Ist Ihr Herz aus Eis, Mylord?

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Jack Beresford, Earl of Hawkenden, gibt nichts auf Gefühle! Böse Stimmen behaupten sogar, er habe ein Herz aus Eis. Doch nun hat seine Schwägerin die bezaubernde Lady Cecily Thornhill zu einer Reihe von Festivitäten auf den Landsitz eingeladen, und etwas höchst Unerwartetes geschieht: Wenn Jack in Cecilys schöne Augen blickt, wenn sie ihn anlächelt, wenn ihre zarte Hand die seine berührt, fühlt sich sein kaltes Herz gefährlich warm an. Schlimmer noch: Mehrere Gentlemen bemühen sich um Cecilys Gunst – was Jack mit glühender Eifersucht erfüllt. Er wusste es! Gefühle sind ein Machwerk des Teufels! Und doch ist er wehrlos …


  • Erscheinungstag 28.05.2024
  • Bandnummer 402
  • ISBN / Artikelnummer 0814240402
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

London, März 1819

„Angehörige unseres Standes heiraten nicht aus Liebe.“

Augustus Henry John Jack Beresford, Achter Earl of Hawkenden, stellte sein Weinglas ab und sah unmutig seinen jüngeren Bruder an, der ihm jedoch nicht antwortete. Er war empört und schockiert. Tom ist verheiratet und denkt, er sei „verliebt“? Herrgott, was für eine Bredouille!

„Sag mir, dass es nur ein Scherz ist, mit dem du mich zum Lachen bringen willst.“

Tom schüttelte den Kopf, und sein zaghaftes Lächeln verging. „Es ist wahr, ich bin wirklich frisch verheiratet. Aber ich habe dir geschrieben, um dich darüber zu informieren, Jack. Bisher habe ich es noch nicht öffentlich bekanntgegeben, weil ich sicherstellen wollte, dass du als Erster in London davon erfährst.“

Die beiden Männer hatten sich in Jacks Bibliothek zurückgezogen, wo sie in zusammen passenden Sesseln einander gegenübersaßen. Draußen wurde es bereits dunkel, und die Diener hatten die Fensterläden gegen die Kühle des frühen Vorfrühlings geschlossen. Tom hatte einen ungewöhnlich nervösen Eindruck gemacht, als er den angebotenen Wein annahm. Nun verstand Jack den Grund.

„Du weißt doch wohl, dass ich gerade erst aus Frankreich heimgekehrt bin“, sagte Jack geradeheraus. „Ich habe meine Post noch nicht geöffnet.“ Er umklammerte die Armlehnen seines Sessels. Allmählich wich seine Ungläubigkeit dem Ärger. „Wie konntest du heiraten, ohne es wenigstens vorher mit mir zu besprechen?“

Tom blickte ihn mit ärgerlich funkelnden Augen an. „Weil“, erwiderte er hochmütig, „ich von niemandem eine Erlaubnis brauche, um mich zu verheiraten. Unsere Eltern sind schon lange tot, und ich bin achtundzwanzig Jahre alt. Ich bin seit etlichen Jahren volljährig, Bruderherz.“

Jack blinzelte. Dies passte überhaupt nicht zu Tom, der ihn sonst in allen wichtigen Entscheidungen um Rat fragte. „Als Oberhaupt der Familie kann ich doch wohl erwarten …“

„Familienoberhaupt – meinst du das etwa ernst? Wir beide haben doch nach Papas Tod solchen Unsinn abgeschafft!“ Toms Gesicht war ein wenig gerötet, und er saß sehr gerade in seinem Sessel. „Du magst ja der Earl sein, aber wir wissen doch beide, dass Papa – das ehemalige Familienoberhaupt – dir deine Erbschaft in einem ziemlich zerrütteten Zustand hinterlassen hat. Menschen unseres Standes kümmern sich normalerweise auch nicht so aktiv um geschäftliche Angelegenheiten wie wir.“

„Das ist etwas anderes.“

„Warum? Inwiefern ist es anders?“

In diesem Augenblick fand Jack seltsamerweise einmal nicht die richtigen Worte. „Es ist nun mal so.“

„Pah!“ Toms abwertende Geste hätte zu einem Faustkampf geführt, als die Brüder zehn und acht Jahre alt waren. Jetzt war Jack dreißig und Tom achtundzwanzig, und so etwas wäre natürlich unangebracht. Trotzdem überlegte Jack wütend, wie befriedigend es doch wäre, Tom auf diese simple Weise zu überzeugen. Heroisch widerstand er diesem Impuls.

Warum sah sein Bruder nicht ein, wie wichtig dies war? Eine Heirat war die wichtigste Entscheidung im Leben eines Mannes. Eine lebenslange Verpflichtung mit Auswirkungen auf die ganze Familie. Warum hatte Tom das getan, ohne ihn wenigstens darüber zu informieren? Er schaute ihm ins Gesicht. „Also … wer ist sie?“

„Wer?“ Tom war sichtlich verärgert.

„Deine teure Gemahlin.“ Jack kräuselte die Lippen. „Und was noch wichtiger ist – wie viel kostet mich … uns … die eheliche Vereinbarung?“

Tom knirschte mit den Zähnen. „Du wirst respektvoll von Nell sprechen, oder wir reden überhaupt nicht über sie!“

„Also reden wir nicht über sie“, gab Jack zurück.

„Wie du willst.“ Schweigen. Die Uhr tickte, und das Feuer knisterte. Zwischen den Brüdern war die Luft voller unausgesprochener Worte.

Nach längerem Schweigen stand Tom auf, stellte sein Glas ab und zupfte die Manschetten zurecht. „Ich wünsche dir noch einen guten Tag, Bruder.“ Mit einer nur angedeuteten knappen Verbeugung drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Zimmer. Seine angespannte Haltung zeigte deutlich, wie ärgerlich er war.

Hinter ihm fiel die Tür hörbar ins Schloss. Für einen langen Moment starrte der Earl ihm nach, weil er kaum imstande war zu begreifen, was sich gerade abgespielt hatte. Er krallte sich an die Armlehne. Tom verheiratet? Niemals!

Jack konnte es kaum fassen. Er und Tom hatten sich immer nahegestanden – viel näher als viele ihrer Freunde mit ihren Familien. Zumindest hatte er es bisher angenommen.

Lady Cecily Thornhill saß in der Klemme. Nachdem sie sorgfältig abgezählt hatte, was von ihrem monatlichen Unterhalt noch übrig war, wusste sie, dass es nicht ausreichen würde. Sie stützte beide Ellbogen auf den schönen Mahagoni-Tisch und legte den Kopf in die Hände.

Herrje, wie sollen wir es diesmal schaffen?

Wieder einmal musste Cecily ihre eigenen knappen Geldmittel einsetzen, um die Konten ihrer Mama auszugleichen, aber das ließ ihre Börse fast leer zurück. Unter normalen Umständen – wenn sie beispielsweise in Ledbury House wären, wo sie geboren war – wäre sie zurechtgekommen, bis der Unterhalt für den nächsten Monat eintraf. Sie waren jedoch in London, und man erwartete von ihnen, dass sie Veranstaltungen und Bälle und Almack’s besuchten – selbstverständlich in angemessener Kleidung. Außerdem mussten sie die teure Hotelrechnung begleichen. All das kostete Geld, von dem sie momentan zu wenig hatten.

