Julia Ärzte Spezial Band 28

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  • Erscheinungstag 18.01.2025
  • Bandnummer 28
  • ISBN / Artikelnummer 8203250028
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Kate Hardy

1. KAPITEL

Stell dich deiner Angst.

An jedem einzelnen Tag stellte Susan sich ihrer Angst. Tagtäglich musste sie Entscheidungen über Leben oder Tod treffen. Sich vom Turm des London Victoria Hospital abzuseilen, um Spenden zur Finanzierung von Spezialgeräten für die Notaufnahme zu sammeln, sollte dagegen eigentlich ein Kinderspiel sein. Sie hatte eine lange Liste an Unterschriften von Sponsoren, und es ging um eine Menge Geld. Sie musste es tun, das stand außer Frage. Wie könnte sie sich jetzt noch drücken?

Doch dann schaute sie über den Rand hinunter. Dort gab es ein weißes Steingesims und danach … nichts.

Fünfundsiebzig Meter.

Vor zwei Monaten in ihrer Abteilung hatte Susan es für eine großartige Idee gehalten. Aber hier und jetzt fand sie, dass dies die dümmste und blödeste Idee war, die sie je gehabt hatte. Vorsichtig warf sie noch einen Blick auf den Dachrand, in der Hoffnung, dass durch irgendeinen Zauber der Abgrund nicht mehr ganz so erschreckend aussehen würde.

Leider war dies nicht der Fall.

Susan konnte sich überhaupt nicht vorstellen, rückwärts über diese Kante zu steigen. Gut, sie trug ein Klettergeschirr und einen Helm. Die Seile waren gesichert, und die Experten würden sie bestimmt nicht fallen lassen. Sie musste nur rückwärts über den Dachrand steigen und an der Gebäudewand heruntergehen.

Trotzdem bewegten sich ihre Füße keinen Zentimeter.

„Es ist okay, Susan. Du schaffst das. Nur ein kleiner Schritt rückwärts.“

Über den Rand.

Es gelang ihr nicht einmal zu antworten. Es war der Kletterlehrer, der ihr vorhin genau erklärt hatte, was sie tun musste, um von der Turmspitze bis nach unten zu kommen. Susan war wie gelähmt.

Wieso um alles in der Welt hatte sie sich dazu bereit erklärt, sich ausgerechnet als Erste abzuseilen? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Warum hatte sie geglaubt, eine solche Aktion würde ihr Selbstvertrauen stärken? Ich muss vollkommen verrückt gewesen sein, dachte sie. Das schaffe ich nicht. Niemals.

Da erschien ein anderer Mann neben dem Kletterlehrer. „Hi.“

Susan kannte ihn nicht. Trotz ihrer Panik bemerkte sie, wie toll er aussah. Die Augen von der Farbe geschmolzener Schokolade, dunkles Haar und sonnengebräunte Haut. Er erinnerte sie ein bisschen an einen Schauspieler, für den sie schwärmte und mit dem ihre Freunde in der Abteilung sie immer aufzogen.

„Ich bin Marco.“

Seine Stimme war noch toller als sein Gesicht. Mit einem ganz leichten Akzent, ausgesprochen sexy.

Da er sich vorgestellt hatte, sollte Susan nun auch etwas sagen. Doch sie brachte kein einziges Wort hervor.

„Sie heißen Susan, richtig?“

„Mmm.“

„Gut. Dann werden wir jetzt mal etwas zusammen singen.“

Was? Wie sollte Singen ihr wohl dabei helfen, ihre Füße zu bewegen?

„Wie wär’s mit Tom Pettys ‚Free Falling‘?“, schlug er vor.

Sehr witzig. Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

Marco lachte. „Wenigstens machen Sie das hier nicht mit dem Gesicht nach vorn, tesoro. Das ist doch schon mal ein großer Vorteil. Das Singen wird Sie ablenken und Ihnen helfen, bis nach unten zu kommen. Versprochen.“

Er klang sehr viel zuversichtlicher, als ihr zumute war.

„Wenn ich anfange, machen Sie dann mit?“

Susan nickte stumm und wurde dafür mit einem breiten Lächeln belohnt. Wären ihre Beine nicht so erstarrt gewesen, hätte sie sicherlich weiche Knie bekommen.

„Sehr gut, tesoro. Sie werden also mit mir zusammen singen. Dabei halten Sie mit der rechten Hand hinter Ihrem Rücken das Halteseil fest und machen nur einen kleinen Schritt rückwärts. Sie werden merken, dass Sie dabei ein kleines bisschen runtersinken. Aber keine Sorge, das ist nur die Spannung in den Seilen, die Ihren Bewegungen nachgibt. Das Halteseil wird Ihr Gewicht halten. Dann strecken Sie die rechte Hand seitwärts aus und fangen an, hinunterzugehen. Wenn Sie anhalten wollen, ziehen Sie die Hand einfach wieder hinter den Rücken. Klar?“

Wieder nickte sie.

„Prima. Kennen Sie den Song ‚Walking on Sunshine‘?“

Susan nickte erneut.

Lächelnd fing Marco an zu singen, und sie stimmte mit ein.

Beim ersten Refrain ermunterte er sie: „Jetzt einen Schritt nach hinten.“

Irgendwie gelang es ihr. Alles schien plötzlich zu schlingern, doch dann wurde es wieder stabil.

Marco sang immer noch, blieb bei ihr.

Ich schaff das.

Ihre Stimme klang zwar dünn, aber sie sang trotzdem. Und sie ging auf Backstein, Schritt für Schritt.

Hinterher hätte Susan nicht mehr sagen können, wie sie nach unten gekommen war. Doch schließlich erreichte sie den Boden. Ihre Beine und Hände zitterten so heftig, dass sie kaum das Gurtgeschirr öffnen konnte, um für den Nächsten Platz zu machen.

„Gehen Sie jetzt?“, fragte der Kletterlehrer.

„Ich?“ Es war schon eine Weile her, seit Marco sich zuletzt irgendwo abgeseilt hatte. Aber ein Gebäude mitten in London war wesentlich sicherer als die Klippen von Capri zu Hause. Immerhin brauchte er sich hier keine Gedanken wegen der steigenden Flut zu machen.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Na ja, das hier war vermutlich fast genauso schnell wie der Lift. In der Hektik der Notaufnahme würden irgendwelche Knitterfalten in seinem Anzug sicher nicht weiter auffallen.

„Ich stehe nicht auf Ihrer Liste“, wandte er jedoch ein. „Dadurch wird sich Ihr Zeitplan verschieben.“

„Nicht so sehr, als wenn Sie Susan nicht geholfen hätten“, erwiderte der Kletterlehrer. „Also, dann sind Sie der Nächste?“

Eigentlich würde Marco erst in einer halben Stunde offiziell Teil des Teams in der Notaufnahme sein, und er hatte auch keine Sponsorenliste. Aber das war kein Problem. Er konnte sich ja selbst sponsern.

Er lachte. „Ja, okay. Danke.“

Rasch legte er das Klettergeschirr an, und sobald er über die Kante ins Nichts hinaustrat, spürte er den vertrauten Adrenalinstoß. Zum ersten Mal seit Siennas Tod fühlte er sich wirklich lebendig.

Als er unten ankam, war sein ganzer Körper von Adrenalin überschwemmt.

Die Erste, die Marco unten erblickte, war Susan. Die Frau, der er geholfen hatte, ihre Angst zu überwinden. Sie wirkte noch immer leicht benommen.

Er machte sich von dem Geschirr los. „Hey, alles in Ordnung?“, fragte er leise.

In Ordnung? Nein. Obwohl sie noch am ganzen Leib zitterte, schwindelte sie tapfer. „Ja.“

Dann blickte sie auf. Ein großer Fehler. Es war der tolle Mann von der Turmspitze. Er hatte gerade genau dasselbe getan wie sie, schien aber kein bisschen nervös zu sein. Er schwitzte nicht einmal.

Reiß dich zusammen, ermahnte Susan sich und atmete tief durch. „Vielen Dank, dass Sie mir mit Ihrem Gesang so nett geholfen haben.“

„Kein Problem.“ Besorgt sah er sie an. „Geht es Ihnen wirklich gut?“

„Es muss, in ein paar Minuten fängt mein Dienst an.“ Von der Arbeit ließ sie sich durch nichts und niemand abhalten.

