Historical Saison Band 113

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Zwei Romane von DIANE GASTON

SCHICKSALHAFTE NACHT MIT DEM MARQUESS

Ein Wirbelwind von Emotionen droht Lady Eliza Varden zu verschlingen, als sie den Marquess of Hale auf dem Ball erblickt. Vor sieben Jahren hat sie eine verbotene Liebesnacht mit ihm verbracht. Ungezügelte Leidenschaft erlebte sie in seinen Armen – mit süßen Folgen! Niemals darf er ihr skandalöses Geheimnis erfahren …

MYLADY, SIE HABEN MEIN HERZ GESTOHLEN!

Sie ist es! Verblüfft starrt Diplomat Marcus Wolfdon die hochgewachsene Schönheit an, die ihm in Brighton als Miss Juliana Marsh vorgestellt wird. Er kennt sie nur als „Fleur“, mit der er in Paris eine unvergessliche Nacht verbracht und die ihm seine Geldbörse entwendet hat. Eine Diebin – doch für ihn die pure Versuchung …


  • Erscheinungstag 21.12.2024
  • Bandnummer 113
  • ISBN / Artikelnummer 8090240113
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Diane Gaston

1. KAPITEL

Surrey, England – 1810

Die schlammige Brühe, in die sich die Landstraße verwandelt hatte, zerrte an Eliza Vardens Halbstiefeln wie Finger aus der Unterwelt. Hielt sie auf. Spottete ihrer.

Sie wollte rennen.

Fliehen. Henry verlassen, den Viscount Varden, den ihr frisch angetrauten Ehemann, ihren engsten Vertrauten, ihren besten Freund.

Nach dem, was sie getan hatte.

Nach dem, was er ihr gebeichtet hatte.

Oh, und was er ihr gebeichtet hatte! Es war gar nicht auszudenken. Ein Treuebruch. Ein unerwarteter, überaus schmerzhafter Treuebruch. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken. Wie konnte sie auch? Sie musste einfach nur verschwinden und niemals zurückkehren.

Sie wollte heulen, ihre Kleider zerfetzen, sich die Haare ausreißen, doch was würde das nutzen? Es änderte nichts an dem, was Henry vor ihr geheim gehalten hatte. Die Wahrheit. Die Wahrheit, die er ihr vorenthalten hatte, sogar schon, als er noch zur Schule gegangen war.

Ihr Mantel, vom sintflutartigen Regenguss völlig durchnässt, umpeitschte ihre Beine wie die Verkörperung ihres inneren Aufruhrs. Der schneidende Wind drang ihr unter die Haut, die Kälte, beinahe eine Erleichterung, linderte die Flammen der Enttäuschung und der Wut, die in ihr brannten, und gab ihr die Kraft weiterzugehen.

Einen Fuß vor den anderen setzen. Mehr musste sie nicht tun. Wieder drohte sie auszurutschen, zum hundertsten Mal. Sie erlangte ihr Gleichgewicht wieder, als hinter ihr Hufschlag durch den lauten Regenguss ertönte.

Ein Mann rief: „Madam!“

War sie erkannt worden? Wie sollte sie erklären, weshalb Lady Varden sich im strömenden Regen eine schlammige Straße entlangkämpfte?

Ihr Gesicht, so gut es ging, durch ihre Kapuze verbergend, wandte sie sich um und versuchte zu erkennen, wer da war.

Ein Reiter erschien durch den grauen Regenvorhang. Sie ging weiter.

Er ritt neben sie. „Madam. Miss. Wohin wollen Sie? Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein!“, rief sie.

Nichts konnte helfen, außer vielleicht, wenn er sie in Frieden ließe.

„Sie können unmöglich weitergehen“, beharrte er. „Mein Pferd kann uns beide tragen. Ich bringe Sie hin, wo immer Sie möchten.“

„Nein!“, rief sie wieder.

Sie versuchte, ihm zu entkommen, glitt jedoch auf dem Schlamm aus und fiel auf die Knie. Der Mann sprang vom Pferd und eilte zu ihr.

Er nahm sie beim Arm und half ihr auf die Beine. „Haben Sie sich verletzt?“

„Nein“, entgegnete sie abweisend. „Lassen Sie mich bitte meines Weges gehen.“

„Ich möchte Ihnen bloß helfen.“ Noch immer hielt er sie beim Arm. „Ich werde Sie …“

Sie riss sich los.

Er trat einen Schritt zurück. „Sie haben vor mir nichts zu befürchten, das versichere ich Ihnen. Sie sind durchnässt und frieren vermutlich. Und es muss anstrengend sein, durch diesen Schlamm zu laufen. Mein Pferd kann zwei tragen. Wir bringen Sie, wohin auch immer Sie möchten.“

Sie warf ihm bloß einen flüchtigen Blick zu, genug, um zu sehen, wie groß und muskulös er war. Und niemand, den sie kannte, zum Glück. Trotzdem hielt sie den Kopf gesenkt. Sie hatte gelogen, als sie sagte, sie sei unverletzt. Der Sturz hatte sie erschüttert, und ihre Knie fühlten sich plötzlich ganz weich an.

Einwilligend nickte sie.

Noch ehe sie sich rühren konnte, hob er sie auf seine starken Arme und trug sie zu seinem wartenden Pferd. Er setzte sie in den Sattel und saß hinter ihr auf.

„Wohin wollen Sie?“, fragte er.

Sie konnte ihm kaum sagen, dass sie ihrem erst kürzlich angetrauten Ehemann davongelaufen und auf dem Weg zurück zu ihrem elterlichen Anwesen war.

„Witley“, sagte sie schließlich. Eine weitere Lüge.

„Witley? Das müssen wenigstens zehn Meilen sein.“ Er klang erstaunt. „Sie hatten wirklich vor, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen?“

„Wie Sie gesehen haben.“

War sie denn verrückt geworden? Sie wollte nicht nach Witley, war doch das Haus ihrer Eltern nur drei Meilen entfernt. Sie wollte nur nicht, dass er ihr wahres Ziel erfuhr.

„Das weicht nicht allzu sehr von meinem Weg ab“, murmelte er, ihre Aussage offenkundig glaubend.

Sie ritten weiter die Straße entlang, die irgendwann nach Witley führte – nachdem sie den Weg zu jenem Haus passiert hatten, in dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte.

Bis sie Henry geheiratet hatte.

Wenigstens war ihr Begleiter nicht gesprächig. Das arme Pferd allerdings schien mit dem zusätzlichen Gewicht zu kämpfen zu haben. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, während sie überlegte, wie sie den Mann überzeugen konnte, sie wieder auf der Straße abzusetzen. Er konnte gewiss ein Gasthaus erreichen, wenn ihr Gewicht ihn nicht mehr aufhielt, und sie könnte zweifellos ihren strapaziösen Weg, trotz des Regens und des Schlamms, hinter sich bringen, nun, da sie sich an seiner starken Brust ein wenig ausgeruht hatte.

„Ich habe mich erholt“, sagte sie zu ihm. „Ich könnte nun wieder laufen.“

„Seien Sie nicht töricht. Ich lasse Sie nicht im strömenden Regen zurück.“

Sie ritten an Feldern vorbei, doch die Landschaft war so verschleiert, dass sie unsicher war, wo genau sie sich befanden. Hatten sie Henrys Land schon hinter sich gelassen und das ihrer Familie betreten? Falls noch nicht, dann gewiss bald. Die Straße wurde mit jedem Schritt unwegsamer. Der Schlamm war unter den Hufen des Tieres ebenso heimtückisch, wie er es unter ihren Stiefeln gewesen war. Das arme Pferd! Auf keinen Fall wollte sie dafür verantwortlich sein, dass sich dieses schöne Tier zu allem Überfluss noch ein Bein brach!

Plötzlich wichen sie vom Weg ab.

Eliza lugte unter ihrer durchnässten Kapuze hervor, um zu sehen, wo sie waren. „Weshalb verlassen wir die Straße?“, fragte sie.

„Ich sehe einen Unterschlupf“, erklärte er. „Bei unserem Tempo werden wir so schnell kein Dorf erreichen können. Mein Pferd braucht eine Pause. Wir können im Trockenen warten, bis der Regen aufhört.“

Als sie das Gebäude erreichten, erkannte Eliza es augenblicklich. Es war eine der Hütten auf dem Anwesen ihres Vaters. Der Gutsverwalter hatte sie für genau solche Fälle errichten lassen, falls die Landarbeiter gezwungen waren, Schutz vor rauem Wetter zu suchen. Außerdem war dies einer der Orte, an denen sie und Henry oft als Kinder gespielt hatten.

