Julia Ärzte Spezial Band 27

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

NUR DU KANNST MEIN HERZ RETTEN! von LYNNE MARSHALL

Carey wird aus Joe nicht schlau: Der attraktive Notfallmediziner nimmt sie bei sich auf, kümmert sich liebevoll um sie und will sie sogar seiner Familie vorstellen. Doch obwohl es bald immer heißer zwischen ihnen knistert, besteht er auf einer platonischen Freundschaft …

GREENCARD – SCHEINEHE MIT HINDERNISSEN von ANNIE O‘NEIL

Eine Scheinehe mit dem amerikanischen Sanitäter Santiago ist die Lösung für die hübsche Irin Saoirse, um die heiß ersehnte Greencard zu ergattern. Dumm nur, dass Santiago so atemberaubend sexy ist! Prompt spürt sie eine unvernünftige sinnliche Sehnsucht …

DU BIST MEINE RETTUNG! von ANNIE CLAYDON

Rotes Haar, volle Lippen und unglaublich hellblaue Augen: Die attraktive Cass betört Rettungssanitäter Jack auf den ersten Blick. Doch egal, wie sehr er sich insgeheim nach ihren Küssen verzehrt – auf Dauer ist neben seiner Tochter kein Platz in seinem Herzen! Was nun?


  • Erscheinungstag 21.12.2024
  • Bandnummer 27
  • ISBN / Artikelnummer 8203240027
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Lynne Marshall

1. KAPITEL

Als sie in Hollywood aus dem Bus stieg, fühlte sich Carey Spencer allein wie nie zuvor in ihrem Leben.

Am selben Abend brachte Notfallsanitäter Joseph Matthews im Dienst der angesehenen Hollywood Hills Klinik eine Schauspielerin in das exklusive 20-Betten-Erholungshotel am Sunset Boulevard. Joe übernahm den Transport auf die ausdrückliche Bitte von James Rothsberg hin. Schließlich hatte die gefeierte Mimin im vorletzten Jahr einen Oscar für die beste Nebenrolle gewonnen.

Als leitender Notfallsanitäter seiner eigenen Krankentransportfirma begleitete er die Patientin, deren Name nicht laut ausgesprochen werden durfte, in die Reha-Einrichtung. Auf der Fahrt gab es keine besonderen Vorkommnisse. Die Schauspielerin war sediert, der intravenöse Zugang an Ort und Stelle, Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung lagen im grünen Bereich. Aber sie hatte so viele schönheitschirurgische Eingriffe im Gesicht, an Brüsten und Händen vornehmen lassen, dass sie mit den Bandagen aussah wie eine Mumie. Bei ihrer Ankunft strömten Ärzte und Pflegekräfte zum Wagen, als gelte es, den US-Präsidenten aufzunehmen.

Jetzt war es neun Uhr abends, und Joe lehnte sich im Beifahrersitz seines Krankentransporters zurück. Er hatte seinen Lieblingssender angestellt, um ein bisschen Musik zu hören … Jazz. Ja, ihm gehörte dieser Wagen – zusammen mit den fünf anderen –, also konnte er die Musik spielen, die er wollte! Das brachte ihn allerdings auf den Gedanken, dass einiges an Arbeit vor ihm lag. Heute war Monatserster, und er musste die Juni-Dienstpläne für seine Notfallsanitäter und Rettungshelfer kopieren, bevor sein Team morgen früh zur Arbeit erschien.

„Ich habe Hunger“, vermeldete sein Rettungshelfer Benny, der am Lenkrad saß.

Nichts Neues unter der Sonne. Der Junge war vor Kurzem zwanzig geworden und unersättlich. Doch da es ihre letzte Fahrt war und nichts weiter anlag, warum nicht einen Happen essen? „Wie wär’s mit dem Tex-Mex-Grill, wo wir neulich waren?“

„Du kannst Gedanken lesen.“ Benny grinste, und seine wilde Afromähne bebte, als er zufrieden nickte. Er bog vom Hollywood Boulevard auf den Cahuenga Boulevard ab und lenkte den Wagen zu dem Imbiss am Überland-Busbahnhof, wo gerade ein Bus einfuhr. Benny musste warten, bevor er auf einem der größeren Plätze parken konnte, und Joe betrachtete gedankenverloren, wie eine Handvoll Leute den Bus verließ.

Eine gut aussehende junge Frau mit einer riesigen Sonnenbrille war darunter. Sonnenbrille bei Nacht? wunderte sich Joe. Die Frau war groß und schlank, trug hochhackige Stiefel, Röhrenjeans und einen dunkelblauen Pulli. Soweit Joe im Licht der Bahnhofslampen erkennen konnte, war ihr gewelltes langes Haar braun. Mit einem rötlichen Schimmer? Er fragte sich, warum sie hier war und welche Geschichte dahintersteckte. Musste an den Schatten der Nacht liegen. Normalerweise verschwendete er in letzter Zeit keinen Gedanken an Frauen. Aber die hier war heiß. Eine Augenweide, wie eine Rose inmitten dorniger Sträucher.

Benny stellte die Ambulanz in der Nähe des Grills ab, und Joe stieg auf der Beifahrerseite aus. Ein verlockender Duft nach scharf gewürzten Bohnen und knusprigem Chipotle Chicken wehte ihm entgegen. Joe freute sich auf das Essen und hatte es eilig, Benny zu folgen.

Im Augenwinkel nahm er eine plötzliche Bewegung wahr und wandte den Kopf. Jemand war hinter einer Säule hervorgekommen, packte mit einer Hand die Tasche und mit der anderen das Handgelenk einer Frau, zerrte sie aus der Menge und zog sie mit sich in eine nahe gelegene Gasse.

Es war die Frau, die Joe gerade bewundert hatte! Die meisten Reisenden waren ihrer Wege gegangen, und die wenigen anderen schienen von dem Angriff nichts mitzubekommen, obwohl die Frau aufschrie und sich wehrte.

Joe rannte zur Gasse. „Hey!“, brüllte er, während er auf die junge Frau zulief, die immer noch um ihre Tasche kämpfte.

Der lange, dürre Kerl mit dem strähnigen Haar hielt sie an Schulterriemen und Handgelenk fest und schleppte sie mit sich, weiter ins Dunkle hinein.

„Hey!“

Diesmal blieb der Typ stehen und versetzte ihr einen Faustschlag. Sie fiel hin, ihr Kopf knallte aufs Pflaster. Kaltblütig riss der Mann ihr die Umhängetasche vom Körper, wobei sie ein zweites Mal hart mit dem Kopf aufkam. Dann stieg er ungerührt über sein Opfer hinweg und ging auf Joe los, der die beiden inzwischen erreicht hatte.

Er parierte den Angriff mühelos – der andere konnte ja nicht wissen, dass Joe in seiner Freizeit boxte –, doch plötzlich hatte der Kerl ein Messer in der Hand und stieß zu. Joe landete einen Treffer, spürte gleichzeitig einen blitzschnellen heißen Schnitt quer über seine Rippen. Jetzt wurde er richtig wütend. Sein Widersacher ergriff die Flucht, Joe hinterher, bis der Dieb auf einen Müllcontainer sprang und über eine hohe Mauerruine verschwand. Ungläubig sah Joe ihm hinterher. Der Mistkerl war ziemlich flink – wahrscheinlich gut in Übung von tätlichen Übergriffen auf Wehrlose.

Die Frau! Joe sprintete zurück zu ihr, hielt sich dabei die Seite.

Benny kam zeitgleich mit ihm an. „Ich habe die Polizei gerufen. Bist du okay?“

„Nur eine oberflächliche Verletzung.“ Trotzdem sah er vorsichtshalber nach. Hohe Adrenalinausschüttung konnte schmerzlindernd wirken. Das fehlte ihm gerade noch, dass der Schnitt tiefer gegangen war und eine ernste Wunde hinterlassen hatte.

Zum Glück sickerte das Blut nur heraus, es war also keine Arterie getroffen. Sobald Benny Notfalltasche, Sauerstoff und Trage hergebracht hatte, würde er eine saugfähige Kompresse auf die Schnittwunde drücken, um die arme Frau nicht vollzubluten.

„Hol unsere Ausrüstung, okay?“ Joe schnappte sich ein Paar Handschuhe von Bennys Gürtel und kniete sich neben die Verletzte, während Benny zum Krankenwagen rannte. „Ich bin Sanitäter, Miss. Hören Sie mich?“, sagte er laut und deutlich.

Keine Reaktion.

