Julia Best of Band 287

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HEISSE KÜSSE, STRENG GEHEIM!

Plötzlich blond, stylish und sexy: Um einen Bankbetrug aufzuklären, muss die Buchhalterin Lucy Miller ihre Identität wechseln. Zur Tarnung gibt sie sich als Freundin des attraktiven Geheimagenten „Casanova“ aus. Doch dessen Küsse schmecken alarmierend echt …

ENTFLAMMTE HERZEN

Für die Hochzeit ihrer Cousine braucht Feuerwehrfrau Priscilla ein Date. Hilfesuchend wendet sie sich an Roark Epperson, an dem sie sich fast schon einmal die Finger verbrannt hätte. Diesmal werde ich besser aufpassen, schwört sie sich …

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Jon Hardisons Puls rast wie verrückt! Von einer so sexy Krankenschwester wie Sherry träumt sicher jeder Mann: Beine bis zum Himmel und ein Körper zum Niederknien. Zwei Wochen lang soll sie ihn betreuen – zwei Wochen Versuchung pur für Jon, der sich nie mehr verlieben will …


  • Erscheinungstag 18.01.2025
  • Bandnummer 287
  • ISBN / Artikelnummer 0812250287
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Kara Lennox

1. KAPITEL

„Sie müssen mich hier rausholen.“ Lucy Miller presste sich das abhörsichere Handy ans Ohr, das vor ein paar Wochen in ihre Wohnung geliefert worden war. Es hatte in dem Moment geklingelt, als sie die Mitarbeiterversammlung verließ. Sofort war sie in die Damentoilette verschwunden, wo sie sich vergewisserte, dass sie allein war.

„Entspannen Sie sich, Lucy“, kam es beruhigend vom anderen Ende der Leitung.

Sie hatte sich oft ausgemalt, wie der Mann aussehen mochte, dem diese tiefe, sexy Stimme gehörte, die ihr mittlerweile so vertraut war, doch diesmal nicht, dafür hatte sie zu viel Angst. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie sie mit heiler Haut aus dieser Situation herauskommen sollte.

„Sagen Sie mir nicht, ich soll mich entspannen“, flüsterte sie. „Nicht Sie stecken in dieser Bank fest, sondern ich. Und Sie müssen auch nicht versuchen, sich normal zu verhalten, obwohl Sie wissen, dass Sie ausgeschaltet werden sollen.“

„Niemand versucht, Sie umzubringen. Sie sehen wohl zu viel fern.“

„Ich erkenne einen Killer, wenn er mir gegenübersteht, und er ist mir gefolgt. Er trug einen Mantel, dabei haben wir gefühlte dreißig Grad draußen.“

„Vermutlich nur ein Regenmantel.“

„Casanova, Sie hören mir nicht zu! Meine Tarnung ist aufgeflogen. Jemand war in meinem Apartment. Entweder Sie holen mich hier raus, oder ich fliege mit der ersten Maschine, die ich bekommen kann, nach Südamerika und nehme alle Daten mit!“

„Nein! Lucy, seien Sie vernünftig …“

„Ich habe die Nase voll davon, vernünftig zu sein. Ich habe alles getan, worum Sie mich gebeten haben, ohne Fragen zu stellen. Ich habe Ihnen bedingungslos vertraut. Ich habe Sie nie getroffen, und ich kenne Ihren Namen nicht. Jetzt sind Sie an der Reihe, mir zu vertrauen. Ich bin nicht blöd. Wenn Sie mich hier nicht rausholen, dann landet dieses teure kleine Handy im nächsten Abwasserkanal, und Sie hören nie wieder von mir.“

„Okay. Ich bin um halb sechs, spätestens um sechs bei Ihnen. Halten Sie bis dahin durch? Schaffen Sie es nach Hause?“

Sie hatte ihren Verfolger vor drei Tagen bemerkt, doch bisher blieb ihr Beschatter auf Distanz. Allerdings hatte sie festgestellt, dass ihre Wohnung durchsucht worden war. „Ich versuche es. Aber wenn mir irgendetwas zustößt, dann sagen Sie meinen Eltern, dass ich sie liebe, in Ordnung?“

„Ihnen wird nichts passieren, Sie hysterische Person.“

Lucy beendete die Verbindung, bevor ihr etwas herausrutschen konnte, das sie bedauern würde. Hysterische Person? Hielt er sie für paranoid? Hatte sie nicht in den letzten Wochen bewiesen, wie wertvoll sie war? Casanova! Was für ein Deckname. Wer hatte sich den wohl einfallen lassen und warum?