Sie hob den Kopf und wandte sich an ihre Mutter, die gerade Tee aus einer feinen Porzellantasse trank. „Mama, warum hast du dir diese neue Haube bestellt?“ Sie sprach mit leiser Stimme und versuchte sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen. Mama war gerade von einem Besuch bei einer ihrer Freundinnen zurückgekehrt und hatte sich in einen der satinbezogenen Sessel sinken lassen, wo sie mit hörbarer Erleichterung über ihre schmerzenden Füße klagte.

„Weil sie mir gefiel, natürlich! Herr, was für eine törichte Frage! Warum bestellt eine Lady wohl neue Kleider?“ Sie lachte über ihren eigenen Scherz und bemerkte offenbar erst eine Weile später, dass das Gesicht ihrer Tochter ernst geblieben war. Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Cecily, sage jetzt nicht, dass du sie schon bezahlt hast!“

„Natürlich habe ich das! Es war mir unglaublich peinlich, als die Hutmacherin Mrs. Newcomb heute vor mir stand und nach ihrem Geld fragte.“

„Oh, du meine Güte, Kind! Ich behaupte, du hast die Seele einer Bürgerin. Leute wie wir müssen unsere Rechnungen nicht pünktlich bezahlen, weil Leute wie Mrs. Newcomb wissen, was es heißt, jemanden wie Lady Fanny Thornhill, Dowager Countess of Kingswood, als Kundin zu haben. Das ist besser für ihr Geschäft als eine triviale Rechnung für eine Haube, die bei näherer Betrachtung nicht einmal so schön war, wie ich gedacht hatte.“

„Aber Mama, du kannst dir keine neue Haube leisten.“ Cecily sprach leise, aber mit Nachdruck. Diese spezielle Diskussion hatte sie noch nie gewonnen, aber sie weigerte sich, ihre Niederlage einzuräumen.

„Natürlich kann ich das! Seit acht Jahren – also seit dem Tag, an dem dein Vater starb – sagen mir die Leute bereits, dass ich mir Dinge nicht leisten könne und dass ich sparsam sein und mit meiner Unterstützung vernünftig umgehen solle. Trotzdem habe ich weiterhin genau so gelebt, wie ich es wollte. Und bisher ist keine dieser schrecklichen Vorhersagen eingetreten. Ich bin immer noch nicht bankrott.“

„Aber nur, weil andere dir ausgeholfen haben. Deine Freunde. Und Ash …“

„Ash hat uns aus unserem Haus gewiesen. Es ist ja wohl das Mindeste, dass er hin und wieder meine Rechnungen bezahlt.“

„Mama, bitte. Das ist nicht fair, und du weißt es. Als neuer Earl war Ash vollkommen berechtigt, in Ledbury House einzuziehen, wie dir bekannt ist. Er und Marianne haben deutlich ausgedrückt, dass wir dort jederzeit wohnen dürfen, wenn wir es wollen. Außerdem steht dir das Witwenhaus zur Verfügung.“

Marianne, die als Gouvernante der damals zwölfjährigen Cecily nach Ledbury House gekommen war, wurde wenig später Lady Kingswood. Sie und Ash hatten all die Jahre Cecily und ihrer Mutter immer wieder Zuflucht gewährt, wenn Lady Fannys finanzielle Schwierigkeiten zu drängend wurden.

Doch Lady Fanny verwarf dies mit einer Handbewegung. „Pah! Ich habe gar keine Lust, die Wildnis im langweiligen Bedfordshire zu besuchen. Viel lieber möchte ich hier in London bleiben, wo die neue Saison kurz vor der Tür steht.“

„Die Saison beginnt erst richtig in einem Monat. Wir hätten nicht so viel früher herkommen müssen. Und außerdem – wovon sollen wir das hier alles bezahlen?“ Cecily legte eine Hand auf die Stirn und wies mit der anderen auf die luxuriöse Suite, die sie gemietet hatten. „Wie viel wird es am Ende kosten, hier zu wohnen, in einem der teuersten Hotels in London? Wir sind erst seit einer Woche da, aber ich kann jetzt schon nachts nicht gut schlafen aus Sorge wegen der Kosten.“ Am liebsten hätte sie ihrer Mama noch mehr dazu gesagt, aber sie hielt mühsam die schroffen Worte zurück.

Ach, hätte ich doch die Freiheit, über unser Geld zu verfügen!

Im Laufe der Jahre hatte sie sich mit Ashs Unterstützung so viele Kenntnisse wie möglich über finanzielle Dinge angeeignet. Gelegentlich hatte sie sogar Ash Ratschläge in schwierigen geschäftlichen Angelegenheiten geben können. Sie wusste, dass sie ein Talent für solche Dinge besaß, obwohl es angesichts der verschwenderischen Gewohnheiten ihrer Mama keinen Unterschied machte.

Lady Fanny hielt den Kopf schräg. „Weißt du, Cecily, wenn ich mich nicht sehr genau an die Qualen erinnern würde, unter denen ich dich zur Welt brachte, würde ich mich fragen, ob du überhaupt mein Kind bist. Ich kann einfach nicht verstehen, warum du dich wegen solcher Trivialitäten so grämst.“

Fanny und Cecily sahen sich sehr ähnlich – beide waren blond und hatten rosige Wangen, obwohl Cecily bernsteinfarbene Augen hatte, während die Augen ihrer Mama blau waren. Darum war dazu kein Kommentar nötig. Sie widersprach jedoch der Erklärung ihrer Mutter zu ihren ständig gefährlich knappen Finanzen.

„Trivialitäten? Warum …“

„Genug.“ Lady Fannys Stimme ließ keine weiteren Argumente zu. „Gerade erst heute ist es mir gelungen, uns eine Einladung zu einer meiner Freundinnen zu besorgen.“

Cecilys verkrampfte Schultern senkten sich erleichtert. „Wer ist es?“

„Du solltest mehr Vertrauen zu mir haben, Kind. Am Ende finde ich immer einen Weg.“

„Bei wem werden wir diesmal wohnen?“

„Bei Beatrice – Mrs. Godwin. Anscheinend hat sie unsere Gesellschaft in der Weihnachtszeit so genossen, dass sie uns zu sich einladen möchte, während sie für sich nach einem Stadthaus sucht, um es zu kaufen. Sie hat ein entzückendes Haus in Piccadilly gemietet. Du musst wissen, dass sie eine großzügige Ausgleichszahlung erhielt, als Mr. Beresford ihre Stieftochter ehelichte. Die junge Nell und ihr Gatte sind ebenfalls hier in der Stadt.“

Cecily wusste davon. Ihre liebe Freundin Nell Godwin, Beatrices Stieftochter, hatte sich zu Weihnachten Hals über Kopf in Mr. Beresford verliebt. Zu Cecilys größter Überraschung hatten die beiden innerhalb weniger Wochen nach der ersten Begegnung geheiratet. Doch fühlte sich Cecily deswegen etwas unwohl, weil sie sich Sorgen machte, dass sich Nells Hast als Fehler herausstellen könnte. The Hon. Thomas Beresford war ein perfekter Gentleman, doch er hatte Nell bei mehr als einer Gelegenheit während der Weihnachtsfeierlichkeiten aus der Fassung gebracht. Vor lauter Kummer war Nell krank geworden, und nur die Versöhnung mit Mr. Beresford hatte sie wieder gesund gemacht. In Nells Briefen deutete sie an, dass sie und Tom nun wunschlos glücklich waren und ihre rasche Heirat nicht bereuten.

