Julia Ärzte zum Verlieben Band 183

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DIE ERSTEN SCHRITTE INS GROSSE GLÜCK von TINA BECKETT
Was für ein Kuss – bei einer Hochzeit kommen Elena und ein sexy Fremder einander sehr nah! Dabei war sie überzeugt, dass die Liebe in ihrem Leben nach einer dramatischen Diagnose keinen Platz mehr hat. Doch dieser Traummann, ihr neuer Kollege im Krankenhaus, könnte alles ändern …

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  • Erscheinungstag 21.10.2023
  • Bandnummer 183
  • ISBN / Artikelnummer 8031230183
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Tina Beckett, Marion Lennox, Traci Douglass

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 183

PROLOG

Der Boden war unerbittlich hart. Elena Solis lag da, hörte die seltsamen Laute, die aus ihrer Kehle kamen, während sie vergeblich versuchte, Luft zu holen. Panik packte sie. Sie schnappte weiter nach Luft, die Angst nahm zu. Trotzdem suchte sie mit den Augen die Umgebung nach ihrem Pferd ab.

Aus den Lautsprechern des Pferdestalls plärrte weiterhin Musik, obwohl Elena und Strato sich nicht mehr im selben Takt bewegten.

Sie war nicht das erste Mal vom Pferd gestürzt. In ihren achtzehn Jahren hatte sie sich eine Menge dummer Stunts geleistet, und weitere würden sicher folgen. Wie schon hunderte Male zuvor, hatte sie für eine Show geübt.

Wieder blickte sie sich um, sah Sandra in der Nähe stehen.

„Keine Sorge, ich habe Strato. Bist du okay? Du bist ziemlich heftig aufgekommen.“ Elenas beste Freundin war von ihrem Pferd gestiegen und hielt nun beide Tiere an den Zügeln.

Strato, der arme Junge, war gestolpert, als Elena ihn bei ihrer Freestyle-Vorführung um eine Ecke gelenkt hatte. Zum Glück war er nicht auf sie gefallen. Eigentlich sollte sie gleich wieder aufsitzen, wie immer, und weitermachen. Nach einem Sturz gleich wieder aufs Pferd, so hieß es doch, oder? Allerdings war sie dazu gerade nicht in der Lage. Ihr tat alles weh. Die Schulter, das linke Knie.

Am schlimmsten war der Rücken.

„Gib mir eine Minute.“ Bebend holte sie vorsichtig Luft, einmal und noch einmal, bis das beklemmende Gefühl in ihrer Brust langsam nachließ. Die Schmerzen blieben.

Elena atmete tief ein, unendlich froh, wieder normal atmen zu können. Und jetzt aufstehen! Als sie versuchte, sich auf die Seite zu rollen, schoss es ihr messerscharf in den Rücken, und an der Wirbelsäule verspürte sie ein furchtbares Brennen. Das war alles. Mehr ging nicht. Sie fiel wieder auf den Rücken, lag reglos da, versuchte, nachzudenken.

Okay, das war ihr noch nie passiert. Immerhin tat das Knie nicht mehr weh. Ein gutes Zeichen, oder?

Sie bewegte die Hände, die Arme. Dann die Zehen.

Funktionierte alles. Moment. Hatten ihre Zehen sich bewegt? Sie wusste es nicht. Sie versuchte es wieder.

„Sandra?“ Ihre Stimme zitterte.

Ihre Freundin kam einen Schritt näher, die Pferde folgten. Strato senkte den Kopf, berührte Elenas Schulter, wieherte leise.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte ihre Freundin.

„Ich … ich weiß es nicht.“

„Was ist los?“ Sandra klang alarmiert.

„Kannst du dir mal meinen linken Fuß ansehen?“

„Was ist damit? Tut er weh?“

„Bewegt er sich? Schau hin. Auf meinen linken Fuß. Bewegt er sich?“

„Nein, sollte er?“ Ihre Freundin blickte ihr in die Augen. „Elle? Rede mit mir. Hast du Schmerzen?“

Purer Horror schnürte ihr die Kehle zu, drohte ihr wieder die Luft abzudrücken. „Nein, er tut nicht weh. Und er sollte sich bewegen.“ Beweg dich! Bitte! „Bist du sicher? Sieh noch mal hin.“

Sandra sah wieder zum Fuß. „Er rührt sich nicht. Dios, Elle, ich glaube, ich sollte Hilfe holen.“

Elena dämmerte, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie hatte sich aufgerichtet, statt erst zu prüfen, ob sie nicht ernsthaft verletzt war. Wie oft hatte ihr Vater ihr eingeschärft, jemanden, der sich den Rücken verletzt haben könnte, nicht zu bewegen! „Ich glaube auch, Sandra, weil … Ich … ich spüre meine Beine nicht.“

„Oh, Elle …“ Ihre Freundin hatte das Handy schon in der Hand und wählte.

Wie in einem dunklen Tunnel gefangen, hörte sie Sandra sagen, wo sie waren, was passiert war und dass sie dringend Hilfe brauchten. Sofort.

Elena konnte nur daliegen und beten. Beten wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

1. KAPITEL

Santiago Garcia hatte seine Freundin Caitlin nie strahlender, nie schöner gesehen, als sie den Mittelgang praktisch entlangschwebte, auf den Mann zu, den sie el amor de mi vida nannte. Die Liebe meines Lebens. Auch Santi hatte diese Liebe gekannt. Aber das war vorbei. Seine festliche Stimmung hielt sich in Grenzen. Die Einladung zu dieser Hochzeit war die erste, die er annahm, seit Carmens Tod vor sechs Jahren sein Leben in den Abgrund gerissen hatte.

Während er jetzt auf vornehmen Kirchenbankpolstern in der mit viel Gold und Schnörkeln ausgestatteten Schlosskapelle saß, bereute er, dass er gekommen war. Aber er hatte die Reise von Barcelona nach Andalusien bereits auf sich genommen, und in letzter Minute abzusagen, hätte keinen guten Eindruck gemacht. Nichts lag ihm ferner, als Caitlins Glück durch sein Verhalten zu trüben.

Eine leichte Bewegung zu seiner Linken erregte seine Aufmerksamkeit. Die Frau neben ihm richtete zum dritten Mal ihren Rock, nachdem sie ihren Rollstuhl erst vor wenigen Momenten auf ihren Platz manövriert hatte.

Sie sah so unbehaglich aus, wie er sich fühlte. Anscheinend wäre sie auch lieber woanders.

Ohne den Kopf zu drehen, musterte er sie aus dem Augenwinkel. Rabenschwarzes langes Haar, stolze, aufrechte Haltung, schlanke nackte Schultern in einem hautengen grünen Kleid. Die Farbe passte perfekt zu ihrer weichen Haut. Die Frau war atemberaubend. Und offensichtlich allein hier. Genau wie er.

Nicht, dass es eine Rolle spielte.

Santi war nicht hier, um Frauen kennenzulernen, sondern um seiner Freundin Glück zu wünschen. Sobald das erledigt war, konnte er nach Barcelona zurückkehren. In sein Leben.

Er zwang den Blick wieder nach vorn. Hätte er diese Hochzeit nur schon hinter sich!

Caitlin und ihr Zukünftiger hielten sich an den Händen, und der Offiziant wies Javier an, ihr den Ring anzustecken. Caitlins und Javiers Blicke trafen sich, und er beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Etwas, das ihr auf der Stelle ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

Santi spürte die Anspannung, als er sich daran erinnerte, was er Carmen zugeflüstert hatte. Wie sehr er sie liebte. Dass er es kaum erwarten könnte, mit ihr als Mann und Frau den Mittelgang entlangzuschreiten. Ein merkwürdiger Impuls trieb ihn, einen kurzen Blick auf die Hände der Frau neben ihm zu werfen. Kein Ring. An keinem ihrer Finger.

Warum interessierte ihn das? Es war nicht von Bedeutung, ob sie verheiratet oder zu haben war. Vor zwei Jahren hatte er seinen Ring abgenommen und sich gewundert, dass er dabei Schuldgefühle empfand. Schließlich würde er seine Frau nicht vergessen. Niemals.

Unerwartet wandte die Frau neben ihm den Kopf und sah ihn an. Santi blickte rasch wieder nach vorn, nicht ohne jedoch ihr leichtes Stirnrunzeln wahrzunehmen. Er war ganz ihrer Meinung. Was starrte er sie an?

Eheringe wurden getauscht, Eheversprechen gegeben, und als die Orgel einsetzte, küsste Javier seine Caitlin auf den Mund, lange genug, dass leises Lachen und ein paar Pfiffe von den ehrwürdigen Wänden widerhallten, wo streng blickende Heilige die Störung zu verdammen schienen. Dann löste sich das Paar voneinander, drehte sich zu den Hochzeitsgästen um. Javier hob seine mit Caitlins verschränkten Finger und küsste die Hand der Braut, bevor er mit ihr zusammen den Mittelgang entlangkam. Caitlin lächelte ihm zu, als sie an ihm vorbeigingen. Oder galt das Lächeln der geheimnisvollen Frau neben ihm? Da sie auf der Seite der Brautgäste saß, mussten sie sich kennen.

