In den Armen des griechischen Tycoons

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Als Selfmade-Millionär Xander Tsakis erfährt, dass die kleine Gemeinde auf seiner griechischen Heimatinsel vor dem finanziellen Ruin steht, beschließt er zu helfen. Das schuldet er seinen verstorbenen Adoptiveltern. Doch kaum auf der idyllischen Insel in der Ägäis angekommen, gerät er mit der jungen Lehrerin Rosy Boom aneinander. Sie scheint nur das Wohl der Kinder zu sehen, dabei geht es doch um viel mehr! Dennoch will Xander unbedingt, dass Rosy ihm bei der Rettung der Insel hilft. Was gefährlich viel Nähe bedeutet! Erst unter heißer Sonne – dann in lauen Nächten am Meer …


  • Erscheinungstag 28.05.2024
  • Bandnummer 2651
  • ISBN / Artikelnummer 0800242651
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Ruhe vor dem Sturm. Dieser Moment, wenn die Welt einen Augenblick stillstand … wenn die Luft in hochkonzentrierter Anspannung bebte … Xander Tsakis spürte es in jeder Faser seines Körpers: Sein Leben war im Begriff, eine entscheidende Wendung zu nehmen.

Eine derart starke Vorahnung hatte ihn erst einmal ergriffen. Damals, als Eleni und Romanos Tsakis ihn aus der Gosse geholt hatten, um ihn wie einen eigenen Sohn bei sich aufzunehmen. Niemals hätte er auf ein derartiges Wunder zu hoffen gewagt! Wer weiß, was ohne die Liebe und Großzügigkeit dieser beiden Menschen aus ihm geworden wäre? Alles, was er in seinem Leben erreicht hatte, verdankte er dieser glücklichen Fügung des Schicksals.

Welche Veränderung der nun bevorstehende Sturm mit sich bringen würde, stand in den Sternen. Gedankenverloren strich Xander sich mit den Fingern durch sein verwuscheltes schwarzes Haar, lehnte sich in den weichen Sitz seines Helikopters zurück und schloss die Augen. Ein kurzer Moment der Ruhe, bevor er sein Ziel erreichte: die Insel Praxos, die wie ein Juwel vor der Westküste Griechenlands im blauen Meer schimmerte. Der einzige Ort, den er je sein Zuhause genannt hatte.

Xander war nicht immer so luxuriös gereist. Als Kind hatte er sich meist auf die Trittbretter von Müllfahrzeugen geschwungen. Doch dank seines kometenhaften Aufstiegs vom Straßenkind zum international gefeierten Geschäftsmann standen ihm heute weitaus bequemere Transportmöglichkeiten offen. Leider war sein beeindruckender Werdegang von zahlreichen Tiefschlägen gezeichnet. Die letzte Tragödie war der viel zu frühe Tod seines Ziehvaters, des Milliardärs und Menschenfreunds Romanos Tsakis.

Bis zum Alter von sechs Jahren war Xander in dem Bordell aufgewachsen, in dem seine Mutter gearbeitet hatte. Als sie kurz nach seiner Geburt verstarb, kümmerten sich die anderen Frauen um ihn. Aber keine blieb je lange. Und so lernte Xander früh, dass nichts von Dauer war. Schon gar nicht die Liebe.

Jeden Abend, wenn das Freudenhaus öffnete, scheuchte man den Jungen auf die Straße. Vor den schicken Restaurants und Hotels der Stadt beobachtete er die Reichen und Schönen. Wie fein die Herren in ihren maßgeschneiderten Anzügen aussahen! Wie edel der erlesene Schmuck der Damen funkelte! Wie elegant die blank polierten Limousinen glänzten! Xander träumte davon, irgendwann so zu leben wie diese Menschen.

So unerreichbar ihm dieser Traum oft scheinen mochte, er trug Xander durch die dunklen Zeiten. Und eines Tages traf er durch einen glücklichen Zufall auf Romanos Tsakis.