Sie steckte das Handy in ihre Tasche und wollte gerade die Damentoilette verlassen, als ihr Blick in den Spiegel fiel. Sie sah aus wie eine Irre. Ihr welliges braunes Haar hatte sich aus dem strengen Knoten gelöst und kräuselte sich um ihr Gesicht, ihre Wangen waren wegen ihrer Panik gerötet, die Augen hinter den Brillengläsern blickten wirr vor Angst.

Lucy nahm sich fünf Minuten Zeit, alles zu ordnen, die Nase zu pudern und pinkfarbenen Lippenstift aufzutragen. Die Farbe schmeichelte ihr nicht, aber das war egal. Sie schminkte sich nur, weil sie eine leitende Stelle innehatte und die anderen weiblichen Führungskräfte es auch taten. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Als sie sich hergerichtet und gesammelt hatte, verließ sie ihren Zufluchtsort und ging zu ihrem Büro, in der Hoffnung, die Tür schließen und sich den Rest des Nachmittags dort verkriechen zu können. Sie fürchtete zusammenzubrechen, falls sie sich noch mit irgendjemandem auseinandersetzen müsste.

Was bist du nur für eine Spionin, Lucy Miller, dachte sie, machst beim ersten Anzeichen von Gefahr schlapp.

Auf dem Gang stieß sie mit dem korpulenten Geschäftsführer der Bank zusammen.

„Oh, hallo, Lucy“, sagte er höflich. „Ich habe gerade nach Ihnen gesucht.“

„Entschuldigen Sie, ich war auf der Toilette. Ich fürchte, mir ist das Mittagessen nicht gut bekommen.“

Er musterte sie mit dem gesunden Auge. Das andere hatte er durch einen Unfall verloren. Unter seinem Blick begann ihre Haut zu kribbeln. Konnte er ihre Angst spüren?

„Sie sehen nicht gut aus“, stellte er fest. „Sie sind sehr blass. Ist alles in Ordnung?“

„Mir geht es gut, wirklich.“

Es sah ihm ähnlich, dass er besorgt war. Mr. Vargov war ein freundlicher, väterlicher Mann, ein Freund ihres Onkels Dennis. Er hatte ihr diesen Job gegeben, als sie dringend eine Anstellung brauchte. Eigentlich war sie mit ihrem lächerlichen Bachelor in Finanzwesen und ohne jegliche Berufserfahrung nicht qualifiziert genug für den Job einer Rechnungsprüferin, doch sie hatte das Gefühl, trotzdem gute Arbeit zu leisten.

Zu gute, nach Meinung von Mr. Vargov. Er hielt sie für zu gewissenhaft und nahm ihren Verdacht, dass Gelder veruntreut wurden, nicht besonders ernst. Deshalb hatte sie sich an das Ministerium für Innere Sicherheit gewandt. So hatte sie es mit Casanova zu tun bekommen.

„Warum nehmen Sie nicht den Rest des Nachmittags frei?“, schlug Mr. Vargov vor.

„Oh, das geht nicht. Sie haben gesagt, dass Sie die Berichte …“

„Das kann warten. Ihr Onkel wird mir was erzählen, wenn er herausfindet, dass ich Sie zur Arbeit antreibe, obwohl Sie krank sind.“

„Danke, Mr. Vargov. Vielleicht gehe ich wirklich etwas früher.“

„Tun Sie das.“

Womöglich ließ sich so der Mann austricksen, der ihr folgte. Sie hätte nichts dagegen, sich von diesem Job zu verabschieden. Als sie in der Bank anfing, hatte sie einen Platz gebraucht, um sich zu erholen und sich wieder zurechtzufinden. Alliance Trust hatte ihr den geboten. Ihre Kollegen waren nett, die Arbeitsbedingungen angenehm. Ihr Chef verlangte nicht zu viel von ihr, und sie verdiente mehr als es für jemanden in ihrem Alter und mit ihrer Erfahrung üblich war.