Woher?

Vielleicht eine Freundin aus Kindertagen oder Caitlins Schulzeit. Es sollte ihm egal sein.

Sobald Caitlin und Javier und die Hochzeitsgesellschaft durch die massiven Holztüren nach draußen gegangen waren, schwenkte die Frau ihren Rollstuhl herum und verschwand in der Menge. Hatte sie es eilig, von ihm wegzukommen?

Verdammt, warum auch nicht? Die meiste Zeit der Zeremonie hatte er sie angestarrt, allerdings mehr oder weniger, um das traute Glück dort vorn nicht sehen zu müssen.

War das wirklich der einzige Grund? Die Frau war schön. Sicher passierte es ihr oft, dass Männer ihr Blicke zuwarfen. Vielleicht deswegen das verärgerte Stirnrunzeln, als sie ihn dabei erwischt hatte.

Wie auch immer, er brauchte sich keine Gedanken zu machen. Sobald er das Hochzeitsessen überstanden hatte, konnte er sich in sein Hotel zurückziehen. Oder versuchen, eine Maschine zurück nach Barcelona zu erwischen. Sein Apartment lag nicht weit vom Santa Aelina Hospital entfernt. Das Universitätskrankenhaus war noch neu gewesen, als man ihm dort eine Stelle anbot, und er nutzte seine Chance. Was er bis heute nicht bereute. Auch wenn er Carmen ein Jahr nach dem Umzug nach Barcelona verloren hatte.

Auf dem Weg zum Hochzeitsempfang ließ er sich Zeit. Er fand in einem der Ballsäle des riesigen Anwesens statt. Als er durch die weit geöffneten Türen schlenderte, zuckte er beim Anblick der kunstvoll arrangierten weiß schimmernden Lichterketten zusammen. Sie verliehen dem Saal etwas Intimes, das ihn abschreckte, weiterzugehen. Doch hinter ihm strömten weitere Gäste herein, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in die Höhle des Löwen zu wagen. Alles um ihn herum strahlte Liebe und Romantik aus. Anscheinend war es ansteckend, denn nicht wenige Anwesende hielten Händchen oder flüsterten sich etwas ins Ohr. Das folgende Lachen tiefer Männer- oder heller Frauenstimmen verstärkte sein Unbehagen.

Santi ließ den Blick schweifen und brauchte eine Sekunde, bevor ihm klar wurde, was er unbewusst gesucht hatte. Die Frau, die in der Kapelle neben ihm gesessen hatte. Warum wollte er sie wiedersehen? Um sich zu entschuldigen?

Vielleicht hatte sie gedacht, dass er sie anstarrte, weil sie im Rollstuhl saß. Aber sie täuschte sich. Würde er versuchen, ihr das zu erklären, könnte er alles noch schlimmer machen. Also verwarf er den Gedanken.

Außerdem war sie nirgends zu sehen.

Er ging zur Bar und stellte sich für einen Drink an. Allemal besser, als irgendwo am Rand zu stehen und zu beobachten, wie der Rest der Welt sich bestens amüsierte. Während er versuchte, das Loch zu stopfen, aus dem Erinnerungen an Carmen herausschossen wie Wasser aus einer zerborstenen Leitung. Genau das war der Grund, warum er um Hochzeiten einen Bogen machte. Natürlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, nach Argentinien zurückzukehren. Aber dann hätten sich seine Eltern Hoffnungen gemacht, dass er das Geschäft der Familie übernehmen würde. Obwohl er Pferde und den Polosport liebte – er war damit aufgewachsen –, gehörte sein Herz der Medizin.

Santi liebte es, Kinderarzt zu sein. Mehr noch, seit das Schicksal seine Träume von einer eigenen Familie mit grausamer Hand zerquetscht hatte.

Er bestellte einen Scotch auf Eis, trank einen Schluck, bevor er sich von der Bar entfernte. Genoss die Kälte der Eiswürfel, die sich mit der rauchigen Wärme des Whiskys mischte. Den Geschmack kannte er nur zu gut. Nach Carmens Tod hatte er monatelang zu viele raumtemperierte Whiskys getrunken. Er hörte gerade rechtzeitig auf, bevor die Sache aus dem Ruder lief. Das Eis half ihm, langsam zu trinken und seinen Verstand zu benutzen, statt hemmungslos ein Glas nach dem anderen hinunterzustürzen.

Inmitten der Menge blitzte etwas Grünes auf, verschwand jedoch sofort wieder. Santi blickte suchend in die Richtung, während er wieder von seinem Whisky trank.

Wahrscheinlich war es gar nicht seine geheimnisvolle Frau gewesen.

Seine?

Nein. Seine war sie nicht. Und er hatte nicht vor, das zu ändern.

Caitlin und Javier tauchten vor ihm auf. Anscheinend hatten sie beschlossen, die Runde zu machen, statt eine endlos scheinende Reihe Gäste an sich vorbeiziehen zu lassen. Er konnte es ihnen nicht verdenken.

„Danke, dass du gekommen bist, Santi. Ich war mir nicht sicher.“

Caitlin und andere Kolleginnen und Kollegen am Santa Aelina’s waren nach Carmens Tod sehr um ihn besorgt gewesen. Er hatte sich geweigert, darüber zu sprechen, und grübelnd in seinem Büro gesessen, wann immer er keine Patienten hatte. Weder nahm er an Events außerhalb des Krankenhauses teil und wies Caitlins Rat, beim Krankenhauspsychologen Hilfe zu suchen, jedes Mal strikt zurück.

„Ich hatte zugesagt.“

Sie lächelte. „Ich weiß. Und du hältst deine Versprechen.“ Caitlin beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Nun, ich bin froh, dass du hier bist. Es bedeutet mir viel.“

Javier streckte die Hand aus, und Santi griff danach.

„Herzlichen Glückwunsch an euch beide. Ich freue mich für euch.“

Die Lüge ging ihm so leicht über die Lippen, dass niemand an der Wahrheit seiner Worte gezweifelt hätte. Und es war ja nicht so, dass er sich nicht für sie freute. Es fiel ihm nur grundsätzlich schwer, Freude zu empfinden. Allein sein Beruf gab seinem Leben einen Sinn und füllte seine Tage. Mehr konnte er nicht verlangen. Mehr verdiente er nicht.

Seine Freundin blickte ihn an. „Entschuldige, dass ich jetzt von der Arbeit anfange, aber es gibt da einen Fall, den du dir ansehen könntest, wenn du wieder zu Hause bist. Und da wir in die Flitterwochen fahren und eine Weile weg sind … Der Patient ist ein Teenager und klagt über Bein- und Fußschmerzen.“

„Tomás?“ Javier sah seine Frau an.

Sie nickte, bevor sie sich wieder Santi zuwandte. „Er kam mit einem Herzfehler zur Welt. Hypoplastisches Linksherz-Syndrom.“

Santi runzelte die Stirn. HLHS war eine angeborene Fehlbildung des Herzens, bei der nur die Hälfte Blut pumpen konnte. Normalerweise ein Todesurteil. „Teenager, sagtest du?“

„Ja, er wurde als Baby operiert und hat sich tapfer geschlagen.“

Er verstand nicht, wie er ins Spiel kam. Bei der Norwood-Operation wurden in drei komplizierten Verfahren Herzgefäße verlegt, um unbrauchbare Stellen des Organs zu umgehen.

„Ihr seid Kardiologen, und ich bin Kinderarzt, wie soll ich da helfen?“

„Dass die Schmerzen durch das Kreislaufsystem verursacht werden, konnten wir ausschließen. Wir hatten bereits darüber gesprochen, dich zu konsultieren, aber bisher nicht die Zeit gefunden …“, begann Javier.

„Erinnerst du dich an den Fall, bei dem du mir vor ein paar Wochen geholfen hast, Santi?“ Caitlin drückte seinen Arm. „Wir bekommen eine neue Kollegin, eine Diagnostikerin. Ich glaube, das hatte ich dir erzählt. Sie hat bereits zugesagt, ihn zu untersuchen. Wie auch immer, sieh dir bitte seine Akte an. Er heißt Tomás Lopez.“

„Gut, mache ich.“ Bei dem letzten Fall, der ihm Kopfzerbrechen bereitet hatte, brauchte er sich doch nicht an die Diagnostikerin zu wenden. Santi hatte ihn allein gelöst. Komplizierte Fälle kamen ihm gerade recht. Sie forderten Gehirnzellen, die sich sonst mit sinnlosen Grübeleien befassten. Über Dinge, die Santi nicht ändern konnte. Was konnte schlimmstenfalls passieren, wenn er sich an die neue Diagnostikerin wandte? Dass sie ihm sagte, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern? Und wenn schon. Er machte sich schon lange keine Gedanken mehr, ob er jemandem auf den Schlips trat oder nicht.