Sanft strich er ihr mit dem Handrücken über die Wange. „Ich nehme an, das war Ihr erstes Mal?“

„Ja. Und das nächste Mal, wenn einer unserer Chefs eine solche Super-Idee hat, zahle ich lieber und drück mich.“

Marco lächelte. „Dann haben Sie den Adrenalinstoß noch nicht gespürt.“

„Welchen Adrenalinstoß?“

„Schauen Sie hoch“, sagte er.

Susan sah jemanden langsam rückwärts den Turm herunterlaufen.

„Genau das haben Sie gerade getan“, erklärte Marco.

„Aber ich hatte Todesangst. Ich war völlig gelähmt.“ Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Ich hätte nie gedacht, dass ich Höhenangst habe. Noch nie war ich dermaßen erstarrt.“ Nicht einmal, als man ihr nach dem MRT die schlechte Nachricht mitgeteilt hatte. Sie hatte trotzdem ihre positive Lebenseinstellung behalten. Doch da oben war es einfach nur Furcht einflößend gewesen.

„Trotzdem haben Sie es geschafft. Das finde ich bewundernswert.“

„Bewundernswert?“ Das hatte schon lange niemand mehr zu ihr gesagt.

„Allerdings“, bestätigte er. „Leute wie ich, die so etwas zum Spaß machen, sind nicht tapfer. Die Leute, die echten Mut beweisen, sind diejenigen, die es tun, obwohl sie Angst haben, weil sie damit etwas bewirken wollen. Menschen wie Sie.“

Marco umschloss Susans Gesicht und streifte mit den Lippen leicht ihren Mund. Warm, süß und vielversprechend. Doch auf einmal verwandelte sich diese freundschaftliche Geste in etwas völlig anderes. Heiß, sinnlich und atemberaubend.

Als Marco den Kuss beendete, zitterte Susan immer noch, diesmal jedoch aus einem anderen Grund. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann jemand zuletzt solche Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Allein das war schon beängstigend.

„Jetzt funkeln Ihre Augen“, meinte er.

„Das ist bestimmt der Adrenalinstoß, von dem Sie gesprochen haben“, gab sie zurück.

„Ja, klar.“ Er lachte. „Es war jedenfalls nett, Sie kennenzulernen, Susan. Auch wenn ich mich gerne noch länger mit Ihnen unterhalten würde, sollte ich lieber gehen. In knapp zwanzig Minuten fängt nämlich mein neuer Job an.“

Er musste hier im Krankenhaus arbeiten, sonst wäre er gar nicht oben auf dem Turm gewesen.

„Hat mich auch gefreut. Viel Glück für Ihre erste Schicht. In welcher Abteilung sind Sie denn?“, fragte sie.

„In der Notaufnahme.“

„Ich auch.“ Plötzlich machte es Klick bei ihr. Marco. „Dann sind Sie also Dr. Ranieri, unser neuer Oberarzt?“ Der Mann aus Rom.

Er neigte leicht den Kopf. „Aber mir ist es lieber, mit Vornamen angesprochen zu werden.“

„Susan Collins. Und ich bin eine viel bessere Ärztin als Abseilerin. Freut mich sehr.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Sobald sie seine Finger berührte, bekam sie erneut weiche Knie, und bei der Erinnerung an den Kuss von eben wurde ihr glühend heiß.

„Wie lange arbeiten Sie schon hier?“, erkundigte er sich.

„Fünf Jahre. Seit meiner Assistenzzeit. Es ist wirklich eine sehr angenehme Abteilung. Die Kollegen sind alle ausgesprochen freundlich. Vielleicht mal abgesehen von Max Fenton, der die grandiose Idee für diese Abseil-Aktion hatte.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich glaube, den mag ich nicht mehr.“

Marco lachte. „Doch, natürlich. Er ist ein netter Kerl.“

„Seine Frau Marina auch. Haben Sie sie schon getroffen? Sie ist auch Italienerin. Momentan arbeitet sie nur halbtags, und in ein paar Monaten geht sie wieder in Mutterschaftsurlaub.“ Susan hielt inne. „Sie sind also schon oft geklettert und haben sich abgeseilt?“

Achselzuckend erwiderte er: „Ich hatte mal eine Phase, in der ich gerne Extremsportarten betrieben habe.“

„Sie haben solche Sachen zum Spaß gemacht? Sind Sie wahnsinnig?“ Sie schauderte. „Ich kriege heute Nacht garantiert Albträume davon.“

Wieder lachte er, und sie sah ihn an. Marco hatte einfach wunderschöne Augen und einen herrlichen Mund. Auch wenn der Kuss natürlich nicht die geringste Bedeutung gehabt hatte. Susan war nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Jetzt nicht mehr. „Singen Sie oft, um Leute zu beruhigen?“

„Nicht beim Abseilen. Meistens tue ich es, um Kinder in der Notaufnahme abzulenken, weil sie dann ihre Angst vergessen.“

„Das stimmt.“ Sie selbst benutzte diese Technik auch oft. „Allerdings singe ich dann eher ‚Old MacDonald Had a Farm‘ oder so was in der Art mit ihnen.“

Lachend meinte er: „Ach ja. Der Song von eben ist fröhlich, deshalb habe ich ihn gewählt. Er erinnert mich immer an einen Sommertag, an dem man mit offenem Verdeck fährt.“

Susan musterte seine Kleidung. Wahrscheinlich besaß er sogar einen Sportwagen mit Cabriolet. Ein attraktiver Mann, nett und auch noch elegant gekleidet. Mit Sicherheit lagen ihm die Frauen überall zu Füßen.

Sie jedoch nicht. Sie lief Männern nicht mehr hinterher. Es war der Mühe nicht wert, das hatte sie auf die harte Tour gelernt. Der einzige Mensch, auf den sie sich wirklich verlassen konnte, war sie selbst.

„Ich nehme an, dann haben Sie gleich einen Termin mit Ellen?“ Die Chefärztin der Notaufnahme. Als er nickte, meinte Susan: „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ihr Büro zeigen.“

„Danke, das wäre sehr freundlich.“

Susan Collins war umwerfend, mit ihrem zu einem kurzen Bob geschnittenen, rötlich-braunen Haar, den meerblauen Augen und dem hübschen, herzförmigen Gesicht. Vor allem fehlte ihr der ‚Schaut-mich-an‘ Ausdruck, den Marco bei Frauen verabscheute, die sich stundenlang mit ihrem Aussehen beschäftigten. Nun, da ihre Panik wegen des Abseilens vorbei war, hatte sich herausgestellt, dass Susan nett, lebhaft und intelligent war. Marco mochte sie auf Anhieb.

Und dieser Kuss. Er wusste immer noch nicht, warum er das getan hatte. Im Allgemeinen küsste er nicht einfach irgendwelche fremden Frauen. Noch immer kribbelte sein Mund, und außerdem hatte er dieses elektrisierende Prickeln gespürt, als Susan ihm die Hand gegeben hatte. Der überraschte Blick in ihren Augen zeigte ihm, dass es ihr offenbar genauso ging.

Sein Verstand sagte ihm, dass es absolut verrückt war. Marco hatte kein Interesse an einer Beziehung. Aber sein Herz sagte etwas ganz anderes. Schon allzu lange hatte er so etwas nicht mehr empfunden. Er sollte die Gelegenheit ergreifen und wieder ein bisschen Freude in sein Leben bringen.

Als sie Ellens Büro erreicht hatten, meinte Susan lächelnd: „Hier ist es. Wir sehen uns sicher nachher bei der Arbeit.“

„Klar. Vielen Dank fürs Herbringen.“

„Gern geschehen. Und ich danke Ihnen, dass Sie mich von diesem verdammten Turm da oben runtergebracht haben.“ Sie winkte ihm kurz zu, ehe sie in die Notaufnahme eilte.

Marco klopfte an die Tür.