„Ab morgen wohnen wir in Mrs. Godwins Haus“, erklärte Lady Fanny. „Du wirst die Zofen beaufsichtigen, Cecily, und sicherstellen, dass alles gepackt und bereit ist für den Umzug.“

„Ja, Mama.“ Cecily war in Gedanken bereits bei den Umzugsvorbereitungen und stellte andere Erwägungen zunächst einmal zurück. „Ich schicke sofort nach ihnen.“ Sie versuchte nicht zu seufzen. Schon wieder ein Umzug. Ein weiteres vorübergehendes Heim. Doch waren ihre Geldsorgen dadurch geringer geworden. Zumindest vorläufig.

Jack atmete tief aus. Er erhob sich aus seinem Sessel, ging quer durch das Zimmer und goss sich ein großes Glas Wein ein. Immer noch war er sehr perplex wegen der unerwarteten und höchst unwillkommenen Nachricht seines Bruders. Als er nun die Briefe auf seinem Schreibtisch durchsah, fand er darunter zwei Briefe mit der Handschrift seines Bruders. Ohne sich wieder zu setzen, zerbrach er die Siegel und las beide.

Sie hieß also mit Nachnamen Godwin. Miss Eleanor Godwin aus Chiddingstone in Kent. Nell, so hatte Tom sie genannt. Im Geist sah er eine dralle Farmerstochter mit Grübchen und einer hübschen Schürze vor sich. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor, doch in diesem Moment fiel ihm nicht ein, woher. Miss Eleanor Godwin war jedenfalls keine der bekannten Erbinnen auf dem Heiratsmarkt. Deren Namen hatte er alle zumindest gehört, denn er beabsichtigte, irgendwann eine davon zu seiner Countess zu erwählen. Da er bald dreißig wurde, hatte er vor Kurzem beschlossen, in der kommenden Saison selbst nach einer passenden Ehefrau Ausschau zu halten.

Unfassbar, dass Tom geheiratet hatte – und nicht einmal aus finanziellen Gründen, wie es aussah. Es sei denn … konnte diese Godwin-Frau möglicherweise reich sein, ohne aus einer guten Familie zu kommen? Obwohl sie sich einig darüber waren, dass sie das Familienvermögen vergrößern mussten, wäre das beinahe noch schlimmer. Würde Tom wirklich ihrem Familiennamen so einen schlechten Dienst erweisen?

Also warum denn sonst? Warum hatte Tom das getan? Am schlimmsten wäre wohl die Möglichkeit, dass Tom nicht gescherzt hatte, als er sagte, er habe aus Liebe geheiratet. Liebe? Schon die bloße Vorstellung davon ergab keinen Sinn. Es war schlicht und einfach Wahnwitz, und Jack hatte seinen Bruder noch nie für einen Verrückten gehalten. Oder für einen Narren. Jack konnte es einfach nicht fassen. Tom bildete sich ein, verliebt zu sein? Wie die Dummköpfe, über die er sich selbst noch in den vergangenen Saisons bei Almack’s lustig gemacht hatte? Wie konnte sein Bruder diesem Wahnsinn zum Opfer fallen, nachdem er gesehen hatte, wie er andere befallen hatte? Unfassbar.

Tom wusste und verstand – wie Jack selbst – eigentlich sehr genau, dass so etwas wie Liebe nicht existierte. Ihre Mutter hatte sie vermutlich bis zu ihrem Tod geliebt, und Jack war bereit zuzugeben, dass sie vermutlich warme mütterliche Gefühle für ihre Söhne gehabt hatte. Er konnte sich allerdings nur sehr verschwommen an sie erinnern. Es waren Erinnerungen, die blass, aber positiv waren. Doch Jack konnte nicht wirklich ehrlich bezeugen, dass seine Mutter sie geliebt hatte, denn sie hatte sie in einem unverantwortlich jungen Alter verlassen, indem sie verstarb. Tief innerlich schmerzte es Jack immer noch, von seiner Mama so im Stich gelassen worden zu sein.

Papa hingegen hatte seinen Söhnen den Gefallen getan, erst vor relativ kurzer Zeit zu sterben. Genauer gesagt, in dem Jahr, als Jack volljährig wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Papa viele Jahre genießen können, in denen er seine beiden Söhne bestraft und ansonsten ignoriert hatte. Sosehr Jack die Schule auch gehasst hatte, fühlte sich für ihn der Beginn jedes Trimesters immer an wie ein Entrinnen von zu Hause. Zumindest gehörten in der Schule seine Peiniger nicht der Familie an.

Es war eine wahre Erleichterung, als sein Vater endlich den Anstand hatte zu sterben. Seine Kutsche kippte um, als er zu schnell um eine Kurve fuhr. Doch sehr bald wich die Erleichterung dem Schock über die von seinem Papa aufgehäuften Schulden. Jack und Tom schworen sich, das Familienvermögen wieder aufzubauen, und setzten dies um, indem sie sich der Welt des Handels zuwandten. Sie arbeiteten eng zusammen und hatten recht schnell ein bedeutendes Netzwerk an Unternehmen aufgebaut.

Nein, so etwas wie Liebe gab es nicht in der wirklichen Welt. Das wusste Tom ebenso gut wie Jack. Also warum diese jämmerliche Geschichte von der Hochzeit „aus Liebe“ mit irgendeinem Mädchen?

War Miss Godwin ein Mädel vom Lande, das nicht mehr vorzuweisen hatte als ein hübsches Gesicht und eine gute Figur? Wenn es so wäre, hätte Tom für sie normalerweise nicht mehr als ein vorübergehendes Interesse gezeigt. Solche Frauen gab es in London zu jeder Saison wie Sand am Meer. Auch in diesem Moment zerrten Mütter wahrscheinlich gerade ihre wenig versprechenden Töchter zu Schneiderinnen und Modistinnen, um sie vorteilhaft unter die Haube bringen zu können. Sie versuchten die Makel der Jungfern zu verschleiern, um in der Saison vielversprechende Bewerber unter Vorspiegelung falscher Tatsachen anzulocken. Seit er volljährig war, hatte Jack dies jedes Jahr aufs Neue beobachtet, und er fand es immer wieder erstaunlich, dass es eher unscheinbaren jungen Ladys manchmal gelang, einen Ehemann zu finden. Ein gewinnendes Lächeln und schlanke Fesseln genügten anscheinend, um bis dahin vernünftige Männer in Idioten zu verwandeln.

Er und Tom hatten oft darüber gelacht. Gelegentlich hatten sie sogar eine Wette über die eine oder andere „unvergleichliche“ Schönheit abgeschlossen, indem sie versuchten vorherzusagen, welcher verliebte Narr das Unglück haben würde, ihre Hand für sich zu gewinnen. Da er ein logisch denkender Mensch war, hatte Jack selbst keine Zeit für solchen Unsinn. Auch Tom hatte er für einen solchen Mann gehalten. Wie oft hatten sie darüber gesprochen. Sie hatten eine Art Pakt, ihre Energien darauf zu konzentrieren, das Familienvermögen wiederherzustellen, und waren sich einig gewesen, sich nicht von den Ladys davon abbringen zu lassen. Abgesehen natürlich von flüchtigen Affären, wie sie in der guten Gesellschaft gang und gäbe waren. Die Ehe konnte warten.