Caitlin umarmte ihn. „Danke! Halt mich auf dem Laufenden.“

Ihr Mann warf ihr einen Blick zu, der sie zum Lächeln brachte.

„Ja, ja, ich weiß, was ich versprochen habe. Während unserer Flitterwochen ist die Arbeit tabu. Aber ich möchte schon gern wissen, was sie herausfinden.“

Javier hob ihr Kinn an und küsste sie auf den Mund. „War nur ein Scherz. Mich interessiert es genauso.“

Das glückliche Paar lächelte ihn an und wandte sich den nächsten Gästen zu.

Santi atmete tief aus, trank einen Schluck Whisky und stellte fest, dass das Eis inzwischen geschmolzen und der Scotch verwässert war. Er setzte das Glas auf einem der Tabletts für benutzte Gläser ab, in Gedanken bei dem, was Caitlin und Javier ihm über den jungen Patienten erzählt hatten.

Ein Löffel wurde rhythmisch gegen ein Glas geschlagen, gefolgt von weiteren, bis das feine Klingeln zu einer Klangwand anschwoll. Die Leute machten sich auf den Weg zu den festlich eingedeckten runden Tischen, wo bald das Essen serviert werden würde.

Santi wusste, was jetzt kam. Bevor Javier Caitlin küsste, um die Menge zu beruhigen, oder jemand einen ersten Toast auf das glückliche Paar ausbrachte, verließ er unauffällig den Saal.

Die Hände tief in den Taschen seiner Anzughose versenkt, ging er den Flur hinunter, das leise Klacken seiner Schuhsohlen ein starker Gegensatz zu dem Lärm im Festsaal.

Rechts von ihm stand eine Tür offen, und er lugte hinein. Santi sah Wände voller Bücherregale. Eine Bibliothek. Ausgezeichnet! Hier fand er sicher ein ruhiges Eckchen, wo er sich eine Weile aufhalten konnte. Endgültig aufbrechen wollte er nicht, irgendwann musste er sich noch einmal kurz unter die Gäste mischen, falls jemandem seine Abwesenheit aufgefallen war.

Als er den Raum betrat, fiel sein Blick auf ein Gemälde zwischen zwei Regalen. Er studierte es und schnaubte beim Anblick der Szenerie. Auf einem galoppierenden Pferd saß ein Paar in historischer Kleidung. Und zwar im Damensattel. Beide. Sie saßen nicht nur, sondern küssten sich, während die Zügel nutzlos im Wind flatterten, als das Ross durch die Landschaft fegte. Anscheinend übertrumpfte Romantik nicht nur in der Kapelle, sondern auch hier die Realität.

„Ernsthaft?“, murmelte er.

„Das habe ich auch gedacht.“

Die sanfte Stimme ertönte irgendwo hinter ihm. Santi schloss die Augen, als ihm klar wurde, dass er nicht allein war. Und dass dieser Jemand gehört hatte, wie er sich über das Dekor des Hauses lustig machte. Das hatte er nicht beabsichtigt, zumal der Maler sicher berühmt war.

Zumindest schien diese Person seiner Meinung zu sein. Also konnte auch jemand, der sich mit Pferden nicht auskannte, sehen, wie lächerlich die Darstellung wirkte.

Auch auf einer Hochzeit wurden lächerliche Versprechen auf die Ewigkeit abgegeben. Niemand wusste, was die Zukunft bereithielt. Das konnte keiner besser beurteilen als er. Warum waren die Ehegelübde seit Jahrhunderten die gleichen? Dagegen standen Seuchen wie die Pest, Kriege … Krebs. Sie alle mächtig genug, ein Liebesversprechen in den Staub zu treten.

Er merkte, dass er immer noch reglos dastand, was ziemlich unhöflich wirken mochte. Also drehte er sich langsam um, setzte dabei zu einer Erklärung an.

„Verzeihung, es ist nur so, dass ich auf einem Gestüt groß gewor…“

Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken.

Die Frau im grünen Kleid. Gab es solche Zufälle?

Entferntes Gelächter drang aus dem Ballsaal zu ihnen, während er die Frau aus der Kapelle anstarrte. Santi blinzelte, sah weg, dann wieder zu ihr hin.

„Sie sind es.“

Kaum waren die Worte draußen, ärgerte er sich darüber. Er hatte schockiert geklungen. Und erfreut.

Wie ein atemloser Teenager! Es war das Letzte, was er wollte.

Sie lächelte flüchtig, und sein Ärger legte sich. Kehrte nicht zurück, als sie fragend die Brauen hochzog.

„Ja, ich bin’s. Allerdings bin ich nicht sicher, was Sie damit meinen. Soll ich mich geschmeichelt fühlen oder beleidigt?“

Elle war gut darin, ihre Gefühle zu verbergen. Deshalb hoffte sie, dass er ihr die lässige Amüsiertheit abnahm und nicht merkte, wie überrascht sie war. Als der Mann die Bibliothek betrat, hatte sie ihn zunächst nicht erkannt. Aber der ungläubige Laut, den er ausstieß, brachte sie zum Lächeln. Ihr erster Impuls, auf leisen Rädern davonzugleiten, hatte unbändiger Neugier Platz gemacht. Elle blieb, wo sie war, gespannt darauf, was er als Nächstes sagen oder tun würde.

Sie hatte hier Zuflucht gesucht vor dem Gedränge im Ballsaal. In Menschenmengen bekam sie schnell Platzangst. Manchmal fühlte sie sich wie unsichtbar, was natürlich niemand beabsichtigte, aber auch nicht ändern konnte. Es sei denn, er setzte sich hin.

Deshalb war es viel interessanter, den Mann zu beobachten, als in den Festsaal zurückzukehren. Zwar kannte sie dort einige Gäste, hatte jedoch bisher außer Braut und Bräutigam niemanden gesprochen.

Aber als er sich umdrehte und sie in ihm den Mann wiedererkannte, der in der Kapelle neben ihr gesessen hatte, schnappte sie unwillkürlich nach Luft. Allerdings schien er, seinen Worten nach zu urteilen, ähnlich verblüfft zu sein.

Seine Mundwinkel zuckten. „Entschuldigen Sie. Ich dachte, ich wäre allein. Jetzt haben Sie mich schon zweimal von meiner schlechten Seite erlebt.“

„Zweimal?“ Sie hatte keine Ahnung, was er meinte.

„Egal. Ich brauchte eine kleine Auszeit, und dann sah ich …“ Er zeigte auf das Wandbild. „Hat der Maler je auf einem Pferd gesessen?“

„Sie reiten?“

„In letzter Zeit nicht, aber früher oft.“

„Ich auch.“ Elle erwartete einen ungläubigen Blick, aber in seinen Augen war nichts zu lesen.

Obwohl … nichts stimmte nicht ganz. Da war etwas, doch sie konnte es nicht deuten.

Er kam zu ihr, setzte sich auf einen der vergoldeten Stühle vor sie hin und lächelte. „Verraten Sie’s mir … haben Sie je auf einem ungesattelten Pferd gesessen und sich mit jemandem geküsst? Ohne runterzufallen?“

Schmerzliche Erinnerungen an ihren Sturz damals durchzuckten sie, aber sie fing sich rasch. „Nein, niemals. Ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen. Und Sie?“

Er lachte, sah kurz zum Bild hinüber. „Ach, dann erkennen Sie mich nicht auf diesem Gemälde?“

Zu ihrer Überraschung lachte sie hell auf. Der Mann redete mit ihr, als könnte sie alles tun, was sie wollte. Die meisten Menschen zeigten sich in ihrer Gegenwart befangen, passten auf, was sie sagten, als fürchteten sie, ihre Gefühle zu verletzen. Ihnen war gar nicht klar, dass sie damit noch mehr verletzten. Bei den wenigen Dates, auf die sie sich eingelassen hatte, waren die Männer übereifrig bemüht gewesen, ihr Dinge abzunehmen, die sie selbst bewerkstelligen konnte. Nach einem besonders desaströsen Erlebnis, beschloss sie, keinen Lebenspartner zu brauchen. Sie waren nur anstrengend, und Elle war überzeugt, dass sie das Gleiche von ihr dachten. Wie ihr Professor.

„Stimmt, irgendwie kamen Sie mir bekannt vor.“

Plötzlich empfand sie eine Erleichterung, über die sie sich selbst wunderte. In der Kapelle fand sie ihn angespannt und dachte zuerst, dass es mit ihrem Rollstuhl zu tun hätte, doch jetzt war davon nichts zu spüren. Die Situation war ihr peinlich gewesen, vor allem, weil sie ihn als Mann wahrgenommen hatte. Als sehr, sehr attraktiven Mann.