Er berührte ihre Schulter. „Hallo? Können Sie mich hören, Miss?“

Ihre Brust hob und senkte sich, also kein Atemstillstand. Joe tastete nach dem Karotispuls, fand ihn. Frequenz und Stärke waren normal. Gut. Mit geübtem Blick suchte er nach Anzeichen weiterer Verletzungen. Vorsichtig ließ Joe die Handflächen über die Unterseiten ihrer Arme und Beine gleiten, dann über beide Seiten ihres Körpers. Kein Blut, sehr gut.

Nur die kleine Lache in der Größe eines Fünfzig-Cent-Stücks neben ihrem Kopf. Bevor Benny und er ihr eine HWS-Schiene angelegt hatten, würde er ihren Hals nicht bewegen. Hinweise auf ihre Identität fand Joe nicht, wahrscheinlich waren ihre Ausweispapiere in der Umhängetasche, mit der der gemeine Dieb verschwunden war. Also mussten sie warten, bis sie wieder bei Bewusstsein war, um herauszufinden, wer sie war.

Selbst im schwachen Licht der Straßenlampen waren die Blutergüsse um ihr Auge zu erkennen. Und da sie die Umhängetasche quer am Körper getragen hatte, war ihr auch der Pullover heruntergerissen worden und ihr linker Arm teilweise entblößt. Auch hier Hämatome. Sie war zwar überfallen worden, doch das blaue Auge und die Stellen am Arm waren schon älter. Zorn erfasste Joe. Jemand hatte sie schon vor Tagen verprügelt.

Wer vergriff sich so an einer Frau?

Er schüttelte den Kopf. Sie war buchstäblich vom Regen in die Traufe gekommen – kaum hatte sie den Bus verlassen, wurde sie ausgeraubt und bewusstlos geschlagen. Joe war froh, dass er zufällig hier war. Nicht auszudenken, was mit ihr passiert wäre …

Insgeheim nahm er sich vor, auf die schöne Unbekannte aufzupassen. Verdammt, wenn jemand einen Schutzengel brauchte, dann sie!

Benny hatte den Krankenwagen herangefahren und brachte die Ausrüstung zu ihnen. Joe ließ sich von ihm einen provisorischen Verband anlegen, während er erneut die Atemwege seiner Patientin checkte. Obwohl alles in Ordnung schien, ließ er sie nicht aus den Augen. Bei der Kopfverletzung war es nicht ausgeschlossen, dass sie sich erbrach und etwas davon in die Luftröhre gelangte.

„Wir geben Ihnen Sauerstoff und legen Ihnen eine Halskrause um“, erklärte er ruhig, für den Fall, dass sie langsam das Bewusstsein wiedererlangte.

Bald darauf hatten sie Jane Doe – wie alle namenlosen weiblichen Opfer genannt wurden, bis man sie identifizieren konnte – auf dem Rettungsbrett stabilisiert. Sie lag immer noch reglos da, atmete jedoch gleichmäßig. Mit dem langen kastanienbraunen Haar, das ihr über die Schultern fiel, und den auf dem Spineboard fixierten Armen bot sie ein berührendes Bild.

Großstadt-Dornröschen.

„Fertig zum Transport?“, fragte Joe, um sich von seinen Gedanken abzulenken.

„Willst du nicht auf die Polizei warten?“

„Falls sie nicht hier sind, bis wir sie im Wagen haben, ruf an und sag, sie sollen in die Klinik kommen. Wir müssen mit Schädelfraktur oder subduraler Blutung rechnen. Sie muss so schnell wie möglich ärztlich betreut werden.“ Bei potenziellen Hirnverletzungen war das Zeitfenster knapp bemessen. Von der Goldenen Stunde der Rettung blieben ihr noch knappe fünfundvierzig Minuten. „Ich werde Dr. Rothsberg verständigen.“

Joe sprang in den Ambulanzwagen, um die Trage mit Rettungsbrett und Patientin vom Kopfende her hineinzulotsen, während Benny das andere Ende schob.

Keine Minute später war die Trage am Boden des Wagens gesichert. Joe untersuchte noch einmal Dornröschens Zustand und rief James an. Der sagte ihm unerwartet, dass er sie ins Hollywood Hills bringen solle. Joe war mehr als einverstanden. Er wäre sonst versucht gewesen, sie eher mit nach Hause zu nehmen, als sie einem schlecht ausgestatteten öffentlichen Krankenhaus mit überarbeitetem Personal zu überlassen.

Er zog sich das Hemd aus und nahm den Verband ab, um sich seine Verletzung bei Licht anzusehen. Die lange, gezackte Wunde blutete noch und musste definitiv genäht werden.

Benny sprach mit der Polizei, die gerade eingetroffen war, und zeigte ihnen, wo sie Jane Doe gefunden hatten und der Dieb über die Mauer geflüchtet war. Joe säuberte derweil seine Wunde, um sie neu zu verbinden. Das Desinfektionsmittel brannte höllisch!

Bevor sich die Polizisten auf die Suche nach Zeugen machten, die sie befragen konnten, warf einer der Beamten einen Blick ins Wageninnere. Er musterte erst die junge Frau und dann Joes Wunde, nickte und verschwand Richtung Gasse.

Benny schloss die Doppeltüren, schwang sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. „Sie nehmen unsere Aussagen später in der Klinik auf.“

„Gut.“ Joe war fertig mit seinem Verband und wandte sich wieder seiner Patientin zu.

Während sie mit blitzendem Blaulicht dahinfuhren, überprüfte er die Vitalzeichen und horchte ihre Lungen ab. Als Nächstes leuchtete er ihr mit der schmalen Stablampe in die Augen, um die Pupillenreaktion zu testen. Dazu musste er ihr das Haar aus dem Gesicht streichen. Es war dicht und seidig, und unsinnigerweise fühlte sich Joe bei einer intimen Geste ertappt. Vielleicht weil es lange her war, dass er die Hände ins weiche Haar einer Frau geschoben hatte. Natürlich war die Situation nicht damit zu vergleichen, aber er ärgerte sich über sich selbst, dass er plötzlich Verlangen danach verspürte.

Zu seiner Erleichterung reagierten die Pupillen normal. Die Verfärbungen um ihr Auge herum sahen allerdings böse aus. Da hatte jemand sie übel zugerichtet. Wieder kochte Ärger in ihm hoch – wegen einer Frau, über die er nicht das Geringste wusste. Joe beschloss, eine Verweilkanüle zu legen, damit sie in der Klinik gleich einen intravenösen Zugang hatten. Nach einer Kopfverletzung konnte der Hirndruck gefährlich ansteigen, und das wollte er mit Flüssigkeitsgaben nicht noch steigern. Außerdem war ihr Blutdruck normal.

Während er die Kanüle legte, ging er in Gedanken durch, was er über die schlafende Schönheit wusste. Außer ihrer Tasche hatte sie kein Gepäck dabeigehabt. Wahrscheinlich hatte sie sich nur das Nötigste geschnappt und war vor dem Typen geflüchtet, der sie verprügelt hatte.

„Wer bist du?“, fragte Joe leise. „Woher kommst du?“

Er nahm ihre Hand in seine, wieder von dem starken Bedürfnis erfüllt, die Unbekannte zu beschützen. Ihre Finger waren lang und zierlich, mit gepflegten, unlackierten Nägeln. Mach dir keine Sorgen, versprach er ihr stumm. Ich passe auf dich auf.

Nachdem sie die schmalen Straßen mit ihren Haarnadelkurven überwunden hatten, erreichten sie die Hollywood Hills Klinik, weit unterhalb der berühmten weißen Lettern, die das Hollywood-Zeichen bildeten.

Die noble Privatklinik, ein moderner Bau, dessen Flächen fast zur Hälfte aus erdbebensicherem Spezialglas bestanden, funkelte nachts wie ein in den Hügel gefasster Diamant. Warmes goldenes Licht schien aus jedem der überdimensionalen Fenster und signalisierte, dass die Klinik rund um die Uhr geöffnet war. Hohe Zäune schützten Privatsphäre und Sicherheit der Klienten. Jedes Fahrzeug wurde angehalten und überprüft.

Ambulanzen ausgenommen. Sobald das Tor weit genug geöffnet war, brausten sie mit ihrem Krankentransport aufs Klinikgelände. Benny lenkte den Wagen zur Rückseite des Gebäudes. Joe zog sich das Hemd wieder über und knöpfte es vorsichtig über dem Verband zu.

