Julia Ärzte Spezial Band 25

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DSCHUNGELNÄCHTE DER LIEBE von DIANNE DRAKE

Rührend kümmert Solaina sich um den Arzt David, der bei einem Überfall schwer verletzt wurde. In schwülwarmen Dschungelnächten kommen sie sich gefährlich nah. Aber noch zögert David, ihr seine Liebe zu gestehen. Erst muss er herausfinden, wer ihm nach dem Leben trachtet …

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  • Erscheinungstag 26.10.2024
  • Bandnummer 25
  • ISBN / Artikelnummer 8203240025
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Dianne Drake

1. KAPITEL

Es war Nacht. Was war passiert? David Gentry stützte sich mühsam auf einem Ellbogen auf und versuchte, mit der anderen Hand die Moskitos zu verscheuchen, die in einer Wolke sein Gesicht umschwirrten. Die Moskitos hatten ihn schon seit Stunden, vielleicht seit Tagen gestochen und sein Blut gesaugt – er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange er hier schon im Dschungel lag.

Es fiel ihm unendlich schwer, seine Gedanken zu ordnen. Im Augenblick erinnerte er sich an seinen Namen, sonst nichts.

David kam stöhnend auf die Knie und versuchte, sich hochzustemmen, ließ sich aber sofort wieder erschöpft zurücksinken. Ein Erinnerungsfetzen tauchte auf: heftige Tritte und das Knacken brechender Knochen. Vorsichtig tastete er seine schmerzende Brust ab. Zwei oder drei Rippen schienen gebrochen, vielleicht noch mehr. Die ganze Brustseite von der Schulter bis zur Hüfte tat höllisch weh.

Erneut wollte er aufstehen. Leichter gesagt als getan. Der Schmerz in seiner Schulter war fast unerträglich. Er drehte mühsam den Kopf und entdeckte die verkrustete Schusswunde.

Er musste auf die Beine kommen! Oder er lief Gefahr, hier liegen zu bleiben und zu sterben. Mit äußerster Willensanstrengung richtete er sich auf, ganz vorsichtig, um zu vermeiden, dass eine der gebrochenen Rippen sich in die Lunge bohrte. Das würde innerhalb kurzer Zeit sein Ende bedeuten.

Mit aller Macht kämpfte er gegen den Wunsch an, sich einfach auf den weichen, feuchten Urwaldboden sinken zu lassen.

Eine Stunde schlafen – nur eine Stunde …

Vor Müdigkeit und Erschöpfung fielen ihm die Augen zu. Nur der brennende Durst hielt ihn wach. Sein Geist begann, sich zu verwirren. Er langte nach der Wasserflasche, die normalerweise immer neben seinem Bett stand. Aber seine Hand schloss sich nur um einen Haufen feuchter Blätter.

David riss erschrocken die Augen auf. Aus dem Unterbewusstsein meldete sich eine warnende Stimme, dass Schlafen den sicheren Tod bedeutete. Man brauchte nicht selbst Arzt zu sein wie David, um zu begreifen, dass er zu schwach, zu ausgetrocknet, zu schwer verletzt war, um eine weitere Nacht zu überstehen.

Die Diagnose hätte jeder Medizinstudent stellen können. Er, David, aber war sechsunddreißig und hatte bereits eine Menge erlebt. Vor sechzehn Jahren hatte er begonnen, Medizin zu studieren. Seine Gedanken gingen zurück, aber dann trübte sich sein Geist erneut.

Als er zu den Palmen und hohen Bambusstauden aufschaute, meinte er, zu Hause in Toronto zu sein und die hohen Bäume im Garten seines Elternhauses vor sich zu haben.

Irgendetwas raschelte in dem Busch neben ihm. Alarmiert warf David einen Blick hinüber. Ihm war, als sähe er ein paar Augen funkeln. Was war das? Eine Schlange?

„Reiß dich zusammen, Davey“, redete er sich gut zu. Er legte den linken Arm schützend über seinen Brustkorb, obwohl der Schmerz in der verletzten Schulter ihn laut aufstöhnen ließ. Mit dem anderen Arm versuchte er, sich hochzustemmen. Nirgendwo gab es einen Ast oder einen Baumstamm, an dem er sich hätte festhalten können.

David wollte nicht sterben, nicht hier und nicht auf diese Weise. Er erinnerte sich, dass er trotz seiner Verletzungen bereits viele Meilen zurückgelegt hatte, um Hilfe zu finden.

Verdammt, dachte er, ich muss zu einem dieser Rhododendronbüsche hinüber. Der hatte tiefe Wurzeln und würde stark genug sein, um sich daran hochzuziehen. Aber selbst wenn er es schaffte, sich aufzurichten, würde er in der Lage sein, sich auf den Beinen zu halten und weiterzumarschieren?

David schaute sich um, um die glühenden Augen zu orten. Affen waren eher harmlos, auch die Wildrinder. Anders sah es schon aus mit Wildhunden oder Tigern, die es hier immer noch gab. Oder mit den Fledermäusen. Die Fledermäuse in Dharavaj waren riesig.

Er war doch in Dharavaj und nicht in Kambodscha, oder?

„Ich brauche Wasser“, krächzte er heiser. „Und Antibiotika. Ich muss weiter.“ Aber es würde an ein Wunder grenzen, wenn er es bis zu seiner kleinen Urwaldklinik in Kantha schaffte.

Er könnte sich natürlich auch ausruhen und es am Morgen noch einmal versuchen. Ja, genau! Er brauchte erst einmal Ruhe.

Erschöpft ließ er sich auf das feuchte Moos zurücksinken und schloss die Augen. „Nur ein paar Stunden“, stöhnte er. Im Halbschlaf quälte ihn ein erschreckend realistischer Traum. Er befand sich im Operationssaal seiner Klinik. Vor ihm auf dem OP-Tisch lag ein mit einem Laken zugedeckter Patient. David hob das Laken an und warf einen Blick auf das Gesicht des Mannes.

„Nein!“ Einen Entsetzensschrei auf den Lippen, fuhr David hoch. Der Mann auf dem OP-Tisch, das war er selbst gewesen.

Mit einem Schlag war Davids Müdigkeit verschwunden. Trotz der Schmerzen robbte er zum nächsten Busch hinüber und griff nach einem Ast. Er holte tief Luft und zwang sich, alle Kraft darauf zu konzentrieren, sich festzuhalten. Dann zog er sich mühsam hoch, wobei er einen lauten Schmerzensschrei ausstieß.

Endlich stand er aufrecht. „Gut“, murmelte er. Und was jetzt? Er machte einen, dann einen zweiten unsicheren Schritt und geriet ins Straucheln. Stöhnend ließ er sich gegen den Stamm des nächsten Baumes fallen und schlang Halt suchend die Arme darum – als handelte es sich um die hübsche Frau, der er vor längerer Zeit begegnet war und die er nicht vergessen konnte.

Er hatte sie nur einmal gesehen. Sie war ihm unglaublich begehrenswert erschienen mit ihren langen schwarzen Haaren und den großen, dunklen Augen. Einen Moment dachte er jetzt tatsächlich, er hielte sie im Arm. Dann wurde sein Bewusstsein wieder klarer.

„Okay“, sagte er laut, „dann wollen wir mal sehen, wie ich weiterkomme.“ Er ließ den Stamm los und wankte ein paar Schritte vorwärts. Weder wusste er, wo er war, noch, welche Richtung er in der Dunkelheit nehmen sollte. Er wollte nur weg von hier.

Es war spät geworden. Solaina fuhr normalerweise nicht gern in der Dunkelheit die unübersichtliche Straße entlang. Sie nahm diese Strecke regelmäßig an fast jedem Wochenende, von ihrem kleinen Apartment in Chandella zu dem hübschen Strandhaus, das sie weiter südlich, ganz in der Nähe des Nationalparks, gemietet hatte. Weißer Sand, tiefblaues Wasser – davon träumte sie die ganze Woche während der Arbeit. Heute hatte das Abschlussmeeting länger gedauert als sonst, und so hatte sie sich ziemlich verspätet.

Wenn es hell war und die Sonne schien, genoss Solaina Léandre die Fahrt jedes Mal und erfreute sich am Anblick der vielen bunten Sonnenschirme der Leute, die den Strand bevölkerten – fast ausschließlich Stadtbewohner, die jeden freien Tag nutzten, um den stickigen Städten zu entfliehen. Es war keine Touristengegend. Und Solaina war dankbar, dass die Reiseunternehmen diese Region noch nicht erschlossen hatten. Die Gegend war nur dünn besiedelt und bot zu wenig Abwechslung für Touristen.