Es war an der Zeit, diese Episode hinter sich zu lassen. Sie würde die nächste Stunde damit verbringen, so viele Informationen herunterzuladen, wie auf ihren Speicherstick passten, anschließend würde sie gehen und nie wieder zurückkehren.

Casanova würde sie zu einem geheimen Unterschlupf bringen. Er hatte es versprochen. Und sobald alle Täter geschnappt waren, konnte sie irgendwo neu beginnen.

Eine wunderbare Vorstellung.

Um zehn nach drei war sie fertig. Sie versteckte den Stick in ihrem BH, nahm ihre Tasche und ihren Schirm und gab Peggy Holmes, Mr. Vargovs Sekretärin, Bescheid, dass sie wegen ihrer Magenprobleme früher Feierabend machte.

„Das tut mir leid, meine Liebe. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Sie haben erst einen Tag gefehlt, seit Sie hier sind.“

Peggy war Mitte sechzig und arbeitete schon über zwanzig Jahre für die Bank. Mit ihrer Dauerwelle und der großen Oberweite war sie für alle die Großmutter. Lucy wusste, dass sie höchst intelligent war und ein ungewöhnliches Gedächtnis für Details hatte, dazu war sie fast krankhaft tüchtig.

„Es wird schon wieder.“

Da es vermutlich klüger war, sich anders als üblich zu verhalten, entschied sie, mit dem Bus zu fahren. Nur eine Straße entfernt von ihrem Büro befand sich eine Haltestelle.

Es war warm und schwül und nieselte, doch sie fror innerlich, als sie das Gebäude verließ. Sie spannte den Regenschirm auf und blickte sich dabei verstohlen nach dem Mann im Regenmantel um, entdeckte aber niemand Verdächtiges.

Als sie in Richtung Bushaltestelle marschierte, klapperten ihre flachen Absätze auf dem nassen Asphalt. Da sie nicht zu lange gut sichtbar herumstehen wollte, tat sie, als würde sie die Schaufensterauslagen betrachten, und als der Bus kam, sprang sie im letzten Moment auf. Außer ihr war nur eine Mutter mit zwei kleinen Kindern zugestiegen, daher atmete sie auf.

In der Nähe ihres Stadthauses in Arlington, Virginia, stieg sie aus. Noch immer sah sie keinen Verfolger. Vielleicht hatte sie ihn überlistet. Vielleicht hatte er entschieden, dass sie keine Gefahr darstellte. In ihrem Apartment konnte er nichts Belastendes gefunden haben, da sie den Stick mit den kopierten Dateien ständig bei sich trug.

Ihre winzige Doppelhaushälfte hatte nur einen Eingang, und damit sie sofort merkte, wenn jemand im Haus gewesen war, hatte sie die Tür präpariert. Das einzelne Haar, das sie am Morgen zwischen Türblatt und Rahmen geklemmt hatte, war noch da. Bevor sie eintrat, schüttelte sie den nassen Schirm aus.

Sie lebte jetzt seit zwei Jahren in dieser Straße. Ihr Onkel hatte das Stadthaus für sie gefunden, und sie hatte es gemietet, ohne es sich vorher anzusehen. Es war nett, aber langweilig – so wie ihr Leben bis vor ein paar Wochen – und sie hatte sich keine Mühe gegeben, es in ein wirkliches Zuhause zu verwandeln. Deshalb würde es ihr nicht schwerfallen, es zu verlassen.

Kaum hatte sie die Tür geschlossen und verriegelt, legte sich von hinten eine Hand über ihren Mund, und ein starker Arm zog sie gegen einen harten Körper.

In ihrer Panik reagierte sie sofort, schlug mit dem Schirm um sich und stach ihrem Angreifer damit mit voller Wucht in die Oberschenkel.

Der Mann stieß einen unterdrückten Schrei aus und lockerte den Griff gerade weit genug, dass sie sich wegducken konnte. Dabei packte sie eins seiner Beine, riss es und ihm weg und brachte ihn so zu Fall. Es gab einen dumpfen Aufprall, als er auf den Marmorboden stürzte. Sie wirbelte herum und drückte ihm die Spitze ihrer improvisierten Waffe an den Hals.