Xander wühlte gerade in den Müllcontainern hinter einem sternegekrönten Restaurant nach Essensresten, als ihn ein Fremder ansprach. So etwas passierte häufig. Sogar ungewaschen und zerlumpt sah der Junge hübsch aus. Doch er war auch erfahren und flink genug, um den zwielichtigen Gestalten stets zu entwischen. Diesmal jedoch spürte er intuitiv, dass der vornehme Herr ihm wohlgesinnt war. Dass diese Begegnung seinem trostlosen Leben eine ungeahnte Wendung geben konnte. Und genau so war es.

Obwohl seine frühen Erfahrungen ihn argwöhnisch gemacht hatten, fasste Xander nach und nach Vertrauen zu Romanos und seiner Frau Eleni. Ihre schier unerschöpfliche Geduld erweichte die Mauern, die er schützend um sein Herz errichtet hatte. Bald war er sich gewiss, dass ihm der Himmel zwei seiner liebsten Engel zur Seite gestellt hatte.

Doch auch der Teufel war nicht fern. Diese Rolle schien dem leiblichen Sohn der Familie Tsakis wie auf den Leib geschneidert zu sein. Achilles war drei Jahre älter als Xander, und er drangsalierte seinen Ziehbruder ohne Unterlass. Nur das Wohlwollen der Eltern und die erstklassige Bildung, die sie Xander boten, ließen ihn die immer übleren Schikanen des älteren Jungen aushalten.

Wehmütig erinnerte er sich an die Familienresidenz, das so genannte Große Haus, auf Praxos. Hier hatte er die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht. Hier hatte er auch erfahren, dass alles Schöne und Gute eine Schattenseite hatte: Achilles.

Nun war er der Grund für Xanders Heimkehr nach Praxos. Nach dem Tod der Eltern hatte Achilles in seiner selbstsüchtigen Gier die Insel in eine tiefe Misere gestürzt. Es galt, zu retten, was noch zu retten war. Xander war fest entschlossen, das Paradies seiner Kindheit wiederaufzubauen. Aber konnte ihm die Insel ohne Romanos und Eleni eine Heimat sein? Konnte er sich zu Hause fühlen, wenn niemand ihn mit warmen Umarmungen willkommen hieß? Nicht heute, und niemals wieder?

Tiefe Trauer flutete sein Herz. Erst vor wenigen Monaten war Eleni unerwartet verstorben. Kurz darauf kam Achilles betrunken von der Straße ab. Romanos saß auf dem Beifahrersitz, als der Wagen über ein Kliff ins Meer stürzte.

Xander leitete zu diesem Zeitpunkt ein wichtiges Umweltprojekt, das benachteiligten Familien Zugang zu sauberem Wasser ermöglichen sollte. In der abgelegenen Gegend gab es keinen Handyempfang, und als ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters und Stiefbruders erreichte, waren beide längst beerdigt.

Trauer und Reue hatten ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben. Warum war er nicht da gewesen? Er hatte nicht einmal gebührend Abschied von seinem großen Gönner nehmen können! Doch das volle Ausmaß der Katastrophe führten ihm erst die Berichte über die desaströse finanzielle Lage der Insel vor Augen. Achilles hatte das einst blühende Idyll völlig heruntergewirtschaftet.

Wäre er vor Ort gewesen, hätte Xander ihm Einhalt gebieten und das Schlimmste verhindern können!

Sein einziger Trost bestand darin, dass das Umweltprojekt eine von Romanos’ Herzensangelegenheiten gewesen war. Xander hatte im Sinne seines Ziehvaters gehandelt. Natürlich konnte niemand an mehreren Orten gleichzeitig sein! Dennoch quälten ihn beinahe täglich nagende Schuldgefühle. Auch jetzt regte sich der altbekannte Schmerz. Ruhelos rutschte Xander auf seinem Sitz hin und her. Zum Glück hatten sie die Insel endlich erreicht.

„Bitte verweilen Sie einen Augenblick über der Schule“, wies er den Piloten an.

Bildung ist unser aller Zukunft! Das hatte Romanos immer gesagt. Und Xander wollte dieses Vermächtnis in Ehren halten. Schließlich hatte sein Ziehvater auch ihm eine erstklassige Bildung angedeihen lassen, die ihm seine Blitzkarriere erst ermöglichte. Angesichts der Katastrophe, die Achilles über Praxos gebracht hatte, fürchtete Xander nun vor allem um den Zustand der Inselschule und das Wohl der Kinder.