Wieder einmal konnte er sein Glück nicht fassen, dass er mit seiner Firma nur zwei Jahre nach Gründung den Zuschlag bekommen hatte, für James Rothsbergs Klinik arbeiten zu dürfen. Damals war er dreiundzwanzig gewesen, fertig ausgebildeter Notfallsanitäter mit einem Plan und einer guten Portion Unternehmergeist, den sein hart arbeitender Vater in ihm geweckt hatte.

Vielleicht hatte James in ihm etwas gesehen, das ihn für den Job prädestinierte. Vielleicht war es auch nur perfektes Timing gewesen, nachdem Joes Vorgänger das Vertrauen seiner Arbeitgeber massiv enttäuscht hatte, als er in einer Fernsehshow Indiskretionen über illustre Klientinnen der Klinik ausplauderte.

James’ Eltern Michael Rothsberg und Aubrey St. Claire hätten mit ihren Skandalen Bücher füllen können. Jeder, selbst Joe, erinnerte sich an die Schlagzeilen, obwohl er damals noch ein Teenager gewesen war. Jede Boulevardzeitung und jede Talkshow berichtete über ihre Affären. Die beiden gehörten zur Crème de la Crème von Hollywood und zu den bestbezahlten Schauspielern ihrer Zeit.

Rothsberg und St. Claire vom Olymp stürzen zu sehen wurde zur Lieblingsbeschäftigung der Nation, nachdem ein Exlover in seinem Buch enthüllt hatte, dass sich hinter dem schönen Schein die hässliche Fratze von Lug und Betrug verbarg. Ihre Ehe war eine einzige Farce, und am meisten litten darunter ihre Kinder James und Freya.

James hatte Joe deutlich zu verstehen gegeben, dass Loyalität zur Klinik und ihren Patienten oberstes Gebot sei. Alles andere würde er nicht tolerieren. Und Joe hielt bis heute sein Versprechen, ihn nicht zu enttäuschen. An jenem Tag war er aus James’ Büro marschiert und hatte sich gefühlt wie der glücklichste Mann auf Erden. Das Schicksal meinte es gut mit ihm!

Er konnte nicht ahnen, dass er bald selbst erfahren sollte, wie es war, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Genau wie bei James war es nicht seine Schuld, aber deshalb war es nicht leichter zu verkraften.

Inzwischen glaubte Joe weder ans Schicksal noch an glückliche Zufälle. Nein, seiner Meinung nach hatte alles einen Grund. Auch seine verfluchte Zeugungsunfähigkeit, obwohl er sich noch nicht damit abgefunden hatte. Er warf einen Blick auf seine Hand, wo der Ehering gesteckt hatte. Nein, Joe wollte nicht daran, sondern lieber an das Positive denken. An das Hier und Jetzt. Dass es geschäftlich gut für ihn lief. Dass er einen sicheren Job hatte.

Gerade erst hatte er einen neuen Vertrag über fünf Jahre mit der Hollywood Hills Klinik unterzeichnet. War er nicht auch eine Hollywood-Erfolgsgeschichte? Mit gerade einmal achtundzwanzig besaß er ein eigenes Unternehmen und arbeitete für die renommierteste Klinik der Stadt. Doch wie konnte er von Erfolg reden, wenn der Rest seines Lebens in Trümmern lag?

James Rothsberg kam persönlich an den Krankenwagen, begleitet von einem weiteren Arzt, einer Krankenschwester und einem Pfleger. Der Leiter der Hollywood Hills Klinik war etwas größer als Joe, stand ihm mit seinem athletischen, durchtrainierten Körper in puncto Fitness jedoch in nichts nach. Was sein Aussehen betraf, so fand Joe, dass er in einer völlig anderen Liga spielte.

In der Regenbogenpresse schwärmte man von dem Sohn zweier Hollywood-Größen, er sei ein „Adonis im Arztkittel“. Ja, er sah klasse aus, ein charmanter, weltgewandter Beau, von dem Frauen träumten und mit dem Männer sofort tauschen würden. Joe scheute sich nicht zuzugeben, dass er ihn aufrichtig bewunderte. Der Arzt leitete eine Privatklinik, in die die Reichen und Berühmten strömten, bereit, jeden Preis für seine schönheitschirurgischen Dienste zu bezahlen.

„James, was tun Sie denn noch hier?“

„Sie haben mich neugierig gemacht“, antwortete er. „Ich wollte Jane Doe mit eigenen Augen sehen.“

Joe schob die Rollliege aus dem Wagen, und Rick, einer der Nachtpfleger, zog am anderen Ende.

James betrachtete die bewusstlose Patientin. „Das Veilchen ist aber nicht von heute Abend.“

„Nein. Jemand hatte ihr schon übel mitgespielt, bevor sie ausgeraubt wurde.“

„Apropos – die Polizei hat gerade angerufen. Sie werden gleich hier sein, um Ihre Aussage aufzunehmen.“ James tippte auf seinen Arm. „Vorher möchte ich mir Ihre Verletzung genauer ansehen, okay?“

Joe zögerte. Sollte er sich um Dornröschen kümmern oder erst um sich selbst? Er beruhigte sich damit, dass sie hier in den besten Händen war. Außerdem kam es nicht jeden Tag vor, dass der Klinikchef einem Angestellten anbot, ihn höchstpersönlich zu verarzten.

„Danke, Doc, das ist nett.“

„Und absolut eigennützig. Ich muss doch auf meinen besten Notfallsanitäter gut aufpassen, oder?“

Noch etwas, was Joe an ihm mochte. James war bescheiden genug, um nie mit seinem Reichtum oder seinem gesellschaftlichen Status zu protzen.

Nachdem die Pflegehelferin den Verband entfernt hatte, inspizierte James die Wunde. „Also, was ist passiert?“

Während James eine Kompresse auf die Wunde drückte, die immer noch blutete, berichtete Joe.

„Wenn das so ist, muss ich Ihnen auf jeden Fall eine Tetanusspritze verpassen. Wer weiß, was so alles an diesem Messer klebte.“

„Ja, der miese Kerl war wirklich eklig.“

„Gut, dass Sie einen erfahrenen Schönheitschirurgen zur Hand haben, der den Schnitt näht. Es wäre ein Jammer, diesen perfekten Waschbrettbauch zu ruinieren.“

Joe lachte. Hartes Workout und sein Boxtraining hielten ihn fit. Besonders das Boxen hatte ihm geholfen, bei Verstand zu bleiben, als er während der Scheidung nicht nur einmal versucht war, seinen besten Freund windelweich zu prügeln. „Au!“, stieß er hervor, überrascht, wie empfindlich er reagierte, als die Pflegehelferin die Wunde reinigte.

„Au“, wiederholte er, als James die lokale Betäubung injizierte.

Der Arzt lachte. „Seien Sie ein Mann, Kumpel. Ich habe noch nicht einmal angefangen.“

Ja, sei ein Mann, zeugungsunfähig, aber ein Mann! Joe konnte ein ironisches Lachen nicht unterdrücken.

„In ein paar Minuten spüren Sie nichts mehr“, versprach James.

Natürlich kannte Joe das Prozedere. Er hatte schließlich oft genug Wunden geflickt. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er der Patient, bei dem genäht werden musste.

„Noch einmal zurück zu der jungen Frau mit dem blauen Auge.“ James zog sterile Handschuhe über und beugte sich über das Instrumententablett. „Ich frage mich, ob sie schon vor dem Überfall intrakranielle Verletzungen hatte, die zu ihrer Bewusstlosigkeit beigetragen haben.“

„Ich hatte den gleichen Gedanken, aber sie ist mit dem Kopf wirklich hart aufgeschlagen. Hoffentlich entwickelt sie kein subdurales Hämatom.“

„Das untersuchen wir gründlich.“

„Danke. Kann sein, dass es komisch klingt, aber ich fühle mich für sie verantwortlich, seit ich das Ganze miterlebt habe. Ich war nicht schnell genug bei ihr, habe sie als Erster behandelt und so weiter. Und es macht mir Sorgen, dass wir nicht wissen, wer sie ist.“

„Da haben Sie eine Regel gebrochen, hm? Wir sollten professionelle Distanz zu unseren Patienten wahren.“

„Stimmt, und ich weiß, es ist dumm, aber …“

James hielt inne und blickte auf. „Wenn die Polizei kommt, werden wir ihnen mitteilen, dass wir unsere Jane Doe nicht nur behandeln, sondern auch hierbehalten werden, bis sie sich erholt hat.“

Einen Moment lang fehlten Joe die Worte. Die Kosten für Behandlung und Unterbringung in dieser exklusiven Klinik waren astronomisch hoch, und er wollte dem Arzt dankbar die Hand schütteln. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er sterile Handschuhe trug.