Manchmal hielt Solaina an, um den Leuten zuzuschauen, die im Meer badeten oder sich in Gruppen um ihre Grillfeuer scharten. Heute aber war in der Dunkelheit gar nichts zu sehen.

Sie war müde. Um sich wach zu halten, schob sie eine CD mit klassischer Musik in den Player. „Halt die Augen auf“, ermahnte sie sich laut. „Schau auf die Straße.“

Solaina freute sich auf ihr kleines Strandhaus und die Klimaanlage, die sie von der drückenden, schwülen Hitze erlösen würde, die auch in diesen späten Abendstunden noch herrschte.

Sie dachte an die Diskussion, die sie kürzlich mit ihrer Zwillingsschwester Solange geführt hatte. „Ich wüsste gern, was dich besonders an einem Mann interessiert“, hatte ihre Schwester gesagt.

Gute Frage. Darüber hatte Solaina noch nicht nachgedacht. Mal ein Flirt hier, mal eine Verabredung da – nichts Ernsthaftes. Meistens blieb es bei einem einzigen Treffen – eine Art Selbstschutzmaßnahme. Das würde sie davor bewahren, so zu enden wie ihre Mutter. Sie schauderte bei dem Gedanken. „Na ja, gut aussehen sollte er schon“, murmelte sie vor sich hin. Vielleicht ein Skandinavier? Blond, mit blauen Augen, eisblauen Augen? Ja, groß sollte er sein, mit breiten Schultern, und sportlich. Während Solaina sich in Gedanken ihren Traummann ausmalte, hatte sie einen Augenblick lang nicht auf die Straße geachtet.

Plötzlich erregte eine Bewegung am Straßenrand ihre Aufmerksamkeit. Als der Schatten im Licht ihres Scheinwerfers auftauchte, war es zu spät, um zu reagieren. Ein dumpfer Schlag ertönte, als irgendetwas ihren vorderen linken Kotflügel traf. Erschrocken brachte sie den Wagen mit einer Notbremsung zum Stehen. O nein, hatte sie womöglich ein Tier überfahren? Wahrscheinlich – die Gegend war praktisch unbewohnt, die Ureinwohner lebten in ihren Dörfern weit im Landesinneren und waren so spät nicht mehr unterwegs.

Sollte sie riskieren auszusteigen? Sie schaute in den Rückspiegel, sah aber nichts als Dunkelheit. Kurz entschlossen kurbelte sie die Seitenscheibe hinunter und warf einen Blick zurück. „Ist da jemand?“, rief sie in die Schwärze der Nacht.

Keine Antwort.

„Ist da jemand?“, wiederholte sie, jetzt mit mehr Nachdruck.

Nichts. Solaina schloss das Fenster wieder und fuhr los. Doch nach ein paar Metern hielt sie erneut an, öffnete seufzend die Tür und stieg aus. Sie brachte es nicht fertig, einfach wegzufahren. Was auch immer gegen ihren Wagen geprallt war, sie musste nachschauen, ob sie helfen konnte.

„Hallo“, rief sie in die finstere Nacht, „ist da jemand?“

Sie wartete ein paar Sekunden und lauschte. Nicht weit entfernt war ein Geräusch zu hören. Klang das nicht wie ein Stöhnen?

„Hallo.“ Diesmal war ihre Stimme nicht mehr als ein Flüstern. Sie hatte plötzlich nicht mehr den Mut, laut zu rufen.

„Hallo …“, erklang ein heiseres Krächzen.

Solaina machte einige zaghafte Schritte in die Richtung, wo sie das Flüstern ortete. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals. „Sind Sie verwundet?“ Und war es klug, hier mitten in der Nacht auf einer einsamen Straße auf eigene Faust zu helfen zu versuchen?

Hätte sie nicht lieber rasch zu ihrem Strandhaus fahren und von dort jemand anrufen sollen? Aber wen? Sie kannte kaum jemand in der Gegend. Vielleicht einen ihrer Kollegen? Oder Howard und Victoria? Nein, die beiden waren bereits am Nachmittag zu einer Elefantensafari im Norden des Landes aufgebrochen. Einen Rettungsdienst oder eine Polizeistation gab es hier draußen nicht. Außerdem war derjenige, der da in der Dunkelheit lag, mit ihrem Wagen zusammengestoßen. Sie war verantwortlich.

Solaina atmete ein paar Mal tief durch und tastete sich Schritt für Schritt durch die Dunkelheit. Die heisere Stimme in der Nacht, die einsame Straße und die vielfältigen Geräusche aus dem Dschungel, der die Straße säumte, erschienen ihr wie ein Albtraum.

„Verletzt“, stieß jemand hervor. „Schwer verletzt, ich sterbe …“ Es war mehr ein schwaches Röcheln.

„Wo sind Sie?“, rief Solaina leise. Keine Antwort. Ihre Besorgnis stieg. „Sagen Sie etwas, damit ich Sie finde.“

„Wo Sie herkommen … gibt es dort Laubbäume?“, meldete sich die heisere Stimme stockend.

Laubbäume? Merkwürdige Frage in dieser Situation.

„Wie bitte?“, meinte Solaina irritiert.

„Laubbäume“, klang es aus der Dunkelheit.

Sie hatte also richtig gehört. Aber die Worte hatten ihr die Richtung gewiesen. Sie ging vorsichtig weiter und entdeckte eine Gestalt, die seltsam verrenkt auf dem Boden lag.

„Ja, wir haben beides, Laub- und Nadelbäume“, sagte sie. Als sie sich zu dem Mann hinunterbeugte, wünschte sie sich, sie hätte mehr Erfahrung als Krankenschwester. Denn in dem schwachen Licht, das die Rücklichter ihres Wagens bis hierher warfen, wirkte der Mann tatsächlich dem Tode nahe.

„Ihr Puls ist kräftig und regelmäßig“, stellte Solaina erleichtert fest, nachdem sie den Finger auf die Halsschlagader des Verletzten gelegt hatte. Viel kräftiger als erwartet. Er war offensichtlich ein starker Mann mit einem ausgeprägten Überlebenswillen. Gott sei Dank.

Sie spürte etwas Feuchtes, Klebriges an ihrem Finger. Gleichzeitig stieg ihr ein leicht metallischer Geruch in die Nase, den sie gut kannte. Blut. Obwohl sie schon längere Zeit nicht mehr direkt mit Patienten zu tun hatte, war dieser Geruch unverkennbar.

„Gebrochene Rippen“, keuchte der Mann. „Links. Vierte und fünfte, vielleicht auch sechste und siebte. Möglicherweise Perforation der Lunge.“

Er ist Mediziner, dachte Solaina. Ein Arzt? „Sie bluten.“

„Die Schulter“, stöhnte er.

„Sie haben also mehrere Rippen gebrochen, und die Schulter ist verletzt?“ Solaina zog vorsichtig seinen zerrissenen Ärmel herunter, um die Schulterwunde zu begutachten. „Ich habe Sie nicht gesehen“, meinte sie entschuldigend. Was für ein schwacher Trost für diesen Mann, den sie beinahe umgebracht hatte, dachte sie in einem Anflug von Selbstironie. Im Stillen machte sie sich Vorwürfe, dass sie sich übermüdet hinters Steuer gesetzt hatte.

„Aber ich habe Sie gesehen“, keuchte der Mann und hustete.

„Nicht sprechen. Sie brauchen Ihre ganze Kraft, wenn ich Sie hier wegschaffen soll.“

„Ich habe Ihre Scheinwerfer gesehen“, brachte er mühsam hervor. Das stimmte. Er hatte ihren Wagen auf sich zukommen sehen. „Sie können mir doch helfen, nicht wahr?“ Seine Stimme war kaum zu hören.

Solaina lachte bitter auf. Wenn Sie sich da mal nicht täuschen, dachte sie, sprach die Worte aber nicht laut aus. Auch heute noch, nach fast zehn Jahren, schreckte sie nachts häufig aus demselben Traum hoch. Sie sah Jacob Renners Gesicht vor sich, als seine Augen brachen. Auch er hatte auf ihre Hilfe vertraut. „Aber da ist ja wohl sonst niemand“, meinte sie tonlos. Sie fühlte sich wie gelähmt.