Ihr Begleiter saß ab und öffnete das provisorische Tor zu einer Art Stall. Eliza wusste, dahinter war es trocken und er würde gutes Heu vorfinden.

Das Pferd folgte ihm hinein. Eliza ließ sich vom Rücken des Tieres gleiten.

Der Mann sammelte als Erstes eine Handvoll Heu zusammen und begann, das Pferd trocken zu reiben. Eliza ging zu einer Kiste hinten an der Wand und brachte ihm einen trockenen Lappen, der besser dazu geeignet war.

Überrascht sah er sie an, nahm den Lappen jedoch und fuhr fort, das Pferd zu trocknen.

„Sie sollten auch den Sattel abnehmen“, sagte sie.

Er warf ihr einen Blick zu. „Ich dachte, ich öffne erst die Hütte für Sie.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nein. Versorgen Sie ihn ruhig.“

„Pegasus.“ Die Stimme des Mannes wurde sanfter. „Sein Name ist Pegasus.“

Während er die Satteltaschen und schließlich den Sattel abnahm, holte sie eine Pferdedecke aus der Kiste und brachte sie ihm. Dankbar nickte er und legte sie dem Tier auf, dann streichelte er ihm den Hals. „Keine Sorge, ich hole dir gleich Wasser.“ Er hob seine Taschen auf und warf sie sich über die Schulter. „Möchten Sie hier im Trockenen warten, während ich versuche, in die Hütte zu gelangen?“, fragte er.

„Ich komme mit Ihnen.“

Eliza wusste, wo der Schlüssel für das Vorhängeschloss versteckt war, doch wenn sie es ihm zeigte, würde die Frage aufkommen, woher sie das wusste. Und sie wollte nichts von sich offenbaren.

Draußen im Regen holte er ein Messer hervor und hantierte damit an dem Vorhängeschloss. In der Zwischenzeit suchte sie einen Eimer und füllte ihn mit Wasser aus einem Bottich.

Sie machte ihn darauf aufmerksam. „Für Ihr Pferd“, sagte sie und ging zurück in den Stall.

Als sie zurückkam, hatte er das Schloss geöffnet. Zusammen traten sie ein.

Sie brauchte eine Weile, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Sie war seit Jahren nicht mehr in dieser Hütte gewesen, doch es fühlte sich an wie gestern erst. Nichts hatte sich verändert. Weder Tisch noch Stühle, wo sie und Henry Karten gespielt hatten, noch das Bett in der Ecke oder die kleine Spüle.

Ihr Begleiter legte die Satteltaschen auf den Boden und setzte seine Kopfbedeckung ab – einen Tschako. Er zog seinen Mantel aus, unter dem die rote Uniform und die Schärpe eines Armeeoffiziers zum Vorschein kamen. Erleichtert stieß sie den Atem aus. Ein Soldat war in ihrem Dorf ein ungewöhnlicher Anblick. Er war gewiss niemand, der sie kannte. Vermutlich nur auf der Durchreise.

Er hängte seinen Mantel auf einen der Stühle und deutete zum Kamin. „Ich mache Feuer.“

Neben dem Kamin war Holz aufgestapelt, außerdem fanden sich dort Streichhölzer. Während er die Kaminklappe öffnete, ging sie zu der Küchennische und nahm die Öllampe, von der sie wusste, dass sie dort stand.

Als sie zurückkehrte, brannte bereits das Anmachholz, und er legte größere Scheite nach. Überrascht zog er die Brauen hoch, als sie ihm dann die Öllampe reichte. „Sehr gut.“

Er entzündete die Lampe, die daraufhin den ganzen Raum erhellte.

Zum ersten Mal sah Eliza nun sein Gesicht. Ein gut aussehendes Gesicht, eingerahmt von dunklem, lockigem Haar, das vor Nässe glitzerte. Seine Brauen waren dicht, seine Augen schlicht braun. Die Nase musste einmal gebrochen gewesen sein, seine Kiefer waren kräftig, die Lippen ausdrucksvoll. Ihre Schwestern hätten von diesem Gesicht geschwärmt. Außerdem war er hochgewachsen, mindestens einen halben Fuß größer als Henry. Und sie selbst.

Er starrte sie seinerseits an, und der Moment erstreckte sich so lange, bis ein Blitz die Hütte erleuchtete und beinahe zeitgleich ein lauter Donnerschlag ertönte.

Er wandte sich zum Fenster. „Ich fürchte, wir werden eine Weile hierbleiben müssen.“

Sie dachte immer noch, dass sie es vielleicht bis zu ihrem Elternhaus schaffen könnte. Was waren schon zwei Meilen, wenn auch im Regen?

Es blitzte erneut. Hinauszugehen wäre gefährlich.

„Darf ich Ihnen mit Ihrem Mantel behilflich sein?“, fragte er.

Sie musste sich entscheiden. Bleiben oder gehen. Doch wahrscheinlich würde er ihr folgen und somit auch sich selbst und sein schönes Pferd den Gefahren des Unwetters aussetzen. Eigentlich hatte sie keine Wahl, oder?

Also bleiben.

„Ich schaffe das schon.“ Sie öffnete ihren Mantel, zog ihn aus und hängte ihn über den anderen Holzstuhl, ihre Handschuhe legte sie auf den Tisch.

Der Wind rüttelte an den Fenstern, und Eliza erschauderte von der Kälte. Ihr Kleid war beinahe ebenso durchnässt wie ihr Mantel. Ihre Füße waren eiskalt.

Ohne es zu selbstverständlich wirken zu lassen, ging sie zu der Truhe, die neben dem Bett stand, und öffnete sie. Sie gab vor, sie zu durchsuchen, obwohl sie wusste, was darin war. „Hier sind Decken.“ Sie holte sie hervor. „Und trockene Kleidung.“

Sie legte die Decken beiseite und griff erneut in die Truhe. „Einige Hemden und Hosen.“ Mit dem Kinn deutete sie in eine andere Ecke der Hütte. „Dort ist außerdem eine Wasserpumpe. Wir benötigen nur etwas Regenwasser, um sie in Gang zu bringen. Dann kann ich uns Tee kochen.“

„Es gibt Tee?“, fragte er verwundert.

„Und einen Kessel und anderes Geschirr.“ Doch sie verriet zu viel. „Ich fand es, während Sie Feuer machten.“

Er nickte anerkennend, dann wies er zu der Truhe. „Wir sollten unsere nassen Sachen ausziehen und sie zum Trocknen vor den Kamin hängen.“

Sie starrte ihn an. Wenn sie das täten, müssten sie länger bleiben, als sie gehofft hatte. Allerdings würde sie so ihre Identität wahren, falls er Verbindungen zu jemandem aus dem Dorf hatte.

Sie drehte ihm den Rücken zu. „Sie werden mir die Knöpfe öffnen müssen.“

Die Berührung seiner Finger auf ihrer nahezu bloßen Haut weckte Empfindungen in ihr, das Bewusstsein, mit einem Mann allein in dieser kleinen Hütte zu sein, wenngleich sie und Henry oft an ähnlichen Orten allein gewesen waren.

Als er fertig war, trat er zurück. „Ich gehe hinaus, Wasser für die Pumpe holen.“

Gut. Dann konnte sie sich in Ruhe umziehen. Und etwas Abstand zu ihm bekommen, um sich von der Hitze seiner Hände abzukühlen.

Er warf sich den Mantel über, nahm einen Krug und ging hinaus in den strömenden Regen.

Draußen lehnte sich Robert Nathanial Thorne, Captain des Dreißigsten Infanterieregiments, erst einmal gegen die geschlossene Hüttentür und ließ sich vom Regen das Gesicht kühlen und die jäh entflammte Erkenntnis löschen, sich mit einer wunderschönen, jungen Frau in sehr intimen Umständen zu befinden.

Als er sie da aus dem Schlamm gerettet hatte, war sie ihm schlichtweg ein Rätsel gewesen. Eine einsame Frau, die durch eine solche Sintflut lief? Zehn Meilen weit? Ihm waren ihre Handschuhe aufgefallen, feinstes Ziegenleder mit Blumen bestickt. Ihr Mantel war aus ähnlich feinem Stoff, wie eine Lady ihn trug, nicht ein Dorf- oder Hausmädchen. Dann fand er heraus, dass sie Pferde mochte und sich mit ihnen auskannte, und schließlich in der Hütte hatte sie sich als nützlich und einfallsreich erwiesen. Und immer noch war sie ein pures Rätsel – weshalb watete eine Lady, wenn auch eine nützliche, im Regen durch den Schlamm?