Und wenn er redete … Dios, seine Stimme verstärkte diesen Eindruck noch. Sie war tief, leicht rau und rührte in ihr etwas an, das sie erbeben ließ. Elle spürte es bis zur Mitte ihres linken Oberschenkels, bis dahin, wo sie noch etwas fühlte. Stellen, die besonders empfindsam waren. Da genügte eine leichte Berührung. Und seine Stimme war wie ein Raunen an ihrer Haut …

Sie räusperte sich. „Wie auch immer, Sie sehen, warum der Maler sich eher auf das Paar als auf das Pferd konzentriert hat. Auch Caitlin und Javier hatten während der Trauung nur Augen füreinander.“

„Vermutlich haben Sie recht.“

Wenige Worte nur, aber seine Augen blickten plötzlich ausdruckslos. Verschlossen. Auch wie er sich zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte, sprach Bände.

Anscheinend hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Man brauchte kein Genie zu sein, um seine Körpersprache zu deuten. Nicht einmal Ärztin, geschweige denn Diagnostikerin.

Nicht, dass er verärgert wäre. Eher, als hätte er ein Schild aufgestellt mit der Warnung „Straße gesperrt“.

Sie wäre die Letzte, die dafür kein Verständnis hätte. Auch in ihrem Leben gab es Dinge, über die sie mit niemandem sprach. Aber sie vermisste das unbefangene Geplänkel von gerade eben. Vorbei, wegen einer gedankenlosen Bemerkung.

Wie hätte sie das ahnen können?

Elle griff nach einem der Bücher, die sie sich herausgesucht hatte. „Kennen Sie sich mit der Geschichte des Maravilla-Anwesens aus?“, begann sie in der Hoffnung, die angespannte Stimmung zu lockern. „Sie ist tatsächlich faszinierend.“

Sie stolperte durch die nächsten Sätze über Haus und Grund, bevor sie wieder Luft holte. Die einsetzende Stille ließ sie innerlich zusammenzucken. Deshalb redete sie nicht gern über so etwas. Für ihre Detailverliebtheit hatten die meisten nicht viel übrig. Wahrscheinlich überlegte er sich schon eine Ausrede, um sich rasch zu verabschieden.

Doch sie wollte nicht, dass er schon ging.

Zu ihrer Überraschung beugte er sich vor, die Arme locker auf den Oberschenkeln abgestützt. „Ehrlich gesagt, weiß ich nichts darüber.“

„Ach, wirklich nicht?“ Ihre Blicke trafen sich. Elle schluckte, drehte das Buch in den Händen. Schlug schließlich die erste Bildseite auf. Sie zeigte besagtes Wandgemälde. „Oh! Nun ja …“

Er lachte leise. Ein warmer dunkler Laut, bei dem ein sinnliches Vergnügen durch ihren Körper rieselte. Der Mann war gefährlich. „Das haben Sie geplant, geben Sie’s zu.“

„Nein. Bestimmt nicht.“ Wie atemlos und heiser das klang. Elle erkannte ihre Stimme nicht wieder.

Sie spürte die starke Anziehung und wusste, wie riskant es wäre, ihr nachzugeben. Aber irgendwie wollte sie nicht, dass das Gespräch mit ihm schon endete. Wollte vielmehr sehen, was passierte, wenn sie hierblieb und den Dingen ihren Lauf ließ.

Er sah ihr in die Augen, dann glitt sein Blick zu ihrem Mund. „Wirklich nicht?“

Elle wagte kaum zu atmen, in ihrem Kopf rauschte es, und unwillkürlich leckte sie sich mit der Zungenspitze die trockenen Lippen. Er verfolgte die Bewegung mit den Augen. Elle hatte Mühe, zu antworten.

„Warum sollte ich? Sie mögen das Bild doch gar nicht.“

„Das Bild? Hmm … Nein. Das beeindruckt mich nicht.“

Sagte es, als wäre er von etwas anderem beeindruckt.

Von ihr? Ganz sicher nicht. Aber was wäre, wenn …?

Wie lange war es her, dass sie so mit einem Mann geredet hatte? Fast, als würden sie flirten …

Flirte ich?

Ja. Und warum nicht? Nach heute Abend würde sie den Mann nie wiedersehen.

Unwillkürlich bog sie den Rücken durch, legte die Hände auf die Knie, um das Gleichgewicht zu halten. Als verließe sie mit Herz und Sinn, mit ihrem Körper die gewohnte Balance, um sich an den Rand einer Klippe zu wagen. Ein kleiner Stoß und …

„Was beeindruckt Sie dann?“ Sie konnte nicht glauben, dass sie ihn gefragt hatte. Doch selbst, wenn es möglich wäre, sie hätte die Frage nicht zurückgezogen.

„Alles Mögliche. Dieses Land. Dieser Ort.“ Er schwieg einen winzigen Moment lang. „Und Sie.“

Nur wenige Zentimeter waren sie noch voneinander entfernt. Das Rauschen im Kopf setzte sich im Rest ihres Körpers fort, bis das erotische Vibrieren drängender wurde.

Warme Fingerspitzen berührten ihre Wange, glitten tiefer zum Mundwinkel, umfassten ihr Kinn. Drückten es sanft hoch. Ihr Puls raste, Fühlen und Denken kreisten nur um eine Sehnsucht. Tu es, verlangte sie stumm von ihm.

„Ja“, murmelte er. „Sie auf jeden Fall.“

Dann beugte er sich vor und tat genau das, worauf sie gewartet hatte. Er küsste sie auf den Mund.

2. KAPITEL

Entfernt hörte er etwas zu Boden fallen.

Das Buch.

Er wollte sich nicht ablenken lassen. Nicht, während die Frau ihre süßen Lippen auf seine presste. Und statt zurückzuweichen, kam sie noch näher, legte ihm die Hände auf die Schultern. Vielleicht musste sie sich abstützen, aber die unerwartete Berührung durchzuckte ihn heiß und weckte verrückte Gedanken. Vor allem den, dass dieser Kuss nie enden möge.

Santi spürte ihre warmen Finger am Nacken, spürte, wie sie mit seinen Haaren spielte. Verlangen flammte in ihm auf, nach etwas, das er sich ewig nicht mehr gewünscht hatte. Intimität. Sinnliche Hingabe. Für jemanden da zu sein.

Gefühle, die er nicht mehr verspürt hatte, seit …

Carmen.

Er wich so schnell zurück, dass er einen Moment zu spät merkte, wie er sie mit sich zog. Santi stützte sie, bis sie das Gleichgewicht wiederfand, und verfluchte sich im Stillen. Verdammt, was tat er hier?

¡Qué diablos! Sie zu küssen, machte in etwa so viel Sinn wie die Szene auf dem verdammten Gemälde!

Er kannte sie nicht einmal. Und dennoch hatte er sie in den Armen gehalten, als wollte er sie nie mehr loslassen.

Santo Dios. Es tut mir leid.“

„Muss es nicht. Es war nur ein Kuss. Nichts von Bedeutung.“

Ihr Lächeln wirkte kühl. Vorher weich und warm und so leidenschaftlich, dass ihm heiß geworden war, erinnerte es ihn jetzt an die Eiswürfel in seinem Drink vorhin. Auch ihre Stimme klang scharf, von unterdrücktem Unmut begleitet.

Er hätte sie nicht küssen sollen. Und jetzt wollte sie, dass er ging. Was er verstehen konnte. Santi erhob sich, sah sie schweigend an, während er nach besseren Worten suchte, um sich zu entschuldigen. Ihm fiel nichts ein. Gab es in einer solchen Situation überhaupt die passenden Worte? Er erlebte sie zum ersten Mal.

Nichts von Bedeutung.

Verflucht, er wünschte, das würde stimmen. Für sie vielleicht, aber für ihn …?

Noch nie seit dem Tod seiner Frau hatte er sich so vergessen. Von zwei One-Night-Stands abgesehen, hatte er wie ein Mönch gelebt. Weil er es so wollte.

Aber dies? Das war kein Kuss gewesen, der als Auftakt zu mehr diente, mit dem einzigen Ziel, eine Frau ins Bett zu bekommen. Diese Frau hatte er geküsst, einfach, weil er es wollte. Genau das verstärkte seine Schuldgefühle. Natürlich wusste er, dass er Carmen nicht betrog, aber es fühlte sich verdammt noch mal so an!

Die schöne Unbekannte hielt den Kopf gesenkt, die Hände reglos im Schoß. So wollte er sie nicht zurücklassen, wollte wenigstens nach ihrem Namen fragen. Aber er hatte das Gefühl, dass es nicht gut ankommen würde, egal, was er sagte. Mit einem letzten Blick auf sie wandte er sich ab und ging.

Weg von ihr. Und vor allem weg von diesem verfluchten Gemälde.