„Herein.“ Als er eintrat, lächelte Ellen ihn an. „Nehmen Sie Platz. War das da draußen gerade eben Susan?“

„Ja, sie hat mir den Weg gezeigt.“

„Ich habe gehört, dass Sie sie vorhin gerettet haben.“

Verblüfft erwiderte er: „Wow, die Buschtrommel hier im Krankenhaus ist ja unglaublich schnell.“

„Allerdings.“ Ellen lachte. „Ich schätze, das ist auch eine Möglichkeit, unser Team kennenzulernen. Susan ist zwar noch keine Stationsärztin, aber auf dem besten Wege dorthin.“ Nachdenklich sah sie ihn an. „Ich habe außerdem gehört, dass Sie ein guter Sänger sind. Dann ist Ihnen ja sicher klar, dass Sie für die Weihnachtsrevue der Notaufnahme engagiert werden, falls wir Ihren Aufenthalt noch verlängern können, oder?“

Er lächelte. „Kein Problem. Vielleicht kann ich ja auch einige der Nicht-Sänger dazu motivieren, einen Chor zu bilden.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen das sogar gelingt. Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt die Abteilung und stelle Sie den Kollegen vor.“

Nachdem Marco etwa die Hälfte des Teams kennengelernt hatte, wurde eine Liege den Flur entlanggerollt, ein Sanitäter auf der einen und Susan auf der anderen Seite. Der Patient sollte offensichtlich in den Schockraum gebracht werden.

Marco fing einen Teil der Übergabe auf: „Vom Fahrrad gestürzt … Der Helm hat ihn gerettet … gebrochener Arm … Rippen …“

Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass der Radfahrer einen Pneumothorax hatte. Marco warf Ellen einen Blick zu. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich …?“

„Ich hatte Sie heute eigentlich für die Kabinen eingeplant, um Ihnen den Einstieg zu erleichtern.“ Sie hob die Hände. „Aber wenn Sie sich gleich mitten ins Getümmel stürzen wollen, soll mir das recht sein. Susan kennen Sie ja schon, ich muss Sie also nicht mehr vorstellen. Na, dann los.“

„Danke.“ Er beschleunigte seine Schritte, um Susan einzuholen. „Hey. Könnten Sie hier etwas Unterstützung gebrauchen?“

„Da der Autofahrer, der den Unfall verursacht hat, auch gleich eingeliefert wird, ja, gerne“, antwortete sie.

Innerhalb von Sekunden tauschte Marco sein Jackett gegen einen weißen Kittel. Obwohl er eigentlich der erfahrenere Arzt war, wusste er, dass Susan schon länger zum Team gehörte und sich auskannte. „Dann werde ich einfach Ihrem Beispiel folgen.“

Sie war überrascht, aber auch erfreut. „Okay. Danke.“ Sie wandte sich an den Patienten. „Colin, dies ist Dr. Ranieri, unser Oberarzt. Wir werden Sie gemeinsam behandeln. Zuerst geben wir Ihnen ein Schmerzmittel, damit Sie sich besser fühlen. Danach werden wir Sie gründlich untersuchen.“

Marco bemerkte, dass Susan dem jungen Mann klugerweise ein Medikament verabreichte, das einen möglichen Pneumothorax nicht noch verschlimmern würde.

„Wo tut es Ihnen am meisten weh, Colin?“, erkundigte sie sich.

„Mein Arm und die Rippen.“ Er hatte zunehmend Mühe zu atmen.

Susan horchte seine Brust ab. „Verminderte Luftzufuhr“, flüsterte sie Marco leise zu.

„Nadeldekompression?“, fragte er ebenso leise zurück.

Sie nickte.

Normalerweise hätte er angeboten, dies zu übernehmen, aber er wollte sehen, wie Susan arbeitete. Außerdem hatte er das Gefühl, dass sie ihm nach ihrem Abseil-Erlebnis von vorhin ihre Kompetenz als Ärztin beweisen musste. Falls nötig, konnte er ja jederzeit einspringen.

„Ich reiche Ihnen alles an und behalte die Monitore im Auge“, meinte Marco daher.

„Danke. Colin, ich weiß, dass Ihnen das Atmen schwerfällt. Deshalb gebe ich Ihnen eine Sauerstoffmaske. Dann wird es leichter für Sie.“ Behutsam legte sie ihm die Maske an. „Im Moment haben Sie Luft in der Lunge, die dort Druck verursacht. Darum muss ich eine Nadel setzen, um diese Luft abzuleiten. Aber das tut nicht weh. Einverstanden?“

Colin nickte nur müde.

Marco reichte ihr eine Kanüle.

„Danke.“ Sie lächelte ihn an.

Einen Moment lang durchzuckte ihn die Erinnerung daran, wie sich ihr Mund an seinem angefühlt hatte.

Susan führte die Kanüle in den zweiten Rippenzwischenraum ein, zog die Nadel wieder heraus und horchte auf das Zischen der entweichenden Luft. „Super, das war’s schon“, sagte sie. „Colin, jetzt lege ich Ihnen noch eine Drainage, damit alles an Flüssigkeit und Gas entfernt wird, was dort nicht hingehört.“ Rasch erklärte sie ihm den Vorgang. „Sie werden nichts davon spüren, aber ich brauche Ihr Einverständnis, dass ich Sie behandeln darf.“

Colin hob die Sauerstoffmaske vom Gesicht. „Tun Sie, was Sie tun müssen“, murmelte er. „Ich bin ganz in Ihrer Hand.“

„Gut. Ich verspreche Ihnen, dass ich sehr vorsichtig bin.“

Stella, eine der Krankenschwestern, säuberte Colins Haut und bedeckte sie mit sterilen Tüchern. Susan injizierte dem Patienten ein lokales Betäubungsmittel, ehe sie die Drainage legte. Marco war beeindruckt, wie geschickt und selbstsicher sie vorging.

Nach einem Blick auf die Monitore sagte er: „Herzschlag und Blutdruck sind in Ordnung. Soll ich die Ergebnisse eintragen, während Sie die Untersuchung durchführen?“

„Das wäre nett. Vielen Dank.“

Susan untersuchte Colin so sanft wie möglich, und Marco schrieb ihre Befunde auf. „Verdacht auf mehrfache Rippenbrüche, aber kein instabiler Thorax. Das ist die gute Nachricht, Colin.“ Sie prüfte den Puls und die Empfindungsfähigkeit des gebrochenen Arms. „Ich glaube, Ihr Ellbogen ist gebrochen. Deshalb werde ich Sie an unseren Unfallchirurgen überweisen, der Sie operieren wird.“ Zum Schluss nahm sie dem Patienten noch eine Blutprobe ab.

„So, Colin, hier sind wir fertig. Wegen Ihrer Rippen und dem Ellbogen schicke ich Sie jetzt zum Röntgen. Ich hoffe, es sind keine komplizierten Brüche. Gibt es irgendjemanden, den wir zwischenzeitlich verständigen sollten?“

„Meine Frau Janey.“ Er nannte eine Telefonnummer, die Marco ebenfalls notierte.

„Ich rufe sie an“, versprach Susan.

„Und ich bringe Sie zur Radiologie“, sagte Marco.

„Wissen Sie denn, wo das ist?“, flüsterte Susan ihm zu.

„Ich kann Schilder lesen“, gab er mit einem Grinsen zurück.

Sie zwinkerte ihm so frech zu, dass er auf dem ganzen Weg zur radiologischen Abteilung vor sich hinlächelte.

Als Marco zurückkam, behandelte Susan bereits den Autofahrer, den sie wegen einer möglichen Gehirnerschütterung zur Beobachtung stationär aufnahm. Danach waren auch Colins Röntgenaufnahmen fertig.

„Wollen Sie sich die Bilder mit mir zusammen ansehen?“, fragte sie Marco.