Dann hatte sie ihren Mantel abgelegt, und das Licht von Feuer und Lampe hatte ihr Gesicht beschienen. Es hatte ihm jäh den Atem geraubt.

Sie war wunderschön.

Ihre Augen waren verblüffend hell. Grau? Grün? Er konnte es nicht sagen, doch sie waren von dunklen, fein geschwungenen Brauen überwölbt. Ihr Haar war ebenfalls dunkel, doch in dem schwachen Licht hatte er die genaue Farbe nicht bestimmen können. Ihre Haut, blass wie Rahm, war durch die Kälte gerötet, und ihre vollen Lippen rosig genug, dass sie gefärbt hätten sein können.

Doch abgesehen von alldem war es die Aura der Verzweiflung, die ihn am stärksten ansprach, in ihm das Sehnen weckte, sie in die Arme zu schließen und zu trösten. Nate kannte Verzweiflung. Er kannte Einsamkeit und Verlust, und all das schien sich in ihren Augen zu spiegeln.

Wenigstens ließ ihre Verzweiflung ihn seine eigene vergessen. Er war gefährlich nah daran gewesen, auf dieser einsamen verregneten Straße in seinem eigenen Selbstmitleid zu versinken, besonders nach dem seltenen und trostlosen Pflichtbesuch bei seinem Onkel.

Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht und lauschte auf den nicht allzu fernen Donner. Das Wetter würde sich heute nicht mehr hinreichend bessern. Sie würden die Nacht hier verbringen müssen. Zusammen. Und wie sehr es ihn auch innerlich verzehrte, er würde den Problemen der Lady nicht auch noch ein ungehöriges Verhalten seinerseits hinzufügen.

Er atmete tief durch, stieß sich von der Tür ab und eilte zum Stall hinüber, um eine Weile nach Pegasus zu sehen und ihm eine weitere Portion frisches Heu zu bringen. Schließlich ging er wieder hinaus in den strömenden Regen, füllte den Krug und kehrte zur Hütte zurück, in der Hoffnung, er hätte der Frau genug Zeit gelassen, ihre Kleidung zu wechseln.

Als er eintrat, warf sie ihm nur einen flüchtigen Blick zu. „Ich habe Ihnen Hemd und Hose auf die Truhe gelegt, außerdem trockene Strümpfe.“

Sie bot einen unvergesslichen Anblick, das Haar zerzaust, das Männerhemd über ihrer Chemise, darunter Kniehosen. Sie hatte ebenfalls ein Paar der groben Strümpfe angezogen, und auch wenn ihre Unterkleider vermutlich noch feucht waren, würde sie es in dieser seltsamen Montur, die für eine Lady äußerst unkleidsam war, warm genug haben. Schließlich erwiderte sie seinen Blick, und er fühlte sich wie gefangen von ihrem Reiz.

Er zwang sich, sich abzuwenden, und stellte den Krug auf ein Regal neben der Pumpe. Nun würde er sich vor ihr umziehen müssen. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und über einen Stuhl gehängt hatte, zögerte er jedoch.

„Ich kümmere mich um die Pumpe“, sagte sie, durchschritt den Raum und kehrte ihm den Rücken zu.

Rasch ging er in die andere Ecke des Raumes, entledigte sich seiner nassen Oberbekleidung und zog das trockene Hemd an, ehe er Stiefel, Strümpfe und Hose auszog und sie ebenfalls durch trockene Kleidung ersetzte. Er war umgezogen, als sie das Wasser für den Tee geholt hatte.

„Was für ein Glück, dass es hier trockene Sachen gibt“, meinte er, während er einen Stuhl an den Kamin stellte und seine nassen Kleider darauf drapierte, wie sie es schon mit ihren getan hatte.

„Jemand hat diese Hütte gut ausgestattet.“ Sie ging an ihm vorbei und hängte den Kessel über das Feuer.

„Ich werde unsere Stiefel vom Schlamm befreien“, sagte er, „dann können sie vor dem Feuer trocknen.“

Als er damit fertig war, schob er das Feldbett näher zum Feuer, und bald darauf saßen sie beide in Decken gewickelt darauf wie auf einer Bank und tranken Tee aus Blechbechern.

Endlich war es ganz warm.

Er wandte sich ihr zu. „Ich sollte mich Ihnen vorstellen. Ich bin …“

Mit panikerfülltem Blick hob sie eine Hand. „Bitte nicht! Ich möchte Ihnen nicht sagen, wer ich bin, und ich möchte nicht wissen, wer Sie sind.“

Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Wo war er denn da hineingestolpert?

„Sie erklären besser, weshalb“, erwiderte er ernst. „Denn ich hege nicht den Wunsch, einer Entführung oder etwas ähnlich Schlimmem bezichtigt zu werden, wenn ich Ihnen doch lediglich helfen wollte.“

Sie bedachte ihn mit einem flammenden Blick. „Sie ließen mir ja kaum eine Wahl!“

„Wahl? Was für ein Mann wäre ich, wäre ich einfach an Ihnen vorbeigeritten?“

Sie senkte den Kopf und sagte leise: „Verzeihen Sie. Ich bin nicht undankbar.“

Er neigte sich ihr zu. „Stecken Sie in Schwierigkeiten? Wenn es etwas gibt, das ich tun könnte …“

„Keine Schwierigkeiten“, erwiderte sie rasch. Verteidigend, dachte er. „Ich bin bloß …“, sie machte eine Pause, „… unglücklich.“ Sie wedelte mit einer Hand, als wäre es eine unbedeutende Sache.

Er ergriff ihre Hand und berührte den Ring an ihrem Finger. Ein Ehering. Etwas in ihm verspürte Enttäuschung. „Muss ich den Zorn eines eifersüchtigen Ehemannes fürchten?“

Sie entzog ihm ihre Hand und sagte: „Er weiß nicht, dass ich fort bin. Ganz bestimmt nicht.“ Jäh spiegelte sich Bedauern auf ihrem Gesicht, als hätte sie zu viel gesagt. Doch ebenso rasch wandelte dieser Ausdruck sich zu etwas wie Verachtung. „Eifersucht“, flüsterte sie vor sich hin. „Höchst unwahrscheinlich.“

„Warum nicht eifersüchtig?“, fragte er und nahm einen Schluck Tee.

Ihr Blick war vernichtend. „Das geht Sie nichts an.“

Oh, nein. Diese spannenden Hinweise würde er nicht als ungeklärtes Rätsel auf sich beruhen lassen. Er hob die Brauen.

„Ich werde es Ihnen nicht sagen“, fuhr sie daraufhin barsch fort und fügte mit leiser, verzweifelter Stimme hinzu: „Ich kann nicht.“

Sie schwieg und schien in einem Elend zu versinken, das auf sie niederging wie der Regen draußen.

Als er wieder sprach, wählte er einen unbekümmerteren Ton. „Sollten wir uns nicht zumindest unsere Vornamen verraten? Das kann nicht schaden, nicht wahr? Dann müsste ich Sie nicht mit He, Sie ansprechen.“ Oder Mylady, eine Vermutung, die sie vermutlich nicht hören wollte.

Sie antwortete nicht.

„Dürfte ich Ihnen dann meinen Vornamen nennen?“, beharrte er.

Widerwillig nickte sie.

Er streckte ihr eine Hand entgegen. „Man nennt mich Nate.“

Zögerlich ergriff sie seine Hand, schwieg jedoch immer noch. Er war sich ihrer zarten Haut wohl bewusst, ebenso ihres unerwartet soliden Händedrucks.

Er ließ sie los und musterte sie weiterhin erwartungsvoll.

„Eliza“, sagte sie schließlich.

Um sein amüsiertes Lächeln zu verbergen, trank er einen Schluck. Sie hatte getan, worum er sie gebeten hatte. „Eliza“, wiederholte er.

Sie mied seinen Blick und widmete sich ihrem Tee, als würde das eine Barriere zwischen ihnen schaffen. Er betrachtete sie immer noch, spürte eine tiefe Enttäuschung in ihr, was er bestätigt sah, als sie Tränen fortblinzelte.

