1. KAPITEL
Für alle, die es gewagt haben.
1. KAPITEL
Zwei Jahre und ein Tag.
Zwei Jahre und einen Tag länger, als sie eigentlich um ihren Ehemann trauern wollte. Doch die Gesellschaft bestand darauf, dass sich die Witwe eines Duke genau so viel Zeit für betrübtes Nachsinnen über ihren Verlust nahm.
Mehr als einmal hätte Alexandra die Gesellschaft am liebsten gefragt, wie man betrübt nachsinnen sollte. Wahrscheinlich hätte dazugehört, dass man viele Stunden lang in Berge aus schwarzem Stoff gehüllt dasaß und den Platz anstarrte, auf dem er immer gesessen hatte. Vielleicht konnte man ein paarmal erstickt schluchzen, wenn die Köchin sein Lieblingsessen, gekochten Schinken mit Kartoffeln, auftrug.
Das alles hatte sie nicht getan. Und sie verabscheute gekochten Schinken mit Kartoffeln.
Stattdessen hatte Alexandra sich ein paar schwarze Kleider machen lassen und angefangen, alles zu tun, worüber ihr Ehemann zu Lebzeiten die Nase gerümpft hatte. Dinge wie im Garten zu arbeiten, Romane zu lesen, nachmittags ein Nickerchen zu machen und sich zum Tee ein zweites Brötchen zu nehmen. Sie hatte mit ihrer Tochter Harriet über Belanglosigkeiten geredet, anstatt ihr Vorträge über korrektes Benehmen zu halten. Dinge, die einer Duchess – nach Ansicht ihres verstorbenen Ehemannes – nicht anstanden, ganz gleich, was die fragliche Duchess davon hielt.
Derweil hatte sie auf den Tag gewartet, an dem sie kein Schwarz mehr zu tragen brauchte und niemandem mehr Gefühle vorspielen musste, die sie nicht hatte. Sie hatte sich dabei geschworen, dass sie keinen Augenblick mehr verschwenden würde, sobald sie über die Zeit hinaus war, in der sie die vornehme Gesellschaft mit schamlosem Unkrautjäten schockieren konnte.
Deswegen stand sie heute, genau zwei Jahre und einen Tag nach dem Tod ihres Ehemannes, auf einem kleinen Podest in der Mitte des Anproberaums einer Londoner Schneiderei und war drauf und dran, ihre Trauerkleider zu zerschneiden.
Sie war bereit, sich eine vollkommen neue Garderobe machen zu lassen, damit sie ihre Tochter bei deren verspätetem Debüt begleiten konnte.
„Geben Sie mir bitte mal die Schere?“, sagte Alexandra an eine der beiden Näherinnen gewandt, die mit ihnen im Anproberaum waren.
„Du willst wirklich …“, sagte ihre Stieftochter Edith in bewunderndem Tonfall. Einem Tonfall, den Alexandra zu schätzen wusste, weil Edith bei Weitem der abenteuerlustigste Mensch war, den Alexandra kannte – so abenteuerlustig sogar, dass Ediths Vater, Alexandras Ehemann, jedes Mal ein sehr sonderbares Gesicht gemacht hatte, wenn ihr Name gefallen war.
Deswegen verbrachte Edith wahrscheinlich auch die meiste Zeit auf Reisen, weit weg vom Urteil ihres Vaters.
„Allerdings“, sagte Alexandra mit fester Stimme.
Sie waren in Madame Lucilles Feine Modewaren gekommen, ein Geschäft direkt hinter der Bond Street, von dem Alexandra von ihrem verstorbenen Ehemann erfahren hatte. Bevor er gestorben war, natürlich.
Der Duke war absolut gegen den Erlass von Gesetzen gewesen, mit denen die Arbeitsbedingungen von Näherinnen verbessert wurden. Er hatte behauptet, damit würde man Arbeiterinnen nur anstacheln. Dabei hatte er gerade dieses Geschäft voller Verachtung erwähnt, weil Madame Lucille für zehn Stunden Arbeit am Tag ein Gehalt zahlte, von dem die Näherinnen ihren Lebensunterhalt fast allein bestreiten konnten, und nicht weit weniger für weit mehr Arbeitsstunden.