„Lucy, stopp! Ich bin es, Casanova!“ Er schlug den Schirm weg und schnappte ihn ihr aus der Hand. Dabei verlor sie das Gleichgewicht, fiel auf ihn und starrte in die fantastischsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.

„Casanova?“, fragte sie ungläubig, obwohl sie seine Stimme sofort erkannt hatte.

„Himmel, sind Sie verrückt geworden? Sie haben mich fast umgebracht.“

„Ich soll verrückt geworden sein? Wer ist denn in mein Haus eingebrochen und hat mich angegriffen? Ich habe mich nur gewehrt.“

„Sie wollten erst später kommen. Ich hatte keine Ahnung, wer Sie sind. Wo haben Sie gelernt, so zu kämpfen?“

„Es gibt Selbstverteidigungskurse. Wie sind Sie in mein Haus gekommen? Ich habe eine Alarmanlage.“

„Ihre Nachbarin nicht.“

Er grinste, und Lucy warf einen Blick ins Wohnzimmer. Ein großes Loch klaffte in der Wand. „Sie sind durch die Wand gekommen? Oh mein Gott! Sie haben doch hoffentlich Mrs. Pfluger keine Angst eingejagt? Was wird mein Vermieter sagen?“

„Das werden Sie nie erfahren, denn wir verlassen die Stadt.“

Das waren die ersten beruhigenden Worte. „Dann glauben Sie mir also?“

„Ihr Haus ist mit mehr Wanzen gespickt als die amerikanische Botschaft in Moskau. Jemand ist hier gewesen, stimmt.“ Sein Gesichtsausdruck wurde grimmig.

Lucy senkte die Stimme. „Werden wir belauscht? Jetzt?“

„Ich vermute, die Mikrofone sind mit einem sprachgesteuerten Aufnahmegerät verbunden. Sie – wer auch immer das sein mag – sitzen wahrscheinlich nicht an den Abhörgeräten, da Sie ja um diese Zeit normalerweise gar nicht zu Hause sind, aber wir haben nicht viel Spielraum. Ich will lange weg sein, wenn sie hier eintreffen. Wenn Sie also …“

Peinlich berührt registrierte Lucy, dass sie noch auf ihm lag und bisher nicht die kleinste Anstrengung unternommen hatte, daran etwas zu ändern. Sie spürte seinen muskulösen Körper an ihrem und stellte fest, dass es kein unangenehmes Gefühl war. Es war lange her, dass ein Mann ihr so nahe gekommen war, abgesehen von einem Händedruck.

Sie rappelte sich auf, wobei sie ihm ein Knie in die Lende stieß, was jedoch nicht absichtlich geschah.

„Verdammt, Frau, Sie sind gefährlich.“

Er setzte sich auf, und sie konnte ihn endlich genauer anschauen. In all ihren Fantasien war er ein gut aussehender Mann gewesen, aber nichts hatte sie auf die Realität vorbereitet.

Er sah einfach umwerfend aus, war gut eins achtzig groß, muskulös, hatte dichtes tiefschwarzes Haar und dazu unglaubliche Augen. Ein Traummann.

„Sie haben drei Minuten, um einzupacken, was Sie unbedingt benötigen. Medikamente, Zahnbürste, frische Unterwäsche.“

Lucy riss sich von seinem Anblick los, flitzte ins Schlafzimmer, schnappte sich das Nötigste und ihre Allergie-Medikamente. Alles passte in einen kleinen Rucksack. Danach zog sie ihren Rock und die Strumpfhose aus und schlüpfte in Jeans und Turnschuhe. Sie wusste nicht, wohin sie gingen, wie sie reisten und wie lange sie unterwegs sein würden, deshalb wollte sie es möglichst bequem haben.

Casanova wirkte nervös und wippte auf den Fersen, als sie herunterkam.

„Das wird aber auch Zeit.“

„Sie haben gesagt drei Minuten, die habe ich mir genommen.“ Sie musste lächeln.

„Sie genießen die Situation.“

„Irgendwie schon“, gestand sie. Es war lange her, seit sie sich so lebendig gefühlt hatte, Jahre. Sie hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlte. „Und Sie genießen es ebenfalls. Sonst wären Sie gar nicht erst Agent geworden.“

Er nickte, offenbar gestand er ihr diesen Punkt zu.