„Sie sollten mir besser sagen, was Sie bedrückt“, sagte er mit beruhigender Stimme. „Ich bin nun darin verwickelt. Unbeabsichtigt, gebe ich zu, doch ich war es, der Sie auf der Straße auflas. Das hat mich hineingezogen. Was schadet es, es mir zu sagen, wenn Sie nicht wissen, wer ich bin, und ich nicht weiß, wer Sie sind?“

„Ich kann nicht darüber reden! Und ich werde es nicht.“

„Und ich kann Sie nicht zwingen“, erwiderte er. „Doch worum auch immer es geht, es verursacht Ihnen offenkundig großen Kummer. Sie müssen sich dem stellen. Davonzulaufen wird nicht helfen.“

Nate hatte das bereits mit sechs Jahren gelernt. Kein Davonlaufen, kein Sichverstellen oder -verleugnen hatte je irgendwelche Schwierigkeiten beseitigt. Irgendetwas brachte sie stets zurück, und nur eines half – den Problemen die Stirn zu bieten. Es durchzustehen.

Sie warf ihm einen weiteren vernichtenden Blick zu. „Woher wollen Sie das wissen?“

Oh, was für ein Hohn. „Ich versichere Ihnen, es gab einige zutiefst schmerzliche Begebenheiten in meinem Leben. Ich weiß es ganz bestimmt.“

Sie lachte spöttisch. „Nicht so eine.“

„Nun, gut, vielleicht nicht genau so eine, doch ich wette, nicht weniger verheerend.“ Um was konnte es sich bei ihr handeln? Ein Streit mit ihrem Ehemann? Nein, etwas Schlimmeres. Er blieb hartnäckig. „Weshalb sagen Sie es mir nicht? Wenn der Regen vorüber ist, sehen Sie mich nie wieder. Ich will nach Portsmouth, auf ein Schiff nach Portugal.“

Erkenntnis erhellte ihr Gesicht. Sie begriff wohl, dass er in den Krieg zog, und er glaubte, Mitgefühl auszumachen, doch sie wandte sich rasch ab.

Er trank seinen Tee, das Feuer knisterte gemütlich, Wärme erfüllte den Raum. Weshalb war es ihm plötzlich so wichtig, von ihr zu erfahren, was so niederschmetternd war, dass sie deshalb inmitten eines Unwetters davonlief? Wie oft war er unter Leuten gewesen und hatte sich einsam und allein gefühlt? Weshalb glaubte er nun, bei ihr müsste es anders sein?

Er hatte harte Gefechte erlebt, während Wellingtons Armee versuchte, die Franzosen von der Iberischen Halbinsel zu vertreiben, doch harte Gefechte passten zu ihm. Letztendlich war er der perfekte Soldat.

Es kümmerte niemanden, ob er lebte oder starb. Nicht einmal ihn selbst.

Weshalb also kümmerte es ihn, ob diese Lady sich ihm anvertraute? Weshalb fühlte er sich mit ihr verbunden, wenn er sich selbst dafür rühmte, zu niemandem eine Bindung zu haben? War es bloß eine Laune, dass ihr Elend ihn berührte? Hatte er sein eigenes nicht überwunden?

Er wusste, er konnte ihr helfen, ihres zu überwinden. Er wusste nur nicht, weshalb er das wollte.

2. KAPITEL

Ein Blitz zuckte über den Himmel, dicht gefolgt von Donnerschlag. Regen prasselte aufs Dach, das Feuer im Kamin knackte und knisterte.

Er betrachtete ihr Profil – wie eine klassisch römische Kamee. Dass ihre Schönheit ihn erregte, konnte er nicht leugnen, doch dies war mehr. Es ging tiefer, zerrte an etwas, das er stets sorgfältig in sich verborgen hielt. Gerade erst vom Haus seines Onkels zu kommen, half nicht unbedingt. Sein Onkel war das Gegenteil einer wahren familiären Verbindung. Oh, der Mann hatte für ihn die Schule bezahlt und das Offizierspatent, doch aus reinem Pflichtgefühl, sonst nichts. Selbst als Kind war Nate bewusst gewesen, dass er seinem Onkel nichts bedeutete. Nate erwiderte dieses Pflichtgefühl, indem er ihn besuchte.

Er wäre allerdings besser auf direktem Wege nach Portugal gereist. Sein Onkel hatte ihn ebenso willkommen geheißen wie eine Invasion von Holzwürmern. Diese eiskalten Empfänge schwächten stets die Mauern, die Nate um seine Gefühle errichtet hatte. Vielleicht berührte ihn die Verzweiflung dieser Frau deshalb so sehr.

Doch er musste gar nicht in diese Tiefen vordringen, um sie von dem Elend zu überzeugen, welches er durchstehen musste. Er konnte einfach mit Martinique beginnen.

„Ich komme gerade von den Westindischen Inseln“, sagte er. „Von Martinique. Wir nahmen es von den Franzosen ein, mein Regiment war dort stationiert. Schlachten sind eine tödliche Angelegenheit, aber es war meine Aufgabe, also mussten meine Männer und ich kämpfen, verstehen Sie?“

Sie wirkte uninteressiert, aber immerhin hörte sie zu.

„Danach“, fuhr er fort, „starben die Männer am Fieber. Hunderte. Darunter auch ein Freund.“

Eine Seltenheit, dass Nate jemanden als Freund bezeichnete. Die wenigen, die er in der Schule gehabt hatte, waren irgendwann zu ihren Familien zurückgekehrt. In der Armee gingen Freunde von einem Regiment zum anderen. Oder starben im Krieg. Oder, wie Woodman, am Gelbfieber. Nach langer körperlicher Qual folgten Delirium und der erlösende Tod.

Diese Beschreibung würde er ihr ersparen. „Am Gelbfieber zu sterben ist nicht schön, sage ich Ihnen. Man leidet schrecklich, ehe der Tod eintritt.“ Die Erinnerung daran färbte den Klang seiner Stimme.

Ihr Blick wurde mitfühlend; sanft sagte sie: „Wie grauenvoll.“

Dann war sie doch nicht so gefangen in ihrem eigenen Elend.

Er runzelte die Stirn. „Man konnte nichts dagegen tun. Ich am allerwenigsten. Ich konnte nur darauf warten, mich selbst anzustecken. Doch ich entschied, die Führung eines anderen Regiments zu übernehmen. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.“

„War das kein Weglaufen?“

Das verblüffte ihn. Klug von ihr.

Und nicht ganz falsch. „Ich würde es ‚eine bessere Wahl treffen‘ nennen. Ich stellte mich dem Problem und fand einen Weg heraus.“

„Woher wissen Sie, dass ich nicht auch eine bessere Wahl treffe?“

Sie war gewitzt. Das musste er bewundern. „Ich weiß nicht. Doch sich in einen tosenden Regensturm zu stürzen, legt eine Flucht nahe, finden Sie nicht?“

Sie wandte den Blick ab.

Er begann sie immer mehr zu mögen. Klug. Nützlich. Gewitzt und nicht affektiert. Selbst ihre unerschütterliche Sturheit hatte etwas Bewundernswertes. Ein weiterer Grund, ihr zu helfen.

Nur dass ihr zu helfen bedeutete, sich seinem eigenen Schmerz zu stellen. Er konnte schon spüren, wie die Risse in ihm weiter aufbrachen, durch die Kälte seines Onkels, die Erinnerung an den quälenden Tod seines Freundes. Und vor allem durch ihre offensichtliche Not.

Moment. Er hatte diesem Schmerz schon einmal in die hässliche Fratze geblickt. Er konnte es wieder.

Er betrachtete sie, als sie ihre Tasse wegstellte und ihn ansah. In ihren Augen glitzerten Tränen. Ihm schnürte sich die Kehle zu.

Es war eine Ewigkeit her, seit er zuletzt geweint hatte.

Als seine Eltern gestorben waren. „Ich werde Ihnen mehr über mich erzählen“, stieß er hervor. „Darüber, als ich sechs war und sich Typhus im Dorf ausbreitete, bis beinahe jeder erkrankt war. Auch meine Eltern.“ Er schluckte, wurde einen Moment wieder zu diesem sechsjährigen Jungen. „Ich sah, wie meine Eltern nur wenige Stunden nacheinander am Fieber starben.“

Sie sah ihn an, und der Schrecken spiegelte sich in ihren Augen.

Er schloss die Lider und sah wieder die rotfleckige Haut seiner Eltern vor sich, hörte ihre Schreie, als auch sie ins Delirium glitten. Ihm brannten unvergossene Tränen in den Augen.