„Danke, das ist großartig.“ Joe verstummte, als er sah, wie die gebogene Nadel durch die Haut stach. Zwar fühlte er absolut nichts, aber er mochte sich auch nicht rühren.

„Wenn ich das so nähe, wird die Narbe so gut wie unsichtbar sein“, meinte James und grinste. „Andererseits könnte ich Ihnen auch aus dem Sixpack ein Sevenpack machen.“

Joe musste an eine Fernsehserie denken, während er sich krampfhaft das Lachen verbiss. Der Titel: „Es tut nur weh, wenn ich lache.“

Zwei Stunden später hatte die Polizei einen umfangreichen Bericht aufgenommen. Leider konnten sie bisher niemanden ausfindig machen, auf den die Beschreibung zweier Zeugen passte. Auch von Jane Does Umhängetasche fehlte jede Spur.

Seufzend schüttelte Joe den Kopf. Sie würde Madam X bleiben, bis sie wieder aufwachte. Was hoffentlich bald der Fall sein würde.

„Einen kleinen Hinweis haben wir allerdings“, fügte der Beamte hinzu.

„Und welchen?“ Erwartungsvoll sah Joe ihn an.

„Eine Krankenschwester fand in der Jeans der Patientin ein Busticket. Falls es mit Kreditkarte bezahlt wurde, können wir das zurückverfolgen und darüber ihre Identität feststellen.“

„Sehr gut. Und wenn sie bar bezahlt hat?“

„Das könnte darauf hindeuten, dass sie nicht gefunden werden will.“

„Was zu den Blutergüssen passen würde.“

„Richtig. In jedem Fall lässt sich der Ursprung des Fahrscheins klären, also in welcher Stadt sie in den Bus gestiegen ist. Aber sie müsste doch bald aufwachen, oder?“

Joe blickte zu ihr hinüber. Sie trug inzwischen eins der schicken Krankenhaushemden der Klinik, hatte einen i.v.-Zugang im Arm und lag friedlich da wie ein schlafendes Kind.

„Schwer zu sagen bei einer Gehirnerschütterung und möglicherweise einem Hirnödem. Soweit ich weiß, schließen die Ärzte eine Operation noch nicht aus.“

Der junge Polizist nickte teilnahmsvoll. „Okay, wir bleiben in Verbindung.“ Er gab Joe seine Karte. „Wenn sie aufwacht, oder falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Ich werde mich melden, sobald es etwas Neues gibt.“

„Danke.“

Ein Stationshelfer und eine Krankenschwester rollten Jane an Joe vorbei.

„Wo geht’s hin?“

„In ihr Zimmer auf der Überwachungsstation. Sie kommt in 17A.“

Auf dieser Station wurden Patienten betreut, die eine besondere Pflege brauchten. Unter der Leitung von Dr. Di Williams lief die Abteilung wie eine geölte Maschine. Für Jane war also gut gesorgt.

Trotzdem … Joe traf eine spontane Entscheidung. Heute Abend würde er nicht nach Hause fahren. Vorausgesetzt, dass James und Di einverstanden waren, wollte er an Ort und Stelle abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

Eine Viertelstunde später lag Dornröschen in einem luxuriösen Einzelzimmer, das eher in ein nobles Wellnesshotel gepasst hätte als in ein Krankenhaus. Die einzigen Hinweise waren das Bettgitter und die hinter großen Vasen und üppigen Blumenarrangements verborgenen Monitore. Die geschmackvolle Farbgebung in Beige, Weiß und Creme wirkte beruhigend, doch Joe verspürte keine Müdigkeit. Stattdessen saß er in dem bequem gepolsterten Sessel am Bett und betrachtete seinen schlafenden Schützling.

Wo kommst du her? Was hast du erlebt? Es waren nicht die einzigen Fragen, die er sich stellte. Eine betraf ihn selbst. Warum fühlte er sich für sie verantwortlich? Weil sie vollkommen schutzlos war, nahezu ausgeliefert und zutiefst verletzlich? Ja, er kannte das Gefühl, und deshalb musste neben einer Krankenschwester noch jemand auf sie aufpassen. Zumindest, bis man herausgefunden hatte, wer sie war, damit man ihre Familie benachrichtigen konnte.

Das blaue Auge und die hässlichen Spuren an den Armen deuteten auf häusliche Gewalt hin. Wahrscheinlich war sie von dem Mann, den sie einmal geliebt haben musste, verprügelt worden.

Unwillkürlich rieb Joe über seinen Ringfinger, während er sich daran erinnerte, wie sehr Liebe wehtun konnte.

2. KAPITEL

Eine feste Hand katapultierte Joe aus seinem träumerischen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Er hatte gelächelt, schwebend, dahintreibend in unendlichen Weiten.

Der Griff an seine Schulter löste einen Adrenalinstoß aus, der seinen Puls hochjagte. Joe fuhr hoch, schlug die Augen auf. In weniger als einer Sekunde erinnerte er sich, wo er war, wandte den Kopf und starrte die ältere Nachtschwester an.

Cecilia, oder?

„Was ist los?“ Er blickte zum Krankenhausbett hinüber. Dornröschen lag inzwischen auf der Seite, tief schlafend oder immer noch bewusstlos. Kissen stützten sie am Rücken und zwischen den Knien. Ein schöner Schutzengel bist du! All das war geschehen, ohne dass Joe davon etwas mitbekommen hatte.

„Sie werden gebraucht. Ein Hubschraubertransport nach Santa Barbara.“

„Alles klar. Passen Sie auf sie auf.“

„Dafür werde ich bezahlt“, nuschelte Cecilia und zupfte die Bettdecke zurecht.

Joe stand auf und warf einen letzten Blick auf Jane, bevor er die Männertoilette aufsuchte, um sich frisch zu machen. Hinterher meldete er sich im Übergabezimmer zum Dienst.

Rick, der Pfleger von gestern Nacht, hatte seinen Dienst fast beendet und informierte Joe über den Auftrag. „Patientin ist vierundfünfzig, postoperativ nach Brustverkleinerung, Fettabsaugung und Halsstraffung. OP und Aufwachphase ohne Komplikationen. Für die Dauer der endgültigen Erholung wird sie im Santa Barbara Cottage Hotel untergebracht. I.v.-Zugang im rechten Arm. Letzte Analgetika-Gabe vor einer Stunde mit 75 mg Demerol. Verbände und Drainageschläuche da, wo sie sein sollen, kein Durchbluten beobachtet. Dr. Rothsberg hat sein Okay für den Transfer gegeben.“ Der Pfleger, fit, braun gebrannt, zwinkerte Joe zu. „Es kann losgehen. Sie gehört Ihnen.“ Außer Hörweite der Patientin flüsterte Rick noch: „Ich habe nicht für ihren Mann gestimmt.“

Joe brachte die Patientin aufs Dach, wo der Helikopter bereits startklar war, und lud sie ein. Nachdem er sich rasch vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, fixierte er die Patientin mit Gurten und verankerte die hydraulische Spezialliege im Hubschrauber. Ein prüfender Blick, ob die Notfallausrüstung vollständig und zum Einsatz bereit war, dann schloss Joe die Patientin an die Überwachungsgeräte an, setzte erst ihr und dann sich selbst Kopfhörer auf und nahm auf seinem Sitz Platz. Er hatte sich kaum angeschnallt, da hob die Maschine ab.

Der Flug verlief ohne Probleme. Am Flughafen von Santa Barbara wurde die Frau des Politikers diskret von einem Team des Reha-Hotels übernommen, und Joe hatte Zeit für einen Kaffee und ein schnelles Frühstück, bevor das Okay für den Rückflug kam.

Zwei Stunden später war er wieder im Hollywood Hills und hatte nur einen Gedanken: nach Jane Doe zu sehen. Er hoffte, dass sie inzwischen wieder bei Bewusstsein war und alle ihren Namen kannten. Wie sie wohl heißen mochte? Alexis? Belle? Colette?

Erwartungsvoll betrat er ihr Zimmer … und fand sie vor, wie er sie verlassen hatte. Still und stumm. Enttäuschung machte sich in ihm breit.

Die diensthabende Schwester traf gerade Vorbereitungen für eine Ganzkörperwaschung. Dampf stieg aus der Schüssel auf dem Nachttisch auf, und daneben lagen ordentlich gefaltet Handtücher, Waschlappen und ein frisches Patientenhemd. Ein großes weiches Badetuch lag auf Janes Brust, unter dem sie anscheinend nackt war. Joe wandte den Blick ab, und die Krankenschwester zog den Vorhang um das Bett.

„Keine Veränderung?“, fragte er.