Madame Lucille war Alexandra und ihrer Stieftochter Edith zuerst mit Furcht begegnet, als rechne sie damit, dass die verwitwete Duchess gekommen war, um das Werk zu vollenden, das ihr Mann begonnen hatte. Die Furcht verwandelte sich jedoch in diebische Freude, als Alexandra ihr, untermalt von Ediths ermunternden Ausrufen, erklärte, was sie sich wünschte.
Das Geschäft war klein, aber makellos sauber, und Madame Lucille hatte den beiden Ladys alles gezeigt. Alexandra hatte erleichtert gesehen, wie fröhlich die Näherinnen in der Werkstatt im hinteren Teil des Ladens bei der Arbeit waren und sich unterhielten, während sie ihre Nadeln vor und zurück führten.
Anschließend hatte Madame Lucille sie in den Anproberaum geführt, der weit kleiner war als in den Geschäften, in denen Alexandra auf Drängen ihres Ehemannes Kundin gewesen war. Dann hatte Madame Lucille sich entschuldigt und war auf die Suche nach den Stoffballen gegangen, die sie für Alexandras neue Garderobe nach der Trauerzeit benutzen wollte.
Die Garderobe, die sie tragen würde, während sie darauf hoffte, dass Harriet einen Mann fand – irgendwann –, in den sie sich verliebte. Sie wünschte sich keine strategische Heirat zum Wohle der Familien für ihre Tochter. Wenn Harriet von ihrer Saison sprach, dann davon, dass sie Menschen kennenlernen und so viel wie möglich von London sehen wollte. Sie schien sich nicht sofort verheiraten zu wollen.
Alexandra spürte eine prickelnde Vorfreude auf ihre Zukunft, etwas, das sie seit ihrer Heirat nicht mehr empfunden hatte. Sie wollte so viele Farben wie möglich tragen, unbekümmert – oder bekümmert, wenn ihr danach war – Champagner trinken und überhaupt tun und lassen, was sie wollte, nicht, was andere Menschen von ihr verlangten. Vielleicht nahm sie sich sogar ein drittes Teebrötchen, wenn die Brötchen besonders köstlich waren und sie großen Appetit hatte.
Nachdem ihre Tochter sicher versorgt war, natürlich. Bis dahin musste sie die Fassade der Duchess aufrechterhalten. Aber das wollte sie in Farben und Stoffen tun, die sie sich ausgesucht hatte.
Und sie würde nie wieder jemandem erlauben, Entscheidungen für sie zu treffen. Ihre Freiheit noch einmal zu verlieren, selbst wenn ihr das Undenkbare geschah und sie sich in jemanden verliebte, war unhaltbar.
Zwei der jungen Näherinnen blieben bei ihnen, falls sie in irgendeiner Weise Hilfe brauchten. Beide schienen überwältigt davon zu sein, dass eine echte Duchess anwesend war, auch wenn Alexandra jetzt nur noch eine Witwe war.
Alexandra nahm die Schere, die ihr die kleinere der beiden Arbeiterinnen reichte, und konzentrierte sich dann darauf, mit den Fingern ihre Haut abzuschirmen, während sie die Spitze der Schere in den Halsausschnitt ihres Kleides schob. Eine der Arbeiterinnen quietschte erschrocken auf. Der Halsausschnitt war unangenehm eng und der schwarze Kammgarn war steif und unnachgiebig.
Fast wie mein verstorbener Mann, dachte Alexandra. Sie hätte den Scherz beinahe Edith erzählt, aber sie wollte die Näherinnen nicht schockieren.
Das Metall der Schere fühlte sich kühl auf ihrer Haut an und sie seufzte unwillkürlich, ehe sie sich so verrenkte, dass sie den Schnitt machen konnte.