„Lassen Sie uns gehen.“

Casanova führte sie durch das Loch, das er in die Rigipsplatte geschlagen hatte. „Ich bin froh, dass Mrs. Pfluger nicht zu Hause ist“, sagte Lucy. „Sie hätten sie zu Tode erschreckt.“

„Was macht Sie so sicher, dass sie nicht da ist?“

Und tatsächlich, im Wohnzimmer saß ihre zweiundachtzigjährige Nachbarin vor dem Fernseher und lächelte Casanova an.

„Ah, Sie sind wieder da“, sagte sie und strahlte. Auch wenn sie durch ihre Arthritis körperlich sehr eingeschränkt war, ihr Verstand war scharf wie der einer Zwanzigjährigen. „Hallo, Lucy, meine Liebe.“

Lucy war wie vor den Kopf geschlagen. „Sie kennen sich?“

„Jetzt ja“, antwortete Mrs. Pfluger. „Er stand vor meiner Tür, und als er erklärte, dass Sie in Gefahr sind und er meine Hilfe benötigt, damit Sie fliehen können …“ Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Sie wissen ja, wie das so ist.

„Aber die Wand. Er hat die Wand ruiniert.“ Lucy war perplex.

„Er hat mir einen Haufen Geld dafür gegeben.“ Mrs. Pfluger wandte sich wieder an Casanova: „Während Sie in Lucys Apartment beschäftigt waren, habe ich die Sachen zusammengesucht, die Sie brauchen.“ Sie deutete auf eine alte Einkaufstasche. „Da sind Kleidungsstücke und andere Dinge aus der Zeit drin, als ich noch etwas fülliger war. Sie müssen sie mir nicht zurückgeben.“

Casanova inspizierte den Inhalt der Tasche, dann grinste er und blickte sie an.

„Ausgezeichnet. Lucy, ziehen Sie das an. Sie werden jetzt zu Bessie Pfluger.“

Bryan Elliott alias Casanova verkniff sich ein Lächeln, als er beobachtete, wie Lucy Miller in eine überdimensionierte orangerote Polyester-Stretchhose stieg und sie in der Taille mit Sicherheitsnadeln befestigte. Diese Frau entpuppte sich als Überraschung.

Er wusste bereits eine Menge über sie, denn er hatte gründlich recherchiert – wo sie aufgewachsen war, wo sie zur Schule gegangen war – und kannte ihren beruflichen Werdegang.

Sie war pflichtbewusst, gewissenhaft, intelligent, dabei zurückhaltend und unscheinbar. Eigenschaften, die sie zu einem perfekten Maulwurf machten, mit dessen Hilfe er die betrügerischen Machenschaften bei Alliance aufdecken wollte. In den letzten Wochen hatte sie massenhaft Informationen beschafft und seine Anweisungen befolgt.

In natura war sie überraschend temperamentvoll – und sie verteidigte sich verdammt gut. Mit dem richtigen Training könnte eine echte Agentin aus ihr werden.

Nein, daran sollte er nicht einmal denken. Ein Doppelleben, wie er es führte, wollte er für die süße Lucy Miller nicht, die allem Anschein nach keine Ahnung von der hässlichen Seite des Lebens hatte.

Zumindest kannte sie jetzt die hässlichsten Kleidungsstücke des Universums. Zur grellen Hose trug sie einen zeltartigen Hausmantel. Ihre Haare hatte sie unter einer silbergrauen Lockenperücke versteckt, und auf ihrer Nase saß eine abgelegte Brille von Mrs. Pfluger, ein rotes Gestell, das nur unwesentlich hässlicher war als ihr eigenes.

„Meine alte Gehhilfe steht dort drüben.“ Mrs. Pfluger deutete auf eine Ecke im Wohnzimmer.

„Das funktioniert nicht.“ Lucy seufzte laut. „Niemand wird glauben, dass ich achtzig Jahre alt bin.“

„Zweiundachtzig“, korrigierte Mrs. Pfluger sie.