Nach außen hin verschloss er diese Sorge gut an demselben Ort in sich, wo er alle seine Gefühle verwahrte. Lieber betrachtete er die Dinge pragmatisch: Eleni und Romanos lebten nicht mehr. Wahrscheinlich würde er nie wieder ähnlich herzensguten Menschen begegnen. Da war es das Mindeste, ihr Lebenswerk fortzuführen!

Einmal mehr öffnete er Romanos’ letzte Textnachricht. Während er las, schloss er die Hand mit eisernem Griff um das Telefon. Sein Blick haftete an den hellen Zeichen, als könnte in ihrem schwachen Leuchten die Güte seines Ziehvaters einen Moment lang wiederaufleben.

Ich habe eine wunderbare Lehrerin für die Schule gefunden! Rosy Boom. Kümmere dich gut um sie, Xander. Praxos kann es sich nicht leisten, einen solchen Schatz zu verlieren.

Einmal mehr drohten Trauer und Reue ihn zu übermannen. Er hatte angeboten, nach Elenis Tod zu bleiben und dem trauernden Romanos zur Seite zu stehen. Doch der alte Mann hatte ihn nachdrücklich gebeten, sich um das Umweltprojekt zu kümmern.

„Hier kannst du nichts tun“, hatte er insistiert. „Dort wird deine Expertise gebraucht.“ Und als Xander protestierte, fügte er hinzu: „Die Kinder dort verdienen die gleiche Chance, wie einst du …“ Da war Xander klar geworden, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als Romanos’ Bitte Folge zu leisten.

Seine letzte Textnachricht blieb ihm dennoch ein Rätsel. Hatte sein Ziehvater schon geahnt, dass er die Einarbeitungsphase der neuen Lehrerin nicht selbst begleiten konnte?

Xander wusste nicht viel von ihr. Sie war Engländerin, sprach aber fließend Griechisch, weil sie antike Sprachen studiert hatte. Rosy Boom. Das klang eher nach Explosion im Blumenladen als nach Strenge im Klassenzimmer. War er ihr schon einmal begegnet? Womöglich auf Elenis Beerdigung? Vergebens durchforstete er seine spärlichen Erinnerungen an diesen fürchterlichen Tag. Er hatte sich ganz seinem trauernden Ziehvater gewidmet. Alles andere war wie im Nebel an ihm vorbeigezogen.

Rasch wandte er sich weniger trüben Gedanken zu. Er hatte bereits Pläne für den Wiederaufbau der Insel geschmiedet. Zuerst würde er sich einen Überblick über die Lage verschaffen. Er würde eine Liste der drängendsten Probleme erstellen und für jedes einzelne eine passende Lösung finden. Glücklicherweise hatten die Inselbewohner nur kurze Zeit unter der Tyrannei seines Ziehbruders zu leiden gehabt. Stabilität und Zufriedenheit sollten sich schnell wiederherstellen lassen. Anschließend würde Xander umgehend abreisen, um sich wieder seinen zahlreichen anderen Verpflichtungen zuzuwenden.

Xander scheute nicht davor zurück, Verantwortung zu übernehmen. Darauf gründete sein Erfolg. Möglicherweise hielt dieser Erfolg ihn davon ab, sich zu binden. Denn mit seinen zweiunddreißig Jahren war er immer noch Junggeselle. Nun, er hatte Wichtigeres zu tun. Ohnehin war er noch keiner Frau über den Weg gelaufen, der er sein Herz hätte öffnen wollen.

Seufzend entledigte er sich seines Jacketts und lockerte die Krawatte, um einige Knöpfe am Hemdkragen zu öffnen. Dann legte er auch die diamantbesetzten Manschettenknöpfe ab und warf sie auf den kleinen Tisch. Endlich erlaubte er sich, seine langen Beine auszustrecken.

Ihm blieben noch einige Augenblicke, um Kraft zu sammeln. Ja, er würde die Insel zu früherem Glanz zurückführen!

„In Kürze erreichen wir die Schule“, kündigte der Pilot an.