Beim ersten Schließen der Schere stellte sich nicht der große Triumph ein, auf den Alexandra gehofft hatte; der Stoff ihres Kleides war offenbar fest entschlossen, sich dem Angriff der Schere zu widersetzen.
Aber dann biss sie die Zähne zusammen und passte ihren Griff an, sodass die Schere sich durch das feindselige Material arbeiten konnte und die beiden Hälften vorne aufklappten, während Alexandra weiter nach unten vordrang.
Sie war stark genug, um den Widerstand von etwas zu überwinden, das steif und unnachgiebig war.
Außer dem Klappern der Schere und dem leisen Rascheln des Stoffs war im Raum kein Laut zu hören.
Bis sie endlich den Saum erreicht hatte, die Rüschen durchschnitt und befriedigt seufzte, als die beiden Hälften des Kleides aufklappten, sodass darunter ihr Unterkleid zum Vorschein kam, ein leuchtendes Weiß im Vergleich mit dem dumpfen Schwarz ihres Kleides. Sie hatte die Schere immer noch in einer Hand und richtete sich wieder auf, um die beiden Hälften des Kleides auseinanderzuschlagen, bis sie nur noch an ihr hielten, weil sie die Ärmel noch anhatte. Sie drehte sich um und gab der Arbeiterin die Schere zurück, dann machte sie sich daran, die Ärmel abzustreifen, und biss sich dabei vor Aufregung auf die Lippen.
Nie wieder schwarz. Nie wieder trauern.
„Bravo!“, jubelte Edith. Alexandra sah ihrer Stieftochter in die Augen und lächelte ihr zu. „Das muss gefeiert werden“, fügte sie hinzu und machte dabei ein spitzbübisches Gesicht. „Du hast noch einen Abend Zeit, bevor der Rest der Familie kommt und die Saison beginnt. Wir sollten uns amüsieren.“
Theodore Osborne nahm das letzte Blatt Papier von der linken Seite seines Schreibtisches, legte es direkt vor sich und überflog es, dann nahm er seine Schreibfeder in die Hand und unterschrieb mit einem großen Schnörkel. Er hob das Blatt auf und legte es auf den riesengroßen Stapel zu seiner Rechten. Dabei seufzte er zufrieden.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Es war geschafft. Zumindest für heute.
Und wenn er die Schwester des Duke of Chelmswich heiratete, hatte er alles erreicht, was sich sein verstorbener Vater für ihn gewünscht hatte.
Der Duke hatte ihn vormittags besucht und ein Arrangement vorgeschlagen, das für beide Parteien vorteilhaft war. Theo würde Lady Harriet heiraten und im Tausch gegen die makellose Abstammungslinie der Familie würde Theo mehrere strategische Investitionen machen, die dem Duke aus seinen finanziellen Schwierigkeiten heraushelfen würden. Es war keine Kleinigkeit für einen Mann wie Theo, der im Sinne des Wortes ein Bastard war, in eine Familie von so guter Herkunft einzuheiraten wie die des Duke. Es war der Innbegriff von allem, was Theos Vater gewollt hatte.
Möglicherweise war auch die Rede davon gewesen, dass der Duke ein paar rechtliche Hebel so in Bewegung setzen konnte, dass es Vorteile für Theo hatte.
Es war die Art von eiskalt kalkuliertem Geschäft, wie es nur die höchsten Adelskreise abschlossen. Theo war bereit, die Chance auf eine Liebesheirat aufzugeben, wenn es bedeutete, dass er sowohl seine Geschäfte fördern als auch den Traum seines verstorbenen Vaters verwirklichen konnte.
Unter Theos Leitung war Osborne & Son gewachsen und besaß inzwischen eine Reederei, mehrere Großhandelsbetriebe, eine Eisenbahngesellschaft, mehrere Geschäfte in London und einen Lustgarten.