„Nein. Aber als ihre Laborwerte zurückkamen, gab es eine kleine Überraschung.“

„Ist mit ihrem Schädel alles in Ordnung?“

„Das ja, CT und MRT sind unauffällig, abgesehen davon, dass sie eine starke Gehirnerschütterung mit Hirnschwellung hat. Und natürlich die anhaltende Bewusstlosigkeit, die vom EEG bestätigt wird.“

Joe kannte die Regeln. Die Schwester war nicht befugt, ihm Details mitzuteilen. Theoretisch ging ihn die schöne Unbekannte nichts an, hätte er nicht gestern Nacht geschworen, auf sie aufzupassen. Und da er noch nicht dazu gekommen war, seinen Einlieferungsbericht abzuzeichnen, musste er ihre Krankenakte aufrufen, um das Versäumte nachzuholen. Dabei konnte er einen Blick auf die Untersuchungsergebnisse werfen.

Er marschierte in die Aufnahme und spähte nach einem freien Computer, als er James begegnete. Der Mann wirkte ausgeruht und fit. Joe selbst hatte sich gerade flüchtig im Spiegel gesehen – dunkle Schatten unter den Augen, schwarze Bartstoppeln auf Kinn und Wangen. Ein Anblick zum Fürchten.

„Was machen Sie denn noch hier?“, wollte James wissen.

„Bin gerade zurück von dem Patiententransfer nach Santa Barbara.“

„Cecilia hat mir erzählt, dass Sie über Nacht hiergeblieben sind.“

„Okay, ich wollte bei Jane Doe sein, wenn sie aufwacht.“

Der Klinikchef schien nicht begeistert zu sein. „Dies ist eine ärztliche Anordnung, Joe. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus. Und lassen Sie sich erst wieder zu Ihrem Spätdienst blicken. Verstanden?“

„Klar. Ich muss nur noch meinen Bericht abzeichnen.“ Zwei Mitarbeiter belegten James mit Beschlag, sodass Joe die Gelegenheit nutzte, an den Computer zu verschwinden. Er loggte sich ein und rief Jane Does Datei auf.

Zuerst las er die CT- und MRT-Ergebnisse, dann die Laborwerte. Keine Drogen. Gut. Elektrolyte, Blutzucker, Leber- und Nierenfunktionstests, alles im grünen Bereich. Die nächste Eintragung haute ihn fast vom Stuhl.

Schwangerschaftstest: positiv.

Seine Gedanken überschlugen sich. Wusste die rätselhafte Fremde, dass sie schwanger war? Drehte der werdende Vater halb durch vor Sorge, weil sie verschwunden war? Oder war der Mistkerl, der sie verprügelt hatte, der Vater … weil er das Kind nicht wollte?

War sie von zu Hause weggelaufen? Es sah ganz danach aus. Bittere Erinnerungen an einen anderen Schwangerschaftstest überrollten ihn. Einen, der sein Leben verändert hatte. Joe wehrte sich gegen die Gedanken, die auf ihn einprasselten, wohl ahnend, dass sie ihm nicht guttun würden.

Aber er war zu müde, die Schutzmauern bröckelten. Wieder durchlebte er das Hochgefühl, als er erfuhr, dass er endlich Vater werden würde. Bis er das Ergebnis einer anderen Untersuchung vor sich hatte, das ihm schwarz auf weiß bewies, dass seine Frau nicht von ihm schwanger sein konnte. Jede Hoffnung auf eigene Kinder starb eines kalten Todes. Dazu die Fragen, der Streit. Hässliche Antworten, die seine Ehe für immer zerstörten.

Verdammt.

Er musste weg von hier. James hatte recht. Er brauchte dringend Schlaf, bevor er auf dumme Ideen kam. Wie zum Beispiel seinem besten … nein, ex-besten Freund endlich die Abreibung zu verpassen, die der verdiente!

Am dritten Tag saß Joe in seinem neuen Lieblingssessel am Bett der mysteriösen Unbekannten und blätterte unkonzentriert in einem Fitnessmagazin. Er konnte nur noch daran denken, was Di Williams, die tüchtige Ärztin, die die Überwachungsstation leitete, vorhin gesagt hatte. Dornröschen hatte offensichtlich eine Hirnverletzung erlitten, die die Schaltungen im zerebralen Kortex beeinträchtigte – ungefähr wie bei einem Auto im Leerlauf, ohne dass der Motor startete.

Unterm Strich bedeutete es, dass man sie als Komapatientin in ein Krankenhaus verlegen musste, wo sie längerfristig gut versorgt werden konnte. Falls ihr Zustand sich nicht bald veränderte.

Die Vorstellung bedrückte ihn. Dr. Williams wollte sie heute in eine spezielle Koma-Abteilung bringen, um ein erweitertes CT schreiben zu lassen. Sie wollten auch ihre Durchblutung und die metabolische Aktivität prüfen und danach entscheiden, wie sie weiter vorgingen.

Joes Magen war ein einziger Knoten. Die Zeit lief ihnen davon. Es war so unfair für das Mädchen aus dem Bus. Und was wurde aus ihrem Baby?

Jane rührte sich, und Joe richtete sich abrupt auf. Zum ersten Mal erlebte er selbst mit, was die Krankenschwestern ihm schon ein paar Mal beschrieben hatten. Bisher war jedoch, von diesen flüchtigen Bewegungen abgesehen, nichts passiert.

Ein raues Krächzen entrang sich ihrer Kehle. Joe hielt den Atem an, sein Herz klopfte schneller, und er drückte auf den Rufknopf.

Jane Doe wachte auf.

Joe erhob sich, beugte sich über das Bett und beobachtete angespannt, wie ihre Lider zuckten. Er knipste die Deckenlampe aus, damit das grelle Licht sie nicht blendete.

Sie schlug die Augen auf.

Grüne, wunderschöne Augen, so schön wie sie. Doch kaum hatte sie sie geöffnet, kniff sie sie fest zusammen und verzog angstvoll das Gesicht.

Carey kämpfte um ihr Leben, schlug mit beiden Armen um sich, trat mit den Füßen. Jemand wollte ihr wehtun. Nicht Ross. Diesmal nicht. Sie versuchte wegzurennen, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sie versuchte zu schreien, doch aus ihrer Kehle kam kein Laut. Panik erfasste sie, so furchtbar wie nie zuvor in ihrem Leben. Aber sie durfte nicht aufgeben, sie musste ihr Baby schützen.

Jemand brüllte und rannte auf sie zu. Jemand, der ihr helfen wollte. Mit breiten Schultern, kraftvollen langen Beinen und schnell. „Hey!“ Eine starke Stimme. Ein markantes Gesicht, voller Entschlossenheit. Zornig auf den Mann, der ihr die Tasche entreißen wollte. Carey wehrte sich, wollte nur weg von dem stinkenden Kerl, der ihren Arm umklammert hielt.

„Hey!“ Kämpfe! Lauf weg!

„Ist ja gut, alles ist gut. Sie sind in Sicherheit.“ War das nicht die Stimme des Mannes? Warme Hände packten ihre Schultern. Sie hielt den Atem an.

Andere Hände strichen ihr das Haar aus dem Gesicht. „Beruhigen Sie sich, Honey“, hörte sie eine Frau sagen. „Sie sind im Krankenhaus.“

Krankenhaus?

Carey schüttelte den Kopf. Es tat weh. Ihr wurde schwindlig, so heftig, dass sie ganz stillhielt. Sie wartete darauf, dass die Hände sie losließen, spürte erst jetzt ein weiches, bequemes Bett unter sich. Vorsichtig wagte sie es, die Augen zu öffnen, wandte den Kopf zu dem Schatten über ihr. Langsam erkannte sie Gesichtszüge und dann das Gesicht aus ihren Träumen, das eines starken, mutigen Mannes. Träumte sie immer noch?

Sie blickte ihn an, wartete darauf, dass sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Ja, es war der Mann, der ihr zu Hilfe gekommen war. Freundliche braune Augen. Kurzes dunkles Haar. Ein kantiges Kinn. Gut aussehend.

„Sie sind im Krankenhaus und völlig sicher“, sagte er mit tiefer, beruhigender Stimme.

Was sie hinter ihm sah, erinnerte mehr an ein teures Hotel als an eine Klinik. Sanfte Farben, modernes Mobiliar, ein erstklassiges Zimmer, wie sie sich nie eins hatte leisten können. Als Nächstes entdeckte sie den Zugang in ihrer Ellenbeuge – für sie als Krankenschwester ein gewohnter Anblick. Und ja, sie trug ein Krankenhaushemd. Es war seidig weich und nicht zu vergleichen mit den verwaschenen, zu hart gestärkten Hemdchen in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete.