Xander presste die Lippen fest aufeinander, um sich für den Anblick des vermutlich verfallenen und verlassenen Gebäudes zu wappnen. War die Schule überhaupt geöffnet, nachdem Achilles als Erstes die Gelder aus dem Bildungsfonds veruntreut hatte?

Zu seiner Überraschung schien alles in tadelloser Ordnung zu sein. Die Kinder tobten und spielten auf einem sauber gefegten Schulhof. Mittendrin erblickte er eine junge Frau. Vermutlich die neue Lehrerin. Als sie den Helikopter über sich hörte, rief sie ihre Schützlinge zusammen und breitete die Arme aus.

„Danke. Fliegen Sie weiter“, ordnete Xander an.

Das war also Rosy Boom. Sein angeborener siebter Sinn regte sich. Hatte sie etwas mit diesem seltsamen Gefühl zu tun, das ihn schon geraume Zeit nicht losließ?

Die Ruhe vor dem Sturm!

Welche Rolle sollte Rosy Boom in Xanders Plänen für die Insel spielen? Romanos hatte ihre Qualifikationen in den höchsten Tönen gelobt. Vermutlich war das die Antwort. Schließlich ging es um die Zukunft der Insel. Und Bildung war die Zukunft!

Ansonsten machte Rosy von hier oben keinen besonderen Eindruck auf Xander. Sie schien nur wenig größer zu sein als die älteren Schüler. Ihr üppiges rotbraunes Haar hatte sie zu einer strengen Frisur hochgesteckt, aus der sich ein paar widerspenstige Strähnen gelöst hatten. Alles in allem wirkte sie nicht gerade wie eine Schönheit. Doch beim Anblick des Helikopters hatte sie die Kinder instinktiv schützen wollen. Das brachte ihr auf jeden Fall einen Pluspunkt ein. Falls sie sich Sorgen um die Zukunft der Schule machte, konnte er sie beruhigen. Xander mochte als gewiefter Geschäftsmann gelten. Doch Bildung war sein Herzensthema.

„Fliegen Sie tiefer“, bat er, als der Pilot entlang der Küste weiterflog. „Gehen Sie auf drei Meter.“

Er zog sich bis auf seine schwarzen Boxershorts aus und kletterte auf die Landekufe des Helikopters hinaus. Einen Augenblick hielt er inne. Dann stürzte er sich mit einem perfekten Kopfsprung in das erfrischende Blau des Meeres.

Natürlich war er sich der Gefahren bewusst: Unter der ruhigen Oberfläche konnten gefährliche Strömungen lauern. Genau wie im echten Leben. Aber er kannte diese Küste in- und auswendig. Obwohl sich seit seinem letzten Besuch auf der Insel viel verändert hatte – und wenig zum Guten! –, war das Meer doch beständig. Im Wasser fühlte er sich frei. Als er mit kräftigen Zügen zum Strand kraulte, schwor er seinem Ziehvater ein weiteres Mal, dass er seiner Verantwortung für die Insel gerecht werden würde. Er würde Praxos wiederaufbauen!

Das war er! Xander Tsakis. Die Initialen auf seinem Helikopter ließen keinen Zweifel.

Würde nun endlich alles gut werden?

Unwillkürlich schauderte Rosy, als der Schatten des imposanten Hubschraubers auf die spielenden Schulkinder fiel. Würde Xander Tsakis sich besser um die Insel kümmern als sein Bruder Achilles? Sorge umfing ihr Herz. Das bringt niemanden weiter! Sie durfte sich nicht von der Vergangenheit leiten lassen, sondern musste Xander Tsakis alsbald treffen, um Gewissheit über die Zukunft der Inselschule zu erlangen.

Was dann geschah, hätte sie beinahe umgehauen.

Beinahe.

Der Helikopter drehte ab und flog in niedriger Höhe die Küste entlang. Da öffnete sich die seitliche Tür. Ein Mann kletterte heraus. Hoch aufgerichtet stand er einen Augenblick auf der Kufe. Sein tief gebräunter Körper war von beeindruckender Statur. Selbst über die Entfernung hinweg bezweifelte Rosy keinen Moment, dass Xander Tsakis so atemberaubend aussah, wie die Klatschpresse ihn pries. Vermutlich trafen auch die anderen Beschreibungen zu: Er galt als kaltschnäuziger, skrupelloser, Polo spielender Playboy.