Brachte sie es fertig, ihn auf die Beine zu bekommen und in ihren Wagen zu schaffen? „Okay, ich schaue rasch nach, ob ich sonst noch etwas entdecke. Haben Sie weitere Verletzungen?“

„Eine Menge“, stöhnte er und versuchte die Schulter zu bewegen. Der Schmerz ließ ihn scharf die Luft einziehen. „Mein Stolz zum Beispiel hat ganz schön was einstecken müssen.“

Trotz der beängstigenden Situation musste Solaina lachen. „Der kann warten, bis Sie körperlich wieder auf dem Damm sind. Ich meinte die ernsten Verletzungen.“

„Das ist eine ernste Verletzung.“

Sinn für Humor, Dickköpfigkeit, ein starker Wille – keine schlechte Kombination, dachte sie. „Nun, für Ihren Stolz kann ich im Moment nichts tun. Aber ich werde Ihren Nacken und Rücken abtasten. Bitte nicht bewegen.“

Rasch fuhren ihre Finger über seinen Nacken und den oberen Teil der Wirbelsäule. Sie konnte nichts Ungewöhnliches spüren, keine Wunde, kein Blut. „In Ordnung.“

„Bitte etwas tiefer“, ächzte er.

„Schmerzen?“

„Nein, ich brauche eine Massage.“

Sie lachte leise. „Nicht jetzt.“ Obwohl die verkrampften Muskeln seines Nackens eine Massage gut hätten gebrauchen können.

„Später vielleicht, meine hübsche Samariterin?“

„Ich hoffe, dass Sie schon sehr bald in einem Krankenhausbett liegen und ärztlich versorgt werden.“ Geschickt tastete sie seine Schulterwunde ab. Das Blut war bereits weitgehend getrocknet und verkrustet. „Wann haben Sie sich die Schulter verletzt?“

„Weiß nicht. Vor ein oder zwei Tagen.“ Seine Stimme brach.

„Bitte nicht ohnmächtig werden …“ Soweit sie hier in der Dunkelheit feststellen konnte, handelte es sich um einen Einstich oder eine Schusswunde. Die Wunde selbst hatte sich bereits geschlossen, aber das Fleisch um das Einschussloch war rot und geschwollen. Also lag eine Entzündung vor.

„Bringen Sie mich nach Hause“, stöhnte er. Offensichtlich versank er wieder im Delirium, wahrscheinlich eine Folge der starken Infektion. Auch seine Temperatur war deutlich erhöht. Seine Lippen waren trocken und rissig, stellte sie fest, als sie sanft mit dem Finger darüberstrich.

„Ich habe gehofft, Sie würden das tun“, murmelte er. „Ich wusste, dass es sich gut anfühlt.“

„Hey, das hier ist kein Date.“ Solaina kontrollierte seinen Puls. Immer noch stark und regelmäßig.

Der Mann tat ihr unendlich leid. Er war, bereits ernsthaft verletzt, auf die Straße gelaufen – und ihr direkt vor den Kühler.

„Ein Schuss“, stieß er hervor.

„Wie bitte?“

„Man hat auf mich geschossen.“

Aber ja, die Schulterwunde! Sie hatte als Krankenschwester nie mit Schusswunden zu tun gehabt, das Thema war nicht einmal während ihrer Ausbildung behandelt worden.

Seine Stimme war immer schwächer geworden und kaum noch zu verstehen. „Ganz ruhig“, sagte sie mit weitaus mehr Zuversicht, als sie tatsächlich empfand. „Ich kümmere mich um Sie. Ich bin Krankenschwester. Habe ich das noch nicht erwähnt?“

„Und habe ich schon erwähnt, dass ich Krankenschwestern liebe?“

„Schön langsam, Casanova. Und jetzt beißen Sie einen Moment die Zähne zusammen. Ich werde Sie vorsichtig umdrehen und Ihre Schulter von der anderen Seite untersuchen.“

Die Schulter war auf der Rückseite völlig intakt. Keine Austrittswunde, keine sichtbare Verletzung. Das hieß, die Kugel steckte noch im Körper.

Solaina fragte sich, wie massiv seine Rippenverletzungen waren. „Können Sie mal tief Luft holen? Ich möchte Ihren Brustkorb abtasten. Oder fällt Ihnen das Atmen sehr schwer?“

„Meine Lungen scheinen noch in Ordnung zu sein.“

Leider hatte sie kein Stethoskop, also musste sie Lungen und Herz direkt abhören. Sie knöpfte sein Hemd auf und schob es beiseite. Dann presste sie das Ohr auf seine Brust. Das Herz schlug kräftig und regelmäßig. Beunruhigende Geräusche aus der Lunge waren nicht auszumachen. Beunruhigend war höchstens, dass ihr eigener Pulsschlag sich erhöht hatte, während sie ihr Gesicht auf seine mit leichtem Flaum bedeckte muskulöse Brust drückte.

„Alles in Ordnung.“ Sie räusperte sich verlegen.

„Können Sie mich nicht noch einmal abhören? Ihr Haar riecht so gut.“

Automatisch hob Solaina die Hand und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es fiel ihr bis auf die Schultern – ungebändigt von den Kämmen, die sie normalerweise benutzte, um es hochzustecken.

„Ich muss jetzt Ihren Hosengürtel öffnen und Ihre Bauchdecke untersuchen“, kündigte sie an. „Falls Ihr Bauch geschwollen und hart ist, dann …“ Sie unterbrach sich. Wem erzählte sie das? Wenn er selbst Arzt war, wusste er, dass sie nach Anzeichen für innere Blutungen suchte.

„Ich mag keine Fledermäuse, Tiger sind nicht so schlimm. Aber Fledermäuse …“ Seine Stimme verlor sich. Er delirierte wieder.

„Die mag ich auch nicht“, sagte sie, zog entschlossen seine Jeans ein Stück nach unten und tastete die Bauchdecke ab, die sich unauffällig anfühlte. In dem dämmerigen Licht konnte sie keine offensichtlichen Verletzungen entdecken. Sein Bauch war flach und muskulös. Beachtlich.

Bevor sie versuchte, ihn in ihren Wagen zu bugsieren, musste sie sich überzeugen, dass er keine weiteren Verletzungen hatte, die den Transport unmöglich machten.

„Warten Sie einen Moment“, sagte sie rasch. „Ich drehe meinen Wagen um, dann kann ich Sie im Scheinwerferlicht besser untersuchen. Nicht bewegen, ich bin gleich wieder da.“

Es dauert kaum länger als eine Minute, bis Solaina wieder bei ihm war. Jetzt lag er im hellen Licht der Scheinwerfer. Als sie sich neben ihn hockte, stellte sie fest, dass er ein gut aussehender Mann war, trotz seiner Verletzungen und des Schmutzes, der ihn bedeckte.

„Können Sie mich hören?“ Keine Antwort. Offenbar war er wieder bewusstlos. Sie entschloss sich, seine Jeans nicht wieder hochzuziehen, sondern ganz abzustreifen. Dann konnte sie feststellen, ob er auch Verletzungen an den Beinen hatte. Gedacht, getan – zuerst sein linkes Bein, dann das andere. Sie atmete erleichtert auf, als sie außer ein paar Schrammen nichts entdecken konnte, keine Brüche, keine Schnitte, kein Blut. Seine Füße und Knöchel waren von unzähligen kleinen Kratzern und Abschürfungen übersät, aber nicht ernsthaft verletzt.

Der Mann war offensichtlich zusammengeschlagen worden, bevor man auf ihn geschossen hatte. Sein grünlich verfilztes Haar deutete darauf hin, dass er mehrere Tage im Dschungel verbracht haben musste. Auch seine Bartstoppeln ließen das vermuten.

Solaina schaute ihn nachdenklich an. Welche Farbe hatte sein Haar? Blond? Es war so schmutzig, dass sie das nicht erkennen konnte.

„So hatte ich mir die Begegnung mit meinem blonden Helden nicht vorgestellt“, seufzte sie.

„Sandfarben, nicht blond.“ Er war also wieder bei Bewusstsein und hatte sie gehört. Peinlich, peinlich …

„Gut, dann verraten Sie mir doch bitte, wie Sie heißen.“

„David. David Gentry.“

Solaina schnappte überrascht nach Luft. Den Namen hatte sie vor einem Jahr in Kambodscha gehört, als sie von der IMO – der Internationalen Medizin Organisation – zu einem Einsatz dorthin geschickt worden war. Damals war er einer der Chefärzte der IMO, ein begnadeter Chirurg, wie alle sagten.

Doch dann hatte er von einem Tag auf den anderen seinen Job bei der IMO aufgegeben. Über den Grund war nichts bekannt geworden.

„David Gentry? Sie sind Dr. David Gentry?“

„Falls ich nicht auch noch unter multipler Persönlichkeitsstörung leide, ja.“

„Was ist Ihnen denn bloß zugestoßen, Dr. Gentry? Außer, dass ich Sie angefahren habe“, fügte sie schuldbewusst hinzu.