Doch hier war sein Bruder und teilte ihm mit allem Anschein von Aufrichtigkeit mit, dass er nicht nur geheiratet hatte, sondern auch noch aus Liebe. Es konnte nicht wahr sein. Also musste es einen anderen Grund geben, warum Tom so einen Unsinn von sich gegeben hatte.

Angewidert warf Jack die Briefe auf den Schreibtisch und lief mit großen Schritten auf und ab. Fünf Schritte. Wenden. Weitere fünf Schritte. Als Jack vor drei Monaten nach Frankreich aufgebrochen war, hatte Tom noch keinerlei Andeutung darüber fallen lassen. Welchen Grund konnte es also geben, dass er dieses Godwin-Mädchen geheiratet hatte? Und so schnell?

Im Geist sah er wieder vor sich, mit welch aufrichtiger Miene Tom erklärt hatte, in seine Ehefrau verliebt zu sein. Jack kräuselte die Stirn. Tom war nicht so unbedacht, alles wegzuwerfen aufgrund eines plötzlichen zärtlichen Gefühls. Es passte nicht zu seinem Charakter. Jack dachte weiter darüber nach und fuhr sich mit einer Hand durch die dichten dunklen Haare. Seines Wissens hatte sich Tom noch nie für „verliebt“ gehalten. Wie er selbst, war sein Bruder ein vernünftiger Mann, der keine Zeit für solchen Unsinn hatte. Es musste mehr dahinterstecken.

Er furchte die Stirn. Ob dieses Mädchen – diese Eleanor Godwin – wohl irgendetwas gegen seinen Bruder in der Hand hatte? Im Moment fiel ihm nichts ein, das seinen Bruder hätte veranlassen können, in solch unziemlicher Eile zu heiraten und es vor seinem einzigen Verwandten zu verheimlichen. Und dann solchen Unsinn von „Liebe“ zu faseln, um es zu rechtfertigen. Doch die Alternative – dass sein bis dato vernünftiger Bruder sich tatsächlich in dieses Mädchen verliebt hatte – wäre unerträglich.

Jack füllte sein Weinglas nach und nahm einen tiefen Schluck. Mit den Fingern auf dem Schreibtisch trommelnd starrte er ins Feuer, bis ihm plötzlich eine Erleuchtung kam. Vielleicht hatte Tom das junge Ding entehrt. Tom hatte, wie er selbst, genügend Liebesabenteuer gehabt, aber normalerweise beschränkte er sich auf Frauen, die verstanden, dass eine Ehe nicht in Frage kam. Ob Tom wohl so töricht gewesen war, einem Mädchen nachzulaufen, das er hätte meiden sollen? Er stöhnte bei dem Gedanken, dass Tom womöglich bei der Verführung einer willigen Frau ertappt und von dem erbosten Vater zusammen mit ihr vor den Altar gezerrt worden war. Wie man hörte, arbeitete in solchen Fällen oft die geschäftstüchtige junge Lady gemeinsam mit ihren habgierigen Eltern an der Ausführung eines solchen Planes.

Ach Tom, warum bist du nicht zu mir gekommen?

Die Antwort war klar. Es wäre Tom peinlich gewesen, in so eine Falle zu tappen, und aus Stolz hätte er sich nicht einmal seinem eigenen Bruder anvertraut. Außerdem war Jack außer Landes, und das für ungewöhnlich lange. Normalerweise waren Tom und Jack seit vielen Jahren unzertrennlich. Seit Tom zu Jack an die Herald’s Hall Boarding School gekommen war – oder Hell’s Hall, wie die Schüler es nannten.

In der Falle zu sitzen. Der Gedanke jagte Jack einen Schauer den Rücken hinunter. Wenn es so war, würde die verantwortliche Person – oder die Personen – dafür bezahlen. Er ballte unwillkürlich die Finger zur Faust. Als er es merkte, ermahnte er sich zur Vorsicht. Wenn diese Godwin-Familie tatsächlich erfolgreich den Hon. Thomas Beresford in die Falle gelockt hatte, musste sie sehr geschickt vorgegangen sein, denn Tom war kein Dummkopf. Normalerweise jedenfalls nicht.

Er versuchte sich zu erinnern, ob er Anzeichen von Nötigung an Tom festgestellt hatte, und es störte ihn, dass er keine entdecken konnte. Tom hatte sehr aufrichtig gewirkt. Noch einmal überlegte Jack, ob Tom sich womöglich wirklich für verliebt hielt, doch verwarf er den Gedanken gleich wieder. Er und Tom waren in diesen Dingen grundsätzlich einer Meinung. Also, welche logische Begründung auch immer hinter Toms hastiger Entscheidung stehen mochte, wollte er sie offenbar nicht mit seinem Bruder teilen.

Also gut. Wie sollte er nun mit der Situation umgehen? Er furchte wieder die Stirn. Eine Ehe war so etwas … Dauerhaftes. Wenn es nur ein Verlöbnis gewesen wäre, hätte Jack einen Weg finden können, das Mädchen zu einem Rückzieher zu überreden, auch wenn es ihn eine Stange Geld gekostet hätte. Selbst wenn die gierigen Godwins geplant hatten, ihn lebenslang zu melken, hätte er eine Möglichkeit finden können, die Verlobung so unerträglich zu machen, dass sie es sich anders überlegt hätten. Langfristig wäre ein bloßes Verlöbnis jedenfalls billiger gewesen. Aber Tom hatte sich eine Ehefrau aufgehalst!

Eine Ehe war, wie Jack wusste, eine geschäftliche Transaktion. Inbegriffen war der Transfer von Geld, Land und Besitz im Austausch für Sicherheit und eine gute gesellschaftliche Position. Jack selbst würde auch irgendwann heiraten müssen – ein wohlerzogenes Mädchen von untadeliger Abstammung und mit ansehnlicher Mitgift. Er war der vermögende Earl of Hawkenden, und sein Aussehen gefiel vielen Ladys. Daher wusste er, dass er in dem Moment, wenn er sich durchrang zu heiraten, die volle Auswahl zwischen allen langweiligen Jungfern der Saison haben würde. Die Grafschaft musste später an seinen Sohn übergehen, also würde er irgendwann einen Erben für das beträchtliche Vermögen brauchen, das er und Tom so gewissenhaft zusammengetragen hatten.

Toms unerwartete Neuigkeit könnte nun alles verändern. Jacks Miene wurde finster. Heiraten musste er … aber vielleicht doch noch nicht so bald. Falls er diese Saison damit verbringen musste, sich um Toms Schwierigkeiten zu kümmern, dann sei es drum. Er stellte fest, dass er sogar irgendwie erleichtert war. Vielleicht konnte er seine Brautwerbung noch um eine Saison verschieben, obwohl die Frage der Erbfolge ihn belastete.

Bisher hatte er nur mit willigen Witwen oder Kurtisanen getändelt. Die Jungfern bei Almack’s fand er fade und wenig reizvoll. Hmm … Jack wollte sich nicht vor seiner Verantwortung drücken, aber mit dreißig Jahren war er im richtigen Heiratsalter für einen Earl.