„Elle?“

Wieder war sie mit den Gedanken woanders gewesen. Schon zum dritten Mal, seit Letizia Morgado, ihre Freundin und Mentorin, sie auf eine Rundtour durchs Santa Aelina Hospital mitgenommen hatte. Und immer kreisten sie um ihr surreales Erlebnis auf Maravilla. Fast wie eine Szene aus Cinderella. Nur, dass der Mann kein Prinz war. Und sie keine geknechtete Stiefschwester. Aber der Kuss … Obwohl er nicht lange gedauert hatte, schickte allein die Erinnerung daran sinnliche Schauer durch ihren Körper.

Was ihr überhaupt nicht gefiel!

„Entschuldige.“

„Ist es okay für dich, an einem Ort zu bleiben? Caitlin meinte, ja, aber …“ Der besorgte Blick ihrer Freundin sprach Bände.

Bisher hatte Elle es vorgezogen, von Krankenhaus zu Krankenhaus zu reisen. Sie sagte sich, dass sie auf diese Weise mehr lernen und ihren Erfahrungsschatz erweitern konnte. In Wirklichkeit fiel es ihr seit dem Unfall schwer, Menschen zu vertrauen. Für ein paar Jahre war nach ihrem Sturz die Welt zu einem dunklen, beängstigenden Ort geworden, und einige Freunde hatten sich still und heimlich verabschiedet. Unter ihnen auch ihr Liebster, ein Schulkamerad, der immer wieder neue Ausreden fand, warum er sie nicht mehr im Krankenhaus besuchen konnte.

Sandra gehörte zu den wenigen, die bei ihr geblieben waren. Sie kümmerte sich auch um Strato, der nun bei ihr auf Mallorca lebte. Elle hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verkaufen und einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Sie war glücklich, dass gut für ihn gesorgt wurde, auch wenn sie ihn nun schon drei Jahre lang nicht besucht hatte.

„Natürlich“, antwortete sie. „Caitlin hat einen Fall, den ich mir ansehen soll. Übrigens hast du wegen der Barrierefreiheit einiges geleistet. Es gab nicht einen Ort, den ich nicht erreichen konnte.“

Letizia lächelte. „Danke. Es war ein harter Kampf, wie überall wahrscheinlich. Nicht, dass die Leute keine Barrierefreiheit wollen, aber sie denken einfach nicht daran. Dieses Krankenhaus wollte wirklich etwas verändern.“ Ihre Freundin schwang zu ihr herum, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Ihre Rollstühle waren so einzigartig wie ihre Persönlichkeiten. Letizias knallgrünes, in Spitzen abstehendes Haar und die bunten Sticker auf ihrem Gefährt standen in starkem Gegensatz zu Elenas schnittigem, leicht manövrierbarem und trotzdem bequemem Rollstuhl. Zu Hause stand noch ein Rennrollstuhl, den sie für Spaziergänge oder Laufmarathons benutzte.

„Ein neuer Fall. Habe ich schon gehört. Muss interessant sein, wenn Caitlin eine Zweitmeinung einholt.“

„Glaube ich auch. Ich sehe mir die Patientenakte an, sobald ich in meinem Zimmer bin. Wo steckt ihr mich hin? In den fünften Stock? Abteilung Forschung und Lehre?“

„Wenn du möchtest, hätten wir auf dieser Etage ein Büro frei, dass du für den speziellen Fall nutzen kannst. Möglich, dass du viel herumkommen wirst, vor allem bei komplizierten Fällen. Aber es ist schon richtig, dein Standort ist im fünften Stock.“

Elle musste lächeln. „Na bitte, dann bin ich wie gewohnt viel unterwegs. Allerdings im selben Gebäude.“ Jetzt fühlte sie sich besser. Wenn sie von einer Station zur anderen wechselte, würde sich diese klaustrophobische Panik nicht einstellten, die sie überfiel, wenn sie länger an einem Ort blieb. Völlig irrational, und sie hatte alles versucht, um sie zu bekämpfen, doch sie wurde sie nicht los. Auch ein Grund, warum sie sich seit dem Unfall nicht mehr auf Beziehungen einließ. Das Leben konnte sich schlagartig ändern. Ohne Vorwarnung. Also blieb sie lieber allein.

Letizia rollte zum Ende des Flurs und betätigte den Türöffner eines Zimmers zu ihrer Rechten. „Schön, dann ist dies fürs Erste dein Büro.“

Elle machte große Augen, als sie ihr folgte. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

Das Zimmer erschien ihr riesig, mit einem breiten Fenster zum Aelina Park, der beim Bau des Krankenhauses angelegt worden war. Bäume und Wege zum Spazierengehen oder Joggen lockerten die Grünanlage zwischen Krankenhausgebäude und Personalunterkünften auf. Elle konnte es kaum erwarten, ihren Sportrollstuhl herzuholen, um ihre Work-outs wieder aufzunehmen. In einem künstlichen Bachlauf waren Fische angesiedelt worden, Vögel und andere kleine Tiere schienen sich in diesem naturnahen Lebensraum mitten in der Stadt wohlzufühlen. Ein paradiesisch schöner, friedlicher Ort, der Elle sofort ansprach. Sie brauchte diesen Frieden.

„Ja, klar. Caitlin hat dafür gesorgt, dass du hier unterkommst. Das macht es für dich und Dr. Garcia einfacher, an dem Fall zu arbeiten.“

Dr. Garcia musste der Kinderarzt sein, von dem ihre Freundin ihr erzählt hatte. Elle hoffte nur, dass er sich nicht auf den Schlips getreten fühlte wie so manche Kollegen, wenn sie sich nicht vor jedem ihrer Gedanken ehrfürchtig verneigte!

Ein Zimmer, ideal für Besprechungen, fand sie, während sie sich umsah. Um einen runden Tisch standen vier Sessel, und das elegante Sofa sah aus, als könnte man es zu einem Bett ausziehen.

Ein Luxus, an den sie sich zu sehr gewöhnen könnte! „Na dann, vielen Dank. Ich werde es hegen und pflegen. Solange ich hier bin, jedenfalls.“

„Willst du uns wieder verlassen? Ich hoffe nicht!“

Elle zögerte. „Nein. Ich meinte, solange ich dieses Büro benutze.“ Hatten ihre Worte eine versteckte Bedeutung? Ging sie davon aus, dass sie nur vorübergehend im Santa Aelina’s arbeiten würde?

Nein. Sie musste einige ihrer Probleme überwinden. Zeit und Ort erschienen ihr dafür perfekt. Elle rollte zum Schreibtisch, griff hinter sich, um den Rucksack abzunehmen, der ihren Laptop und ein paar Gegenstände enthielt, die sie an jedem Arbeitsplatz aufstellte. Sie legte ihn auf die Platte aus hellem Holz und blickte wieder auf den Park.

Letizia hatte ihren Blick bemerkt. „Warst du schon in deiner Wohnung?“

„Ja. Sie gefällt mir. Leben viele Kolleginnen und Kollegen dort?“

„Es sind schon einige, aber nicht alle. Die weiter draußen wohnen, kommen allerdings mit dem Bus oder dem Fahrrad zur Arbeit. Auch das zeichnet das Santa Aelina’s aus.“

„Stimmt, mir sind die Fahrradständer am Haupteingang aufgefallen.“

„Genau. Dabei fällt mir etwas ein …“ Sie bewegte sich zum Schreibtisch und bedeutete Elle, ihr zu folgen. „Die blauen Steckdosen werden über Sonnenkollektoren am Westdach gespeist. Wir laden Handys und Computer damit auf, um Energie zu sparen.“

„Beeindruckend. Danke für die Info.“

„Keine Ursache. Ich muss zurück an die Arbeit. Melde dich gern, sobald du Mittag machen möchtest. Dann können wir zusammen essen.“

„Mache ich. Aber zuerst sehe ich mir die Patientenakte an, damit ich Bescheid weiß, wenn Dr. Garcia den Fall besprechen will.“

„In Ordnung, querida. Dann lasse ich dich jetzt arbeiten.“

Der Kosename brachte Elle zum Lächeln. Sie mochte nicht tonnenweise Freunde haben – was sie sich selbst ausgesucht hatte –, aber sie liebte die, die sie hatte.

„Bis später.“

Letizia schloss die Tür hinter sich, und Elle öffnete ihren Rucksack. Sie nahm Stiftebecher, Laptop und ein Foto von ihrer Familie heraus, zögerte, ob sie den Schnappschuss von sich auf Strato aus der Zeit vor dem Unfall aufstellen sollte. Ganz zum Schluss hatte sie das Bild noch eingepackt. Aber es könnte eine Menge Fragen provozieren, die sie ungern beantworten wollte. Vielleicht ließ sie es im Rucksack, bis sie ihr eigentliches Zimmer im fünften Stock bezog.