„Klar.“

Aufmerksam betrachtete sie die Aufnahmen. „Hm, es scheint, als wären es tatsächlich unkomplizierte Rippenbrüche. Schon mal ein guter Anfang.“ Doch beim Anblick des Röntgenbildes von Colins Ellbogen verzog sie das Gesicht. „Aber das hier sieht übel aus. Der Ellbogen muss fixiert werden. Ich überweise ihn an unsere Chirurgen und sage ihnen, dass er schon einen Pneumothorax gehabt hat.“

Dann ging Susan zu Colin hinüber. „Wie die Röntgenaufnahmen zeigen, sollten Ihre Rippen von selbst heilen, auch wenn es in den nächsten Tagen etwas schmerzhaft für Sie sein wird. Aber Ihr Ellbogen muss gerichtet werden. Ich bringe Sie deshalb in eine der Kabinen, wo Sie auf den Chirurgen warten können, der Sie mit in den OP nehmen wird.“

Colin schob die Sauerstoffmaske beiseite. „Janey?“

„Ist unterwegs. Und falls Sie schon im OP sind, wenn sie kommt, führe ich Ihre Frau nach oben in den entsprechenden Warteraum und sorge dafür, dass sich jemand um sie kümmert.“

„Danke.“ Seine Stimme klang erstickt. „Ich …“

Beruhigend legte Susan ihm die Hand auf den unverletzten Arm. „Dafür bin ich doch da. Sie werden noch eine Weile Schmerzen haben, aber das Ganze hätte auch sehr viel schlimmer ausgehen können. Jetzt wird alles wieder gut.“

Auch für den Rest der Schicht war viel los, und Marco genoss die Herausforderung. Für ein halbes Jahr nach London zu gehen war das Beste, was er hatte tun können. Hier gab es keine Erinnerungen. Keine Geister, die ihn heimsuchten. Vielleicht konnte er nun endlich wieder anfangen zu leben, nachdem er zwei Jahre lang von Schuldgefühlen wie betäubt gewesen war.

Am Ende der Schicht traf er Susan auf dem Flur. „Hi.“

„Hi.“ Sie lächelte. „Hat Ihnen Ihr erster Tag bei uns gefallen?“

„Ja, Sie hatten recht. Es ist eine nette Abteilung.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Und Sie sind wirklich eine bessere Ärztin als Abseilerin.“ Ihm gefiel die Art, wie sie arbeitete. Vor allem bemühte sie sich immer darum, dass die Patienten sich möglichst wohlfühlten. Ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten waren hervorragend. „Haben Sie jetzt etwas vor?“

Mit einem leicht misstrauischen Ausdruck schaute sie Marco an. „Inwiefern?“

„Wenn nicht, dachte ich, wir könnten heute Abend vielleicht was zusammen unternehmen.“

Ihr Blick wurde noch misstrauischer. „So was wie ‚Willkommen im Team‘ oder so?“

„Nein, nur Sie und ich.“ Er machte eine Pause. „Es sei denn, Sie sind schon vergeben?“

2. KAPITEL

Susan wusste, dass es eine ganz schlechte Idee war, sich mit Marco zu treffen. Aber sie bekam diesen Kuss einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie sie sich dabei gefühlt hatte. Das lustvolle Prickeln, das sie durchströmt hatte, als seine Lippen ihren Mund berührten. Außerdem war es schon so lange her, dass sie sich ein bisschen Spaß gegönnt hatte.

Marco würde nur ein halbes Jahr im London Victoria sein. Außerdem wollte er nur ein Date und keine langfristige Beziehung. Eigentlich musste Susan ihm deshalb gar nichts von ihrer Neurofibromatose erzählen, oder?

Es gab nur einen Grund, weshalb sie ablehnen sollte.

„Wir sind Kollegen. Meistens ist es ungünstig, etwas mit jemandem aus derselben Abteilung anzufangen“, wandte sie ein. „Die Dinge könnten dadurch etwas unangenehm werden.“

„Wir sind beide erwachsen“, antwortete Marco sanft. „Ich denke, wir sind professionell genug, um Arbeit und Privates voneinander zu trennen.“ Er hielt ihren Blick fest. „Also gehen Sie heute Abend mit mir essen?“

Susan lächelte. „Ja, gern.“

„Wie wäre es, wenn wir gleich von hier aus losgehen?“, schlug er vor. „Dann muss sich keiner extra zu Hause in Schale werfen.“

Sie hob die Augenbrauen. „Marco, Sie sind sowieso schon wesentlich schicker angezogen als jeder andere hier in der Abteilung. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was Sie unter ‚sich in Schale werfen‘ verstehen!“

Er lachte. „Bevor meine Eltern sich zur Ruhe gesetzt haben, waren sie Modedesigner. Mein älterer Bruder und meine Schwester führen jetzt das Geschäft, und sie benutzen mich gern als Kleiderständer, was mir ganz recht ist. Dadurch brauche ich mich nicht durch Kleidungsgeschäfte zu quälen, und mein Schrank ist immer voll.“

„Was passiert, wenn sie Ihnen etwas geben, was Ihnen überhaupt nicht gefällt?“, fragte Susan neugierig.

„Das haben sie nur einmal getan, als ich mit ihrem Lieblingsmodel zusammen war“, erwiderte er. „Als Zeichen ihrer Missbilligung.“

„Sie sind also ein italienischer Playboy“, meinte sie scherzhaft.

„Manchmal“, entgegnete Marco lächelnd. „Jedenfalls habe ich jetzt einen Mordshunger. Was essen Sie gern?“

„Von der Arbeit aus gehe ich normalerweise in eine Pizzeria oder Trattoria, aber das würde ich einem Italiener natürlich nie empfehlen.“

„So kritisch bin ich nun auch wieder nicht.“ Er lachte.

„Mögen Sie chinesisches Essen?“

„Ich liebe es.“

„Gut, dann kenne ich genau das richtige Lokal.“

Das Restaurant war nicht im Geringsten romantisch, sondern sehr nüchtern und hell beleuchtet. Aber das Essen schmeckte hervorragend, und Marco freute sich, dass Susan vorgeschlagen hatte, mehrere Gerichte zu bestellen und sich diese zu teilen. Nun ja, abgesehen davon, dass ihre Finger sich häufiger berührten, während sie sich jeweils aus den verschiedenen Schüsselchen bedienten. Bei dem flüchtigen Hautkontakt überlief ihn jedes Mal ein elektrisierendes Prickeln. Etwas, das er schon sehr lange nicht mehr erlebt hatte. Susan schien es ähnlich zu ergehen, denn ihre Pupillen wirkten trotz der grellen Beleuchtung riesengroß.

Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Die paar Male während des vergangenen Jahres, als er sich mit Frauen getroffen hatte, waren nur ein vergeblicher Versuch gewesen, Sienna zu vergessen. Spätestens nach dem zweiten Date war alles vorbei.

Aber Susan hatte irgendetwas Besonderes an sich. Sie interessierte ihn.

„Und, gefällt Ihnen London?“, erkundigte sie sich.

„Ja, sehr.“

„Was hat Sie dazu veranlasst, nach England zu kommen?“

„Es war eine gute Gelegenheit“, wich Marco aus. Er konnte ihr ja schlecht die Wahrheit sagen. Nämlich, dass er dringend aus Rom weggemusst hatte. Weg von den Erinnerungen, den Schuldgefühlen. Zwei Jahre hatte er es ausgehalten, ohne dass sich etwas daran verändert hätte. Hier musste er wenigstens nicht ständig daran denken. Er konnte es einfach ausblenden, weil er und Sienna nie zusammen in London gewesen waren. Da gab es keine Erinnerungen, die ihn verfolgten.

„Es ist eine der größten Abteilungen in einem der größten Londoner Krankenhäuser“, fuhr er fort. „Eine gute Erfahrung für mich. Und wenn ich danach wieder nach Rom zurückgehe, verbessern sich meine beruflichen Chancen.“

Bis zum Ende des Essens achtete er darauf, das Gespräch leicht und unverfänglich zu halten. Bald waren sie auch beim Du angelangt.

Schließlich fragte er: „Darf ich dich nach Hause begleiten?“

Erstaunt sah Susan ihn an.