Jetzt gerade dachte er an Letzteren; er hatte ihn vor ein paar Jahren gekauft, nachdem er festgestellt hatte, dass er im Laufe eines Monats immer wieder, nun ja, Lust gehabt hatte, dort vorbeizuschauen.
Im Gegensatz zu den Vauxhall Gardens, die während der Kindheit seines Vaters unglaublich beliebt gewesen waren und noch immer eine ganze Reihe Attraktionen für Familien boten, war der diskrete Garten der Hedone Erwachsenen vorbehalten, die sich ihren Sehnsüchten hingeben wollten. Dort war alles und jedes erlaubt, solange alle, die es betraf, damit einverstanden waren.
Und Theo war sehr oft völlig einverstanden. Der Park war ein Ort, an dem er wenigstens für ein paar Stunden vergessen konnte, dass auf seinen Schultern die Verantwortung für Hunderte von Menschen und ihren Lebensunterhalt lastete. Er konnte vergessen, dass die meisten Gentlemen, denen er bei seiner Geschäftstätigkeit begegnete, mit der gleichen Selbstverständlichkeit wegen seiner bescheidenen Herkunft auf ihn herabsahen, wie sie sein Geld nahmen.
Sich ins Vergessen zu vögeln war sein zweitliebstes Hobby. Sein erstes waren die monatlichen Treffen mit seinen Freunden, vier anderen Waisenjungen, die er in Devenaughs Heim für mittellose Knaben kennengelernt hatte.
Jeder der fünf war in einer guten Familie untergebracht worden. In seinem Fall war das ein Gentleman gewesen, der nie geheiratet hatte, sich aber nach einer eigenen Familie sehnte. Theo und Mr. Osborne hatten einander so nahegestanden, als wären sie tatsächlich Vater und Sohn gewesen, und Mr. Osborne hatte Theo alles beigebracht, was er über sein Geschäft gewusst hatte.
Theo war über die Jahre ständig in Kontakt mit den anderen Waisenjungen gewesen und sie hatten ihn getröstet, als Mr. Osborne schließlich einer schweren Grippe zum Opfer gefallen war. Die monatlichen Treffen mit diesen Freunden waren die einzigen Termine, die er außerhalb seiner Arbeit hatte.
Aber da ihr nächstes Treffen erst in ein paar Tagen stattfinden würde – er hatte das Buch noch nicht einmal gekauft, das sie besprechen wollten, Charlotte Lennox’ Don Quixote im Reifrock –, würde er sich in den Lustgarten begeben, wo er darauf hoffen konnte, eine gleichgesinnte Dame zu treffen, mit der er sich unbekümmert vergnügen konnte.
Es würde sein allerletzter Besuch dort werden. Zumindest als Gast; er sollte seine Zukünftige bei ihrem Debüt kennenlernen und er würde nicht so weiterleben können wie bisher, wenn das erst einmal geschehen war. Seine Loyalität war wahrscheinlich etwas, worüber Aristokraten die Nase rümpften, aber Theo hatte vor, seiner Ehefrau treu zu sein, ganz gleich, wie es zu dieser Heirat kam.
Also würde es heute ein ganz besonderer Abend werden.
„Guten Abend, Mr. Osborne“, sagte der Wächter, als Theo aus der Droschke stieg.
Theo beugte sich vor und sagte leise: „Denken Sie bitte daran: keine Namen. Wir sind stolz auf unsere Diskretion.“
Der Wächter riss die Augen auf und dann richtete er sich auf. „Selbstverständlich, Mr. Os– ich wollte sagen Mr. Geheimnisvoller Gentleman.“
Theo musste sich ein Grinsen über diesen Versuch einer List verkneifen, dann schlenderte er durch das Tor, sah sich um und musterte die mittelgroße Schar der Gäste, die bereits anwesend waren.
„Theo!“, rief jemand. So viel dazu, seine Identität geheim zu halten.