„Vertrauen Sie mir. Falls jemand Ihre Wohnungstür beobachtet, wird er sich nicht dafür interessieren, was sich nebenan abspielt.“ Er öffnete den zusammenklappbaren Rollator und stellte ihn vor Lucy. „Jetzt zeigen Sie uns, wie Sie als alte Lady gehen.“

Lucy kauerte über der Gehhilfe und gab eine bemerkenswerte Imitation eines arthritischen älteren Menschen ab, der sich langsam vorwärts bewegte.

„Um Himmels willen“, rief Mrs. Pfluger aus. „Sagen Sie bitte nicht, dass ich so aussehe, wenn ich laufe.“

„Ich übertreibe“, erwiderte Lucy. Sie drehte sich zu ihrer Nachbarin und umarmte sie. „Mrs. Pfluger, ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Hilfe danken. Ich meine, Sie kennen diesen Kerl nicht einmal.“

„Er hat mir seine Marke gezeigt“, sagte Mrs. Pfluger. „Außerdem hat er ehrliche Augen. Er wird auf Sie aufpassen.“

Die alte Dame hatte keine Ahnung, dass die Marke, die er ihr vor die Nase gehalten hatte, eine Fälschung war und an jeder Straßenecke in Washington angeboten wurde.

„Ich verlasse mich darauf.“ Lucy warf ihm einen finsteren Blick zu. „Können wir jetzt gehen?“

Bryan bedankte sich ebenfalls bei ihrer Nachbarin, dann tat er so, als würde er ihr zur Tür hinaus und die Rollstuhlrampe hinunter helfen. „Halten Sie den Kopf unten. Ja, so“, flüsterte er Lucy zu. „Sie machen das großartig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass Sie eine alte Frau sind.“

Er wusste es aber besser. Der Körper, der auf ihn gefallen war und sich an ihn gepresst hatte, hatte nichts mit dem einer Greisin gemeinsam. Er war überrascht gewesen, wie schlank sie unter ihrem altbackenen Kostüm war.

Sein Mercedes stand am Straßenrand. Da er davon ausgegangen war, dass Lucys Stadthaus möglicherweise beobachtet wurde, hatte er gar nicht erst den Versuch unternommen, sich verdeckt zu nähern, sondern hatte geradewegs bei der Nachbarin geklingelt.

Er hatte gewusst, dass sie zu Hause sein würde. Und er hatte in Erfahrung gebracht, dass sie Krankenschwester in Korea und ihr Mann Veteran des Zweiten Weltkriegs gewesen war. Deshalb hatte er auf ihren Patriotismus gesetzt, der sie veranlassen würde, ihm zu helfen. Und er hatte recht gehabt.

Kaum waren sie losgefahren, entspannte er sich etwas. Falls sie beobachtet wurden, hatten sie den Beschatter mit Lucys Auftritt als alte Lady ausgetrickst. Niemand folgte ihnen.

Nach wenigen Hundert Metern bog er auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums ein und stellte den Mercedes dort ab, wo er ihn gefunden hatte.

„Warum halten wir hier an?“, fragte Lucy.

„Wir wechseln das Auto.“ Er schaltete den Motor aus und zog seinen Multi-Key aus dem Zündschloss.

„Was ist das?“ Sie deutete auf den merkwürdig aussehenden Multifunktionsschlüssel und schnappte nach Luft. „Oh mein Gott, Sie haben den Wagen gestohlen!“

„Nur ausgeliehen. Die Eigentümerin kauft selig im Supermarkt ein. Sie wird es nie erfahren.“

„Es ist wirklich beängstigend, dass so ein Gerät überhaupt existiert und dass Regierungsangestellte Autos stehlen.“

„Ich fürchte, sie tun noch viel mehr als das“, sagte er, während sie aus dem Mercedes stiegen. Leider hatte er gerade herausgefunden, wozu gewisse Regierungsangestellte fähig waren.

Lucy nahm den Rollator vom Rücksitz, doch sie benutzte ihn nicht. Dynamisch ging sie neben ihm, geschmeidig und anmutig. Er führte sie zu dem Wagen, in dem er gekommen war, einem silbergrauen Jaguar XJE. Da es sich um seinen Privatwagen und nicht um einen „Firmenwagen“ handelte, war das Risiko zu groß gewesen, identifiziert zu werden. Deshalb der Tausch.