„Das haben Sie nicht. Ich bin Ihnen absichtlich vor die Räder gelaufen.“

„Wie bitte?“

„Es war Absicht. Ich sah Ihre Scheinwerfer. Und ich brauchte Hilfe.“ Er holte keuchend Luft. „Da habe ich ja den perfekten Treffer gelandet. Sie sind nämlich die attraktivste Frau, die mir je begegnet ist …“

Nettes Kompliment, aber wahrscheinlich ist er schon wieder im Delirium, dachte Solaina. „Ich weiß zwar noch nicht genau, wie ich das schaffen soll, Doktor“, meinte sie, „aber ich werde Sie von hier wegbringen.“

„Das wird Ihnen vorerst helfen“, sagte Solaina. Sie hatte ihm die Jeans als eine Art Bandage um die Brust gebunden. Obwohl die Bordapotheke ihres Wagens nicht besonders reichlich ausgestattet war, konnte sie mit den Verbandspäckchen und dem Klebeband auch seine Schulterwunde provisorisch versorgen.

Der Jeansstoff war fest und ergab einen guten Stützverband. „Können Sie noch atmen?“, erkundigte sie sich besorgt.

„Kaum, wenn ich Sie so anschaue“, gab er mit einem schiefen Grinsen zurück. „Wo finde ich ganz schnell eine Orchidee für Ihr Haar?“

Solaina hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt und versuchte, ihn aufzurichten. „Vergessen wir mal die Orchidee für einen Moment, Casanova. Ich überlege, wie ich Sie in meinen Wagen schaffe.“ Das war alles andere als eine leichte Aufgabe, denn David fiel in kurzen Abständen immer wieder zurück in halbe Bewusstlosigkeit.

„Die Orchidee – hinter Ihrem rechten oder linken Ohr?“, murmelte er.

„Wir sind nicht auf Hawaii, Doktor“, wies sie ihn amüsiert zurecht. Dort bedeutete eine Orchidee hinter dem linken Ohr, dass eine Frau verheiratet, hinter dem rechten Ohr, dass sie noch ledig war. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hob Solaina die Hand und strich sich das Haar hinter das rechte Ohr.

„Oh, gut“, sagte David Gentry, der ihrer Bewegung mit den Augen gefolgt war.

Selbst in seinem desolaten Zustand war er noch ein faszinierender Mann. Charmant, witzig, anziehend. „Über Orchideen reden wir ein anderes Mal“, sagte sie. „Jetzt wollen wir sehen, wie wir Sie in mein Auto bekommen.“

Ihr japanischer Wagen war ziemlich klein. Und David Gentry war ein großer Mann. „Okay, David, ich versuche jetzt, Sie hochzuziehen. Aber Sie müssen mir helfen.“ Solaina bückte sich. „Legen Sie die Arme um meine Schultern. Wenn ich ‚jetzt‘ sage, versuchen Sie, auf die Beine zu kommen.“

Fast wäre es ihm gelungen, sich aufzurichten, aber dann knickten ihm doch die Beine weg. Im Fallen riss er Solaina mit sich zu Boden, und sie sackte auf ihn.

David Gentry ächzte vor Schmerzen, als sie sich zur Seite rollte. „Sie sind schwer.“

Das hatte ihr noch niemand vorgeworfen. Sie war nur einen Meter und dreiundsechzig groß und schlank. Aber David würde schon ein Blatt als schwer empfinden, wenn es auf seine gebrochenen Rippen fiel.

Ihr kleines Strandhaus lag nur zehn Minuten entfernt. Dort konnte sie es ihm bequem machen und Howard Brumley, ihren guten Bekannten aus Chandella, anrufen und ihn um Rat bitten. Vielleicht kannte Howard einen Arzt hier in der Nähe, der nach David schauen konnte.

Doch sie wollte Howard nicht auf seiner Elefantensafari stören. Am Montag war er zurück. Er würde eine Lösung für ihr Problem wissen.

Solaina lächelte traurig. Sie würde Howard vermissen, wenn sie in ein paar Wochen Chandella verließ. Er war ein guter Freund und ihrer Meinung nach der beste Arzt, den man sich vorstellen konnte.

„Also, was schlagen Sie vor, wie wir Sie in den Wagen bekommen?“ Sie sah David ratlos an.

„Ich könnte bis zum Wagen kriechen“, schlug er vor. „Es ist zwar ziemlich entwürdigend, vor einer schönen Frau im Staub zu robben, aber so könnte es klappen.“

„Kriechen? Geht das denn mit Ihrer Schulter?“

Statt einer Antwort drehte er sich auf den Bauch, drückte sich ein Stück auf den Ellbogen hoch und robbte tatsächlich die paar Meter bis zu ihrem Wagen. Dort angekommen, ließ er sich erschöpft auf den Boden fallen. „Und was nun?“, wollte er wissen.

„Wir müssen Sie auf den Beifahrersitz hochziehen“, meinte sie. Sie ging neben ihm in die Hocke. „Schlingen Sie die Arme um meinen Nacken.“

„Hatten wir das nicht schon einmal? Da sind Sie auf mich draufgeplumpst. Was durchaus angenehm war, tun Sie sich also keinen Zwang an.“

Solaina musste lachen. „Sie geben nie auf, Dr. Casanova, nicht wahr?“

„Solange man atmet, besteht noch Hoffnung.“

„Dann sparen Sie mal Ihren Atem und lassen Sie uns sehen, wie wir Sie auf den Sitz verfrachten.“

Mit größter Anstrengung schaffte es Solaina schließlich, David Gentry hochzuziehen und so herumzudrehen, dass er sich rückwärts auf den Sitz fallen lassen konnte. Erschöpft lehnte er sich gegen die Rückenlehne.

„Jetzt müssen wir noch Ihre Beine in den Wagen bekommen.“ Kein leichtes Unterfangen bei der beachtlichen Länge.

„Einen Moment ausruhen – dann bin ich so weit“, murmelte er. „Dann können Sie mit meinen Beinen machen, was Ihnen gerade einfällt.“ Er schloss die Augen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Offensichtlich war die Anstrengung zu viel für ihn gewesen.

„Hallo, nicht einschlafen.“ Solaina klopfte ihm leicht aufs linke Bein. „Aufwachen, David. Hören Sie? Ich brauche Ihre Hilfe.“ Keine Reaktion. Seufzend versuchte sie es erneut. „Aufwachen, David. Sie müssen mir helfen.“ Wieder nichts.

Vielleicht ist es sogar besser so, dachte sie. Kurz entschlossen packte sie sein linkes Bein und bugsierte es in den Fußraum, dann das andere. Vorsichtig drückte sie die Tür ins Schloss.

Erst als sie sich hinters Steuer setzte, fragte sie sich, in was für eine fatale Situation Dr. Gentry wohl geraten war. Warum hatte man ihn so fürchterlich zugerichtet und dann zum Sterben im Dschungel liegen lassen?

David versuchte, die Augen zu öffnen. Träumte er das alles nur? Oder war er wirklich einer attraktiven jungen Frau vor den Wagen gelaufen, die ihm nun zu helfen versuchte? Bruchstückhafte Szenen seines quälenden Marschs durch den Dschungel entstanden in seinem Kopf.

In seinem Traum – es musste ein Traum sein – wollte die schöne junge Frau ihn zu ihrem Strandhaus bringen. Er wollte sich vergewissern, ob das auch in Wirklichkeit so war, aber er bekam die Augen einfach nicht auf. Trotz der Schmerzen, die er am ganzen Körper verspürte, nahm er einen Duft wahr, einen leichten, angenehm blumigen Duft. Ihr Parfüm. Er versuchte, den Duft einzuordnen? Orchideen? Nein, eher Jasmin. Ja, das war es – Jasmin.

„Jasmin – genau wie beim ersten Mal“, murmelte er.

„Sie erwähnten auch Orchideen und Rhododendren.“

Eine Stimme, eine reale Stimme. Das konnte doch kein Traum sein, oder? Er zwang sich, seine Augen wenigstens einen Spalt zu öffnen. Dunkelheit umfing ihn. Er schien sich in einem Auto zu befinden, einem ziemlich kleinen Auto. Seine Knie klemmten praktisch unter seinem Kinn. Und wieso hatte er keine Hose an? Das alles konnte nicht wirklich passieren, dachte er.