Alles war so seltsam. Seltsam unwirklich. Was machte sie hier? Moment. Sie war angegriffen, geschlagen worden, zu Boden gestürzt. Oh nein! Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch.

„Mein Baby!“ Ihre Stimme klang gedämpft, so als hätte sie Kopfhörer auf.

„Ihrem Baby geht es gut“, sagte die Frau. „Dann erinnern Sie sich, dass Sie schwanger sind?“

Carey nickte. Sofort war der Schmerz wieder da. Trotzdem lächelte sie, glücklich, dass es ihrem Baby gut ging.

Der attraktive junge Mann erwiderte ihr Lächeln. Überrascht von der Anteilnahme, die sie in seinen Augen las, fragte sie sich, ob sie ihn kannte.

„Meinem Kind ist nichts passiert“, flüsterte sie ihm zu. Gefühle überwältigten sie, und plötzlich musste sie weinen.

Da passierte etwas Merkwürdiges. Der Mann, von dem sie nicht sicher wusste, ob sie ihn kannte oder nicht, der Mann bekam feuchte Augen. „Ja, mit Ihrem Baby ist alles in Ordnung“, sagte er rau.

Während sie ihren Tränen freien Lauf ließ, lächelte er fürsorglich, noch immer sichtlich bewegt. Einen Moment lang fühlte sich Carey unerwartet geborgen.

„Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus, Honey“, erklärte die Krankenschwester.

„Aber wo?“

„In Hollywood. Sie sind in Kalifornien.“

Sie überlegte, erinnerte sich vage, wie sie in einen Bus stieg. Den Bus wieder verließ. Alles andere waren blasse Bilder. Das Nachdenken wurde anstrengend.

„Wie heißen Sie, Honey?“, fuhr die Krankenschwester fort.

„Carey Spencer.“ Wenigstens wusste sie ihren Namen noch. Aber sie konnte kaum die Augen offen halten, wollte nur schlafen, schlafen …

„Sie driftet wieder weg.“ Die Stimme des netten Mannes kam wie aus weiter Ferne.

„Das ist normal bei Kopfverletzungen“, antwortete die Schwester.

Dr. Williams sagte den Transport in die Koma-Abteilung ab, und Joe bat einen seiner Mitarbeiter, seinen Dienst zu übernehmen. Er wollte bei Carey Spencer sein, wenn sie das nächste Mal wieder aufwachte.

„Wo bin ich?“

Joe war für einen Moment eingedöst. Als er aufsah, saß Carey aufrecht im Bett. Die Haare fielen ihr in dichten Wellen über die Schultern, die dunkelgrünen Augen waren fest auf ihn gerichtet. „Wo bin ich?“ Das klang schon drängender.

Er hatte es ihr vorhin schon gesagt, aber sie hatte eine starke Gehirnerschütterung. Da konnten Informationen schnell wieder in der Versenkung verschwinden.

„Sie sind in einer Klinik in Hollywood. In Kalifornien. Sie sind vor ein paar Tagen abends mit einem Überlandbus gekommen. Wissen Sie noch, woher?“

„Ich will nicht, dass meine Familie verständigt wird.“

Joe klingelte nach der Schwester. „Wen wir kontaktieren, bestimmen ganz allein Sie.“

„Ich komme aus Montclare, Illinois. Ein Vorort von Chicago.“

„Okay. Sind Sie verheiratet?“

„Nein. Ich bin schwanger.“ Carey hielt seinen Blick fest. „Und meinem Baby geht es gut.“ Ihr sanftes Lächeln stellte die verrücktesten Dinge mit ihm an. Allem voran das intensive Bedürfnis, sie zu beschützen. Diese grünen Augen und das schimmernde kastanienbraune Haar … Selbst mit dem Veilchen, das allmählich verblasste, sah sie hinreißend aus. Seiner Meinung nach jedenfalls.

„Ja. In der Hinsicht brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wie weit sind Sie? Wissen Sie das?“

„Im dritten Monat.“

„Und Sie sind mit dem Bus hergekommen, weil …“

Sie zögerte. „Weil ich wegmusste“, gestand sie schließlich.

„Verstehe. Stecken Sie in Schwierigkeiten?“

Sie schüttelte den Kopf, hörte aber sofort wieder damit auf. Anscheinend verursachte jede Kopfbewegung noch Schmerzen.

Die Krankenschwester betrat das Zimmer und bat Joe, nach draußen zu gehen, damit sie sich um ihre Patientin kümmern konnte.

Er war schon auf dem Weg zur Tür, da hielt ihn Careys melodische Stimme zurück. „Warten Sie!“

Joe drehte sich um.

„Wie heißen Sie?“

„Joseph Matthews. Ich bin der Notfallsanitäter, der Sie hergebracht hat.“

„Danke, Joseph. Sie haben mir das Leben gerettet … und das meines Babys.“

Verlegen lächelnd starrte er auf seine Arbeitsstiefel. Er wusste nicht, ob sie ihm ihr Leben verdankte, aber er war unbeschreiblich froh, dass er an jenem Abend zur Stelle gewesen war.

Die Polizei wurde verständigt, und Joe übernahm wieder seinen Dienst. Gegen zehn Uhr abends, als er fast fertig war, kam James zu ihm.

„Wussten Sie, dass sie Krankenschwester ist?“

„Nein. Wie interessant.“

„Sie wollte uns nicht erzählen, woher sie das blaue Auge hat, aber die Tatsache, dass sie vehement dagegen ist, den Vater des Kindes zu kontaktieren, erklärt alles, oder?“

„Traurig, aber wahr.“

„Da sie sich erholt, werde ich sie morgen entlassen müssen. Vorausgesetzt, ihr Zustand bleibt stabil.“

Überrascht fragte sich Joe, warum er daran nicht gedacht hatte. Natürlich konnte sie nicht hier in der Klinik bleiben. Aber zusammen mit ihrer Handtasche waren ihr sämtliche Papiere und alles Geld gestohlen worden. Sie war schwanger und allein in einer fremden Stadt. Wo sollte sie hin? Morgen war Sonntag, da hatte keine Behörde geöffnet. Sie konnte ja schlecht ins Obdachlosenasyl gehen!

Seine Entscheidung fiel so schnell, dass er selbst fast nicht mitkam. „Ich habe ein Gästezimmer“, hörte er sich sagen. „Da könnte sie wohnen.“

„Großartig“, meinte James. „Fragt sich nur, ob sie sich bei einer unserer Krankenschwestern nicht wohler fühlen würde.“

„Stimmt. Blöde Idee von mir.“

„Finde ich nicht. Wenn Sie mich fragen, ist Ihr Angebot sogar verdammt nobel. Ich werde mich dafür verbürgen, dass Sie ein Gentleman sind.“ James warf ihm ein wissendes Lächeln zu und ging.

Joe unterdrückte den Impuls, in Careys Zimmer zu laufen, um ihr seine Unterstützung anzubieten. Sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, nachdem die Sozialarbeiterin sie wahrscheinlich mit Fragen überhäuft hatte, um Licht ins Dunkel zu bringen. Der armen Frau schwirrte sicher der Kopf.

Trotzdem wollte er nicht gehen, ohne ihr Gute Nacht zu sagen. Er machte sich auf den Weg zur Station und klopfte an 17A. Auf ihr „Herein!“ hin steckte er den Kopf ins Zimmer. „Wollte Ihnen nur eine gute Nacht wünschen.“

Carey wirkte deutlich entspannter und lächelte ihn an. Sie ist süß, dachte er. Und ihr Lächeln …

„Gute Nacht“, sagte sie. „Und vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben.“

„Gern geschehen, Carey.“

„Sie wollen mich morgen entlassen.“

„Haben Sie schon eine Unterkunft?“

„Bisher nicht. Der Sozialdienst wollte sich darum kümmern.“

Joe trat an ihr Bett und setzte sich auf die Kante seines Lieblingssessels. „Ich … Ich habe ein Haus im Westen Hollywoods. Die Straße ist eine Sackgasse, die Gegend sehr sicher. Also … falls Sie nicht wissen, wo Sie unterkommen sollen, können Sie mein Gästezimmer haben. Es hat auch ein eigenes Bad.“

„Sie haben schon so viel für mich getan. Das kann ich unmöglich …“

„Nur so lange, bis Sie wieder festen Boden unter den Füßen haben. Na ja, wenn Sie möchten … meine ich …“ Warum klang er wie ein schüchterner Teenager, der zum ersten Mal ein Mädchen um ein Date bat? Er hatte nichts dergleichen im Sinn. Er wollte ihr nur helfen.