Er konnte ein bitteres Lachen nicht unterdrücken. Hier war er und versuchte den Gedanken an eine Heirat zu vermeiden, doch Tom war zum Altar gehastet, ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen. Es war ironisch. Als Earl musste er heiraten, doch Tom hätte überhaupt nicht zu heiraten brauchen.

Sollte Toms Ehe wirklich real und unveränderlich sein, würde ein Teil ihres sorgfältig verdienten Reichtums verschwendet werden müssen. Weggeworfen an ein unwürdiges junges Ding, das wahrscheinlich ein kleines Vermögen an Unterhalt kosten würde – ganz abgesehen von den nicht unbeträchtlichen Ausgaben für eventuelle Kinder.

Unnötige Kinder. Ein Neffe könnte natürlich Jacks Erbe sein, aber der Gedanke gefiel ihm nicht. Heiraten musste er nun mal, und er konnte verdammt gut seinen Erben selbst zeugen!

Während er seine ungeborenen Nichten und Neffen zur Hölle wünschte, dachte Jack über dieses Problem nach. Mit seinem schnellen Verstand versuchte er das Rätsel dieser unerwarteten Ereignisse zu lösen. Tom war zu einer Weihnachtsparty gereist – irgendwo in Kent, wie es Jack nun wieder einfiel. Vielleicht war es ja dort passiert …

Jacks dreimonatige Reise zu ihren zahlreichen Besitztümern und Geschäftsniederlassungen in Frankreich war erfolgreich gewesen, obwohl sie länger gedauert hatte als ursprünglich geplant. Er hatte ein ruhiges Weihnachtsfest in Paris verbracht und war froh gewesen, dass er weit weg war von allen störenden Gedanken daran, wie Weihnachten „sein sollte“. Für solchen Unsinn hatte er keine Zeit.

Merton, sein Bevollmächtigter, hatte sich um alle finanziellen Dinge in London gekümmert, aber nun mussten er und sein Bruder die Fäden wieder selbst in die Hand nehmen und einige wichtige Entscheidungen treffen. Toms Eheschließung und der Streit zwischen ihnen behinderten diese Pläne und erforderten eine Änderung von Jacks Prioritäten.

„Verdammt!“ Jack stellte sein Glas ab und läutete nach dem Kammerdiener. Er musste sich selbst ein Bild von seiner neuen Schwägerin machen. Da er und Tom so heftig aneinandergeraten waren, würde es allerdings schwieriger für ihn sein, seine unwillkommene Schwägerin kennenzulernen. Dennoch würde es ihm gelingen. Irgendwie.

2. KAPITEL

„Welch eine Freude, dich zu sehen!“ Nells Umarmung war genauso warm und herzlich wie immer, und Cecily sah entzückt, wie glücklich ihre Freundin war.

„Dich wollte ich zuerst besuchen“, sagte Nell. „Da du jetzt bei Beatrice wohnen wirst, wird alles für mich noch einfacher sein. Ich kann euch beide zur selben Zeit besuchen und werde es regelmäßig tun.“

„Ich bin froh, das zu hören!“ Cecily lächelte ihre Freundin an. „Wann seid ihr in der Stadt angekommen?“

„Vorgestern. Wir waren seither sehr beschäftigt, weil wir uns noch in unserem neues Haus einrichten. Wir haben es wie Beatrice gemacht und ein Haus für die Saison gemietet, aber irgendwann will Tom ein Stadthaus für uns kaufen. Wir wohnen jetzt in der Duke Street. Es ist ein wenig außerhalb, aber es gefällt uns sehr gut dort.“

Cecily schaute hinüber zu Mama und Beatrice. Mrs. Godwin läutete gerade nach der Zofe, die den Tee bringen sollte. „Ist es eigentlich befremdlich für dich, als Gast bei deiner Stiefmama zu sein? Ich meine, … statt nur einfach als ihre Stieftochter?“

Nell lachte. „Seit ich eine verheiratete Lady bin, habe ich viele neue Erfahrungen gemacht.“ Für einen Augenblick schaute sie ein wenig geheimnisvoll, dann lachte sie leise. „Einige davon sind ziemlich befremdlich.“

„Für mich siehst du genauso aus wie vorher“, erklärte Cecily. „Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte, du würdest nach der Hochzeit irgendwie anders aussehen.“

Nell lächelte. „Ich fühle mich anders, das ist wahr.“

Es blieb einen kleinen Moment still, und Cecily wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit ihrer Mama zusammenzuleben bedeutete, besser als die meisten jungen Ladys über das Treiben in den höchsten Kreisen Bescheid zu wissen, doch einige Geheimnisse der Ehe waren ihr immer noch unbekannt.

„Du trägst ein hübsches Kleid!“, sagte sie dann. „Hast du noch keine neuen Kleider, die besser zu deinem neuen Status als verheiratete Lady passen?“

Seufzend strich Nell ihr Musselin-Morgenkleid glatt. „Es ist richtig, dass ich als junge Ehefrau nun mehr Farben und Stile tragen darf – doch ich ziehe vorerst immer noch meine früheren Kleider an. Es ist eine der vielen Konsequenzen, dass ich so schnell geheiratet habe.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Doch nun bin ich in London und werde mir voller Vergnügen neue Kleider bestellen. Komm doch mit zu den Schneiderinnen!“

„Ich komme gern mit. Was für ein Abenteuer!“ Sie plauderten weiter und einigten sich am Ende darauf, sich am nächsten Tag zu treffen, um verschiedene Londoner Schneiderinnen aufzusuchen. Cecily würde natürlich nichts für sich kaufen. Mama hatte ihr einige Kleider gekauft, aber der größte Teil ihrer Garderobe war noch aus dem letzten Jahr. Sie war nicht neidisch auf Nell, die sich nun leisten konnte, nur das Beste von allem zu nehmen. Für sie selbst genügten die Kleider der vergangenen Saison vollkommen.

„Ich habe noch ein Abendkleid, das für den heutigen Abend passend ist, obwohl es wahrscheinlich das letzte Mal sein wird, dass ich es anziehen werde. Wenn ich Erwachsenenkleidung trage, bedeutet es auch, Abschied von einigen meiner liebsten Jungmädchenkleider zu nehmen. Wirst du auch heute Abend zu Lady Jerseys Soiree gehen, Cecily?“

„He? Was ist das?“ Mama mischte sich ein, denn ihr Gehör funktionierte noch immer ausgezeichnet, wenn über etwas für sie Wichtiges gesprochen wurde.

Nell öffnete den Mund, um zu antworten, aber ihre Stiefmutter unterbrach sie. „Lady Jersey hat einige Auserwählte in ihr Haus eingeladen zur ersten Soiree dieser Saison. Obwohl sie offiziell erst am Ende des Monats beginnt, ist in der Stadt schon erstaunlich viel los.“ Beatrice brüstete sich ein wenig und strich ihre hellen Haare glatt. „Ich werde natürlich teilnehmen, denn ich habe Einladungen für mich und meine Stieftochter besorgt, doch ich habe Lady Jersey noch nichts von Nells Heirat verraten.“ Sie kicherte. „Ich kann es kaum erwarten, allen zu erzählen, dass es ihr gelungen ist, den Bruder eines Earls einzufangen.“

Oh je.

Cecily ignorierte, wie stark Nell errötete nach dieser Entgleisung ihrer Stiefmutter, und konzentrierte sich auf dringendere Anliegen. Beatrice war eingeladen, aber sie nicht. Das würde ihrer Mama missfallen.