Nun, das bedeutete lediglich, dass Rosy ihr Anliegen nicht auf die lange Bank schieben durfte. Ein Mann wie Xander Tsakis würde gewiss nicht ewig auf Praxos bleiben.

In diesem Moment stürzte er sich mit einem perfekten Kopfsprung ins Meer! Rosy hatte kaum Erfahrung mit dem anderen Geschlecht. Der Anblick von Xanders fast nacktem Körper traf sie wie ein elektrischer Schlag. Ein prickelnder Schauer lief ihr den Rücken hinab. Ihr wurden die Knie weich. Eine nie gekannte Sehnsucht drohte sie zu überwältigen.

Genug! Ihr Körper mochte sich sehnen, nach wem oder was er wollte. Dies war Achilles’ Bruder! Zwar mochten die beiden keine Blutsverwandten sein. Doch sie waren im selben Haus aufgewachsen. Wer sein Leben lang an der Seite des Teufels verbracht hatte, konnte kein Engel sein.

Mit fest aufeinandergepressten Zähnen scheuchte Rosy ihre Schützlinge zurück ins Schulgebäude. Egal, wer dieser Mann war, hier ging es um wichtigere Dinge als Lust und Leidenschaft. Es ging um die Zukunft der Inselschule und um das Wohl der Kinder!

Achilles war fort. Für immer. Wenngleich jedes Mal, wenn sie ein Klassenzimmer betrat, irgendwo in den Schatten seine hämisch grinsende Visage zu lauern schien. Der schreckliche Tag, an dem er versucht hatte, sich ihr aufzuzwingen, saß ihr tief in den Knochen. So etwas ließ sich nicht einfach abschütteln! Ein ums andere Mal stieg ihr der Übelkeit erregende Geruch seiner schlecht geputzten Zähne in die Nase. Wie an dem Tag, als er sie gegen den Schreibtisch gedrängt hatte … Schon der Gedanke an diese Szene ließ sie abermals erschauern, diesmal allerdings vor Abscheu. Wäre nicht die Schulleiterin Alexa Christos im entscheidenden Moment hereingekommen … Mit einer ekelhaften „Es-ist-nicht-wonach-es-aussieht“-Miene hatte Achilles von Rosy abgelassen. Wer weiß, was sonst geschehen wäre? Rosy war kräftig, aber nicht gerade groß. Achilles hätte sie mit Leichtigkeit überwältigen können.

Unwillkürlich schüttelte sie sich. Daran wollte sie jetzt lieber nicht denken. Die Kinder von Praxos standen unter ihrer Obhut. Sie verließen sich auf ihre Lehrerin. Schon allein aus diesem Grund musste sie die schreckliche Erinnerung jetzt beiseiteschieben und Xander Tsakis so bald wie möglich aufsuchen.

Die Inselbewohner hatten wahrlich genug gelitten! Zwar hatte Achilles nur für kurze Zeit die Zügel in der Hand gehabt. Doch das hatte genügt, um die Inselwirtschaft lahmzulegen. Die Folgen waren desaströs. Seit jeher waren die Gehälter aller Inselbewohner aus einem eigens dafür von Romanos eingerichteten Fonds der Tsakis-Stiftung gezahlt worden. Achilles jedoch hatte das gesamte Familienvermögen allein für sich beansprucht. Bald grassierte das Elend. Um sich zu helfen, hatten die Menschen einen regen Tauschhandel eingeführt, der bis zum heutigen Tag gut funktionierte. Aber so konnte es natürlich nicht weitergehen! Die Menschen brauchten Hoffnung!

Drinnen bereiteten die Schulkinder das anstehende Panigiri vor. Zu Elenis und Romanos’ Lebzeiten hatte das traditionelle Fest die gesamte Insel vereint. Was hatte es damals Schöneres gegeben, als die blühende Gemeinschaft zusammen zu feiern! In diesem Jahr würde allerdings nicht mehr als eine kleine Zusammenkunft stattfinden können, und das auch nur durch Spenden. Alle würden mit anpacken müssen, um das Fest auf die Beine zu stellen. Doch nach all den harten Entbehrungen hatten die Inselbewohner einen unbeschwerten Tag verdient! Rosy war fest entschlossen, ihnen ein Fest voller Lebensfreude und Hoffnung zu bereiten.