„Das soll nicht heißen, ich würde erwarten, dass du mit mir ins Bett gehst, nur weil ich dich zum Essen eingeladen habe“, erklärte Marco daher schnell. „Du bist eine Frau, und wir waren zusammen essen. Also sollte ich dich wohlbehalten nach Hause bringen. Das ist alles.“

Lächelnd erwiderte sie. „Das ist sehr galant von dir, geradezu altmodisch.“

„So bin ich nun mal erzogen.“

„Gute Manieren, das gefällt mir.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Danke.“

Er zog die Brauen zusammen. „Wofür?“

„Dafür, dass du die Sache zwischen uns nicht zu schnell angehst.“ Susan atmete tief durch. „Ich bin es nicht gewohnt, mich mit Männern zu treffen. Ich habe mich sehr auf meinen Beruf konzentriert.“

„Ich bin es auch nicht gewohnt, Dates zu haben.“ Seit seinem ersten Tag an der Universität war Marco mit derselben Frau zusammen gewesen. Bis zu jenem Tag vor zwei Jahren, als er den Anruf bekommen hatte, bei dem seine ganze Welt zusammengebrochen war. „Außerdem habe ich gerade einen neuen Job in einem neuen Krankenhaus angefangen.“

„Und in einem anderen Land“, ergänzte sie.

„Genau. Also, kein Druck“, meinte er. „Wir gucken einfach, wohin das mit uns führt, einverstanden?“

„Danke. Das fände ich gut.“

Als sie ihr Haus erreicht hatten, sah Susan ihn an. „Wenn du willst, kannst du gerne auf einen Kaffee mit hochkommen.“

„Und das heißt nur Kaffee“, meinte Marco.

Sie lächelte, und es freute ihn, dass der misstrauische Ausdruck in ihren Augen nachließ.

Er folgte ihr in die Küche. Die Wohnung war klein, aber gepflegt. Überall standen Fotos von Leuten, die ihr ähnlich sahen. Offenbar hatte Susan ein ähnlich enges Verhältnis zu ihrer Familie wie er. Wieder eine Gemeinsamkeit.

Sie stellte den Wasserkocher an und sagte entschuldigend: „Leider habe ich nur löslichen Kaffee.“

„Das ist schon okay.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich wette, bei dir gibt es ausschließlich frischen Kaffee.“

Marco lachte. „Ja. Allerdings arbeite ich seit sechzehn Jahren im Krankenhaus und bin deshalb nicht allzu wählerisch. Kaffee ist Kaffee.“

„Aber ich habe was Leckeres, was dazu passt.“ Aus dem Kühlschrank holte Susan eine Schachtel. „Mein Laster.“

„Pralinen?“

„Besser als Pralinen“, gab sie scherzhaft zurück.

Als er genauer auf die Packung sah, lächelte er. Auch eines seiner Laster. „Nugat. Ich bin beeindruckt. Eine Frau mit Geschmack.“

Sie bedeutete ihm, am Küchentisch Platz zu nehmen, und machte Musik an. Eine Sängerin, die von Klavier und Gitarre begleitet wurde. Eine sanfte Hintergrundmusik, die Marco gefiel.

„Wie trinkst du deinen Kaffee?“

„Stark und ohne Milch, bitte.“

Susan reichte ihm einen Becher, ehe sie sich neben ihn setzte. Dann wollten beide gleichzeitig ein Stück Nugat nehmen, sodass sich ihre Finger unwillkürlich berührten. Marco sah, wie Susans Augen sich weiteten und ihre Lippen sich leicht öffneten.

Am liebsten hätte er sie geküsst, aber vorhin hatte sie sich gerade bei ihm dafür bedankt, dass er die Sache nicht zu schnell anging. Also nahm er stattdessen ihre Hand, drückte einen Kuss in die Innenfläche und schloss ihre Finger darüber.

„Wofür war das denn?“, fragte sie. Der argwöhnische Ausdruck war wieder da.

„Weil ich mir sehr viel Mühe gebe, die Dinge langsam anzugehen“, erklärte er. „Das ist ein Kompromiss. Ein Kuss, der dich nicht abschreckt.“ Und ihn auch nicht, wenn er ehrlich zu sich war.

Susan löste ungewohnte, beunruhigende Gefühle in ihm aus. Sein Kopf sagte ihm, dass dies absolut keine gute Idee war. Sollte er sich wirklich wieder in eine Situation begeben, wo er jemanden verlieren konnte? Hatte er denn nichts gelernt? Dennoch, Susan hatte irgendetwas unwiderstehlich Anziehendes an sich. Ihre Wärme, ihre Herzlichkeit.

Sie wurde rot. „Ich komme mir so feige vor.“

„Wegen heute Vormittag. Nur damit du’s weißt: Normalerweise laufe ich nicht herum und küsse einfach so fremde Leute“, meinte Marco.

„Ich auch nicht.“ Ihre Röte vertiefte sich noch. „Trotzdem habe ich deinen Kuss erwidert.“

In ihren Augen sah er, dass ihr dieser Kuss genauso gut gefallen hatte wie ihm. „Du spürst es auch, oder?“, fragte er sanft. „Du hast weder damit gerechnet noch danach gesucht, und vielleicht macht es dir Angst, weil du denkst, dass du keine Komplikationen in deinem Leben gebrauchen kannst. Aber es ist trotzdem da, und du kriegst mich nicht aus dem Kopf, so wie ich dich nicht aus meinem kriege. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, muss ich ständig an dich denken.“

Sie zögerte. „Ja“, gab sie dann jedoch zu. „Das stimmt.“ Ihre Stimme klang rau.

Mit dem Daumen strich er über ihre Hand. „Ich mag dich, Susan. Du bist ruhig, gehst freundlich mit den Patienten um und bist eine gute Gesellschafterin. Na ja, wenn du nicht gerade an einem Seil hängst.“

Sie stöhnte. „Das bekomme ich wohl noch ewig vorgehalten, oder?“

„Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, würde ich es für ein böses Gerücht halten, dass jemand, der so gelassen, selbstsicher und kompetent ist wie du, in Panik gerät. Aber es ist nett zu wissen, dass du keine Superfrau bist, sondern auch Panikmomente erlebst, wie wir andern auch alle“, antwortete Marco.

Verblüfft schaute sie ihn an. „Soll das heißen, du kennst solche Panikmomente? Das glaube ich nicht. Wir haben zusammen gearbeitet. Gut, du hast mich heute Nachmittag führen lassen, aber wir wissen beide, dass du mehr Erfahrung hast als ich. Du wolltest nur nett sein und nach der Abseil-Aktion mein Selbstvertrauen wiederherstellen.“

„Stimmt“, bestätigte er.

„Das weiß ich zu schätzen, weil es funktioniert hat.“

„Schön.“ Marco hielt inne. „Vertraust du mir als Arzt?“

„Ja.“

„Das ist doch schon mal ein Anfang. Genau wie das hier.“ Er beugte sich vor und streifte ihren Mund mit einem leichten Kuss.

Sobald er merkte, dass Susan die Lippen öffnete, war er verloren. Er konnte sich nicht mehr von ihr lösen, sondern gab dem drängenden Impuls nach, sie richtig zu küssen. Innerhalb von Sekunden erwiderte sie seinen Kuss. Mit beiden Händen umschloss sie sein Gesicht, und ihr war zumute, als würden Sterne in ihrem Kopf explodieren.

Als Marco den Kuss schließlich beendete, bebten sie beide.

Das sollte eigentlich nicht passieren, dachte Susan. Sie wollte doch nur wieder ein bisschen Spaß in ihrem Leben haben. Den Moment genießen. Jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte, weil sie sich danach sehnte, dass es noch viel weiter ging. Und sie hatte das Gefühl, dass Marco ebenso empfand.

Das bedeutete, sie musste ihm die Wahrheit über sich sagen.

Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Über die Narbe dort. Die ständige Erinnerung an das Scheitern ihrer Ehe. Das, was Susan daran gehindert hatte, danach überhaupt wieder eine Beziehung einzugehen. Diese Narbe an ihrem Rücken und der hässliche Fleck an ihrem Unterarm waren der Grund dafür, dass Craig sie verlassen hatte.

Es gab keine Möglichkeit, die Sache zu vertuschen, denn falls sie mit Marco ins Bett ging, musste sie sich ausziehen. Er würde sie anfassen, sie ansehen. Entweder würde er die Narbe fühlen oder sie sehen. Und dann würde er natürlich Fragen stellen.

Sie war es ihm schuldig, ihm gegenüber ehrlich zu sein, damit er wusste, worauf er sich einließ, wenn er etwas mit ihr anfing.

Trotzdem blieben Susan die Worte im Hals stecken. Sie brachte einfach nichts heraus.