Vorsichtig tastete er mit einer Hand seine Beine ab. Tatsächlich – er spürte seine nackte Haut. Dann bemerkte er den festen Verband um seine Brust. Langsam kehrte die Erinnerung zurück.

„Wie lange war ich weggetreten?“, wollte er wissen.

„Nur ein paar Minuten. Aber lange genug, dass ich Ihre Beine in den Wagen heben konnte. Nicht gerade einfach, muss ich sagen. Wie groß sind Sie eigentlich, David?“

„Einen Meter neunzig.“ Er versuchte, die Position zu wechseln, um etwas bequemer zu sitzen.

„Ich würde mich an Ihrer Stelle so wenig wie möglich bewegen“, ließ Solainas warnende Stimme ihn innehalten. „Wir sind in fünf Minuten bei meinem Strandhaus. Dort finden Sie auch die Rhododendronbüsche, die Sie so zu faszinieren scheinen.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, wunderte er sich.

„Sie haben im Delirium etwas von Rhododendren und verführerischen Bäumen gemurmelt.“

„Wieso denn nur?“

„Keine Ahnung, schließlich kenne ich Sie erst seit zehn Minuten.“

„Ich träume schon so lange von Ihnen …“

„Mit unserem Gehirn ist das so eine Sache. Ich habe Menschen erlebt, die nach tagelanger Bewusstlosigkeit aufwachten und meinten, sie seien nur eine Minute weggetreten. Der menschliche Verstand bringt manchmal im Unterbewusstsein die merkwürdigsten Fantasien hervor – von Rhododendron, Orchideen und verführerischen Bäumen zum Beispiel.“

„Benutzen Sie ein Parfüm mit Jasminduft?“

„Ich benutze überhaupt kein Parfüm, aber Jasminseife.“

David schloss seufzend die Augen. Er hoffte nur, dass die schöne junge Frau noch da war, wenn er die Augen das nächste Mal aufschlug.

2. KAPITEL

Solaina erhob sich aus dem weißen Rattansessel, der normalerweise an der Wand gegenüber ihrem Bett seinen Platz hatte. Jetzt stand er neben dem Bett, damit sie David Gentry immer im Blick hatte. Seit acht Stunden saß sie jetzt hier und wachte über ihn. Ging seine Atmung regelmäßig? Sie hatte in regelmäßigen Abständen seinen Puls kontrolliert. Soweit sie es beurteilen konnte, war alles in Ordnung, abgesehen von seinen Verletzungen natürlich. Atmung und Puls waren jedenfalls normal.

Gleich nach der Ankunft in ihrem Strandhaus hatte sie Howard auf seinem Handy angerufen. Es war der letzte Tag seiner Elefantensafari, und er saß in seinem Hotel in der Bar bei einem Drink. Er hatte ihr versprochen, gleich nach seiner Rückkehr am nächsten Morgen zu ihr herauszukommen.

Jetzt konnte sie nur noch warten. Sie warf einen Blick auf David, dessen Brust sich gleichmäßig hob und senkte. Er schien eine erstaunliche Widerstandskraft zu besitzen.

Das kleine Häuschen, das Solaina für ihre Wochenenden gemietet hatte, bot gerade genügend Platz für eine Person. Es bestand nur aus einem einzigen Raum, der gleichzeitig als Wohnzimmer, Schlafraum und Küche diente, und einem winzigen Badezimmer.

Für einen Moment löste sie den Blick von David und ließ ihn durch den Raum schweifen. Das Haus gefiel ihr. Es war natürlich kein Vergleich zu der Umgebung, in der sie aufgewachsen war, aber sie brauchte keinen Luxus, nicht mehr. Mit ihrem Gehalt und mit der Erbschaft ihrer Mutter hätte sie sich etwas Aufwendigeres leisten können, aber daran hatte sie kein Interesse.

Dieses winzige Häuschen war genau das Richtige für sie. Von der Hintertür führte ein gewundener Weg zu einem Strandabschnitt, der nur von hier aus zugänglich war. Nachbarn hatte sie keine, und Touristen kamen nicht bis hierher. Oft hatte sie auf ihrer aus Bambus gebauten Terrasse gesessen, den Sonnenuntergang beobachtet und gedacht, dass sie ein richtiges kleines Paradies ihr Eigen nannte.

Solaina atmete einige Male tief durch und entspannte sich. Allein zu sein machte ihr nichts aus. Sie genoss die Einsamkeit, wenn sie hier war. Und unter den gegebenen Umständen, mit dem verletzten David Gentry, war die Einsamkeit ganz sicher von Vorteil.

Sie schaute auf die Uhr und stand auf. Jede Stunde kontrollierte sie sorgfältig seine Vitalfunktionen. So hatte Howards Anweisung gelautet.

Fast neun Stunden lag er jetzt hier. Gleich würde sie zum neunten Mal seine Atmung abhorchen, seinen Puls fühlen und seine Temperatur prüfen. Bisher hatte sich an seinem Zustand nichts geändert, es ging ihm weder besser noch schlechter.

Zwischendurch kam er immer wieder kurz zu Bewusstsein und stellte Fragen. „Was ist heute für ein Tag, schöne Lady? Wie spät ist es? Regnet es draußen?“

Manchmal stammelte er im Delirium auch Unverständliches. „Wo ist der Rhododendron, ich muss mich festhalten. Die Fledermaus, jagt sie weg! Bringt mir eine Orchidee …“

Sie hatte Howard am Telefon von Davids Verletzungen berichtet. Er hatte ihr genaue Anweisungen gegeben, was zu tun sei.

Das Gespräch mit Howard lag inzwischen viele Stunden zurück. Das Warten machte sie langsam nervös. „Also, seine Wunden habe ich gesäubert“, sagte sie zu sich selbst und warf einen Blick auf den Zettel, auf dem sie Howards Anweisungen notiert hatte. „Und ich habe ihm so viel zu trinken eingeflößt wie möglich.“ Sie hatte zwar eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht, aber kaum praktisch in diesem Beruf gearbeitet. Fast von Anfang an hatte sie Stationen organisiert und gemanagt, Dienstpläne entworfen und sich um die Finanzen gekümmert. In ihrem Verwaltungsjob war sie hervorragend, als Krankenschwester eine Katastrophe.

Den armen Jacob Renner hatte ihre Unfähigkeit das Leben gekostet.

Solaina seufzte und rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her. Sie überlegte, ob sie auf die Veranda gehen und die frische Morgenbrise und den Tagesanbruch genießen oder im Haus bei David bleiben sollte.

Kurz entschlossen stand sie auf und ging zu der kleinen Pantry auf der anderen Seite des Raumes. Sie hatte nie viele Nahrungsmittel im Haus, sondern brachte zum Wochenende aus der Stadt mit, was sie benötigte. Aber eine Dose mit ihrem geliebten Earl-Grey-Tee war immer da. Sie fragte sich, ob David am Morgen Tee oder Kaffee bevorzugte. Wenn sie ihn gestern Abend richtig verstanden hatte, stammte er aus Kanada, aus Toronto. Dann konnte er es mit den Briten halten und Tee trinken oder mit den Amerikanern und Kaffee bevorzugen.

Sie schaute zu David hinüber, der sich unruhig bewegte. „Tee oder Kaffee?“, fragte sie, obwohl er nicht bei Bewusstsein war und ihr nicht antworten konnte. Sie hätte nach den vielen Stunden einsamer Krankenwache gern ein paar Worte mit ihm gewechselt, und wenn es nur die Antwort auf ihre Frage nach seinem Getränkewunsch war.

Solaina setzte den Wasserkessel auf. Während sie wartete, bis das Wasser kochte, trat sie an Davids Bett. Ganz sanft rüttelte sie ihn an der Schulter. „Möchten Sie auch einen Tee? Ich brühe gerade welchen. Oder lieber Kaffee?“

Er blinzelte. „Wie bin ich in das Bett gekommen?“, stöhnte er und schaute sie benommen an.

„Ganz langsam, Schritt für Schritt, ich habe Sie gestützt.“ Dasselbe hatte sie ihm schon vor zwei Stunden erzählt – und vor vier Stunden.

„Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich an verdammt gar nichts erinnern.“

„Vermutlich haben Sie eine Gehirnerschütterung.“ Auch das hatte sie ihm schon mehrmals gesagt. „Deshalb habe ich Sie jede Stunde kurz geweckt. Ich wollte vermeiden, dass Sie immer tiefer in Bewusstlosigkeit versinken.“

„Sie vermissen doch sicher Ihr Bett“, meinte David und klopfte neben sich auf die Matratze.