Das aufgeregte Geschnatter der Kinder vertrieb alle Sorgen. Im Schneidersitz setzte sie sich zwischen ihre Schützlinge auf den Boden, wo sie eine farbenfrohe Girlande anfertigten. Doch immer wieder verspürte sie den Impuls, aufzustehen, um nach Xander Tsakis Ausschau zu halten. War er zum Strand geschwommen? Stieg er gerade aus den Wellen? Ginge sie nach draußen, würde sie dann einen weiteren Blick auf seinen Traumkörper erhaschen? Sicher würde er bei ihrer nächsten Begegnung bekleidet sein …

Hastig schob sie diese unpassenden Gedanken beiseite. Lieber erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Romanos Tsakis. Er war als Ehrengast zur Abschlussfeier ihrer Universität geladen gewesen und hatte eine bewegende Rede gehalten. Als Jahrgangsbeste hatte Rosy eine Auszeichnung erhalten, und so waren sie anschließend ins Gespräch gekommen. Was für ein beeindruckender Mensch er gewesen war! Unverhofft hatte er ihr eine Stelle als Lehrerin auf Praxos angeboten. Im ersten Moment war Rosy skeptisch gewesen. Doch intuitiv hatte sie gespürt, dass sie diesem Mann vertrauen konnte. Außerdem bot ihr sein Angebot einen einfachen Ausweg aus ihrem privaten Schlamassel.

Sie hatte noch am selben Abend eingewilligt und ihre Entscheidung seitdem nie bereut. Selbst jetzt nicht. Was für ein Mann Xander Tsakis auch sein mochte, sie würde ihm die Stirn bieten. Schließlich ging es um das Wohl der Kinder!

Eínai arketó kairó tóra?“, riefen einige Schüler und hielten ihr die Girlande hin.

„Ist das lang genug?“, übersetzte sie langsam. „Ja, ist es.“ Lächelnd wiederholte sie ihre Antwort auf Griechisch: „Nai eínai.

Ja, das diesjährige Panigiri würde einen Neuanfang für Praxos einläuten!

Ob Xander Tsakis den Feierlichkeiten beiwohnen würde?

Er durfte nicht fehlen! Die Zukunft der Insel stand auf dem Spiel. Nur er konnte den Menschen die Hoffnung auf bessere Zeiten zurückgeben. Mehr als Geld und finanzielle Sicherheit brauchten sie Verlässlichkeit und Beständigkeit.

Wieder tauchte Xanders durchtrainierter Körper vor Rosys innerem Auge auf, und mit einem Mal wurde sie sich ihrer Weiblichkeit auf nie gekannte Art bewusst. Ihr blieb nur zu hoffen, dass dieser Mann ihr mehr Respekt entgegenbringen würde als sein Bruder. Weniger ging kaum. Achilles hatte sich ohne Vorwarnung auf sie gestürzt. Sie hatte nicht die geringste Chance gehabt, sich zu wehren. Fröstelnd verschränkte Rosy die Arme vor der Brust. Unversehens berührte sie dabei ebenjene Stellen, an denen der Angriff ihr einst blaue Flecke eingebracht hatte.

Vergiss ihn endlich!

Schließlich war Praxos ihre Heimat geworden. In England gab es niemanden, der sie vermisste. Nachdem ihre Mutter unter tragischen Umständen ums Leben gekommen war, hatte ihr Vater bald eine neue Liebe gefunden. Eines Tages hatte Rosys Stiefmutter ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie in ihrem Elternhaus nicht mehr willkommen war. Natürlich wollte Rosy dem Glück ihres Vaters nicht im Wege stehen. Dennoch fragte sie sich bisweilen, ob das wahre Interesse ihrer Stiefmutter vielleicht eher dem Vermögen und dem Eigenheim ihres Vaters galt als dem Menschen.