„Hmm“, überlegte Mama, „Ich glaube, ich muss heute Nachmittag Ihrer Ladyschaft einen Besuch abstatten.“

Cecily unterdrückte einen gequälten Gesichtsausdruck. Mama konnte bisweilen ziemlich … direkt sein.

„Ich hoffe sehr, dass ihr auch eingeladen werdet“, sagte Nell leise. „Mein Gemahl ist nämlich heute bereits verabredet mit einigen seiner eigenen Freunde, also werde ich nur mit Beatrice auf der Soiree sein.“ Sie zog die Mundwinkel ein wenig nach unten. „Jetzt, da wir in London sind, werden Tom und ich weniger Zeit miteinander verbringen als vorher, fürchte ich. Er muss sich um viele geschäftliche Dinge kümmern und darf seine Freunde nicht vernachlässigen. So wie ich auch!“ Sie lächelte. „Ich bin so froh, dass wir jetzt beide in London sind!“

Cecily nickte. „Ich kann es in London auch besser aushalten, wenn wir gleichzeitig hier sind.“ Sie umarmten sich spontan. Cecily wurde es warm ums Herz, weil sie wieder mit ihrer teuren Freundin zusammen sein konnte.

„Wohlan, Mädchen“, rief Beatrice von ihrer Couch aus. „Kommt zu uns herüber. Ich brauche euren Rat, was ich heute Abend anziehen soll.“

Die Freundinnen warfen sich einen kurzen Blick zu und gingen dann hinüber zu den älteren Ladys. Nun hatten sie keine Gelegenheit mehr, sich privat zu unterhalten. Nur wenig später brach Nell auf. Sie war mit ihrem Gemahl zum Tee verabredet, da sie sich den ganzen Abend nicht sehen konnten, und sie wollte sich nicht verspäten.

„Nun!“ Beatrice lächelte über das ganze Gesicht, nachdem ihre Stieftochter gegangen war. „Nell ist in bester Stimmung, finde ich. Und ich bin froh darüber.“

„Und warum sollte sie es nicht sein, mit so einem gut aussehenden jungen Gentleman als Gemahl?“ Cecilys Mama machte ein verständnisvolles Gesicht. „Ich hoffe sehr, dass er sie nachts gut unterhält.“

Beatrices Mama legte die Hand über den Mund und lachte. „Meine liebe Fanny, das ist wirklich anstößig!“

Mama grinste. „Ich weiß. Aber hast du diese Beresford-Jungen gesehen? Was für Schenkel! Welch ein Hinterteil!“ Sie seufzte. „Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre …“ Sie kicherten zusammen.

Cecily hielt den Kopf gesenkt, wie oft, wenn Mamas Gesprächsthemen ihr zu heiß waren, und gab vor, nicht zu verstehen. Obwohl die Bedeutung ihr natürlich klar war. Sie bezogen sich auf die ehelichen Aktivitäten von Nell und ihrem Ehemann. Hatte Nell das gemeint, als sie von ihren vielen neuen Erfahrungen sprach?

„Cecily!“, sagte Mama in scharfem Ton. „Du hängst schon wieder deinen Tagträumen nach, Kind. In einer Viertelstunde gehen wir zu Lady Jersey, darum solltest du dich bereit machen. Und denke daran – dein Benehmen und Aussehen werfen auch ein Licht auf mich. Also sieh zu, dass du mich nicht enttäuschst!“

Cecily unterdrückte einen Seufzer.

Werde ich denn nie eine eigenständige Person sein?

„Ja, Mama.“

Jack überließ sich der Fürsorge seines Kammerdieners, aber es fühlte sich für ihn an wie die längste halbe Stunde seines Lebens. Als der Mann ihm endlich in seine schlichte, aber elegante schwarze Abendjacke half, seufzte er erleichtert. Diese war neu, für diese Saison bestellt, aber leider unbequem eng. Mit einer innerlichen Verwünschung seines abwesenden Schneiders entließ Jack den Diener. „Du kannst gehen.“

Sobald der Mann fort war, trat Jack an den Seitentisch in seinem geräumigen Schlafzimmer und nahm erneut Toms Briefe zur Hand. Er hatte sie nach oben mitgenommen, als er die Bibliothek verließ, denn er wusste, dass er sie immer wieder lesen würde, um nach Hinweisen auf Toms Gemütszustand zu suchen. Er nahm rasch den ersten Brief und faltete ihn auf. Darin schrieb Tom von seiner Heirat, und Jack wollte noch einmal das Datum nachprüfen.

Was er las, verursachte eiskaltes Entsetzen in ihm. Sie hatten Ende Januar geheiratet, doch seines Wissens hatte Tom das Mädchen erst an Weihnachten in Kent kennengelernt. Er hatte dieses Geschöpf geheiratet, nachdem er es erst einen Monat kannte. Einen einzigen Monat? Er furchte die Stirn. Das war nicht lange genug, um sie zu schwängern und es ihrer Familie bekanntzugeben.

Er verließ das Schlafzimmer und ging den Flur entlang, dann die kunstvoll verzierte Treppe hinab. Mit den Blicken streifte er die riesigen Gemälde an den Wänden. Unten im Foyer wartete sein Diener, und Jack zog wortlos Mantel, Hut und Stiefel an. Draußen wartete bereits die Kutsche.

„Wohin geht es heute Abend, Sir?“ Der Kutscher hielt ihm den Wagenschlag auf. Er trug einen breiten Mantel mit mehreren Kragen und dazu einen passenden Hut. Er war angemessen gekleidet, wie es dem Status des Earls gebührte.

Jack kletterte in den Wagen und setzte sich auf den mit Seidendamast bezogenen Sitz, bevor er antwortete. „Zuerst in meinen Club, später zu Lady Jersey.“

3. KAPITEL

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden folgte Cecily ihrer Mama aus dem Wagen, und sie stiegen die flachen Stufen hinauf in Lady Jerseys gut eingerichtetes Haus am Berkeley Square. Sie und Mama hatten ihr einen Nachmittagsbesuch abgestattet und waren mit großzügigen Einladungen zu der Party am Abend wieder gegangen. Cecily musste zugeben, dass der Charme ihrer Mutter seine Wirkung noch nicht verloren hatte. Lady Fanny wurde überall empfangen und wusste genau, wie man mit den einflussreichsten Mitgliedern der guten Gesellschaft freundschaftlich umgeht.

Als sie, in der Kutsche sitzend, über das Straßenpflaster rumpelten, glänzte das Licht der untergehenden Sonne auf den gescheckten Stämmen der Platanen in den schönen Gärten. Die Bäume trieben bereits aus, und die knorrigen Äste trugen grüne Sprosse. Wie Zeichen der Hoffnung.

Es wird Frühling, dachte Cecily. Die Zeit für frisches Grün und einen neuen Anfang. Sie freute sich auf einen schönen Abend in Nells Gesellschaft.

Eine Stunde später war Cecily zufrieden. Die Gäste und Bewirtung waren gut, es gab ausreichend Ratafia-Likör und Wein. Nell und Cecily genossen beide das Zusammentreffen mit den Mitgliedern der High Society, die vorzeitig nach London zurückgekehrt waren, bevor die Saison begonnen hatte.