Er räusperte sich und fuhr fort: „Ich war der Sohn eines jüngeren Sohnes eines jüngeren Sohnes. Es gab keine nahen Verwandten, die bereit gewesen wären, mich aufzunehmen. Da war nur mein Onkel, doch der wollte nichts von mir wissen. Zwar bezahlte er meine Schule und mein Offizierspatent, aber bloß, um mich loszuwerden.“

Ihm schmerzte die Brust, und das Atmen fiel ihm schwer. Wie erschreckend, dass diese Erinnerungen ihn nach all den Jahren noch derart übermannen konnten. Als wäre gar keine Zeit vergangen. Trauer. Angst. Einsamkeit. Er wusste noch, wie er, als er allein in der Schule gewesen war, als alles, was er kannte und geliebt hatte, fort war, sich selbst eine Standpauke gehalten hatte, die Stimme seines Vaters im Kopf. „Kopf hoch! Sei stark! Du hast nun nur dich selbst. Du kannst es schaffen.“

Nur schien diese Stärke im Moment eine Illusion zu sein.

Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln. „Sie sehen also, ich weiß, was Schmerz bedeutet.“

Inzwischen hörte sie ihm aufmerksam zu. „Gewiss nahmen sich doch die Lehrer in der Schule Ihrer an.“

Er lachte. „Die Lehrer hatten keine Lust dazu, einen unglücklichen Jungen zu umhegen. Ich war allein.“

„Was ist mit Freunden?“ Versuchte sie ihm gerade auszureden, wie schwer es gewesen war?

„Meine Freunde kehrten immer heim zu ihren Familien.“

„Wie schrecklich, so aufzuwachsen!“, sagte sie mitfühlend.

Dann verfielen sie in Schweigen.

Hatte er einen Fehler begangen? War es ihm lediglich gelungen, sich seinem eigenen Schmerz zu öffnen, statt sich um ihren zu kümmern?

Als sie schließlich wieder das Wort ergriff, sprach sie in knappen Worten. „Das ist alles sehr traurig für Sie. Sehr traurig und es tut mir leid. Ich werde Ihnen dennoch nichts über mich erzählen.“

Ah, das roch nach einer Herausforderung, und davor scheute er niemals zurück. Außerdem war, sich auf sie zu konzentrieren, der einzige Weg, die Risse in ihm wieder zu schließen.

„Dann zwingen Sie mich zu raten“, sagte er.

„Raten Sie, so viel Sie mögen. Ich werde nicht darüber reden.“

Er griff nach ihrer linken Hand. Ihr Ehering, Gold, mit Diamanten besetzt, funkelte im Feuerschein. „Es hat etwas mit Ihrem Ehemann zu tun.“

Sie entzog ihm ihre Hand und klemmte sie sich unter den Arm.

Also lag er richtig. „Sie sagten, Ihr Ehemann sei nicht eifersüchtig. Vielleicht sind Sie die Eifersüchtige? Vielleicht ist er untreu …“

Ihre Augen blitzten, doch sie reckte rasch das Kinn.

Er hatte ins Schwarze getroffen. „Ich verstehe. Eine andere Frau.“

Zu seiner Überraschung schnaubte sie. War doch nicht der Ehemann untreu? War sie es? „Dann also ein anderer Mann.“

Sie erblasste und wandte den Blick ab.

Offenbar kratzte er an der Wahrheit, doch Näheres wusste er noch nicht.

Untreue. Keine Frau. Ein Mann. Doch kein eifersüchtiger Ehemann. Das ergab keinen Sinn …

Bis es dann einen ergab.

Er senkte die Stimme. „Keine Frau, sondern ein Mann. Ihr Ehemann war Ihnen mit einem Mann untreu.“

Sie fuhr zu ihm herum. „Wie können Sie so etwas nur annehmen?“

„Das erscheint mir die einzige Erklärung.“

In ihrer Miene spiegelte sich Misstrauen. „Sie klingen nicht erschüttert oder schockiert.“

Er zuckte mit den Schultern. „Manche Männer werden so geboren.“

Er stand auf, schenkte ihr eine weitere Tasse Tee ein, setzte sich wieder und reichte sie ihr.

Eliza umfing mit beiden Händen die Blechtasse, deren Wärme tröstend real war. Nie in einer Million Jahre hätte jemand erraten sollen, weshalb sie ihrem Mann davongelaufen war. Sie hätte so etwas niemals vermutet, weshalb sollte jemand anders darauf kommen?

Der Captain – Nate – sprach erneut, völlig sachlich. „Auf einer Knabenschule war so etwas nicht ungewöhnlich. Es gab immer solche Jungs mit besonderen Freundschaften. Irgendwann sah oder hörte jemand etwas und begriff, dass zwischen denen etwas mehr als nur Freundschaft bestand.“

Wie konnte er so gelassen darüber sprechen? „Beunruhigte Sie das nicht?“

Erneut zuckte er mit den Schultern. „Anfangs vielleicht ein bisschen. Einige der anderen Jungen ärgerten und verhöhnten diejenigen, doch von den Betroffenen waren manche sehr nett zu mir, netter als deren Peiniger. Ich konnte sie nicht nicht mögen. Also ignorierte ich sie einfach.“

„Aber ist das nicht unnatürlich?“, fragte sie. „Eine Sünde?“

„Manche sagen das.“ Er schenkte sich selbst Tee ein. „Aber schon seit der Antike gibt es Männer, die Männer lieben.“

„Ja. Im antiken Griechenland und Rom. Ich habe etwas darüber gelesen.“

„Nisus und Euryalus aus der Aeneis. Sie waren Soldaten. Ich sah Zärtlichkeiten zwischen Männern in der Armee. Es wäre schwierig, sie zu verurteilen.“

„Dann heißen Sie so etwas gut?“, fragte sie überrascht.

Er hob eine Schulter. „Ob ich etwas gutheiße oder nicht ist bedeutungslos. Ich glaube nicht, dass solche Männer sich ändern können. Sie sind einfach, wie sie sind, und das zieht sich durch die ganze Geschichte. Ich vermute, für sie ist es natürlich.“

Also war es für Henry natürlich. Der das vielleicht schon seit seiner Kindheit wusste.

Er sprach weiter: „Von den meisten Menschen wird es jedenfalls zutiefst verurteilt und verstößt außerdem gegen das Gesetz. Es wird mit dem Galgen oder dem Pranger bestraft, weshalb diese Männer es unter allen Umständen geheim halten müssen.“

Sie erschauderte. „Mit dem Galgen bestraft.“ Sie wollte nicht, dass Henry starb, oder?

Er beendete seinen belehrenden Vortrag und wechselte das Thema. „Erzählen Sie mir von Ihrem Ehemann.“

Sie umklammerte die Tasse. „Meinem Ehemann.“

Sie sollte gar nichts mehr sagen. Das Geheimnis wahren, wie sie all ihre Geheimnisse gewahrt hatte, doch diese Hütte, erhellt vom Feuer, umgeben von Dunkelheit und Regen, schien von allem und jedem abgeschnitten zu sein. Dies war ein einzigartiger Moment zwischen zwei Fremden, die wieder getrennte Wege gehen würden, die niemals erfahren würden, wer der andere war. Ihre Geheimnisse würden die Sicherheit dieser Wände niemals verlassen.

Sie stellte ihre Tasse ab und musste die Worte hervorzwingen. „Mein Ehemann gestand mir heute, dass er jemanden anders liebt. Einen Mann, den er schon seit Jahren liebt und auch weiterhin lieben wird, so sagte er es mir.“

„Also sind Sie deshalb davongelaufen?“, fragte er.

„Nicht deshalb!“ Obwohl sie nachvollziehen konnte, weshalb er das glaubte. „Weil er es mir nicht vor unserer Hochzeit gesagt hat. Er behauptet, mein Freund zu sein, und dennoch verbarg er es vor mir. Jahrelang.“

Er sah sie geradewegs an. „Dann sind Sie davongelaufen, weil er ein Geheimnis für sich behielt, das ihn andernfalls an den Galgen oder den Pranger bringen könnte?“

„Sie begreifen nicht!“, protestierte sie. „Ich hätte dieses Geheimnis für mich behalten. Er weiß sehr gut, dass ich schweigen kann. Es gab niemals Geheimnisse zwischen uns. Dachte ich. Ich habe ihm vertraut. Warum konnte er mir nicht vertrauen?“

„Dann weiß er, dass Sie nach Whitley unterwegs sind?“ Er sah ihr weiterhin fest in die Augen.

„Natürlich nicht!“, gab sie aufgewühlt zurück.