Solaina lachte. „Stimmt schon – aber das könnte Ihnen so passen, dass ich mich zu Ihnen lege. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht an solch einen Unsinn denken, Sie Casanova.“

„Was meinen Sie mit Unsinn?“, fragte er mit Unschuldsmiene.

„Wenn Sie das nicht selbst wissen, ich werde Ihnen nicht auf die Sprünge helfen.“ Sie hatte ihm auf Howards Rat hin ein paar Kopfschmerztabletten gegeben, die offenbar sein Fieber gesenkt hatten. Solaina legte ihm prüfend die Hand auf die Stirn, die sich längst nicht mehr so heiß anfühlte wie noch vor Stunden. Dafür, dass sie lediglich seine Wunden gesäubert und ihm einige Aspirin verabreicht hatte, war das eine bemerkenswerte Besserung seines Zustandes. Jetzt brauchte sie nicht mehr zu befürchten, dass er ihr unter den Händen wegstarb, bevor Howard eintraf.

„Schlafen Sie ruhig weiter, David. Wenn Sie das nächste Mal aufwachen, können Sie sich bestimmt schon an vieles mehr erinnern.“

„Und Sie, werden Sie dann mein Angebot mit dem Bett annehmen?“

Sie lachte. „Davon können Sie gern träumen, Casanova. Aber nur träumen.“

„In meinen Träumen, Solaina, habe ich …“

„Woher wissen Sie denn meinen Namen?“, unterbrach sie ihn. Sie hatte ihn bisher nicht erwähnt, da war sie sicher.

„Ich kenne Ihren Namen seit einiger Zeit. Die bezaubernde Solaina. Meine schöne Lady.“

Der arme Kerl ist wieder im Delirium, dachte Solaina. „Ich bringe Ihnen jetzt einen heißen, starken Earl Grey. Der wird Ihnen guttun. Oder möchten Sie lieber Wasser?“

Wasser und Tee – mehr hatte sie nicht zu bieten.

„Ich mag keinen Earl Grey“, knurrte er.

„Oh, wer wird denn da gleich grantig?“ David Gentry legte es offensichtlich darauf an, das Vorurteil zu bestätigen, Ärzte seien die unerträglichsten Patienten. Jedes Mal, wenn er in den vergangenen Stunden wach geworden war, hatte er ausgesprochen schlechte Laune gehabt.

„Tut mir leid.“ Er versuchte ein Lächeln, das ihm misslang. „Meine Kopfschmerzen – ich kann nicht klar denken.“

Trotz der Kopfschmerztabletten, die sie ihm schon gegeben hatte? Sie wollte die Dosis ungern erhöhen. „Gehirnerschütterung, Flüssigkeitsmangel, Infektion – das sind die Ursachen für Ihre Kopfschmerzen. Was Sie natürlich selbst am besten wissen.“

„Verursache ich Ihnen auch Kopfschmerzen, meine schöne Lady?“

Da war er plötzlich wieder, der Mann, wie sie ihn mochte – charmant, freundlich, witzig. „Ob Sie der Grund dafür sind, möchte ich bezweifeln, aber rasende Kopfschmerzen habe ich tatsächlich seit ein paar Stunden“, gestand sie.

„Ich wünschte, ich würde Ihnen nicht so viele Umstände machen“, meinte er bedauernd. „Aber Sie wissen ja, was man über uns Ärzte sagt …“

„… dass sie die freundlichsten, geduldigsten, nettesten und höflichsten Patienten auf der ganzen Welt sind? Das wollten Sie doch sagen, oder?“

Er grinste. „Und ich dachte, ich wäre der Einzige hier, der träumt.“

„Lassen Sie mir doch meine Illusionen.“ Solaina holte ihm ein Glas Wasser aus der Pantry. „Hier, trinken Sie das.“

„Woher stammen Sie eigentlich?“ Er hielt das Glas Wasser in der Hand, trank aber nicht, sondern sah sie nachdenklich an. „Höre ich da einen Anflug von französischem und auch amerikanischem Akzent in Ihrer Stimme?“

„Geboren wurde ich in Haiti, aufgewachsen bin ich auf den Bermudas und in Frankreich. Zur Universität ging ich in den USA, wo ich auch meinen ersten Job bekam. Später war ich in Paris und habe dort gearbeitet, danach in der Schweiz und in Tokio. Zurzeit bin ich hier in Dharavaj, im Krankenhaus von Chandella.“ Sie erwähnte nicht, dass sie bald wieder in einem anderen Land arbeiten würde. Sie hatte mehrere Angebote, aber noch keine Entscheidung getroffen, welches sie annehmen wollte.

„Und woher kommen Sie, David? Draußen auf der Straße baten Sie mich, Sie nach Hause zu bringen.“

„Also – geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen und studiert in Toronto. Und dorthin möchte ich auch irgendwann zurückkehren. So viel herumgekommen wie Sie bin ich nicht. Ich war in Kambodscha und …“ Er hatte das Glas an die Lippen heben wollen, aber seine Hand zitterte, und er verschüttete ein wenig Wasser auf dem Bettlaken. „Soll ich jetzt beweisen, was für ein toller Patient ich bin, und selbst das Bettlaken wechseln?“, scherzte er.

„Sie können mir beweisen, was für ein toller Patient Sie sind, wenn Sie das Wasser austrinken und ein wenig von dem Brötchen essen, das ich Ihnen hingestellt habe. Dann gebe ich Ihnen noch eine Kapsel Amoxicillin. Sie sind doch hoffentlich nicht allergisch gegen Antibiotika?“ Sie hatte das Medikament noch in ihrem Wandschrank gehabt, und Howard hatte ihr empfohlen, es David zu geben.

„Keine Allergie. Amoxicillin ist ein Breitbandantibiotikum. Es sollte bei mir wirken. Eine gute Wahl.“

„Reiner Zufall. Ich habe noch ein paar Kapseln übrig, von einer Lungeninfektion im letzten Jahr.“ Sie brach ein Stück von dem Vollkornbrötchen ab, das sie aus Chandella mitgebracht hatte, und hielt es ihm hin.

Er nahm es und kaute bedächtig. Ein zweites Stück lehnte er ab. Dann zog er die Decke hoch und lehnte sich erschöpft zurück. „Ich glaube, ich schlafe noch ein bisschen.“

„Und ich würde gern ein wenig ins Freie gehen und mich eine halbe Stunde an den Strand legen. Aber das kann ich erst, wenn Sie brav Ihre Kapsel geschluckt haben.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an.

„Warum lassen Sie mich nicht erst eine Stunde schlafen und kommen dann mit Ihrer Pille wieder?“, murmelte er, schon halb im Wegdämmern. Er schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite.

„Nein, nein, so geht das nicht“, protestierte sie energisch. „Schlafen können Sie, sobald Sie die Kapsel genommen haben, aber nicht eher. Keine Widerrede, David.“

„Also gut, wenn Sie darauf bestehen“, grummelte er.

„Hier, nehmen Sie die Kapsel in den Mund und trinken Sie das Glas aus.“ Sie hielt ihm das Medikament hin und hob das Glas an seine Lippen. Selbst das Trinken schien ihn anzustrengen, denn anschließend ließ er den Kopf sofort zurück auf das Kissen sinken, schloss die Augen und atmete keuchend.

„Bin ein bisschen aus der Übung“, stöhnte er.

„Unterschätzen Sie sich nicht, sonst hätten Sie im Dschungel nicht überlebt“, erwiderte sie. „Wie wäre es mit noch einem Stück von dem Brötchen?“

„Sie können einen Mann ganz schön unter Druck setzen.“

„Wenn der Mann in meinem Bett liegt, nehme ich mir dieses Vorrecht heraus. Und Sie liegen in meinem Bett, Dr. Gentry, falls Ihnen das entgangen ist.“

„Habe ich mich eigentlich schon bedankt, dass Sie angehalten und mich gerettet haben?“ Müde schloss er die Augen. „Gehen Sie an den Strand, meine schöne Lady, und träumen Sie ein bisschen – hoffentlich von mir.“

Solaina beugte sich über ihn und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie war längst nicht mehr so heiß wie zuvor. Aber viel mehr konnte sie jetzt nicht für ihn tun. Wenn Howard nur bald käme!

Es war schon warm draußen, aber noch nicht so heiß und stickig wie später am Tag. Dann ließ es sich am besten im Haus unter dem großen Ventilator aushalten oder vor der mobilen Klimaanlage.