Sie hätte es zwar niemals zugegeben, aber insgeheim war Cecily ganz froh, dass Mr. Beresford heute Abend in seinem Club war, denn so hatte sie die Möglichkeit, eine sehr angenehme Zeit nur mit Nell zu verbringen.

Es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass Nell verheiratet war. Dafür war sie dankbar, denn sie hielt sich lieber unauffällig bei den Debütantinnen auf. Mr. Beresford wollte seinen Bruder selbst von der Heirat unterrichten, und vorher würde es noch keine Ankündigung in London geben. Selbst Mrs. Godwin war einverstanden gewesen, noch nichts verlauten zu lassen. Zumindest vorläufig.

Cecily und Nell wurden im Alter von zwanzig und neunzehn Jahren als beinahe unvermittelbar auf dem Heiratsmarkt angesehen – als junge Ladys, die sich in ihren beiden früheren Saisons noch keinen Ehemann hatten angeln können. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass Nells Papa gestorben war – zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, wie man sagen musste – als Nell gerade siebzehn geworden war und so ihre Einführung in die Gesellschaft verpasste.

Von der kommenden Woche an würde Nell ein elegantes Kleid tragen, und an Abenden wie diesem außerdem noch eine Seidenkappe, die sie als verheiratete Frau auswies. Doch im Moment würde die versammelte Menge in Lady Jerseys eleganten Räumen noch davon ausgehen, dass sie beide nicht verheiratet waren.

Heute Abend trug Cecily ein Abendkleid aus blassblauem Krepp, reich verziert mit Bändern und Stickereien, und darüber ein Übergewand aus himmelblauer Gaze. Sie hatte die blonden Haare hochgesteckt, an beiden Seiten umrahmten Ringellocken ihr Gesicht. Ihre Abendhandschuhe, die flachen Satinschuhe, Seidenstrümpfe und der zierliche Fächer waren nichts Außergewöhnliches. Die anderen Gäste konnten weder sehen noch ahnen, dass sie die Strümpfe für gerade einmal fünf Shilling an einem Stand auf dem Wohltätigkeitsbasar erstanden hatte und dass die Satinschuhe aus der vorigen Saison lediglich umgefärbt und neu besohlt worden waren. Das Kleid war neu, da Mama darauf bestanden hatte, dass Cecily mindestens drei neue Abendkleider haben musste. Trotz ihrer finanziellen Sorgen war Cecily erfreut über ihren neuen Staat.

Auch Nell sah ganz entzückend in ihrem blassgrünen Kleid aus, das wunderbar mit ihren rotbraunen Haaren, der blassen Haut und den braunen Augen harmonierte. Zusammen hatten die beiden Ladys viel Interesse und Aufmerksamkeit bei den Gentlemen erweckt, obwohl sie, wie Cecily ironisch dachte, bereits solch ein fortgeschrittenes Alter erreicht hatten. Sie bekamen bewundernde Komplimente von nicht weniger als vier Gentlemen. Zwei davon waren bekannte Wüstlinge und die anderen beiden verheiratet.

Cecily wunderte sich nicht mehr darüber. Ihre eigene Mama genoss ihre Freiheiten als Witwe, die über die Jahre zu zahlreichen Affären geführt hatten – hauptsächlich mit Männern, die selbst verheiratet waren. Anfangs war die junge Cecily schockiert gewesen über die lässige Art, wie viele Gentlemen der Gesellschaft ihre Eheschwüre missachteten. Doch bald hatte sie gelernt, es zu ignorieren. Wie es aussah, drückte man in der Gesellschaft ein Auge zu, solange die Paare sich diskret verhielten.

Abgesehen von Ash und Marianne kannte Cecily keine verheirateten Paare in der Society, die das Glück einer lang andauernden und liebevollen Ehe genossen. Wenn erst ein Erbe geboren war, lebten die meisten Ehepartner getrennt ihr eigenes Leben weiter. In der Öffentlichkeit hielten sie eine respektable Fassade aufrecht, doch Affären waren weit verbreitet. Nell und Toms Ehe war auch eine Liebesheirat, doch Cecily hatte begriffen, wie selten das war. Es war einer der Gründe, warum sie selbst bisher noch keinen Heiratsantrag angenommen hatte.

Cecily sah sich aufmerksam im Raum um. Wie sie wusste, gab es verschiedene Kategorien unter den Männern der Gesellschaft, die alle heute Abend hier in Lady Jerseys eleganter Villa repräsentiert waren. Es gab Männer, die anscheinend überhaupt kein Interesse an Frauen zeigten und ihre Zeit lieber in der Gesellschaft anderer Männer verbrachten. Viele von ihnen gaben sich dem Sport hin – meist Fechten und Boxen, aber auch dem Glücksspiel- und tranken Alkohol bis zum Umfallen. Von anderen munkelte man – schockierenderweise –, dass sie Affären mit anderen Männern bevorzugten.

Diejenigen Männer, die sich für Frauen interessierten, hatten in der Regel auch zahlreiche Nachteile. Da waren die Verheirateten, die ewig auf der Suche nach einer neuen Witwe oder verheirateten Frau waren, mit der sie anbandeln konnten. Einige von ihnen mochten es, junge Frauen lüstern anzugaffen oder auf eine Weise zu berühren, die unangenehme Gefühle bei den Betroffenen hervorriefen. Mittlerweise war Cecily ziemlich geschickt darin, Situationen aus dem Weg zu gehen, wo sie solch unerwünschten Avancen ausgesetzt war.

Sie blickte weiter umher und suchte nun nach Beispielen für eine weitere Gruppe. Die unverheirateten Gentlemen.

Diese, dachte Cecily, fallen wiederum unter zwei Kategorien.

Zur ersten gehörten Männer auf der Jagd nach einer Ehefrau. Diese Exemplare waren allgemein gut zu erkennen an ihrem fortgeschrittenen Alter, der meist korpulenten Figur und dem draufgängerischen Lächeln. Es gab vielleicht eine oder zwei Ausnahmen – Mr. Harting zum Beispiel oder Mr. Gillespie –, aber ganz allgemein erkannte Cecily diese heiratswilligen Gentlemen an der Abneigung, die sie in ihr hervorriefen.

Und dann gab es noch die zweite Kategorie von Junggesellen, nämlich die Männer, die um jeden Preis einer Heirat aus dem Weg gehen wollten. Diese waren im Allgemeinen eher jünger, oft gut aussehend und sehr häufig betrunken. Sie wollten sich nicht mit Debütantinnen einlassen, es sei denn auf eine sehr oberflächliche Weise. Sie flirteten und machten Komplimente, doch Cecily wusste instinktiv, dass nichts von Bedeutung dahintersteckte.

Mit kaum zwanzig Jahren verstand Cecily sehr gut, wie alles ablief. Sie war sich bewusst, dass ihre Gedanken das Ergebnis von Erfahrungen waren, die sie älter machten, als sie wirklich war. Manchmal fühlte sie sich wahrlich uralt.

Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Nein, ich denke nur vernünftig und unsentimental.

Sie sah die Welt, wie sie war. Und sie wusste, dass ihre eigene Chance auf eine glückliche Eheschließung zwar möglich, aber nur sehr gering war.

Ein plötzlich lauter werdendes Gemurmel weiblicher Stimmen holte Cecily aus ihren Gedankengängen. Gleichzeitig hörte sie Nell neben sich tief einatmen. Aller Augen waren auf die Tür gerichtet, wo gerade ein neuer Ankömmling angekündigt worden war.