„Dann haben Sie doch ein Geheimnis vor ihm.“

Sie wich seinem Blick aus. „Er wird wissen, wohin ich gegangen bin. Ich werde ihm eine Nachricht zukommen lassen, wenn ich so weit bin.“ Abermals schaute sie zu ihm. „Ist es denn nicht offensichtlich? Er hätte es mir sagen müssen, bevor wir heirateten.“

Sein Blick wurde weicher. „Ich stimme Ihnen zu. Er hätte Ihnen eine Wahl lassen sollen.“

„Ja!“ Das war es! Henry hatte ihr keine Wahl gelassen. Dieser Captain verstand sie – wenigstens diesen Teil der Geschichte.

„Hätten Sie ihn geheiratet, wenn Sie es gewusst hätten?“, fragte er.

Hätte sie das? Welche Wahl hatte sie denn eigentlich wirklich gehabt?

Sie blickte auf ihre Tasse. „Ich hätte entweder ihn heiraten können oder den alten Witwer, den mein Vater für mich auswählte.“

„Oder keinen von beiden. Wäre das nicht noch eine weitere Möglichkeit gewesen? Sie sind noch jung. Weshalb überhaupt heiraten?“

Sie lachte trocken. Wenn er nur wüsste …

Aber weshalb es ihm nicht sagen? Er kannte weder sie noch ihren Vater oder den alten Witwer.

„Oh, ich musste heiraten“, erklärte sie bitter. „Mein Vater war hochverschuldet. Verheerend verschuldet. Schlimm genug, um die Zukunft meiner Schwestern und meines Bruders zu ruinieren. Mein Vater bot die Ehe mit mir als Bezahlung an.“

In den Augen des Soldaten loderte etwas auf.

Sie fuhr fort: „Dann erklärte sich stattdessen H… mein Ehemann dazu bereit, mich zu heiraten. Und die Schulden meines Vaters zu bezahlen. Und meinen Geschwistern zu helfen. Mein … mein bester Freund rettete mich. Ich war so glücklich.“ Doch sie hatte geglaubt, es wäre eine richtige Ehe. Henry hätte sie warnen müssen. Dann hätte sie sich jetzt nicht so gedemütigt fühlen müssen.

Aber daran durfte sie gar nicht denken.

Sie leerte ihre Tasse, stand auf, brachte sie zur Spüle und setzte sich wieder. „Ich kenne meinen Ehemann mein ganzes Leben lang. Wir wuchsen zusammen auf, also traf ich auch seinen Freund. Viele Male.“ Sie hatte an Henrys Freundschaft zu Ryland nie etwas ungewöhnlich wahrgenommen. „Sein Freund heiratete vor einem Jahr.“ Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Warum hat er das getan? Weshalb hat überhaupt einer von ihnen geheiratet?“

Hatte Henry sie deshalb geheiratet? Weil Ryland auch geheiratet hatte?

Er nahm ihre Hände in seine, ihre Blicke trafen sich. „Betrachten Sie das Leben aus ihrem Blickwinkel. Sie müssen ihre wahre Natur verheimlichen. Ihre Liebe verheimlichen. Offenbaren sie sich, riskieren sie, gehängt zu werden oder am Pranger zu enden und ihre gesamte Familie zu ruinieren. Das ist ein hoher Preis dafür, jemanden zu lieben.“

Sie wollte nicht, dass Henry gehängt wurde. Oder an den Pranger gestellt, um misshandelt und verhöhnt zu werden. Oder dass ihre Geschwister durch den Skandal litten. Alles, was sie gewollt hatte, waren … waren die Dinge, die sie über die Ehe gewusst hatte, bevor sie ihr Ehegelübde gesprochen hatte. Jetzt schien es unmöglich zu sein, das alles jemals selbst zu erleben.

„Und was ist mit den Ehefrauen?“, fragte sie bitter. „Was ist mit ihnen?“

„Einige werden es nie erfahren. Manche Männer können ihre ehelichen Pflichten erfüllen. Manche nicht, vermute ich.“

„Mein Ehemann.“ Es fiel ihr so schwer, das zu sagen. „Mein Ehemann kann sie … nicht erfüllen.“

Oder wollte es nicht.

„Ich habe Wochen darauf gewartet, dass er in mein Bett kommen würde, doch er kam nicht. Erst war ich zu beschäftigt damit, zu lernen, wie man …“, beinahe hätte sie gesagt: Viscountess Varden ist, „… einen Haushalt führt. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. Schließlich waren wir Freunde seit Kindertagen. Es war merkwürdig, uns als etwas anderes zu betrachten.“ Doch sie war entschlossen gewesen, das zu überwinden. Eine richtige Ehe zu führen.

Also hatte sie ihre reizvollsten Kleider angezogen und war zu ihm gegangen …

„Ich … ich versuchte, ihn zu verführen, doch er … er wies mich zurück.“ Bei der Erinnerung an sein Gesicht, der Abscheu darin, traten ihr Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit ihrem Hemdärmel fort. „Er sagte, er könnte seinem Freund nicht untreu sein. Da sagte er es mir. Erst dann.“ Als sie halbnackt zu ihm gekommen war, versucht hatte, ihn dazu zu bringen, sie zu berühren und zu küssen.

Darauf tat der Captain etwas völlig Unerwartetes. Er schlang die Arme um sie und murmelte tröstende Worte. Woraufhin sie in Tränen ausbrach.

Sie schluchzte. „Ich war froh, meinen besten Freund zu heiraten. Ich dachte, wir würden glücklich sein.“ Sie schauderte. „Ich dachte, ich würde Kinder haben. Doch das werde ich nicht. Niemals.“

Er streichelte ihr Haar. „Das ist schwer für Sie. Sehr schwer. Ich weiß, ich weiß.“

Sie weinte scheinbar unendliche Tränen, durchtränkte sein Hemd. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen, und immer noch hielt er sie fest. Irgendwann konnte sie schließlich wieder normal atmen.

Sie zog sich zurück. „Verzeihen Sie. Für gewöhnlich bin ich keine solche Heulsuse.“ Sie schniefte und wischte sich abermals das Gesicht mit dem Ärmel ab.

Sein Blick war voller Mitgefühl. „Kein Grund, sich zu entschuldigen.“

Er stand wieder auf, um ihr Tee nachzuschenken. Sie trank dankbar und gewann rasch die Fassung zurück.

Tief atmete sie durch. „Nun wissen Sie, wie es ist.“

„Eine sehr unglückliche Lage“, gab er zu, mit dieser dunklen, sanften, beruhigenden Stimme, die ihr half, sich wieder besser zu fühlen. „Also beschlossen Sie davonzulaufen.“

„Ich sagte Ihnen, ich laufe nicht davon!“, rief sie.

Er nickte beschwichtigend.

„Wie hätte ich bleiben können?“

Sie sah dem Captain in die Augen, deren helles Braun sie an warmen Lebkuchen erinnerte. Sie sah Mitgefühl darin, nicht nur für sie, auch für Henry. Er verurteilte dessen Natur nicht, aber verstand er denn nicht? Es war nicht Henrys Natur, weshalb sie geflohen war. Es war, weil Henry sie vor ihr verborgen hatte. Er hatte ihr offenbar nie vertraut. Und er hatte ihr nicht die Wahl gelassen, ihn zu heiraten oder nicht, wissend, was sie erwartete. Er hatte nicht geglaubt, dass sie ihn akzeptieren würde, wie er war.

Der Captain sprach mit sanfter Stimme: „Er war einmal Ihr Freund, sagten Sie. Ist er nicht derselbe Mann wie vorher? Derselbe Mann, der Ihr Freund war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich kannte ihn nie richtig, oder?“

„Sicher nicht alles von ihm“, stimmte er zu. „Nicht diese eine Sache. Doch wie hätte er es Ihnen sagen sollen? Es zu erzählen hätte bedeutet, Bloßstellung und den Tod zu riskieren.“

„Sie begreifen es nicht.“ Sie wich ein wenig zurück. „Er hat mir nicht vertraut.“ Eliza schlang sich die Arme um die angezogenen Knie und barg das Gesicht an den Knien. Wie sollte sie nun Henry vertrauen? „Wir waren enge Freunde. Er … er wusste alles von mir. Von meiner Familie. Er hätte wissen müssen, dass er mir vertrauen kann. Dass ich niemals etwas sagen würde, was seinen Tod bedeuten könnte.“

Nate strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Vielleicht hatte er zu große Angst.“

Wie sollte sie es dem Captain erklären? Weil Henry ihr nicht vertraute, ihr nie sein wahres Selbst offenbart hatte und welcher Art ihre Ehe sein würde, hatte er zugelassen, dass sie sich nun erniedrigt fühlte.