Solaina liebte diese frühen Morgenstunden, wenn sie mit einer großen Tasse Tee in Reichweite und einem spannenden Buch in ihrem bequemen Liegestuhl auf der Veranda lag. Doch heute beschäftigte sie sich in Gedanken noch mit David Gentry. Zugegeben, er war ein attraktiver Mann, aber nach romantischen Verwicklungen stand ihr zurzeit überhaupt nicht der Sinn. Ihre Lebensweise, die sie regelmäßig in entlegene Ecken der Welt führte, ließ so etwas gar nicht zu. Sie blieb überall nur für eine begrenzte Zeit, dann zog sie weiter. Das war keine Basis für enge Freundschaften oder emotionale Bindungen, aber da ihr dieses Leben gefiel, vermisste sie nichts.

Warum dachte sie dann so intensiv über David nach?

Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen. Sofort entstand in ihrem Kopf ein erschreckendes Bild: David stolperte in der Dunkelheit die einsame Landstraße entlang, im verzweifelten Kampf ums Überleben.

Die Vorstellung, wie knapp David Gentry dem Tod entronnen war, bedrückte sie mehr, als gut für sie war. Sie musste aufpassen, dass dieser gut aussehende, charmante Arzt nicht ihre Zukunftspläne durchkreuzte.

Doch darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Bald würde Howard kommen und sich um alles kümmern.

Solaina nahm ihr Buch zur Hand und begann zu lesen.

3. KAPITEL

David bewegte sich hin und her, bis er eine einigermaßen bequeme Position gefunden hatte. Er lag flach auf dem Rücken und starrte an die Decke. Als er dieses Mal nach tiefem, dumpfem Schlaf die Augen geöffnet hatte, wusste er sofort, wo er sich befand und was passiert war.

Er wollte nach ihr rufen. Solaina. Was für ein wunderschöner Name. Und was für eine wunderschöne Frau. Das hatte er schon gedacht, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Wann war das gewesen? Er konnte sich nicht genau erinnern. Erst letzte Nacht auf der einsamen Straße? Vor einem Monat in Chandella? Oder vor einem halben Jahr in der Schweiz? In seinen Gedanken herrschte ein einziges Chaos.

Auch seine Erinnerung an das, was an der Grenze zu Kambodscha geschehen war, blieb verschwommen. Er wusste noch, dass er einen Anruf erhalten hatte. Es schien sich um einen Routineeinsatz zu handeln, um das Opfer einer Landmine medizinisch zu versorgen. Das gehörte zum Alltag in seinem kleinen Krankenhaus in Kantha. Überall in der Gegend lagen noch Landminen aus der Zeit vor dreißig Jahren, ein Überbleibsel des Vietnamkriegs.

An die Einzelheiten seiner Fahrt durch den Dschungel konnte er sich nicht erinnern, auch nicht an seinen Marsch durch den Urwald, der ihn am Ende in das Bett der Frau geführt hatte, die er seit Langem verehrte. Angesichts seines Allgemeinzustands, seiner Rippenbrüche und der Schusswunde musste etwas entsetzlich schiefgegangen sein, aber er wusste nicht, was passiert war. Wenn ihn jemand so schlimm zugerichtet hatte, schwebte er womöglich immer noch in Gefahr. Und nicht nur er, sondern auch Solaina. Dieser Gedanke setzte ihm zu.

Du musst verdammt schnell von hier verschwinden, sagte er sich. Das war die einzige Lösung. Er wusste, dass keine akute Lebensgefahr mehr bestand, dass er sich bald erholen würde. Er musste unbedingt einen anderen Unterschlupf finden, um sich auszukurieren, bevor er nach Kantha zurückkehren konnte.

Vorsichtig richtete David sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Er schaute an sich hinunter. Jemand hatte ihm die Rippen gebrochen, indem er auf ihn eintrat. Er erinnerte sich an eisenbeschlagene schwarze Stiefel. An die Aufforderung, aus Kambodscha, aus Dharavaj zu verschwinden. Als der Mann ihn aus seinem Jeep gezerrt hatte, hielt er diesen anfangs für einen Straßenräuber. Aber dann hatte er gefragt: „Sind Sie Dr. Gentry?“ Es war also ein gezielter Anschlag gewesen.

Der Mann hatte eine Pistole auf ihn gerichtet. David hatte in die Mündung gestarrt. Es war eine sehr kleine Waffe gewesen, die fast in der Hand des Mannes verschwand, und er hatte nicht erwartet, dass er sie benutzen würde. Waren seine Erinnerungen richtig? Oder brachte er immer noch vieles durcheinander?

Er strich mit einer Hand vorsichtig über seine Rippen und verzog schmerzlich das Gesicht. Der Mann, der ihn überfallen hatte, verstand sein Handwerk. Solaina hatte genau das Richtige getan, seine Jeans als festen Druckverband zu verwenden. Dann hatte sie seine Wunden gereinigt. Ihre Berührung war so zart und irgendwie tröstlich gewesen.

Er versuchte, die Schulter zu bewegen, und tastete den Verband ab, den Solaina ihm angelegt hatte. Er besaß genügend Erfahrung mit Schusswunden, um sicher zu sein, dass es nur eine Fleischwunde war. Aber die Wunde hatte sich entzündet und eine schwere Infektion ausgelöst. Diese Infektion hätte ihn getötet, wäre Solaina nicht gewesen.

David schaute auf und sah Solaina in der Tür stehen.

„Wollen Sie spazieren gehen?“

Die Sonne in ihrem Rücken ließ unter der leichten Sommerkleidung jedes Detail ihres atemberaubenden Körpers erkennen. Heiße Erregung durchströmte ihn.

„Hallo, schöne Frau, kennen wir uns?“, meinte er augenzwinkernd.

„Ist das ein Annäherungsversuch, Casanova? Falls ja, finde ich ihn nicht sehr originell.“

„Ein Annäherungsversuch? Ich glaube nicht. Aber haben meine Worte wenigstens Wirkung gezeigt?“

Sie lachte. „Ich gehe lieber davon aus, dass alles, was Sie in Ihrem Delirium von sich gegeben haben, nicht ernst gemeint war.“

„Da bin ich im Nachteil, ich weiß nämlich nicht mehr, was ich gesagt habe. Übrigens, Sie und ich … haben wir …“

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, haben wir nicht.“

„Schade“, meinte er und ließ sich auf die Matratze zurücksinken. Vor Schwäche schwindelte ihm. Er brauchte noch jede Menge Schlaf, bevor er aufstehen und herumlaufen konnte. „Und ich hatte schon gehofft, wenigstens einmal im Leben guten Geschmack zu beweisen“, murmelte er im Wegdämmern.

„Für das Kompliment spendiere ich Ihnen noch ein Antibiotikum, Doktor.“ Rasch holte Solaina das Medikament aus der Pantry. Als sie wieder neben seinem Bett stand, legte sie David die Hand auf die Stirn. „Das Fieber ist weiter gesunken.“

„Eine gute Krankenschwester kann Wunder vollbringen.“

Solaina wandte sich rasch ab. „Halten Sie mich besser nicht für eine gute Krankenschwester, David. Das könnte ein folgenschwerer Irrtum sein.“

„Aber Sie sind doch Krankenschwester, oder nicht?“

„Zumindest bezeugt ein Diplom, dass ich es bin, ja.“ Ihre Stimme klang plötzlich kalt und abweisend. „Doch dieses Diplom sagt nichts über meine Befähigung aus. Ich arbeite nicht im medizinischen Bereich, sondern kümmere mich um Verwaltung, Organisation und finanzielle Belange. Mit Patienten habe ich schon lange nichts mehr zu tun.“

„Die Verbände, die Sie mir angelegt haben, sind jedenfalls sehr professionell“, meinte er und fuhr sich mit der Hand über die Brust.

„Einen Verband anlegen, das kann doch jeder“, wehrte sie ab. „Aber jetzt mal ein anderes Thema – was möchten Sie essen? Einen Obstsalat? Oder soll ich etwas Reis kochen?“

Er schüttelte den Kopf. Es reizte ihn, mehr über sie zu erfahren. Warum reagierte sie jedes Mal so abweisend, wenn er sie auf ihren Beruf ansprach? Und warum flüchtete sich eine so aufregende Frau in diese abgelegene Gegend?

„Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich Chirurg bin?“ Sprich weiter, spornte er sich an, damit hältst du dich wach. Er unterhielt sich gern mit Solaina, hörte ihr gern zu, sah sie gern an.