„Du hast die Kraft, dir ein eigenes Leben aufzubauen.“ Mit diesen Worten hatte Romanos ihr die Stelle auf Praxos angeboten. Warum hatte sie sich einem Fremden anvertraut? Weil er ein guter Mann war! Das hatte sie sofort mit Gewissheit gewusst.

Auch ihr Vater war ein sanfter, freundlicher Mann, dem sie auf seine alten Tage alles Glück der Welt wünschte. Und doch hatte es sie tief im Herzen getroffen, dass er nicht für sie eintrat, als seine neue Partnerin das Schloss austauschte und Rosys wenige Habseligkeiten vor die Tür stellte.

Auch diese traurige Erinnerung schob Rosy weit von sich. Es gab noch viel zu tun! Bevor sie sich in die Höhle des Löwen wagen wollte, blieb genug Zeit, den Holzzaun zu streichen. So würde die Farbe getrocknet sein, wenn die Kinder am nächsten Morgen zur Schule kamen, und das Schulgelände würde wieder ein wenig heller und freundlicher wirken.

Als sie nach getaner Arbeit aufräumte, hörte sie hinter sich die Tür. Erschrocken fuhr Rosy herum. Wie damals! Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Achilles tot war, dass er ihr nie wieder auflauern konnte. Da erkannte sie ihren Besucher, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Xander Tsakis. Wenigstens hatte er seinen beeindruckenden Körper diesmal mit enganliegenden, ausgewaschenen Jeans und einem schwarzen Hemd bedeckt, unter dem sich die wohl definierten Muskeln seines Oberkörpers abzeichneten. Sein Haar war ein wenig zerzaust.

Kyria Boom?“ In seiner klaren, tiefen Stimme schwang kaum die Spur eines Akzents. Vielmehr wirkte er verärgert, und Rosy erkannte sofort, was seinen Unmut erregt hatte: An seiner Handfläche klebte frische Farbe. Das Tor!

„Bitte entschuldigen Sie, Kyrie Tsakis. Ich habe weder Sie noch jemand anderen hier erwartet. Sonst hätte ich …“

„Haben Sie etwas, womit ich das abwischen kann?“, unterbrach er unwirsch. Sie zuckte zusammen, als er ihr seine große Hand entgegenstreckte. Wieder rief sie sich in Erinnerung, dass er nicht Achilles war.

„Natürlich.“ Unter dem durchdringenden Blick seiner ungewöhnlich dunklen Augen konnte sie sich kaum konzentrieren. „Und übrigens“, fügte sie hinzu, als sie ihm eine Flasche Reiniger und ein sauberes Handtuch reichte, „willkommen zu Hause.“

„In diesem Chaos?“, knurrte er.

Rosy war stolz auf ihr Organisationstalent. Hatte sie die Schule nicht in tadelloser Ordnung gehalten? Sein harscher Kommentar verletzte sie tief. Doch sie ließ sich nichts anmerken.

„Ich habe ein Schild aufgestellt. Frisch gestrichen. Es muss umgefallen sein.“

„Sicher.“ Der raue Klang seiner Stimme ließ Rosys Herz schneller schlagen.

Übergroß wie ein Riese baute Xander Tsakis sich vor ihr auf. Seine bloße Anwesenheit raubte ihr den Atem. Wie umwerfend gut er aussah! Obwohl Rosy sich nach der schlimmen Erfahrung mit Achilles zurückgezogen hatte, drängte ihr Körper nun mit aller Macht zu diesem Mann hin.

„Vielen Dank, dass Sie in der Schule vorbeischauen. Die Menschen auf Praxos freuen sich, dass Sie zurück sind. Die Insel braucht Sie. Die Schule braucht Sie.“

Ich brauche Sie.

Zum Glück konnte sie diese Worte gerade noch zurückhalten.

Er hob eine seiner fein geschwungenen Brauen, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Nach der langen Reise müssen Sie müde sein“, plapperte sie weiter.

Ohne zu antworten, wandte Xander sich den bunten Bildern zu, die Rosys Schüler für das bevorstehende Fest gemalt hatten.