Elle zog den Reißverschluss wieder zu und mit etwas Mühe den Schreibtischstuhl hervor und vom Schreibtisch weg, sodass sie ihren Rollstuhl dort parken konnte. Sie verlagerte das Gewicht ihrer linken Hüfte. Glücklicherweise fühlte sie noch etwas in dem Teil ihres Beins. Leider zu dem Preis, dass sich eine Art Neuralgie gebildet hatte, die von dumpfem Schmerz bis hin zu lästigem Ameisenkribbeln alles bot.

Sie stöpselte den Laptop über das Netzkabel in die Steckdose, die Letizia ihr gezeigt hatte, und klappte ihn auf. Mit dem Zugangscode, den man ihr gegeben hatte, loggte sie sich ins Krankenhaussystem ein und rief die Datei ihres Patienten auf. Er hieß Tomás Lopez.

„Na dann …“ Die Datei war umfangreich, nahezu endlos. Elle sortierte die Einträge nach Datum und fand unter den jüngsten eine lange Liste an Symptomen. „Dann wollen wir mal …“

Fünf Minuten später unterbrach ein Klopfen an der Tür ihr konzentriertes Lesen. „Herein!“ Um nicht den Faden zu verlieren, markierte sie die Stelle mit der Maus, sah erst dann auf.

Im nächsten Moment war ihre Konzentration wie weggeblasen, Elle schnappte nach Luft.

Es war der Kuss! Äh … der Mann. Der von der Hochzeit! Oh, Hilfe! Warum hatte Caitlin sie nicht vorgewarnt?

Weil ihre Freundin keine Ahnung hatte, was in der Bibliothek passiert war. Und selbst wenn, hätte sie sie gedrängt, die Möglichkeiten zu erkunden.

Es gab keine Möglichkeiten.

Vielleicht war der Mann gar nicht Dr. Garcia. Dios, wie sehr sie das hoffte!

Er stand im Zimmer, sichtlich genauso schockiert wie sie, und runzelte die Stirn. Ärgerlich und missbilligend, so kam es ihr vor, und sie zuckte insgeheim unter seiner düsteren Miene zusammen.

„Entschuldigung“, sagte er schließlich. „Ich wollte zu Dr. Solis.“

Elle lachte auf, sie konnte nicht anders. Natürlich wollte er zu ihr. Ihr Glück machte wieder einmal Pause und überließ dem Pech das Feld. „Das bin ich dann wohl.“

¡Qué diablos!

Der Fluch entfuhr ihm leise, aber sie hatte ihn trotzdem gehört.

Mit einer Stimme, die noch barscher klang, fuhr er fort: „Warum haben Sie auf der Hochzeit nicht gesagt, dass Sie in diesem Krankenhaus arbeiten?“

Ein vertrautes Prickeln huschte durch ihren Bauch. Sie unterdrückte es rasch.

„Verzeihung? Ich hätte es sagen sollen?“

„Hat Caitlin Ihnen nicht erzählt, wer ich bin?“

„Nein. Ich hatte keine Ahnung. Hätte ich es gewusst …“ Was dann? Hätte sie sich nicht von ihm küssen lassen? Und den besten Kuss ihres Lebens verpasst? Das konnte sie sich nicht wünschen, also schwieg sie.

„Ja, ich auch nicht.“ Dr. Garcia schien sich den Rest des Satzes zu denken. In seinen Worten schwang Bedauern mit.

Alles klar. Sie mochte, was in der Bibliothek geschehen war, nicht bereuen, doch er schon. Auch seine steife Haltung verriet ihn. Nicht zu vergessen die Reaktion, als er sie wiedererkannt hatte.

Es machte sie wütend. Sie zu küssen, war in Ordnung, solange er ihr nie wieder über den Weg laufen musste?

Zur Wahrheit gehörte allerdings dazu, dass sie etwas Ähnliches gedacht hatte. Sollten es nicht Momente sein, die sie in ihrer Erinnerung hütete wie einen Schatz? Als wären sie auf einem Kostümball gewesen, hätten heftig geflirtet, aber nie die Masken abgenommen oder ihre Namen zu verraten. Sie spürte ein lustvolles Prickeln, wenn sie nur daran dachte.

Das wollte sie nicht einfach ausradieren.

Das jetzige Zusammentreffen war jedoch alles andere als prickelnd. Oder aufregend. Und schon gar nicht angenehm.

Elle überlegte, was sie sagen sollte, und sprach dann aus, was ihr als Erstes in den Sinn kam. „Wir können es nicht ungeschehen machen. Ich schlage vor, wir vergessen es und fangen noch einmal von vorn an.“ Sie streckte die Hand aus. „Elena Solis. Du kannst mich Elle nennen. Das tun die meisten.“

Er schüttelte ihr die Hand. „Santiago Garcia. Santi.“

Santi. Ein Buchstabe Unterschied zu einem Heiligen. Nur war dieser Mann kein Santo. Heilige küssten nicht so!

„Ich nehme an, dass wir zusammenarbeiten werden. Zumindest bei diesem speziellen Fall.“

„So hat Caitlin es sich gedacht. Sie und Javier haben Tomás kardiologisch gründlich durchgecheckt und nichts gefunden, was seine Symptome verursachen könnte.“

„Die da wären? Ich habe die Datei gerade erst aufgemacht. Kannst du mich auf den aktuellen Stand bringen?“

„Sicher. Seit drei Monaten leidet er in Beinen und Füßen unter Schmerzen, die immer schlimmer werden. Anfangs vermutete man mangelnde Durchblutung aufgrund der Norwood-Operation, aber …“

„Warte mal. Welche Tests wurden gemacht? Wie haben sie die Durchblutungsstörung ausgeschlossen?“

Dr. Garcia brauchte nicht erst in der Akte nachzusehen, sondern begann bei Tomás’ Geburt, nannte die damalige Diagnose und schilderte den heutigen Zustand des Teenagers. Beeindruckend, an wie viele Details er sich erinnerte! Sie selbst war auf ihr Gedächtnis immer stolz gewesen. Anscheinend war das Erinnerungsvermögen des Kinderarztes genauso gut wie ihrs. Wenn nicht noch besser.

Was gerade natürlich nichts zur Sache tat.

„Und er hat bis jetzt nie über Probleme in Beinen oder Füßen geklagt?“

„Nein. Sie vermuteten den Beginn eines Wachstumsschubs oder der Pubertät, die bei Norwood-Patienten verzögert einsetzen können. Außerdem liegt er mit seiner Größe im unteren Bereich der altersgemäßen Wachstumskurve.“

„Was ist mit der Leber? Den Nieren?“

„Nichts Auffälliges. Verglichen mit vergangenen Werten sind die Enzyme nicht signifikant erhöht. Sein Kreislauf ist den Umständen entsprechend stabil, wird allerdings ohne Herztransplantation nie im normalen Bereich sein. Falls sich in dem Punkt etwas ändert, setzen wir ihn auf die Transplantationsliste.“

„Alles klar, danke. Andere Ursachen? Wachstumsbedingte Schmerzen?“

„Caitlin meinte, daran hätten sie auch gedacht und einem Kollegen von der Orthopädie die Röntgenaufnahmen gezeigt. Er hat nichts gefunden. Die Beschwerden treten nur im Bereich von den Oberschenkeln abwärts bis zu seinen Füßen auf.“

Sie dachte an ihre eigenen Nervenschmerzen. „Neuralgie?“

„Steht auf meiner Liste der Differentialdiagnosen. Aber ich wollte erst alle Möglichkeiten durchgehen, bevor ich mich festlege.“

Elle lächelte. „Damit bin ich mehr als einverstanden.“ Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass manche sich rasch auf eine medizinische Erkenntnis festlegten. Ihre Eltern hatten sie zu unzähligen Spezialisten gebracht. Einige prognostizierten, dass sie nie wieder etwas spüren würde, während andere prophezeiten, sie könnte nach der Behandlung wieder gehen. Aber sie wusste auch, wie es sich anfühlte, all diese Untersuchungen über sich ergehen lassen zu müssen. Bis zu dem Punkt, an dem sie nur noch schreien wollte. Es war eine schmale Gratwanderung zwischen dem ärztlichen Eid, niemandem zu schaden, und den Schmerzen, die man Patienten zufügen musste, um den Heilungsprozess zu fördern. „Können wir zu ihm?“

„Ja, deshalb bin ich hergekommen. Caitlin meinte, dass er nicht gerade zu den kooperativsten Patienten gehört.“ Kurzes Schweigen. „Er ist im System.“

„Strafvollzug?“ Ein jugendlicher Straftäter?