„Es tut mir leid“, sagte Marco da. „Nicht, dass ich dich geküsst habe. Das war schön. Aber dafür, dass ich dich zu sehr bedrängt habe.“

„Mir tut es auch leid“, meinte sie leise. „Weil ich so ein Feigling bin.“

Liebevoll streichelte er ihr über die Wange. „Du bist kein Feigling. Ich bin zu forsch. Darum gehe ich jetzt auch nach Hause.“ Noch einmal nahm er ihre Hand, küsste die Handfläche und schloss ihre Finger darüber, wie zuvor. „Wir sehen uns morgen.“

„Okay.“ Susan atmete tief durch. „Danke für den netten Abend. Es war schön.“

„Fand ich auch.“

Der Ausdruck in seinen Augen war so lieb und einfühlsam, dass ihr fast die Tränen kamen. Sie wünschte sich so sehr, Marco vertrauen zu können. Normal zu sein. Sich ganz zu fühlen.

Doch das würde nicht passieren. Irgendwie musste sie es schaffen, ihm die Wahrheit zu erzählen.

So bald wie möglich.

3. KAPITEL

Bei dem ersten Patienten von Susan und Marco am nächsten Morgen handelte es sich um eine ältere Frau, die über Unterleibsschmerzen klagte.

„Mrs Kane, ich bin Marco Ranieri, und das ist Susan Collins“, sagte er. „Wir werden herausfinden, was Ihnen Schmerzen bereitet, damit es Ihnen bald besser geht. Wie lange haben Sie dieses Problem schon?“

„Seit ein paar Tagen. Ich wollte Sie eigentlich nicht belästigen, aber dann traten die Schmerzen auf, als gerade der Briefträger da war. Er hat den Krankenwagen gerufen.“

„Dürfen wir Sie untersuchen?“, fragte Marco. „Wir werden so vorsichtig sein wie möglich, wenn Sie uns sagen, wo es Ihnen am meisten wehtut.“

„Ja“, flüsterte sie.

Behutsam tastete Marco sie ab. Sie zeigte keine Abwehrspannung oder besonders empfindliche Stellen, sondern nur ganz allgemeine Unterleibsschmerzen.

Susan prüfte die Temperatur der Patientin. „Sie haben kein Fieber, Mrs Kane.“

Schließlich meinte Marco: „Was haben Sie denn zuletzt gegessen?“

Sie verzog das Gesicht. „Ich hatte keinen großen Hunger.“

„Ist Ihnen übel gewesen?“, erkundigte sich Susan.

„Gestern dachte ich, ich müsste mich übergeben, aber als ich etwas Wasser getrunken habe, ging es mir wieder besser.“

„Hatten Sie vielleicht etwas verstärkten Harndrang?“, fragte Susan weiter.

„Ein bisschen. Aber das liegt wohl an meinem Alter, oder?“, antwortete Mrs Kane.

Lächelnd sagte Susan: „Könnte sein.“ Dann sah sie Marco an und wies mit dem Kopf nach draußen.

„Mrs Kane, wir müssen schnell etwas klären, dann kommen wir gleich wieder zurück, ja?“, sagte er.

Als sie nickte, folgte er Susan aus der Kabine.

„Ich weiß, dass eine Blinddarmentzündung wesentlich häufiger bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorkommt, aber ich habe einfach so ein Gefühl“, erklärte Susan.

„Ja, das ist auch meine Vermutung“, bestätigte Marco. „Übernimmst du die erforderliche Untersuchung?“

„Gern“, meinte sie.

Gemeinsam gingen sie in die Kabine zurück. „Mrs Kane, wir müssen Sie genauer untersuchen“, sagte Marco. „Und danach kommt vielleicht noch ein Bluttest und ein CT, damit wir besser erkennen können, was die Ursache für Ihre Schmerzen ist. Frau Doktor Collins übernimmt das.“ An Susan gewandt fügte er hinzu: „Ruf mich, wenn du mich brauchst.“ Damit verließ er die Kabine.

„Au, das tut weh“, stöhnte Mrs Kane während der Untersuchung.

Genau das hatte Susan erwartet. „Es tut mir leid, ich wollte Ihnen keine Schmerzen bereiten.“ Sie half der älteren Dame, ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen und sich aufzusetzen. „Ich glaube, Sie haben eine Blinddarmentzündung, und wir müssen Sie operieren, um den Blinddarm zu entfernen. Aber vorher möchte ich noch einige Tests machen, falls es Ihnen recht ist.“

„Tun die weh?“

„Bei der Blutabnahme spüren Sie vielleicht einen kleinen Stich, aber das CT ist völlig schmerzlos“, antwortete Susan beruhigend.

Die Blutuntersuchung ergab eine hohe Anzahl an Leukozyten, und das CT bestätigte die Vermutung der Ärzte.

„Definitiv eine Blinddarmentzündung“, stellte Marco fest.

Sie versicherten Mrs Kane, dass die entsprechende Operation minimal-invasiv durchgeführt wurde, sodass sie sich recht schnell davon erholen würde. Dann stellten sie ihr den Chirurgen vor, der sich ebenfalls die Zeit nahm, ihr alles zu erklären, ehe er sie persönlich in den OP hinaufbrachte.

„Gute Diagnose“, sagte Marco hinterher zu Susan.

„Danke, aber ich hätte mich auch irren können. Du weißt ja selbst, wie schwer es ist, Unterleibsschmerzen bei älteren Patienten zu diagnostizieren.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich hatte nur vor Kurzem gerade zufällig einige Artikel dazu gelesen, die mir im Gedächtnis geblieben sind.“

„Trotzdem eine gute Diagnose“, meinte er lächelnd.

Tagsüber blieb kaum Zeit für eine Pause, doch am Ende der Schicht holte Marco Susan ein, als sie gerade das Krankenhaus verlassen wollte.

„Welchen Dienst hast du morgen?“, fragte er.

„Spätdienst.“

„Ich auch.“ Er lächelte. „Hast du vielleicht Lust, heute Abend mit mir ins Kino zu gehen?“

Eigentlich hätte Susan ablehnen sollen, weil sie ihm immer noch nicht von ihrer Krankheit erzählt hatte. Aber sie war gerne mit ihm zusammen. Deshalb beschloss sie, das Unvermeidliche noch etwas hinauszuschieben. „Das wäre nett.“

Auf seinem Smartphone suchte Marco nach dem aktuellen Kinoprogramm. „Drama oder Komödie?“

„Komödie, falls dir das auch recht ist“, antwortete sie.

„Ja, ist in Ordnung“, meinte er. „Der Film fängt um acht an. Soll ich dich um halb acht abholen?“

„Ich muss zu Hause noch ein paar Sachen erledigen. Können wir uns um Viertel vor acht gleich dort treffen?“

„Klar. Ich besorg die Karten, und du kannst das Popcorn kaufen“, erklärte er lächelnd.

Susan erwiderte sein Lächeln. „Abgemacht.“

Obwohl es sich um einen Film handelte, den sie ohnehin hatte sehen wollen, da einer ihrer Lieblingsschauspieler darin mitspielte, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Erstens, weil sie Marco noch nichts von ihrer Neurofibromatose gesagt hatte, und zweitens, weil er ihre Hand hielt, nachdem das Popcorn aufgegessen war.

Wie konnte eine so leichte, unverfängliche Berührung all ihre Nervenfasern in Aufruhr versetzen? Glühendes Verlangen schien ihren gesamten Körper zu durchströmen.

Doch als sie ihre Wohnung erreichten, wusste Susan, dass sie Marco die Wahrheit sagen musste. Und zwar jetzt sofort, ehe die Dinge zu weit gingen. Es war nicht fair, ihn in dem Glauben zu lassen, dass es für sie beide eine Zukunft geben könnte, obwohl sie ihm nichts zu bieten hatte.

„Marco …“, fing sie an, während sie die Wohnungstür aufschloss.

„Ich weiß“, sagte er sanft.

Was? Woher denn? Das war doch nicht möglich.