Sie warf einen Blick zum Captain, der gerade seinen Tee trank. Er hatte ihr seine leidvolle Lebensgeschichte anvertraut, damit sie sich ihrerseits ihm öffnete. Damit er ihr helfen konnte. Welchen anderen Grund sollte Nate gehabt haben, außer den Wunsch, ihr zu helfen? Er wusste nicht, wer sie war. Sie würden sich trennen und nie wiedersehen. Es war nicht seine Pflicht, ihr zu helfen.

Doch es hatte geholfen, ihm von Henry zu erzählen. Damit hatte ihr Captain recht gehabt. Er hatte ihr geholfen, klar zu sehen. Er hatte ihr geholfen zu erkennen, worin ihr eigentliches Problem bestand.

Vertrauen.

Wie sollte sie Henry von nun an vertrauen, da sie jetzt wusste, was er ihr vorenthalten hatte?

Wie bemerkenswert. Sie vertraute diesem Captain sogar mehr, als sie Henry je vertraut hatte. Oder irgendwem.

3. KAPITEL

Nate trank seinen nur noch lauwarmen Tee aus.

Er hatte ruhig mit ihr gesprochen, doch in ihm war etwas Rohes, Schmerzvolles entfesselt worden, das er nur mühsam unterdrücken konnte. Er hatte sich in die Vergangenheit zurückkatapultiert, war nicht länger der Soldat, der in den Krieg zog, sondern der sechsjährige Knabe, der die letzten qualvollen Atemzüge seiner Eltern miterlebte, jener einsame Knabe, der die anderen in seiner Schule beneidete, die von jemandem geliebt wurden.

Nein, er konnte es nicht missbilligen, wenn ein Mann einen anderen Mann liebte, nicht wenn er selbst so sehr nach jemandem gehungert hatte, dem seine Existenz wichtig gewesen wäre. Doch nun musste er diese Gefühle beiseiteschieben, wie damals als Sechsjähriger. Das war die einzige Möglichkeit zu überleben. Sich durchzuboxen, egal, was das Leben einem hinwarf, ob es nun die durch grausame Lehrer und ältere Mitschüler verursachten Qualen eines Schuljungen waren – oder der Tod. Der Tod auf dem Schlachtfeld. Der Tod Hunderter Soldaten durch Fieber. Der Tod eines seiner wenigen Freunde.

Von Mutter und Vater.

Er hatte das einmal gemeistert. Bei Gott, er konnte es abermals.

Wie auch sie, die wunderschöne, verzweifelte Eliza. Er betrachtete sie, wie sie ihr Gesicht verbarg, ihre Knie umarmte, wie er es so oft getan hatte, als er neu in der Schule gewesen war. Er konnte es ihr zeigen.

Auf diese Weise konnte er ihr helfen. „Denken Sie, Ihr Ehemann wird Sie von nun an anders behandeln?“

Sie hob den Kopf und schaute misstrauisch zu ihm. „Was meinen Sie?“

„Ich meine, wenn er vor der Hochzeit freundlich und aufmerksam gewesen war, wird es wieder so sein?“

„Er war immer freundlich und aufmerksam.“ Sie ließ den Kopf wieder sinken.

Nate beneidete sie um diese Art Freundschaft. „Er wird derselbe Mann sein wie zuvor.“ Im Kern veränderte eine Person sich nicht. „Er verheimlichte nur diesen einen Teil von sich.“

Sie sah wieder auf. „Aber vielleicht habe ich mich verändert. Wie soll ich ihm fortan vertrauen, nun da ich weiß, dass er mir etwas so Wesentliches vorenthielt? Und wird er mir trauen, nachdem er weiß, dass ich ihn verführen wollte?“

Damit hatte sie irgendwie recht.

„Was glauben Sie, geschieht nun, da Sie davongelaufen sind?“

Sie erschauderte, als hätte sie nicht weiter als bis zu ihrer Flucht gedacht. Sorgenvoll sah sie ihn an. „Sie meinen, ob er verärgert ist? Sich rächen wird? Meine Familie ist von ihm abhängig. Ohne seine Hilfe und tatkräftige Unterstützung werden sich die Schulden meiner Eltern wieder anhäufen. Und meine Schwestern … Ohne dass er ihnen eine gute Mitgift gewährt, werden sie keine Chance auf eine gute Partie haben. Und mein Bruder …“ Sie brach ab.

Nate durchfuhr ein jäher Schmerz. Sie hatte all diese Menschen in ihrem Leben. Eine Familie. Schwestern. Einen Ehemann, der einmal ein Freund gewesen war. Er hatte niemanden.

Seine Stimme war rau vor Emotionen. „Sie können sich glücklich schätzen, eine Familie zu haben, um die Sie sich sorgen können. Einen Freund zu haben, der bereit war, Sie zu heiraten. Was würde ich für einen Bruder geben. Oder eine Schwester. Oder dass meine Eltern noch lebten.“

Sie wirkte gequält, doch er wusste nicht, ob es Mitgefühl für ihn war oder der Schmerz angesichts der Situation, mit der sie sich konfrontiert sah.

Er musste ohnehin das Thema wechseln. Es lastete zu schwer auf ihm. „Die Leute werden fragen, weshalb Sie ihn verlassen haben. Was werden Sie sagen?“

Sie schaute ihn groß an. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

„Wenn Sie die Wahrheit sagen …“

Sie erblasste. „Wird Henry vielleicht gehängt.“

Als ein Blitz den Raum erhellte und sogleich der Donner folgte, zuckten beide erschrocken zusammen. Dieses Unwetter schien kein Ende zu nehmen, als würde es durch den inneren Aufruhr, den sie beide verspürten, noch befeuert.

Sie hielt seinen Blick. Ihre Augen waren groß und glänzten. Er hegte den übermächtigen Drang, erneut die Arme um sie zu legen – und ihre um sich zu spüren. Dieser Drang war mehr als bloß körperlicher Natur, mehr, als er je bei einer anderen Frau erlebt hatte.

Wie sollte er nur widerstehen, wenn sie die ganze Nacht in dieser Hütte gefangen waren?

Er stand auf. „Ich sehe nach Pegasus.“

Sie erhob sich ebenfalls. „Ich komme mit.“

Er hatte Abstand zwischen sie bringen wollen, seine Glut kühlen. Doch er konnte ihr schlecht verwehren, mit ihm zu kommen. Sie zogen ihre noch feuchten Stiefel und Mäntel an, er nahm die Laterne, und sie gingen durch den Regen in den Stall, wo Pegasus ihnen leise entgegenwieherte.

„Na, wie geht es dir, alter Freund?“ Nate streichelte ihm den Hals. Er hatte noch etwas Heu, der Wassertrog aber war fast leer. „Ich gehe ihm frisches Wasser holen“, sagte er, als Eliza neben ihn trat und das Tier nun auch streichelte.

„Du bist ein gutes Pferd“, sagte sie.

Sie machte seinem Pferd Komplimente? Wollte sie denn völlig unwiderstehlich sein?

Nate eilte hinaus, schöpfte das Wasser, und als er zurückkehrte, traute er seinen Augen kaum. Sie war gerade dabei, den Stall zu misten. „Was tun Sie denn da?“

Sie deutete nur auf den Boden.

Rasch goss er das Wasser in den Trog. „Ich mache das.“

Sie reichte ihm die Mistgabel, und als er fertig war, kam sie mit einer Decke zu ihm. „Sollten wir ihm eine zweite auflegen?“

„Ja, unbedingt“, erwiderte er. „Er soll es warm haben.“ Im Stall war es zugig, die Kälte drang schon durch Nates Kleidung.

Gemeinsam legten sie Pegasus die Decke auf, dann rannten sie durch den Regen zurück in die Hütte.

„Soll ich noch Tee machen?“, fragte sie, während Nate ein Scheit Holz nachlegte.

„Gern.“

„Haben Sie Hunger?“, fragte er, als er sah, wie sie sich eine Hand auf den Magen presste. „Ich hätte etwas Brot und Käse dabei.“

„Ja!“

Ihr dankbares Lächeln brachte sein Innerstes zum Hüpfen. Wusste sie, wie reizend sie war? Beinahe unwiderstehlich.

Nate hatte Frauen gehabt, willige Schankmädchen zumeist. Eine kurze Affäre mit einer ungebundenen Frau, einer Witwe. Er hatte sie gemocht, hatte sie alle gemocht, ihre Gesellschaft, doch es hatte sich immer angefühlt, als wollte er mehr, etwas, das bisher gefehlt hatte.