„Sie haben mir Ihren Namen genannt, gestern Abend auf der Straße. Da wusste ich, wer Sie sind. Ein bekannter Chirurg.“

Er war sich nicht sicher, wie viel er ihr über seine Arbeit und sein kleines Krankenhaus in Kantha erzählen sollte. Er wollte sie nicht noch tiefer in die Sache hineinziehen, das konnte gefährlich werden. Am besten war es, sobald wie möglich von hier zu verschwinden. Doch das schien illusorisch, denn er schaffte es ja kaum, den Kopf zu heben. „Erzählen Sie mir ein wenig über Ihren Job. Und geben Sie mir bitte ein paar Stückchen Obst, ich glaube, mein Magen ist noch nicht sehr aufnahmefähig.“

Solaina ging zur Pantry hinüber und wusch ein paar Früchte ab, die sie gestern mitgebracht hatte. Sie schnitt eine hellgrüne Sternfrucht in Scheiben, knackte die dunkelbraune Schale einer Mangosteen und löste das aromatische weiße Fruchtfleisch heraus.

David bemerkte, dass Solaina für sich selbst eine Durianfrucht aus dem Korb fischte. Die Durian, eine stachlige Frucht von der Größe einer Kokosnuss, hatte gelbliches Fruchtfleisch und galt überall in Asien, nicht nur in Dharavaj, als Delikatesse. David mochte sie nicht besonders. Sie strömte einen penetranten Geruch nach altem Käse aus, schmeckte aber mit Kokosmilch vermischt und mit Reis ganz passabel.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Durians schätzen“, meinte er. „Eigentlich habe ich Sie mehr für den Ananas- oder Erdbeertyp gehalten.“

„So kann man sich irren.“ Sie krauste die Nase. „Aber ich gebe zu, ich würde saftige Erdbeeren einer Durian vorziehen.“

David ertappte sich bei der Vorstellung, wie Solaina in eine saftige rote Erdbeere biss …

„Ich überlege gerade, was ich mit Ihnen mache“, dachte Solaina laut nach. „Vielleicht nehme ich Sie mit nach Chandella, nachdem Howard hier war und Sie versorgt hat. Es ist eine ziemlich lange Fahrt, aber da wohne und arbeite ich. Dort haben Sie auch bessere medizinische Betreuung.“

Chandella? Er musste nach Kantha. Er musste dem örtlichen Polizeichef von dem Überfall berichten und ihn bitten, Nachforschungen anzustellen. Und dann wollte er so schnell wie möglich zu seiner normalen Tätigkeit zurückkehren. Blieb nur zu hoffen, dass sich die Attacke gegen ihn nicht wiederholte … und dass Solaina nicht mit hineingezogen wurde.

„Nur noch ein bisschen Ruhe … dann komme ich wieder allein zurecht“, sagte er leise. Wie weit er allein tatsächlich kam, stand zwar in den Sternen, aber für Solaina war es sicherer, wenn er sich nicht allzu lange in ihrer Nähe aufhielt.

Solaina lachte amüsiert auf. „Die Leute hier in Dharavaj sind nicht besonders neugierig, aber ich weiß nicht, wie sie reagieren würden, wenn Sie in diesem Zustand die Straße entlanggingen, ohne Hosen. Überlegen Sie also lieber zweimal, bevor Sie sich auf den Weg machen.“

Seine Hosen! Stimmt ja, Solaina hatte die Jeans am Tag zuvor in Streifen geschnitten und daraus einen Stützverband für seinen Brustkorb gemacht. Ohne Hosen war nicht daran zu denken, von hier zu verschwinden. Resigniert ließ er sich wieder zurücksinken und schloss die Augen.

„Nun, dann muss ich Ihre Gastfreundschaft leider noch ein bisschen länger strapazieren. Was bedeutet, dass Sie meiner Schulter mit dem Messer zu Leibe rücken müssen, sobald ich wieder wach werde.“

„Nein, David, kommt nicht infrage. Ich schneide gern Früchte für Sie auf, aber an Ihre Schulter wage ich mich nicht heran.“

Nachdem David eingeschlafen war, ging Solaina wieder auf die Veranda hinaus und setzte sich in ihren Rattansessel. Aus der Durianfrucht hatte sie Saft gepresst, den sie neben sich auf den kleinen Tisch stellte. Dann griff sie nach ihrem Buch.

Plötzlicher Krach aus dem Haus ließ sie hochfahren: zuerst ein Scheppern und Klirren, dann ein dumpfer Schlag.

Solaina ließ ihr Buch fallen und eilte ins Haus. David lag auf dem Boden und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Der Nachttisch war umgefallen, das Glas auf dem Boden zerbrochen. Seine Schulterwunde blutete.

Seine Miene wirkte verblüfft, beinahe ärgerlich. Solaina fragte nicht, was passiert war. Sie wusste es auch so. In halber Bewusstlosigkeit hatte er versucht, aufzustehen, wollte sich vermutlich auf den Weg machen nach … ja, wohin eigentlich?

Sie schlüpfte rasch in ihre Sandalen, um sich die Fußsohlen nicht an den Scherben zu verletzen, bückte sich und versuchte, ihm aufzuhelfen.

„Ihre Schulterwunde ist aufgebrochen“, stellte sie nüchtern fest.

„Ja, die Kugel muss bald entfernt werden“, stieß er keuchend hervor, richtete sich mit Solainas Hilfe auf und ließ sich schwer aufs Bett fallen. „Sonst riskiere ich, dass sich der Knochen auch noch entzündet.“

„Soll das heißen“, fragte sie angstvoll, „Sie wollen wirklich, dass ich Sie operiere?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann ich nicht.“

„Alles halb so wild“, meinte er beruhigend. „Sie machen einen kleinen Schnitt, ich hole dann die Kugel heraus. Sie steckt ja nur im Fleisch, nicht im Knochen. Das ist eine Sache von fünf Minuten.“

Solaina geriet langsam in Panik. „Nein, das kann ich nicht, das bringe ich nicht fertig.“ Wieder dröhnte der Name Jacob Renner in ihrem Kopf. Ihre Hände begannen zu zittern, wie jedes Mal, wenn sie an ihn dachte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Atme tief durch, Solaina, ermahnte sie sich, verlier nicht die Nerven!

Jacob Renner – dieser Name hing wie ein dunkler Schatten über ihr. Sein Tod hatte ihr endgültig gezeigt, dass sie nicht dazu taugte, Patienten zu versorgen. Sie hatte kläglich versagt, und dieses Versagen würde sie ihr Leben lang verfolgen.

„Hören Sie, David“, beschwor sie ihn. „Falls Sie tatsächlich glauben, ich könnte die Kugel aus Ihrer Schulter holen, irren Sie sich gewaltig. Das schaffe ich nicht. Sie müssen schon warten, bis Howard kommt.“ Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Vor zwölf Stunden hatte sie Howard angerufen. Auch wenn die Straßen in Dharavaj kaum zum Rasen geeignet waren, würde er bald eintreffen.

„Okay, Solaina, wenn Sie es nicht machen, tue ich es selbst.“

„Sie?“, stieß Solaina hervor. „Haben Sie den Verstand verloren?“ Sie bemerkte seinen Blick, der die Pantry nach geeignetem Werkzeug absuchte. „Passen Sie auf, David, ich werde jetzt alle Messer aus dem Haus schaffen. Und für den Fall, dass Sie es vergessen haben, wiederhole ich es gern noch einmal – ein Freund von mir, ein Arzt, ist auf dem Weg hierher.“

Howard Brumley kam aus England und lebte schon seit einiger Zeit in Chandella. Nach seiner Pensionierung hatten er und seine Frau Victoria beschlossen, die Welt zu bereisen. Allerdings blieben sie gleich auf ihrer ersten Zwischenstation in Dharavaj hängen. Jetzt wohnten sie in Chandella direkt neben Solaina und waren wie eine zweite Familie für sie geworden. Außer ihrer Zwillingsschwester vertraute Solaina niemandem so sehr wie den Brumleys.

„Ich kann nicht auf diesen Howard warten“, widersprach David.

„Das müssen Sie aber.“ Ihre Stimme klang flehentlich. „Er bringt alles mit, was wir hier nicht haben – Verbandszeug, Medikamente und ein Skalpell. Er hat jahrelang selbst erfolgreich als Chirurg gearbeitet.“

Jetzt allerdings hatte er Arthritis in den Händen, einer der Gründe, warum er in den Ruhestand gegangen war. „Für einen Mann mit Ihren Verletzungen – und ohne Hosen, nebenbei bemerkt – sind Sie ganz schön dickköpfig.“

„Nicht dickköpfig … entschlossen.“

„Außerdem hat Howard auch ein Paar Hosen für Sie im Gepäck“, fügte sie hinzu. „Also, David, Hände weg von den Küc...

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