Er drehte sich um und sah, wie seine Freundin Lucy auf ihn zukam. Lucy besaß eine Schneiderei und sie hatte ihre Geschäftsräume von ihm gemietet. Erst viel später, vor ein paar Monaten, waren sie einander hier im Park begegnet und hatten ein paar Stunden miteinander verbracht. Sie waren sich einig gewesen, dass es amüsant gewesen war, aber dass sie lieber Freunde bleiben als es noch einmal versuchen wollten.
Theo war damit völlig zufrieden, da er sich niemandem gegenüber verpflichtet fühlen wollte. Nicht einmal jemandem, mit dem er bis zur völligen Erschöpfung gevögelt hatte. Seine Geschäfte waren ohnehin schon zeitraubend genug; er hatte keine Zeit für andere Beziehungen, ganz gleich, wie vorteilhaft sie für beide Seiten sein mochten.
Was allerdings die Frage aufwarf, was passieren würde, wenn eine Ehefrau ins Spiel kam. Aber genau darum ging es doch, oder nicht? Zu heiraten und die Verbindungen des Duke zu nutzen, um dafür zu sorgen, dass er sich nicht mehr um seine Geschäfte zu kümmern brauchte und das Leben eines Gentleman führen konnte. Es würde einige Mühe kosten, aber er fürchtete sich nicht vor harter Arbeit.
Morgen, schwor er sich selbst, da wollte er alles planen. Nicht heute Abend.
„Wie geht es dir?“, fragte er und küsste Lucy auf die Wange.
Sie war wie immer formvollendet gekleidet, eine wandelnde Werbeanzeige für ihr Geschäft.
„Mir geht es wunderbar. Ich kleide gerade eine Duchess ein, ist das nicht unglaublich? Zwar eine verwitwete Duchess, aber trotzdem eine Duchess.“
„Ausgezeichnet! Heißt das, dass ich dir die Miete erhöhen muss?“, fragte er, zwinkerte ihr dabei aber zu.
Sie stupste ihn in die Brust. „Nein, sie hat ihre Rechnung noch nicht bezahlt.“ Sie musterte ihn. „Und du, du bist hier, weil du zu viel gearbeitet hast?“
„Woher weißt du das?“, fragte er.
Sie verdrehte die Augen. „Weil du immer zu viel arbeitest.“ Sie schob ihn sanft weiter in den Park hinein. „Los doch, viel Spaß. Du hast es dir Gott weiß verdient.“
„Danke, Lucy.“
„Und sag der Lady auf jeden Fall, dass sie sich glücklich schätzen kann, dich zu bekommen“, rief sie über die Schulter hinweg, während sie ihm zum Abschied winkte.
„Das sollte ich ihr nicht sagen müssen“, murmelte Theo. „Das werde ich ihr schon zeigen. Wenn es geht, gleich ein paarmal hintereinander.“
Er musterte die Menge. Die meisten Gäste sahen einer Schlangenfrau dabei zu, wie sie sich auf der Bühne zu einer Brezel zusammenrollte. Der Park war zwar ein Ort für anonyme Begegnungen, aber es wurde auch andere Unterhaltung geboten, die zum allergrößten Teil nichts Anstößiges hatte.
Es war das Prinzip des Parks, dass jeder Mensch Spaß haben sollte, ganz gleich was er tun wollte. Ob es erotische Abenteuer waren oder eine muntere Partie Schach, war gleichgültig.
Theo glaubte fest daran, dass man viel Spaß haben sollte, wenn man hart arbeitete. Dieser Park hier war ein Ort für die hart arbeitende Bevölkerung von London, Menschen, die ein paar Pence übrig hatten, um das Eintrittsgeld zu bezahlen. Einige der Gäste – die aus den besten Familien – waren zunächst überrascht gewesen, dass sie hier in direkten Kontakt mit Menschen kamen, von denen sie sonst Keramik kauften, oder mit Bankangestellten, mit denen sie Geschäfte machten. Theo hatte dann immer dazu geraten, dass Gäste mit solchen Beschwerden den Park verließen und nie mehr wiederkamen.
„Was wollen wir denn hier?“, hörte er eine Frauenstimme irgendwo hinter sich fragen.