Dann stand er im Raum, einen Kopf größer als die meisten anderen. Er hatte eine muskulöse Figur, schlank und eindrucksvoll, und ein sehr attraktives Gesicht. Zumindest wäre es so, dachte Cecily, wenn ein wenig Freundlichkeit darin zu erkennen wäre. Er trug die für einen Anlass wie diesen erforderliche Abendkleidung, doch hatte er ein schwarzes Jackett gewählt, das ihn etwas finster aussehen ließ. Es war perfekt an seine Figur angepasst und lenkte den Blick auf seine breiten Schultern, den nach unten hin schmaler werdenden Rücken und die ebenmäßigen Hüften.

Ich wette, er braucht zwei Diener, um ihm das anzuziehen. Und die Männer unterstellen uns Frauen Eitelkeit!

Überall im Raum saßen die Ladys ein wenig gerader, lächelten ein wenig breiter und schwatzten ein wenig lauter als zuvor. Cecily seufzte. Manchmal könnte sie an ihren Geschlechtsgenossinnen verzweifeln.

Der Mann blieb mit teilnahmsloser Miene stehen, als habe er die Reaktionen auf seine Ankunft nicht bemerkt. Lady Jersey eilte zu ihm, um ihn zu begrüßen, drückte einen Kuss auf seine Wange und zog ihn tiefer in den Raum hinein.

Läuft da etwas zwischen ihnen? Cecily versuchte sich an die neuesten Gerüchte zu erinnern.

Aber nein, die Gerüchte besagten, dass Lady Jersey derzeit etwas mit Viscount Palmerston hatte, direkt unter der Nase ihres Mannes. Doch die Lady war einigermaßen diskret und außerdem ein anerkanntes und führendes Mitglied der Gesellschaft. Sie brauchte keine Konsequenzen zu befürchten.

Die Ankündigung des Dieners drang nun in ihr Bewusstsein vor. „Lord Hawkenden!“, wiederholte Nell. „Toms Bruder. Meine Güte, wie ähnlich die beiden sich sehen!“

„So ist es!“ Cecily hatte den Earl bereits früher bei etlichen Anlässen gesehen und sogar mehrmals mit ihm gesprochen seit ihrem Debüt. Vor zwei Jahren waren sie einander vorgestellt worden, doch sie war sicher, dass er sich nicht daran erinnerte. Man sprach von ihm als einem reichen Mann, und angeblich wurde er nur lebhaft, wenn er mit seinen Freunden und Bekannten über geschäftliche Angelegenheiten sprechen konnte. Eine Debütantin wie Lady Cecily wäre ganz einfach nicht von Nutzen für ihn. Cecily, die beobachtete und nachdachte und Menschen wirklich sah, wusste dies, ohne viel zu überlegen.

Während ihrer beiden kurzen Gespräche mit ihm war Lord Hawkendens Blick durch sie hindurch gegangen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Sie schauderte. Er hatte einen seelenlosen Eindruck auf sie gemacht, irgendwie leer. Sie erinnerte sich, dass sie ihn in Gedanken anschließend den leeren Earl genannt hatte. Er war jedes Mal nach der kürzest möglichen Unterhaltung weitergegangen.

Mama hatte lange sein schönes Gesicht mit den dunklen Augen und den starken Konturen bewundert. Doch sie gab den Gedanken an ihn als möglichen Liebhaber irgendwann auf, weil er zu jung für sie war. Andererseits, erinnerte sich Cecily trocken, hatte Lord Hawkenden auch nie das geringste Interesse gezeigt, mit Lady Fanny zu flirten. Dafür war Cecily zutiefst dankbar. Der Gedanke, ihre Mama würde mit dem leeren Earl ins Bett gehen, drehte ihr den Magen um. Normalerweise war es ihr egal, wen ihre Mama sich als Liebhaber nahm, und sie maßte sich keine Meinung darüber an. Aber es war etwas an Lord Hawkenden …

Als vor wenigen Monaten Mr. Beresford, der jüngere Bruder des Earls, auf Beatrices weihnachtlicher Hausparty eintraf, vermied Cecily aus Vorsicht jeden Kontakt mit ihm. Aus sicherer Distanz erschien er ihr zwar einnehmender als der Earl, doch sie behielt ihre kühle Reserviertheit trotzdem bei. Das hatte gewöhnlich die richtige Wirkung, wenn sie Freundschaften oder unerwünschte Aufmerksamkeit von sich ablenken wollte. Doch als er sich in Nell verliebte, sah sie eine wärmere Seite an Tom zum Vorschein kommen. Nachdenklich schaute sie nun den Earl an. Ob er wohl auch ein Herz hatte unter seinem kalten Äußeren?

Cecily schüttelte sich. Sie waren vom gleichen Schlag, die beiden Beresford-Brüder. Ähnlich im Aussehen und in ihren Meinungen. Ihnen eilte der Ruf voran, nur an die Anhäufung von Geld zu denken. Keiner der beiden hatte sich jemals ernsthaft mit einer Lady befasst – bis Tom sich in Nell verliebte. Sein Bruder hatte jedoch solche positiven Seiten bisher noch nicht gezeigt.

Ihre skeptische Haltung zu Lord Hawkenden wich von der allgemeinen Meinung der Gesellschaft ab, das wusste sie. Der Earl war überall willkommen. Die Männer bewunderten seine geschäftliche Durchsetzungskraft, die Frauen seine breite Brust, die dunklen Augen und schönen Zähne.

Können sie es denn nicht sehen? Das hatte sie sich oft schon gefragt. Oder ist es den Menschen einfach gleichgültig? Wahrscheinlich Letzteres, erkannte sie. Bälle und gesellschaftliche Ereignisse wurden allgemein nicht als Gelegenheiten angesehen, hinter die Fassaden der Leute zu schauen und ihren wahren Charakter zu ergründen.

Nell war inzwischen ziemlich nervös geworden. Es war ihr nicht zu verdenken. „Hast du schon früher Lord Hawkendens Bekanntschaft gemacht?“, fragte Cecily. 

Ihre Freundin schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte aber auch Tom noch nie getroffen, bevor er an Weihnachten zu uns kam.“

Cecily furchte die Stirn. „Ein Jammer, dass du den Earl nicht früher kennengelernt hast. Es ist nicht richtig, seinen Schwager zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit zu sehen.“

„Er ist gerade erst aus Frankreich heimgekehrt. Tom wollte vorhin zu ihm gehen …“ Nell schaute Cecily direkt an. „… aber ich glaube nicht, dass dem Earl unsere Heirat willkommen ist.“

„Warum denkst du das?“

„Etwas hat vorhin Tom beunruhigt. Er wollte mir nicht sagen, was sich zwischen ihm und seinem Bruder abgespielt hat, sondern sagte nur, dass am Ende gewiss alles gut wird. Und dass wir noch eine Weile warten müssen, bevor wir etwas verkünden.“

Oh je.

„Ach so. Nun, Mrs. Beresford, du kannst nichts anderes tun, als deine Rolle zu spielen.“

„Du hast recht.“ Nells Mut wurde anscheinend verstärkt durch die Erwähnung ihres neuen Namens. Sie hob den Kopf.

Eine halbe Stunde lang warteten beide darauf, dass er zu ihnen kam, aber das tat er nicht.

Autor

Catherine Tinley
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