Sobald Marco mit seinen Händen ihr Gesicht umschloss und sie küsste, hörte Susan jedoch auf zu denken. Es war ein weicher, süßer, verlockender Kuss, und jede Bewegung seiner Lippen auf ihrem Mund brachte ihr Blut noch mehr in Wallung. Alle Gedanken daran, ihm von ihrer Krankheit zu erzählen, waren schlagartig verschwunden. Bis zu dem Moment, als er ihr das Hemd aus den Jeans zog und die Hände daruntergleiten ließ. Mit den Fingerspitzen beschrieb er kleine Kreise auf ihrem Rücken. Als er die Narbe berührte, hielt er jedoch inne und löste sich ein wenig von ihr.

„Susan?“ Fragend sah er sie an.

Sie stieß hörbar den Atem aus und wich zurück. Wie einen Schutzschild verschränkte sie die Arme vor sich. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich hätte es dir sagen sollen. Das wollte ich auch, aber …“ Sie brach ab. Wie dumm, sich etwas zu wünschen, was sie nicht haben konnte. Hatte sie aus ihrer gescheiterten Ehe mit Craig denn gar nichts gelernt? Ihr Ehemann war nicht imstande gewesen, mit ihrer Krankheit umzugehen. Auch wenn Marco als Arzt es besser verstehen würde, war es doch sehr viel verlangt.

Susan schloss die Augen, um seine mitleidige Miene nicht zu sehen, wenn sie ihm davon erzählte. Da er sie jedoch einfach hochhob, ins Wohnzimmer trug und sich mit ihr auf dem Schoß aufs Sofa setzte, machte sie die Augen wieder auf.

„Das fühlt sich nach einer Narbe an“, meinte er behutsam. „Und du musst mir nichts darüber erzählen, wenn du nicht willst. Ich wollte mich nur vergewissern, dass ich dir nicht wehgetan habe.“

Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet.

„Susan?“

Seine Stimme war so sanft, dass ihr die Tränen kamen. Rasch blinzelte Susan sie fort. Sie war kein schwaches, bedürftiges Wesen. Sie war eine starke Frau und eine gute Ärztin. „Nein, du hast mir nicht wehgetan.“ Einen Moment lang fehlten ihr die Worte. „Aber danke, dass du so nett bist.“

„Nett drückt nicht gerade das aus, was ich fühle“, widersprach Marco.

„Ich wollte es dir sagen“, meinte sie. „Entschuldige, es war unfair von mir, mich auf dich einzulassen.“

„Unfair?“ Verständnislos sah er sie an. „Wieso denn?“

„Weil wir nicht wissen, wohin das mit uns führt. Ich bin es dir schuldig, dir die Wahrheit zu sagen. Aber es wäre mir lieb, wenn es unter uns bleiben könnte.“

„Selbstverständlich.“ Er zog die Brauen zusammen. „Du schuldest mir gar nichts, Susan. Aber wenn du reden möchtest, hör ich dir zu.“

Sie holte tief Luft. „Ich habe Neurofibromatose Typ zwei. Abgekürzt NF2.“

Zärtlich strich Marco ihr über die Wange. „Ich bin Notfallmediziner. Tut mir leid, ich weiß nichts über NF2. Was ist das?“

„Ein Gendefekt von Chromosom 22“, erklärte sie. „Dieser verursacht gutartige Tumore an den Nerven und der Haut. Obwohl er erblich ist, kann er auch einfach so plötzlich auftreten. Eine Genmutation, die sich erst nach vielen Jahren zeigt.“

„Das heißt, einer deiner Eltern hat es auch?“, riet er.

„Nein. Keiner von beiden ist Träger, und auch mein Bruder und meine Schwester sind gesund. Nur bei mir wurde es festgestellt.“ Wie sehr hatte Susan damit gehadert, als sie von ihrer Krankheit erfuhr. Nur einer von vierzigtausend Menschen bekam diese Diagnose. Warum ausgerechnet sie? Womit hatte sie das verdient?

Aber bald hatte sie mit dem sinnlosen Selbstmitleid aufgehört, denn dadurch änderte sich ja nichts. Stattdessen hatte sie sich umfassend informiert, um die Erkrankung zu verstehen und trotzdem ein möglichst normales Leben zu führen.

„Das muss hart für dich sein“, sagte Marco.

„Ich komm damit klar“, erwiderte sie. Auch wenn das nicht ganz stimmte.

„Wie hast du’s herausgefunden?“

„Ich hatte Rückenschmerzen, gegen die nichts half. Schließlich wurde ein MRT gemacht, um festzustellen, ob irgendwelche Verletzungen vorlagen. Dabei fand man die Tumore, die auf die Wirbelsäule drückten.“ Einer davon hatte die Größe einer Grapefruit gehabt, und wegen der Operation hatte Susan einige ihrer Prüfungsklausuren vom Krankenbett aus schreiben müssen.

„Daher also die Narbe an deinem Rücken“, meinte Marco leise.

„Ja. Der Chirurg hat die Tumore dort entfernt, und sie sind bis jetzt auch nicht wiedergekommen.“ Susan grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um sich daran zu erinnern, bei diesem Thema nicht allzu emotional zu werden. Okay, die Krankheit war zwar unheilbar, aber nicht tödlich. Es hätte viel schlimmer sein können. So machte es ihr nur das Leben gelegentlich etwas schwerer.

Aber ihre Ehe war daran zerbrochen.

„Ist es wahrscheinlich, dass die Tumore zurückkommen und dir wieder Probleme bereiten?“, fragte Marco.

„Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich muss jährlich zur Untersuchung, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Ich habe ein kleines Akustikusneurinom an beiden Gleichgewichtsnerven, aber sie wachsen sehr langsam und verursachen mir bisher keine Schwierigkeiten. Deshalb ist mein Spezialist der Meinung, dass wir bei der konservativen Therapie bleiben sollten.“ Sie zuckte die Achseln. „Mir geht’s also gut.“

Als Marco ihr einen Kuss auf den Mund gab, erschrak Susan. „Wofür war das denn?“

„Dafür, dass du so mutig warst, mir davon zu erzählen“, antwortete er. „Und es bleibt natürlich unter uns.“

An diesem Punkt wäre sie von seinem Schoß aufgestanden, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Erstaunt sah sie ihn an. „Marco?“ Müsste er jetzt nicht eigentlich verschwinden?

Wieder gab er ihr einen leichten Kuss. „Das ändert doch nichts zwischen uns.“

„Nicht?“

„Nein.“

Susan konnte es kaum begreifen. Zwischen ihr und Craig hatte es alles verändert. All ihre Pläne. Vor allem, nachdem sie bei der genetischen Beratung gewesen waren. Craig war in Panik geraten bei der Vorstellung, dass ein Baby Susans Krankheit erben könnte. Die Beraterin hatte ihnen die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung vorgeschlagen, um den Embryo vor dem Einpflanzen auf chromosomale Schädigungen zu untersuchen. Es gab aber auch die Möglichkeit einer Adoption oder Pflegschaft. Sie hätten trotz allem eine Familie gründen können.

Doch Craig hatte sie nach jenem Tag nie wieder angefasst. Nicht nur wegen der Gefahr einer unbeabsichtigten Schwangerschaft. Er hatte Susan Egoismus vorgeworfen, dass sie überhaupt ein Baby haben wollte, denn es bestand die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Zustand sich während einer Schwangerschaft verschlechtern würde. So wie er das sah, wäre er derjenige, der sich dann sowohl um das Kind als auch um sie hätte kümmern müssen.

Sie konnte sich noch genau an seine Worte erinnern. Du bist ja so egoistisch. Du hast nicht mal daran gedacht, was das für mich bedeutet und wie es sich auf unser Baby auswirken würde. Du denkst bloß an dich und deinen Kinderwunsch.

Ein Kind, das sie sich eigentlich beide gewünscht hatten.

Susan hatte versucht, mit Craig über eine Adoption zu sprechen. Sobald er jedoch im Internet recherchiert und dort die schlimmsten Fälle von Neurofibromatose gesehen hatte, war er in Panik geraten. Woher willst du wissen, dass die Tumore nicht bösartig werden und du stirbst? Wie soll ich denn dann arbeiten und gleichzeitig das Kind versorgen?

Er hatte jedes ihrer Argumente entkräftet, und dann war er ins Gästezimmer gezogen, weil er den Anblick ihres Arms nicht ertragen konnte. Es hatte sehr lange gedauert, bis Susan verstanden hatte, dass er sich nicht nur von ihrer hässlichen Haut abgestoßen fühlte. Er war einfach nicht imstande gewesen, mit der Situation umzugehen.