„Nein, Jugendamt. Obwohl es einer Strafe gleichkommt, wenn Pflegeeltern ihn immer wieder ins Heim zurückschicken.“

Ihr wurde das Herz schwer. „Was ist mit seinen leiblichen Eltern?“

„Vater unbekannt und eine alleinerziehende Mutter, die nicht damit zurechtkam, dass sie ein Baby mit speziellen Bedürfnissen zu versorgen hatte. Nicht, wenn sie gleichzeitig arbeiten und sich um ihre anderen Kinder kümmern musste.“

„Verstehe.“ Dieser Junge hatte niemanden außer dem Staat … und seinen Ärzten. „Ich möchte ihn auf jeden Fall sehen.“

Hoffentlich hatte Santi ihr nicht angemerkt, wie sehr sie das Schicksal dieses Patienten berührte. Auch wenn sie sich bemühte, es war nicht immer einfach, professionelle Distanz zu wahren. Was anscheinend auch für den Arzt galt. Ihr war der mitfühlende Blick nicht entgangen, mit dem er sie bedacht hatte, als er sich zur Besprechung mit ihr hinsetzte. Plötzlich wünschte sie, sie hätte etwas Schickeres angezogen als die hauchdünne dunkelblaue Bluse und eine cremeweiße Hose.

Wollte sie ihn etwa beeindrucken? Nein. Ganz bestimmt nicht.

Ihr Wortgeplänkel in der Bibliothek von Maravilla kam ihr in den Sinn und drohte, ihre Gedanken zu kapern.

Elle riss sich zusammen. „Wollen wir los?“

„Klar.“ Er wartete, bis sie Handy und Rucksack genommen und Letzteren an ihren Rollstuhl gehängt hatte. „Es ist nicht weit, um die nächste Ecke, dann die letzte Tür auf der rechten Seite.“

„Danke.“

Er ging neben ihr her. „Irgendwelche Ideen, wo du anfangen willst?“

„Zuerst möchte ich ihn mir genau ansehen. Herausfinden, ob die Schmerzen zusammen mit Schwäche auftreten. Breitet sich der Schmerz aus? Wird er weniger?“

Santi nickte. „Ja, es ist schwierig, allein aufgrund einer Akte einen Plan zu entwickeln. Obwohl das Spiel meistens so gespielt wird.“

„Ich sehe es nicht als Spiel, kann mich aber erinnern, wie frustriert ich während des Studiums war. Wie sollten wir mit nichts als nüchternen Notizen eine Differentialdiagnose erstellen?“

„Dann war ich nicht der Einzige, der das gedacht hat“, meinte er lächelnd.

Elena hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, bis sie ihren ersten Patienten kennenlernte. Es machte einen Unterschied, wenn jemand ihr in seinen eigenen Worten beschrieb, was in seinem Körper passierte. Natürlich kam es vor, dass ihr Kollegen aus anderen Krankenhäusern mit der Bitte um Einschätzung Akten zuschickten. Damit konnte sie genauso gut arbeiten. Sie zog nur die andere Herangehensweise vor.

Außerdem zog sie es vor, nicht mit jemandem zusammenzuarbeiten, den sie geküsst hatte! Das war schon einmal gründlich schiefgegangen, als sie mit einem ihrer Professoren – selbstverständlich nach dem Examen – ausgegangen war und auch mit ihm geschlafen hatte. Eine Erfahrung, die sie nicht wiederholen wollte! Und One-Night-Stands waren nichts für sie.

Hättest du auf der Hochzeit wirklich nicht mit ihm geschlafen, wenn sich die Gelegenheit geboten hätte? Elle war nicht sicher, ob sie ihre eigenen Regeln nicht mit Freuden gebrochen hätte …

Sie waren vor der Tür des Patienten angekommen. Weg mit den Gedanken an Vergangenes, das sie nicht mehr ändern konnte!

Santi klopfte, trat ein und hielt ihr die Tür auf.

„Hallo, Tomás. Das ist Dr. Solis, und ich bin Dr. Garcia. Wir sind hier, um herauszufinden, wie wir dir helfen können.“

Der Junge auf dem Bett, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, zuckte lässig mit einer Schulter, als interessiere es ihn nicht die Bohne, dass sie hier waren. Was er sicher nur vortäuschte. In seinen Unterlagen stand, dass auf einer Skala von eins bis zehn sein Schmerzlevel bei sieben oder acht lag, an guten Tagen bei fünf.

Elena rollte zum Bett. „Ich habe deine Akte gelesen, Tomás. Kannst du mir sagen, wann die Schmerzen zum ersten Mal aufgetreten sind?“

„Wenn Sie sie gelesen haben, müssten Sie es ja wissen.“

Unbeeindruckt lächelte sie ihn an. „Ich würde es gern mit deinen eigenen Worten hören.“

Tomás zuckte wieder mit den Schultern. „Keine Ahnung. Meine Beine tun weh. Was soll ich noch sagen?“

Na schön, er würde es ihnen nicht leicht machen. „Gut, dann beginnen wir mit einer einfachen Frage. Wie stark sind die Schmerzen jetzt?“

Mit geübter Bewegung, als hätte er es schon tausend Mal gemacht, deutete er mit dem Daumen zu dem Bild an der Wand. „Der Stirnrunzler.“

Die Schmerzlevel-Skala wies sowohl numerische Indikatoren als auch Emojis mit entsprechender Mimik auf.

Seine Beschreibung brachte sie zum Lächeln. „Fuerte. Seit wann hast du diese starken Schmerzen?“

„Seit Sie ins Zimmer gekommen sind. Vielleicht sollten Sie mich einfach allein lassen.“

Sie lachte auf. „Du meinst bestimmt Dr. Garcia und nicht mich.“ Elena warf ihm einen verschmitzten Blick zu.

„Ich wollte gerade das Gleiche sagen.“ Santi zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. „Wir müssen dich untersuchen, Tomás. Ernsthaft. Je eher wir herausfinden, worum es geht, umso schneller kommst du hier wieder raus.“

Missmutig starrte er sie an. „Aus dem Krankenhaus?“

Der Kinderarzt nickte. „Wahrscheinlich kannst du es kaum erwarten.“

In dem Jungen ging etwas vor sich. Sie sah es seinen Augen an, flüchtig nur, dann war der harte Ausdruck wieder da.

„Tja, dann haben Sie keinen Schimmer. Weil ich nämlich nicht wegwill.“

3. KAPITEL

Weil ich nicht wegwill.

Es hatte verdrießlich geklungen, aber was verbarg Tomás dahinter? Wie groß musste der emotionale Schmerz sein, dass der Junge es vorzog, im Krankenhaus zu bleiben?

Elena hatte sich rasch wieder unter Kontrolle, aber ihr Gesicht hatte kurz verraten, wie betroffen auch sie war. Und wer könnte es ihr verdenken? Dieser Fall war auf eine Weise herzzerreißend, wie er es als Kinderarzt selten erlebte.

Wer weiß, wie viele Menschen diesen Jungen schon im Stich gelassen haben? Einschließlich seiner letzten Pflegeeltern. Santi drängte das Mitgefühl zurück, um professionell und objektiv bleiben zu können.

„Lass dir von uns helfen, Tomás. Es ist die einzige Möglichkeit, damit es dir wieder besser geht.“

„Wer sagt denn, dass es klappt? Vielleicht lande ich auch in einem …“ Sein Blick zu Elena und die Kopfbewegung waren eindeutig.

Wollte er es zulassen, dass der Junge seine Wut auf die Welt dazu nutzte, um andere zu verletzen? Auf keinen Fall! Doch bevor Santi einschreiten konnte, sagte Elena: „Selbst wenn, wirst du damit klarkommen. Dir bleibt nichts anderes übrig, als damit klarzukommen.“ Ihre Stimme klang sanft, aber bestimmt und sachlich. „Du sitzt nicht im Rollstuhl. Also lass uns sehen, ob wir die richtigen Antworten finden. Hilf uns dabei.“

Das Mitgefühl, dass er kurz zuvor in ihren Augen gelesen hatte, spiegelte sich in ihren Worten. Und plötzlich wollte auch Santi so schnell wie möglich Antworten. Damit dieser Junge Vertrauen fassen konnte.

Er blickte zu Elena hinüber. Heute trug sie die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre Zehennägel schimmerten zartrosa. Ihre Fingernägel waren unlackiert, und er erinnerte sich, wie ihre langen, schlanken Finger auf dem Weg hierher geschickt den Rollstuhl manövrierten. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Natürlich würde er nicht nachfragen.

Doch wenn irgendjemand nachempfinden konnte, was für Tomás auf dem Spiel stand, dann sie.

„Dann frage ich dich noch einmal. Bist du einverstanden, dass wir dich untersuchen?“

„Von mir aus“, meinte der Junge achselzuckend. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“

Frustriert unterdrückte Santi eine scharfe Antwort. Es gefiel ihm gar nicht, hier seine Zeit zu verschwenden. Er sah sich den Fall an, um Caitlin einen Gefallen zu tun. Sie hatte gesagt, dass der Teenager schwierig sei. Was milde ausgedrückt war.