Nach ihrer letzten Erfahrung am Busbahnhof konnte er es ihr nicht verdenken, dass sie sichtlich nicht wusste, wie sie reagieren sollte. „Dr. Rothsberg verbürgt sich übrigens für mich.“

„Für wen verbürge ich mich?“ James marschierte just in dem Moment herein, als die Situation unbehaglich zu werden drohte.

„Ich habe Carey gerade mein Gästezimmer angeboten, falls sie noch keine Unterkunft hat.“

James blickte die junge Frau ernst an. „Er ist ein guter Mann. Sie können ihm vertrauen.“ Dann wandte er sich zu Joe um, mit fragender Miene. „Glaube ich jedenfalls.“

Carey lachte auf, und Joe verdrehte die Augen. Männer.

„Okay“, sagte sie zu seiner Verblüffung.

„Okay?“

„Ja, danke schön.“ Sie hatte eine natürliche Anmut, die ihn faszinierte.

Joe lächelte. „Keine Ursache. Dann sehen wir uns morgen.“ Es war zwar sein freier Tag, doch das sollte ihn nicht hindern, zur Stelle zu sein, wenn sie entlassen wurde.

Ungewohnt glücklich verabschiedete er sich und fuhr nach Hause. Ein gründlicher Hausputz war fällig.

3. KAPITEL

Joe hatte am Morgen wie besessen geschuftet, bis sein Haus vor Sauberkeit glänzte, bevor er in die Klinik fuhr, um Carey abzuholen. Ihr Zimmer war hergerichtet, seine besten Handtücher lagen ordentlich gestapelt in ihrem Bad. Shampoo, Gesichtspflege, duftende Duschlotion sowie Zahnpasta und eine Zahnbürste hatte er ebenfalls hingestellt. Und natürlich eine Bürste für ihr wundervolles kastanienbraunes Haar.

Da Carey außer dem, was sie bei dem Überfall am Leib trug, nichts anzuziehen hatte, lieh er sich von seiner Schwester Lori zwei Jeans und ein paar Tops. Lori musste ungefähr ihre Größe haben. Puh, sie nahm ihn ordentlich ins Kreuzverhör, als er mit seiner Bitte ankam. Lori war die typisch neugierige Schwester, vor allem seit seiner Scheidung.

Während Carey schlief, hatte er sich ihre Schuhgröße angesehen. Hoffentlich störte es sie nicht, dass er ihr ein Paar schlichte Slipper und Flipflops gekauft hatte. In den sexy Stiefeln konnte sie hier nicht diese ganze Zeit herumlaufen. Außerdem waren Flipflops nahezu überall in Südkalifornien die beste Wahl. Joe war froh, dass die Krankenschwestern sie mit Unterwäsche und einem zweiten BH versorgt hatten. Das wusste er von Stephanie, der Rezeptionistin, die dafür Geld gesammelt hatte.

Jetzt wartete er im Foyer darauf, dass Carey gebracht wurde. Seinen Wagen hatte er an der kreisrunden Auffahrt geparkt.

Und da war sie, wurde im Rollstuhl geschoben, wie es hier im Hollywood Hills für jeden Patienten üblich war, egal, wie fit er sich fühlte. Carey trug die Kleidung, in der er sie am Mittwochabend das erste Mal gesehen hatte, und sah Joe direkt an. Ein wenig zaghaft, wie ihm schien, und voller Fragen in den dunkelgrünen Augen.

Ihr Unbehagen fand bei ihm ein Echo. Es war seltsam, eine Fremde in sein Haus zu holen, vor allem eine, die ihn nicht kaltließ. So, als hätte sie ihn mit einem Zauber belegt, der Joe in ihrer Nähe kribbelig und unruhig machte.

Aber er wollte, dass sie sich wohlfühlte. Also lächelte er und ging zu ihr, um ihr die Tasche mit ihren wenigen Habseligkeiten abzunehmen – einer eleganten Version der Plastiktüten, die die Patienten in anderen Krankenhäusern bei ihrer Entlassung mitbekamen. Einer der Vorteile für jeden, der sich für die Hollywood Hills Klinik entschieden hatte.

Allerdings hatte Carey in ihrem Fall keine Wahl gehabt.

Carey wusste, dass sie Joseph Matthews einen großzügigen Vertrauensvorschuss gewährte, indem sie gleich bei ihm einzog. Einem Fremden, den sie vier Tage zuvor noch nie gesehen hatte. Aber andere Angebote gab es nicht, und es war schon berührend gewesen, wie emotional er reagierte, als sie wegen ihres Babys vor Erleichterung weinte. Entweder hatte Joseph Matthews eine sentimentale Ader, wie sie es bei einem Mann noch nie erlebt hatte, oder aber er war der mitfühlendste Kerl auf diesem Planeten. Was auch immer, es machte ihn zu etwas Besonderem. Außerdem hatte er ihr das Leben gerettet. Das würde sie ihm nie vergessen!

Als Dr. Rothsberg sich für ihn verbürgte, passte es zu dem Eindruck, den sie in der Klinik gewonnen hatte. Jeder hier schien große Stücke auf den breitschultrigen Sanitäter zu halten. Also nahm sie sein Angebot spontan an. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Zu ihren Eltern pflegte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr, und wegen Ross war sie weggelaufen. Carey verspürte nicht das geringste Verlangen, sich bei einem von ihnen zu melden.

Während sie den Parkplatz verließen, fuhr Joseph absichtlich langsam, damit sie einen Blick zurück auf das riesige Hollywood-Schild werfen konnte, das sich am Hang über ihnen erhob. Carey fand es nicht annähernd so aufregend, wie sie erwartet hätte. Vielleicht, weil es wehtat, den Kopf zu drehen. Oder weil es, aus nächster Nähe betrachtet, nur ein paar alte weiße Buchstaben waren, die stellenweise einen neuen Farbanstrich vertragen konnten.

Und nun saß sie in Josephs Wagen, ihr Kopf schmerzte, und ihre Nerven zitterten. Die Straße, die nach Hollywood hinunterführte, hieß Highland. Sobald sie die Freilichtbühne Hollywood Bowl passiert hatten und nach Hollywood hineinfuhren, machte sich Enttäuschung in ihr breit. Wo waren die magische Atmosphäre, der Zauber der Filmstadt? Carey kam sie kaum anders vor als andere Städte mit überfüllten Straßen und schmuddeligen Ecken.

Wahrscheinlich war ihre trübe Stimmung schuld. Sie hatte nie vorgehabt, nach Kalifornien zu reisen. In Montclare war sie glücklich gewesen, hatte ihre Arbeit als Krankenschwester geliebt, ihren eigenen Wagen gehabt und das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben frei und unabhängig zu sein. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich lebhaft an jenen fantastischen Tag, an dem sie aus ihrem Elternhaus ausgezogen war. An den bedeutsamen Moment, als sie den Schlüssel zu ihrer Wohnung ins Schloss steckte. Das war das Leben, von dem sie immer geträumt hatte. Warum sollte sie nach Hollywood gehen?

Doch dann begegnete sie Ross Wilson und glaubte, bei ihm die große Liebe gefunden zu haben. Viel zu spät begriff sie, was für ein Mensch er in Wirklichkeit war.

Nein, sie war nicht freiwillig nach Hollywood gefahren. Das Schicksal hatte die Entscheidung für sie getroffen, weil der erste Fernbus, der Chicago verließ, die Filmstadt zum Ziel hatte. Für Carey war es nicht um die Wahl gegangen, sondern um Leben und Tod.

Zu Hause angekommen, ließ Joe ihr Zeit, sich häuslich einzurichten. Carey war auf der Fahrt so schweigsam gewesen, dass er schon fürchtete, sie habe Angst vor ihm.

Nachdem sie in ihr Zimmer gegangen war, hörte er kurz darauf, wie die Dusche aufgedreht wurde. Seine Fantasie erzeugte prompt ein Bild, das er schnellstens wieder loswerden musste. Joe beschloss, seinen Punchingbag zu bearbeiten, der auf seiner vor neugierigen Blicken geschützten Terrasse hing, die ihm als Fitnessraum diente.

Er zog sich um, stellte Musik von John Coltrane an, zu der er am liebsten trainierte, und fing an.