Obwohl es sie nicht allzu sehr überrascht hatte, dass er kurz darauf ganz auszog, war es dennoch ein Schock gewesen, als sie nur wenige Wochen später von seinen großen Neuigkeiten erfahren hatte. Es war, als hätte ihr jemand mit einer eisernen Faust das Herz aus dem Leib gerissen.

Niemals würde sie es zulassen, dass jemand sie noch einmal so tief verletzen konnte.

„Susan“, sagte Marco da leise. „Ich vermute, dass es für jemand anderen doch einen Unterschied gemacht hat?“

Sie wollte nicht über Craig sprechen. Nicht jetzt. „Wie kommst du darauf?“

„Weil das Strahlen aus deinen Augen verschwunden ist. Als würdest du dich an etwas Schmerzliches erinnern.“ Er gab ihr einen leichten Kuss. „Ich werde nicht neugierig sein, aber ich möchte, dass dieses Strahlen zurückkommt. Das Strahlen von gestern Abend, nachdem ich dich geküsst habe, und von vorhin, als wir aus dem Kino kamen.“

Ein Strahlen, das er nur deshalb in ihren Augen gesehen hatte, da sie in diesen kurzen Momenten vergessen hatte, wie es um sie stand.

Marco war nett zu ihr. Aber sie musste sich der Wahrheit stellen, und dafür gab es nur eine Möglichkeit. Susan knöpfte ihr Hemd auf und streifte es am Arm herunter, bis zu dem großen Fleck auf ihrer Haut, der mit vielen kleinen Knötchen bedeckt war.

Jetzt würde Marco garantiert weglaufen.

Susan erwartete, dass er mit Abscheu reagieren würde, das sah er ihr an.

Er hatte also richtig vermutet. Irgendjemand hatte sie sehr verletzt.

„Das ist es?“, fragte er.

„Ja.“ Ihre Augen glänzten verräterisch.

Marco streckte die Hand aus und fuhr vorsichtig über die Stelle. „Tut es weh, wenn ich das mache?“

„Nein.“ Ihre Lippen zitterten leicht.

„Gut. Und das hier?“ Mit dem Mund berührte er die Knötchen.

„Nein.“ Eine Träne rollte über Susans Wange.

„Oh, tesoro, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen, sondern dir nur zeigen, dass es keine Rolle spielt. Das ist doch bloß oberflächlich. Muttermale, Leberflecken, Warzen, Feuermale, die kommen alle ziemlich häufig vor.“

Susan schwieg, doch Marco hatte den schmerzlichen Ausdruck gesehen, der über ihr Gesicht gehuscht war. Offenbar ging es dabei um mehr als nur ihre äußere Erscheinung. Am liebsten hätte Marco diesem Kerl die Nase gebrochen, aber dadurch würde Susan sich auch nicht besser fühlen.

„Niemand ist perfekt“, sagte er daher. „Sogar Neugeborene haben oft einen Storchenbiss oder Grießknötchen.“

„Aber nicht so. Das hier ist hässlich!“

„Nein, es ist einfach ein Teil von dir“, widersprach er. Jeder, dem sie etwas bedeutete, hätte es akzeptiert und keine große Sache daraus gemacht, so wie ihr Ex anscheinend.

Marco küsste sie und zog ihr fürsorglich das Hemd wieder hoch. „Nur damit du’s weißt: Ich bedecke deinen Arm nicht deswegen, weil ich dich nicht anschauen oder anfassen will. Ich tue das nur, weil ich merke, dass du dich unwohl fühlst. Und das möchte ich nicht. Ich will, dass du bei mir entspannt bist.“

Sie schluckte. „Entschuldige. Ich bin eben ein Weichei.“

„Nein. Ich habe offensichtlich ein paar schlimme Erinnerungen in dir geweckt, und das tut mir leid.“ Liebevoll strich er ihr über die Wange. „Ich vermute, dass der Mensch, auf den du dich hättest verlassen sollen, dich enttäuscht hat. Wahrscheinlich, als du von deiner NF2-Diagnose erfahren hast.“

„So ähnlich“, gab Susan zu. „Allerdings nicht gleich am Anfang, sondern erst später.“

„Schade, dass er nicht der Mann war, den du verdient hast. Aber das ist zu seinem eigenen Schaden.“ Marco verzog verächtlich die Lippen. „Du hast viel mehr zu bieten als deine Haut und deine Neurofibromatose, und wahre Schönheit ist nichts Äußerliches.“ Er zog sie enger an sich. „Non tutti i mali vengono per nuocere.“

„Ich kann kein Italienisch, das habe ich also nicht verstanden“, sagte sie.

„Es gibt immer einen Silberstreifen am Horizont“, übersetzte er. „Wir sind beide ungebunden. Ich sehe also keinen Grund, der uns daran hindern sollte, herauszufinden, wohin das mit uns führt.“

„Das hier stört dich wirklich nicht?“ Susan zeigte auf ihren Arm.

„Nein, wirklich nicht.“ Aber eines musste er doch wissen. „Du hast gesagt, es sind gutartige Tumore. Das heißt, sie sind nicht tödlich?“

„Unheilbar, aber nicht tödlich. Und auch nicht ansteckend.“ Sie atmete tief durch. „Obwohl es eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit gibt, dass ich die Krankheit an ein Kind weitergeben könnte. Umso besser, dass ich gar keine Kinder will.“

Ihr Tonfall klang zwar beiläufig, doch Marco spürte, dass es wohl noch etwas komplizierter war. Genau wie bei ihm. Wäre alles nach Plan verlaufen, wäre er jetzt Vater, und Sienna wäre gerade mit ihrem ersten gemeinsamen Baby im Mutterschaftsurlaub. Aber es hatte ja keinen Sinn, ständig an das zu denken, was er verloren hatte.

„Verstanden“, meinte er sanft. „Falls die Sache zwischen uns so weit geht, wie ich denke und es mir auch wünsche, dann werden wir vorsichtig sein. Sehr vorsichtig.“

Völlig verblüfft sah Susan ihn an. „Du willst mit mir ins Bett gehen?“

Wortlos schob er sie an eine andere Stelle auf seinem Schoß, sodass sie seine Erregung fühlen konnte. „Beantwortet das deine Frage?“

Sie wurde rot. „Oh.“

„Gut.“ Wieder gab Marco ihr einen Kuss. „Aber ich werde dich zu nichts drängen. Lass es uns einfach genießen, einander näher kennenzulernen.“

Einen Moment lang fürchtete er, sie würde sich zurückziehen. Dann streichelte sie jedoch sein Gesicht, einen verwunderten Ausdruck in ihren Augen. „Ja.“

Noch einmal stahl er sich einen kleinen Kuss. „Du wirst es nicht bereuen, tesoro“, versprach er. „Und jetzt gehe ich lieber nach Hause, solange ich mich noch einigermaßen beherrschen kann. Auch wenn ich nur zu gerne mit dir schlafen würde, glaube ich, dass du ein bisschen mehr Zeit brauchst, um dich an den Gedanken zu gewöhnen.“

„Ja. Tut mir leid.“

„Du musst dich nicht dafür entschuldigen. Das ist doch kein Problem.“ Nach einem letzten Kuss verabschiedete er sich. „Bis morgen. Buona notte.

4. KAPITEL

Am nächsten Tag lächelte Susan auf dem ganzen Weg zur Arbeit. Bei dem Gedanken, Marco wiederzusehen, hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass ein so toller Mann wie Marco sie auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt hatte, geschweige denn, eine Beziehung mit ihr haben wollte. Vor allem jetzt, da er die Wahrheit über sie wusste.

In seinen Augen hatte sie weder Mitleid noch Abscheu gesehen. Ganz anders als bei Craig.

Falls Marco keine eigenen Kinder haben wollte, könnte es sogar funktionieren. Denn dann wäre die mögliche Auswirkung ihrer Krankheit kein Thema.

Im ersten Teil ihrer Schicht war Susan den Behandlungskabinen zugeteilt, genau wie Marco. Unwillkürlich...

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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