und sehen, was er herausfindet. Wir schließen eine Wette ab: Fünfzig Pfund für denjenigen, der sie zuerst findet.“

Harding lächelte nachsichtig, als ob nicht er derjenige wäre, der weit mehr als fünfzig Pfund verlor, falls das Mädchen nicht zurückgeholt wurde. „Einverstanden.“

Acton stand vom Diwan auf. „Dann beende ich den Abend heute frühzeitig. Ich habe noch einiges zu regeln. Grüßen Sie Ihre Frau von mir, Harding.“ Sobald er zu Hause war, würde er nach Paul Digby schicken lassen, dessen Dienste er schon oft in Anspruch genommen hatte. Der hünenhafte Mann sah zwar aus wie ein Ochse und war sich für nichts zu schade, ging aber außergewöhnlich klug und scharfsinnig zu Werke. Digby fand jeden, wenn er es sich in den Kopf setzte. Falls Maura sich in London aufhielt, war sie schon so gut wie gefunden.

Maura startete mit Elan in den neuen Tag. Sie war entschlossen, nicht an ihrer neuen Aufgabe zu scheitern, und wusste bereits, wie sie vorgehen würde. Die Kindheit lag bei ihr noch nicht so lange zurück, dass sie vergessen hatte, wie es sich anfühlte, sieben oder acht Jahre alt zu sein. Daher war sie früh aufgestanden, hatte mit der Köchin über das Essen für Cecilia und William gesprochen und sie gebeten, das Frühstück in einer halben Stunde in das Kinderzimmer bringen zu lassen. Anschließend hatte Maura einen ordentlichen Stundenplan für ihre zwei Schützlinge zusammengestellt. Auf dem Weg zum Kinderzimmer ging sie in Gedanken den Tagesablauf durch: zunächst das Frühstück, dann morgendlicher Unterricht, später ein Nachmittagsspaziergang. Beim Tee würde sie die Manieren der Kinder begutachten, und vor dem Dinner hatte sie Zeit zum Spielen vorgesehen. Alles war sehr effizient.

Der Anblick des Kinderzimmers machte ihre Pläne zunichte. Es herrschte ein fürchterliches Durcheinander. Spielzeug jedweder Art lag auf dem Boden ausgebreitet oder war wahllos in irgendeine Ecke gestopft worden. Kleidungsstücke lagen überall zerknüllt auf den Möbeln. Maura hob ein abgelegtes Hemd auf und schüttelte es aus. Das hatte sie nicht erwartet.

Gestern Nachmittag war keine Zeit gewesen, um einen Blick in die Zimmer der Kinder zu werfen. Cecilia und William waren ordentlich gekleidet zu ihr gebracht worden. Gemeinsam waren sie in dem hübschen kleinen Park auf der anderen Straßenseite spazieren gegangen. Bei ihrer Rückkehr hatte die Einladung zu dem höchst unüblichen Dinner mit Lord Chatham auf sie gewartet, und die Kinder waren von einem der Dienstmädchen zu Bett gebracht worden.

Das Chaos im Kinderzimmer verlangte nach einer spontanen Abänderung des sorgfältig ausgearbeiteten Plans.

„Sechs!“ Cecilia steckte den Kopf aus ihrem kleinen Schlafzimmer, das auf der rechten Seite an das große Kinderzimmer grenzte. „Sie sind früh!“ Sie lief quer durch den Raum zu Williams Zimmer. „Will, Will, Sechs ist hier!“

„Ich dachte, ich komme zum Frühstück herauf, damit wir uns weiter kennenlernen können.“ Maura lächelte. Die Kinder und sie waren gestern gut miteinander zurechtgekommen, auch wenn William weniger begeistert wirkte als Cecilia. Genau genommen war der Junge bei dem Spaziergang sehr still und zurückhaltend gewesen.

„Was machen wir heute?“, fragte Cecilia, ergriff Mauras rechte Hand und schwang unternehmungslustig deren Arm.

„Wir frühstücken, und danach werden wir ein Spiel spielen“, sagte Maura fröhlich. Sie hatte das Zimmer des Jungen erreicht und zog an Williams Decke. „Nun aber raus aus den Federn, du Schlafmütze! Das Frühstück wird jeden Moment hier sein.“

„Hier oben?“, fragte William. „Onkel Ree lässt uns sonst einfac...

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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