Eine Verbindung.

Seltsam, dass er sich mit der rätselhaften Eliza verbunden fühlte – wegen ihrer Qual.

Oder belog er sich selbst? Nutzte er seine Gefühle als Vorwand, um seine niedersten männlichen Instinkte zu entschuldigen?

Er ging zu seinen Satteltaschen und holte die in Ölpapier gewickelten Vorräte heraus.

Kurz darauf saßen sie wieder auf dem Bett, jeder einen heißen Becher Tee in der Hand, und knabberten Brot und Käse.

„Sie kennen sich gut mit Pferden aus“, sagte er, um die Stille zu durchbrechen und die wachsende Hitze in seinen Lenden zu dämpfen.

Plötzlich lächelte sie wieder. „Meine Leidenschaft, als ich noch ein Mädchen war. Ich hätte den ganzen Tag auf dem Pferd verbracht, wenn ich gedurft hätte.“

„Reitet Ihr Ehemann auch gern?“

Das Lächeln schwand, doch sie nickte. „Wir ritten immer zusammen aus. Ich hatte eine Stute, die ich sehr liebte. Sie gehörte mir, seit ich ein Kind war. Mein Vater verkaufte sie, um seine Schulden zu bezahlen. Mein Ehemann suchte nach ihr, fand sie schließlich und kaufte sie zurück, als Hochzeitsgeschenk.“

„Das war sehr gütig von ihm.“

Erneut huschte Schmerz über ihr Gesicht, doch ihr Ausdruck verhärtete sich rasch wieder. „Ist das Güte? Oder bloß der Versuch, mich zu besänftigen?“

Was sollte es gewesen sein außer Güte? Wenn jemandes Welt allerdings auf den Kopf gestellt wurde, hinterfragte derjenige wohl alles. Zum Beispiel fragt man sich, ob der Grund, dass niemand einen liebt, vielleicht der ist, dass man schlichtweg nicht liebenswert ist.

Nein. Nein, protestierte er erneut. Solche Dinge waren willkürlich. Es kam nur darauf an – auch wenn man erst sechs Jahre alt war –, wie man damit umging.

„Spielen Sie Karten? Whist. Piquet?“, erkundigte er sich.

„Ich verabscheue Glücksspiel“, erwiderte sie heftig. „Neben Untreue ist dies eines der liebsten Laster meiner Eltern.“

„Zum Spaß“, erläuterte er. „Nicht um Geld.“

Sie wandte sich ihm zu. „Sie schlagen hoffentlich kein Piquet mit durchweichten Karten vor.“

Er lachte. „Ich besitze keine Karten. Wie Sie verabscheue ich Glücksspiel.“ Weshalb das wenige riskieren, das man hatte? „Ich zog lediglich eine Parallele.“

„Eine Parallele?“ Sie war offenkundig verwirrt.

„Ja.“ Er räusperte sich. „Das Leben teilte Ihnen äußerst miserable Karten aus. Daran besteht kein Zweifel.“

Sie sah hinunter in ihre Teetasse. „Absolut kein Zweifel.“

„Doch entscheidend ist, wie Sie dieses Blatt ausspielen.“

Sie hob den Blick wieder.

„Im Augenblick legen Sie die Karten nieder und gestatten allen anderen Spielern, den Ausgang des Spiels zu entscheiden. Bleiben Sie aber im Spiel, mit den Karten, die sie erhalten haben, könnten Sie womöglich doch einen Gewinn erzielen.“

„Wenn das Blatt aber so miserabel ist“, sagte sie, die Brauen zusammengezogen, „wäre zu verlieren der einzig mögliche Ausgang.“

„Nun, ja“, gab er zu „Doch wenn Sie spielen, verlieren Sie vielleicht nicht so viel. Die anderen machen vielleicht Fehler. Sie könnten mit genug Münzen daraus hervorgehen, um eine zweite Runde zu spielen, mit besseren Karten.“

Sie seufzte. „Ich fürchte, genau auf diese Weise kamen meine Eltern zu ihren Schulden.“

Der Captain zuckte mit den Schultern, hob das Ölpapier mit dem letzten Stück Käse darauf und hielt es ihr hin. Als Eliza danach griff, berührten sich flüchtig ihre Finger. Sie hätte ihm das letzte Stück überlassen, doch es wäre unfreundlich von ihr gewesen, seine Großzügigkeit abzulehnen.

„Danke“, sagte sie schlicht.

Natürlich bezog ihr Dank sich auf mehr als dieses kleine Käsestück. Er hatte sie vor dem Sturm gerettet, dem draußen und dem in ihr. Nicht, dass Henrys Verrat sie nicht immer noch in Aufruhr versetzt hätte, doch die Wut darüber hatte sich etwas gelegt. Für den Moment zumindest.

Sie beobachtete ihn, als er aufstand, um das Öltuch wieder in einer der Satteltaschen zu verstauen.

Er schien jeden Schritt zu tun, als forderte er den Raum vor sich heraus, ihn am Fortschreiten zu hindern. Es ließ sie unerwartet erschaudern.

Sie senkte den Blick.

Konnte sie dieser Welt so begegnen, wie der Captain es sagte? Wie er es selbst getan hatte? Wie ein Kartenspiel, das es zu gewinnen galt? Nein. Kein Kartenspiel. Eine Schlacht. Doch ihre Schlacht musste im Geheimen geschlagen werden. Nun, sie hatte viel Übung darin, Geheimnisse für sich zu behalten. Henry wusste das. Er hätte wissen müssen, dass er ihr trauen konnte und sie niemals seinen Tod riskieren würde.

Der Captain knüpfte wieder an ihr Gespräch über Henry an. „Wissen Sie, mir scheint, Ihre Ehe unterscheidet sich gar nicht so sehr von anderen Ehen, die aus anderen Gründen als der Liebe geschlossen werden.“

„Nur dass selbst aus diesen Ehen Kinder hervorgehen. Mein Ehemann machte deutlich, dass dies nicht geschehen wird.“

Ein Verlust, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn überwinden könnte, eine Freude, die sie nie erleben würde.

Und auch der Captain schien keine Antwort zu wissen.

Er trat zum Fenster und schaute hinaus. „Der Regen wird weniger, doch es ist dunkel. Selbst wenn es ganz aufhört, können wir nicht weiter.“ Er drehte sich zu ihr um. „Wir werden die Nacht über hierbleiben.“

„Die Nacht über?“ Es hätte sie beunruhigen sollen, die Nacht mit einem Fremden verbringen zu müssen. Stattdessen aber entspannte sie sich zusehends. Sie fühlte sich … erleichtert. Und sicher, geborgen in Gegenwart dieses Mannes.

„Man wird Sie vermissen“, meinte er stirnrunzelnd.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich gab sehr strikte Anweisungen, bis morgen früh nicht gestört zu werden. Niemand wird meine Wünsche missachten, nicht einmal Hen… – mein Ehemann.“

Beinahe hätte sie seinen Namen genannt. Doch irgendwie glaubte sie, selbst dann könnte sie dem Captain vertrauen, sie nicht zu verraten. Oder Henry.

Er strahlte Stärke aus, charakterlich wie körperlich, und war der vielleicht bewundernswerteste Mann, den sie je getroffen hatte. Ironischerweise wäre er in der Welt, in der sie verkehrte, zu bedeutungslos, um auch nur bemerkt zu werden. Obwohl ihre Eltern am Rande des Ruins gestanden hatten und ihr Verhalten alles andere als vorbildlich gewesen war, hätten sie nie dem jüngeren Sohn eines jüngeren Sohns gestattet, um sie zu werben.

Sie schüttelte sich innerlich. Nicht dass umworben zu werden für sie je irgendeinen Reiz gehabt hätte. Sie hatte es nie gewagt, romantisch darüber zu denken, nicht nachdem ihr Vater ihre Mitgift verprasst hatte und willens gewesen war, sie zu verkaufen, um seine Schulden zu zahlen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie vernarrt ihre Schwestern in den Captain wären. So groß und gut aussehend. Und stark. Sie konnte sich vorstellen, dass sie mit ihm tanzen wollten, und dass seine Kraft das Tanzen mit ihm zu etwas Aufregendem machte.

Eine Woge der Traurigkeit ergriff sie. Wegen jugendlicher Träume, die sich plötzlich als Albtraum entpuppt hatten.

Wenigstens hatte sie sichergestellt, dass ihre Geschwister noch Träume haben konnten – wenn sie bei Henry blieb. Die Verzweiflung, die sie am Nachmittag zur Flu...

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