Die Arme angewinkelt, Hände vor dem Gesicht, das Kinn Richtung Brust gezogen, tänzelte er um den Boxsack herum, nutzte die Beinarbeit, um sich aufzuwärmen, arbeitete an seiner Balance. Mit bloßen Fäusten schlug er auf das Leder ein, immer schneller und härter. Die Wundnaht zerrte ein bisschen an seiner Haut und versetzte ihm nadelfeine Stiche. Joe rechnete zwar nicht damit, dass sie sich wieder öffnete, sah aber nach ein paar Schlägen sicherheitshalber noch einmal nach. Die Wunde verheilte gut, die Haut war nur gespannt, mehr nicht.

Von wilden Saxofonklängen angefeuert, zog er das Tempo an. Joe streifte das T-Shirt ab und prügelte auf den Boxsack ein, löschte mental alles Schlechte, das die Welt ihm jemals vor die Füße geworfen hatte. Dass seine Frau mit seinem besten Freund ins Bett ging. Ihre Lügen, dass das Baby von ihm, von Joe, sei. Die Scheidung. Die Aufwärmphase war längst beendet, und er hieb gegen den Sack für all die Frauen, die von ihren Partnern misshandelt wurden, und ahnungslose Menschen, die einem Bus entstiegen, um gleich darauf Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Wieder und wieder schlug er gegen das Leder, keuchend und schwitzend, sodass die Schweißtropfen flogen.

„Joseph …?“

Joe hielt mitten in der Bewegung inne, griff nach dem Boxsack, damit er nicht zurückschwang und ihn umhaute, und wandte sich zu Carey um.

Sie trug eine andere Jeans und ein hellrosa Baumwolltop von seiner Schwester. Ihr noch feuchtes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihr ein frisches natürliches Aussehen verlieh. Sexy, fand Joe.

„Oh, hey … Sagen Sie ruhig Joe. Alles in Ordnung?“, fragte er schwer atmend.

„Die Musik hört sich an wie ein Kampf.“ Sie musste lauter sprechen, um sich verständlich zu machen.

„Entschuldigung. Warten Sie, ich mache sie kurz aus.“ Das liebte er ja gerade an Coltrane, dass er sich in wilde, irre Töne steigerte. Oft genug fühlte er sich genau so: wild und verrückt.

Ihr Blick glitt von seinem nackten Oberkörper zu seinem schweißbedeckten Gesicht. „Ich wollte fragen, ob ich mir ein Sandwich machen kann.“

„Natürlich. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen. Im Kühlschrank ist kalter Bratenaufschnitt. Und Obst.“

„Danke.“ Sie sah auf seinen Bauch, und Joe verspürte unwillkürlich das Bedürfnis, ihn einzuziehen. Dabei war er flach wie ein Waschbrett. „Sie bluten.“

Er blickte an sich hinunter. Tatsächlich hatte sich die Wundnaht an einer Stelle gelöst. „Oh, habe ich gar nicht gemerkt.“ Joe schnappte sich sein Handtuch und tupfte sie ab.

„Haben Sie sich verletzt, als Sie mir geholfen haben?“

„Ja, der Kerl hat mich mit dem Messer angegriffen.“ Während er das Handtuch auf die Wunde drückte, blickte er auf.

Carey sah ihn mit großen Augen an. „Sie haben Ihr Leben für mich riskiert?“

„Ach, ich habe nicht mein Leben riskiert.“ Wirklich nicht? „Nur meinen Job gemacht.“

„Kämpfen Sanitäter für gewöhnlich gegen Messerstecher?“

„Na ja, vielleicht nicht jeden Tag, doch es kann vorkommen.“ Er grinste schief. „Und nun ist es einmal passiert.“

Sie wirkte so bekümmert, dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Aber sie kannten sich kaum.

„Danke“, sagte sie, und es klang, als tue es ihr aufrichtig leid.

„Kein Problem. Bin froh, dass ich helfen konnte.“ Joe suchte ihren Blick und nickte dann. Sie sollte wissen, dass er es ernst meinte.

Lange standen sie einander gegenüber, und er verlor sich fast in ihren wunderschönen grünen Augen.

Carey sah zuerst zur Seite. „Ich … Also, ich mache mir jetzt das Sandwich.“ Sie ging zur Tür und in die kleine Küche.

Ja, er hatte sich eine Schnittwunde eingehandelt, aber die Alternative wäre vielleicht gewesen, dass der miese Typ sie niedergestochen und sterbend liegen gelassen hätte. Joe konnte nicht beschreiben, wie froh er war, dass er das verhindert hatte.

Diese Frau weckte in ihm lange verborgene Beschützergefühle und noch einiges mehr. Auf einmal kam ihm sein Haus zu klein vor. Wie sollte er hier mit ihr zusammenleben?

Ein letzter Hieb gegen den Boxsack. Bamm! Die Bewegung riss an der Wundnaht und tat weh. Joe mochte es nicht, wenn er sich in seinem eigenen Haus unwohl fühlte. Nach der Trennung von Angela hatte er überlegt, es zu verkaufen, aber er verstand sich großartig mit seinen Nachbarn, es war nicht weit zur Arbeit, und die meisten aus seiner Familie lebten in einem Umkreis von nicht einmal zehn Meilen. Und warum sollte er sein Leben komplett ändern, nur weil seine Frau ihm untreu geworden war? Okay, ein letzter Doppelschlag. Wamm, bamm! Joe schnappte sich wieder sein Handtuch und rubbelte über sein schweißtriefendes Haar.

Ein seltsamer Gedanke erwachte in ihm, während er sich abtrocknete. Wann hatte zuletzt eine Frau ihn mit nacktem Oberkörper gesehen? Seine Exfrau war vor einem Jahr gegangen, und seitdem hatte er niemanden mit nach Hause gebracht. Statt einer ahnungslosen Frau falsche Hoffnungen zu machen, stürzte er sich lieber in die Arbeit und baute seine Firma aus.

Wieder erfüllte ihn heiße Wut. Wut darauf, dass er zeugungsunfähig war. Wut darauf, dass die beiden Menschen, denen er am meisten vertraute – seine Frau und sein bester Freund –, ihn betrogen hatten. Ach, zum Teufel! Wieder schlug er auf den Boxsack ein. Wamm, bamm, bamm!

„Möchten Sie auch ein Sandwich?“

Eine Frauenstimme im Haus war er nicht gewohnt. Der Klang holte ihn aus seinen zornigen Gedanken und ließ andere aufkeimen. Eine Frau, praktisch eine Fremde, würde eine Weile unter seinem Dach wohnen. Wie lange? Unklar. Ja, war er denn verrückt geworden, ihr sein Zuhause als Unterkunft anzubieten? Zwei, die sich überhaupt nicht kannten, in einem Haus, das gerade einmal 100 qm groß war? Verdammt, ihre Schlafzimmer waren nur durch einen schmalen Flur und die Bäder getrennt. Was hatte er sich dabei gedacht?

Aber wahrscheinlich fühlte sie sich nicht weniger unbehaglich als er. Nach allem, was sie erlebt hatte, war sie bestimmt ganz schön dünnhäutig. Joe beschloss, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Carey hatte es gewiss verdient!

„Ja, vielen Dank, das hört sich gut an.“ Die Stelle hatte aufgehört zu bluten. Joe wischte sich Brust und Arme trocken, zog sich sein T-Shirt über und folgte Carey in die Küche.

„Mögen Sie grünen Salat und Tomaten?“

„Ich nehme gern das Gleiche wie Sie.“ Er hatte sich das Handtuch um den Hals gelegt und hielt die Enden in den Händen.

„Mir wird morgens nicht schlecht wie den meisten Schwangeren. Von Anfang an hatte ich einen Mordsappetit.“

Sie war groß und schlank, ihr Bauch noch flach. Joe konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie viel aß. „Prima. Ich wollte heute Abend Hähnchen grillen, haben Sie Lust?“

Mit einem scheuen Lächeln wandte sie sich ihm zu. „Wie ich schon sagte, ich habe ständig Hunger. Also freue ich mich darauf.“

Er ertappte sich dabei, wie er sich in ihrem Lächeln sonnte, und antwortete deshalb mit Verzögerung. „Okay. Draußen ist es angenehm mild, und ich dachte, wir essen auf der Terrasse.“ Abstand, er brauchte Abstand zu ihr. Denk dran, dass sie die Sachen deiner Schwester trägt. Deiner Schwester!

In dieser Gegend standen die in den 1940er-Jahren errichteten Häuser dicht beieinander. Joe hatte viel gearbeitet, um das Grundstück hinter seinem Haus zu gestalten – einen Garten angelegt und Sträucher als natürlichen Sichtschutz zu den Nachbarn gepflanz...

Autor

Annie Oneil
Mehr erfahren
Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
Mehr erfahren