Santi beugte sich vor. „Hör zu … Für mich ist es kein Problem, wenn du nicht kooperieren willst. Ich rufe Dr. McKenzie an und sage ihr, dass du anscheinend nicht gesund werden willst.“ Natürlich würde er das nicht tun. Caitlin sollte ihr Glück genießen, und nichts lag ihm ferner, als ihr Kummer zu machen.

„Na und? Sie hat mich auch verlassen.“

Die Worte trafen Santi in die Magengrube. Dieses Kind war wieder und wieder verlassen worden. Natürlich brauchte es nicht viel, um sein Vertrauen zu erschüttern. „Nein“, sagte er ruhig. „Sie hat geheiratet. Und sie ist sehr um dich besorgt. Genau wie Dr. Torres. Deshalb sind wir hier.“

„Was ist, wenn Sie auch nichts herausfinden?“

Elena schob eine Haarlocke aus dem Gesicht. „Du gibst uns nicht viel, womit wir arbeiten können, oder?“

Der Teenager verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. „Na gut. Eines Abends habe ich über den Tisch gegriffen, um mir noch ein Stück Fleisch zu nehmen, und mein padre brüllt mich an, ich soll mich besser benehmen. Plötzlich war da dieser heftige Schmerz in beiden Beinen, ich schrie auf und drückte die Hände darauf.“ Er starrte Santi an, dann Elena. „Wissen Sie, was er getan hat? Brüllte mich wieder an, ich würde ja nur simulieren. Hat er sogar Dr. McKenzie gesagt. Er meint, ich will nur Aufmerksamkeit bekommen. Ich gab ihm recht und ging auf mein Zimmer. Als die Schmerzattacke am nächsten Tag wiederkam, habe ich mir nichts anmerken lassen. Er hätte mich wieder zur Sau gemacht. Den Spaß wollte ich ihm nicht gönnen.“

„Was hast du gerade gemacht, als die Schmerzen zum zweiten Mal auftraten?“

Tomás sah ihn an, als wollte er herausfinden, ob er sich ernsthaft dafür interessierte oder auch vermutete, dass er die Symptome nur vortäuschte. Santi hätte ihn beruhigen können. Er wusste, dass Jungen in dem Alter alles Mögliche anstellten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Schwäche zeigen, das gehörte allerdings auf keinen Fall dazu.

„Ich saß auf dem Bett und habe mich vorgebeugt, um meine Schuhe vom Fußboden aufzuheben.“ Tomás blickte auf und zeigte zu seinen Beinen. „Der padre liegt falsch. Ich hab ihm nichts vorgemacht, und Ihnen jetzt auch nicht.“

„Ich glaube dir. Und ich bin nicht der Einzige. Deshalb sind wir hier. Hast du ständig Schmerzen?“

„So ziemlich.“

Santi stand auf. „Darf ich dich untersuchen?“

„Kann Sie ja nicht davon abhalten.“

„Doch, kannst du. Du brauchst nur Nein zu sagen, dann gehen wir.“

Elena warf ihm einen Blick zu, widersprach ihm jedoch nicht. Santi wusste, was er riskierte, aber er musste darauf setzen, dass der Junge nicht einfach hier liegen und den Dingen ihren Lauf lassen wollte.

Wieder das lässige Achselzucken. „Egal. Fangen Sie an.“

„Also Ja?“

Tomás nickte knapp, was Santi als Einverständnis nahm. Er trat ans Bett, holte sein Stethoskop aus der Tasche und hängte es sich um den Hals.

„Sparen Sie sich die Mühe. Mein Herz hört sich nicht so an wie andere Herzen.“

„Ich wollte deinen Bauch und deine Lungen abhorchen. Aber zuerst möchte ich deinen Kopf drehen und deinen Hals beugen. Sag du mir, ob irgendetwas wehtut.“

Er spürte Elenas Blick, während er mit der Untersuchung begann.

„Tut das weh? Verursacht es Schmerzen in den Beinen?“

Der Teenager lachte freudlos auf. „Meine Beine tun schon die ganze Zeit weh.“

„Wird der Schmerz schlimmer?“

„Nein.“

Mehr als diese einsilbige Antwort bekam er nicht.

Santi stellte sich vor den Jungen, gerade eben außer Reichweite. „Versuch mal, meine Hände zu nehmen.“

Tomás verdrehte die Augen, tat jedoch, worum er ihn bat. Er streckte die Arme aus, auch als Santi noch einen Schritt zurücktrat. „Versuche es weiter.“

„Ich kann nicht.“

„Tu mir den Gefallen.“

Als er sich leicht vorbeugte, verzog er plötzlich das Gesicht. „Das tut weh.“

„Wo?“

„In den Beinen. Und in meinem blöden Kopf.“

Santi schwieg nachdenklich. „Gut, entspann dich, Tomás. Hast du Kopfschmerzen gehabt?“

„Ich bin im System. Mein ganzes Leben ist ein einziger Kopfschmerz.“

Santi verkniff sich eine Antwort und wartete geduldig.

Was tatsächlich belohnt wurde. Tomás atmete rau aus. „Ja, manchmal tut mir der Kopf weh.“

Elena rollte etwas näher heran. „Haben die Kopfschmerzen gleichzeitig mit den verstärkten Beschwerden in deinen Beinen angefangen?“

„Ich glaube schon. Was bedeutet das?“

Santi setzte seine Untersuchung fort. „Ich bin noch nicht sicher“, sagte er schließlich. „Aber deine Lungen hören sich gut an und dein Bauch auch. Als Nächstes möchte ich ein CT machen lassen. Weißt du, was das ist?“

„Ja. Ich habe ein schlechtes Herz, schon vergessen? Viele CTs, viele Tests.“

„Das glaube ich dir gern. Aber diesmal möchte ich in deinen Kopf schauen.“ Er blickte zu Elena hinüber, und sie nickte kaum merklich. Anscheinend dachte sie in dieselbe Richtung wie er.

Hoffentlich lagen sie falsch. Hoffentlich wuchs da nichts im Kopf des Jungen. Die Streckbewegung, zu der Santi ihn gebracht hatte, war die gleiche wie das sich über den Tisch recken oder sich nach Schuhen bücken. Falls sich ein Hirntumor gebildet hatte, veränderte sich beim Strecken oder Recken der Blutdruck, was Schmerzen verursachen konnte – je nachdem, in welcher Region der Tumor saß.

Santi zog sein Handy hervor und veranlasste das Computertomogramm.

„Wie lange muss ich diesmal drinbleiben? Ich brauche auf jeden Fall meine Kopfhörer.“

„Die bekommst du. Kann sein, dass diese Untersuchung länger dauert als die, die du bereits kennst. Vielleicht kommen wir nicht darum herum, ein Kontrastmittel zu spritzen, um genaueste Ergebnisse zu bekommen. Platzangst hast du nicht, oder?“

„Selbst wenn, Sie machen es trotzdem, stimmt’s?“

„Ja, es muss sein. Aber ich kann dir etwas zur Beruhigung geben.“

„Brauche ich nicht.“

„Alles klar. Sie sollten in ein paar Minuten hier sein, um dich abzuholen. Wir bleiben in der Nähe.“

„Sehen Sie zu?“

„Ja. Ich möchte sichergehen, dass alles glattläuft.“

Hatte Tomás Angst, allein zu sein? Oder verlassen zu werden?

Das konnte Santi nachvollziehen. Mit Carmens Tod hatte er beides am eigenen Leib erfahren. Auch deshalb würde er alles tun, damit der Junge sich nicht im Stich gelassen fühlte – wie anscheinend oft genug in der Vergangenheit.

Ihm fiel ein, dass er Elena einbeziehen sollte. „Einverstanden?“

„Ja.“ Sie sah ihm in die Augen und lächelte schwach. „Ich kenne mich hier noch nicht aus, du musst mir den Weg zeigen.“

„Folge mir. Die Radiologie ist ein Stockwerk höher.“

Elena schob ihren Rollstuhl ein Stück zurück. „Dann sehen wir uns gleich oben, Tomás.“

Ein lässiges Achselzucken war die einzige Antwort, aber Santi entging nicht, dass der Junge nicht mehr so angespannt wirkte.

Eine Krankenschwester kam herein und begann mit den Vorbereitungen für den Transport.

Für Elena und Santi das Zeichen, das Zimmer zu verlassen. Santi hoffte sehr, dass das CT ihnen die nötigen Antworten gab.

Elena betätigte einen Knopf neben der Tür, die sich daraufhin leise öffnete. Während sie auf den Flur hinausfuhr, blickte sie kurz über die Schulter. „Wo sind die Fahrstühle?“

Er ging voran. „Sag Bescheid, wenn ich zu schnell bin.“

„Bist du nicht.“

Der ironische Unterton entging ihm nicht. Anscheinend hielt sie es für überflüssig, dass er wegen jeder Kleinigkeit nachfragte. Wenn er langsamer gehen sollte, würde sie es ihm sagen. Das gefiel ihm. Sch...

Autor

Tina Beckett
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Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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Traci Douglass
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