„Wir sind gerade in den Vorbereitungen für das Panigiri“, erklärte sie. „Die Kinder haben sich viel Mühe gegeben.“ Wie gut, dass sie sich einen Moment lang auf etwas anderes konzentrieren konnte als auf die überwältigende Anziehungskraft ihres Besuchers.

Xander war so anders als Achilles! Wo Achilles plump und teigig gewesen war, war sein Adoptivbruder durchtrainiert. Wo Achilles ein schlechtes Gebiss und fauligen Atem gehabt hatte, punktete Xander mit geraden weißen Zähnen und einer aufrechten Haltung. Seine beeindruckende Aura füllte den gesamten Klassenraum. Dennoch jagte er ihr keine Angst ein. Vielmehr spornte er sie an, für ihre Überzeugungen einzustehen. Dies war der Zeitpunkt, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und ihre Stimme für die Schule und das Wohl der Kinder zu erheben.

„Wir hoffen natürlich alle, dass Sie mitfeiern werden.“

Einen langen Augenblick gab er keine Antwort.

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen.“

Natürlich nicht.

Diese Zurückweisung traf Rosy unerwartet heftig. Dieser Mann war wie eine Naturgewalt über sie hereingebrochen. Was hatte sie sich erhofft? Aus der Klatschpresse wusste sie, mit welchem Typ Frau er sich umgab. Keine von ihnen hatte rotes Haar und Sommersprossen wie sie oder trug gar eine alte Brille, die sie notdürftig mit Klebeband repariert hatte. Wie konnte sie so dumm sein, auch nur einen Augenblick lang zu denken …

„Gut.“ Er wandte sich zum Gehen, als hätte er genug gesehen.

Nein. Nein!

„Haben Sie noch einen Moment, um über die Zukunft der Schule zu sprechen?“

Betont langsam wandte er sich zu ihr um und schob sich die Sonnenbrille von der Stirn auf die Nase. „Nein“, erwiderte er umstandslos, während er sie durch die dunklen Gläser zu mustern schien. „Sie werden verstehen, dass ich mir als Erstes einen Überblick über die Gesamtsituation verschaffen möchte.“ 

„Können wir später sprechen?“

„Sie lassen wohl nicht locker.“

„Ich komme zum Großen Haus. Wann passt es Ihnen?“

Auch wenn Xanders Brauen sich bedrohlich verengten, würde Rosy jetzt nicht zurückweichen. Zu viel stand auf dem Spiel!

„Eine gute Schule ist wichtig für den Wiederaufbau der Insel“, fügte sie hinzu.

Unter seinem durchdringenden Blick stieg ihr die Hitze in die Wangen.

„Punkt acht Uhr im Großen Haus.“

Innerlich jubelte Rosy. „Acht Uhr“, bestätigte sie betont gelassen.

Um diese Uhrzeit würde Maria, die Haushälterin der Familie Tsakis, noch Dienst haben. So viel wusste Rosy, und sie war sehr erleichtert. Sie würde also nicht mit diesem undurchsichtigen und doch so betörenden Mann allein sein müssen.

Xaver wandte sich erneut zum Gehen. „Kommen Sie nicht zu spät“, sagte er über die Schulter.

Rosy widerstand dem Impuls, zu salutieren. Stattdessen folgte sie ihm, um das frisch gestrichene Tor diesmal selbst zu schließen.

„Wen haben die Kinder eigentlich gemalt?“ Er war so plötzlich stehen geblieben, dass Rosy beinahe in ihn hineinlief.

„Ihre Eltern.“ Die atemberaubende Energie, die von Xander Tsakis ausging, ließ Rosy einige Schritte zurückweichen. Sie war noch nicht bereit, ihm zu vertrauen. Er war Achilles’ Bruder! „Die Kinder haben sich gewünscht, dass Eleni und Romanos auch über ihren Tod hinaus ein Teil des Panigiri sein sollten.“

„Wie rührend!“ Unversehens waren seine Gesichtszüge weich geworden. Vielleicht war er kein hirnloser Idiot wie Achilles, sondern ein gedankenvoller und sensibler Mann? „Ich werde nie vergessen, wie großzügig die beiden waren.“

Auch Rosy war sich dessen bewusst. Allein deswegen hatte sie ihnen nie von dem Vorfall mit Achilles erzählt.

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