„Wir sind hier“, erwiderte eine zweite Frau, „damit du sehen kannst, wie es ist, wenn man Spaß hat.“ Die zweite Frau hatte es mit sehr fester Stimme gesagt.
„Ich weiß, wie es ist, wenn man …“, fing die erste Frau an, unterbrach sich dann aber. „Wie dem auch sei. Du hast vollkommen recht. Es gibt Spaß und es gibt Spaß. Von welcher Art von Spaß reden wir hier? Oh, dort hinten wird Schach gespielt! Und sieh mal, ein paar Leute reiten auf Eseln! Ich bin noch nie auf einem Esel geritten! Das macht sicher Spaß!“
Theo verkniff sich ein Lächeln über die Begeisterung in der Stimme der Frau. Es war eine Seltenheit, wenn nicht gar ganz und gar einzigartig, dass ein Mensch in dieser Stadt erwachsen geworden war, sich aber trotzdem noch so an kleinen Dingen freuen konnte. Wenn er ganz ehrlich war, beneidete er sie darum.
„Um Himmels willen, wir sind doch nicht hergekommen, damit du auf einem Esel reiten kannst“, sagte die zweite Frau entrüstet. „Guck mal, da vor uns geht ein Gentleman. Den könntest du doch fragen, womit er sich hier die Zeit vertreibt.“
„Du meinst, ich soll zu einem Fremden hingehen und ihn einfach ansprechen?“, fragte die Frau. Die Art und Weise, wie sie das sagte, klang, als hätte man ihr vorgeschlagen, sich auf den Kopf zu stellen und Gedichte aufzusagen oder etwas ähnlich Absurdes.
„Warum denn nicht?“
Sie schwiegen, während die erste Frau über den Vorschlag nachzudenken schien. „Na schön. Aber wenn ich keinen Spaß habe, ist es deine Schuld.“ Sie sagte das liebevoll neckend.
„Los“, sagte die zweite Frau. „Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier. Ich mache mich auf die Suche nach etwas, das mir Spaß macht.“
Theo drehte sich um, um die beiden Frauen anzusehen, dabei wäre er beinahe in eine von ihnen hineingestolpert, die direkt auf ihn zukam.
Das musste die erste Frau sein, die noch nie Spaß gehabt hatte.
Sie war atemberaubend, wenn auch vielleicht keine klassische Schönheit; sie hatte weit auseinanderliegende dunkle Augen; nicht braun, aber vielleicht dunkelgrün, die von dichten Augenbrauen gerahmt wurden. Ihre Nase war energisch, sie verlieh ihr ein beinahe hochmütiges Aussehen. Ihr breiter Mund war zu einem Lächeln verzogen und ihre Lippen waren voll und rosig und überaus zum Anbeißen. Ihr Haar war mittelblond, zumindest hier in diesem flackernden Licht, und sah aus, als wäre es schwer zu bändigen. Sie hatte es zu einem praktischen Dutt aufgesteckt, aus dem ein paar Strähnen herausgerutscht waren.
Er hätte sie für jünger gehalten, aber diese Frau sah aus, als wäre sie älter als er. Sie schien außerdem unendlich neugierig zu sein und sich an kleinen Dingen freuen zu können.
„Guten Abend“, sagte er, als sie den Mund öffnete und etwas sagen wollte. „Sind Sie auf der Suche nach Unterhaltung?“, fragte er und zeigte mit einer vagen Geste auf das Zentrum des Parks.
„Ich weiß nicht genau, wonach ich suche“, murmelte sie, aber Theo hatte sie gehört.
Er bot ihr seinen Arm an. „Gestatten Sie mir, Ihnen alles zu zeigen“, sagte er, als sie seinen Arm nahm. „Dann können Sie mir verraten, was Sie sich wünschen.“
Aus irgendeinem Grund, den er nicht einmal sich selbst erklären konnte, war es ihm wichtig, ihr eine Freude zu machen.