„Dieser gefällt mir noch besser als der Mercedes“, bemerkte sie, während sie den Rollator in den Kofferraum legte. „Ist er auch gestohlen?“

„Nein, der gehört mir.“

„Ich wusste gar nicht, dass Regierungsangestellte so viel verdienen, dass sie sich einen Jaguar leisten können.“

„Das tun wir nicht. Mein Regierungsgehalt ist nicht meine einzige Einnahmequelle.“ Die Scheinfirma, die er für Familie und Freunde aufgebaut hatte, erwies sich als äußerst lukrativ. Er öffnete ihr die Beifahrertür. „Die Verkleidung ist jetzt nicht mehr nötig. Wir sind in Sicherheit.“

„Gott sei Dank.“

Sobald sie saß, riss sie sich die Perücke vom Kopf, und ihr braunes Haar fiel in schimmernden Kaskaden über ihre Schultern. Bis er um den Wagen herum zur Fahrertür gegangen war, hatte Lucy schon den Hausmantel ausgezogen, und als er einstieg, fluchte sie.

„Ich habe meine Jeans liegen gelassen.“

„Nein, ich habe sie … Mist.“ Er war so fasziniert gewesen, als sie die Hose auszog und er einen Blick auf ihren schlichten weißen Slip erhaschen konnte, dass er tatsächlich vergessen hatte, sie einzupacken. „Wir kaufen Ihnen eine neue. Keine Sorge.“

Er hatte nicht das Recht, an Lucys Slip zu denken, ob schlicht oder sexy. Die Wanzen in ihrem Haus waren beunruhigend genug. Er war sicher gewesen, dass sie übertrieb, als sie behauptete, jemand verfolge sie und sei in ihr Heim eingedrungen, aber sie hatte diese Abhörgeräte nicht selbst installiert.

Tatsache war, dass die Liste derjenigen, die das getan haben konnten, auf eine Handvoll schrumpfte, nachdem er das Exemplar in ihrem Telefon untersucht hatte. Diese Wanze war technisch auf dem neuesten Stand, hergestellt in Russland. Und sie war so neu, dass nur seine Behörde Zugang dazu hatte, abgesehen von den Russen natürlich. Er glaubte jedoch nicht, dass die in diese Geschichte involviert waren.

Jemand aus seiner eigenen Organisation hinterging ihn, das bedeutete, sein Leben und das von Lucy waren nicht viel wert, solange er nicht herausfand, welcher Agent der Verräter war – und bis er ihn oder sie kaltstellte.

2. KAPITEL

Auf Umwegen verließen sie die Stadt in Richtung Norden. Bryan wollte absolut sichergehen, dass sie nicht verfolgt wurden.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er Lucy. Sie war erschreckend still. Er hatte damit gerechnet, von ihr gelöchert zu werden, wohin sie fuhren und was als Nächstes passierte. Fragen, die er bislang nicht unbedingt beantworten könnte, auch wenn sich langsam ein Plan in seinem Kopf formte.

„Ja.“

„Tut mir leid, dass ich Sie in Gefahr gebracht habe.“

„Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich dieser Sache zustimmte. Sie haben mich darauf hingewiesen, dass es nicht ungefährlich ist.“

Er fragte sich, ob sie auch noch so ruhig wäre, wenn sie wüsste, wie gefährlich es tatsächlich war, und dass die größte Bedrohung von seinen eigenen Leuten ausging. „Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich wünschte, wir hätten sie zu Ende bringen können.“

„Das habe ich.“

„Wie bitte?“

„Nach unserem Telefonat war mir klar, dass ich nicht zu Alliance Trust zurückkehren würde. Deshalb habe ich alle Vorsicht über Bord geworfen und sämtliche Dateien kopiert, zu denen ich Zugang hatte. Es ist einfach unglaublich, wie viel auf so einen kleinen Stick passt.“

„Sie haben alles kopiert?“ Er konnte es kaum glauben.

„Alles, was ich brauche. Es wird einige Zeit dauern, alle Daten zu sichten. Wer auch immer Gelder aus dem Pensionsfonds unterschlägt, geht sehr raffiniert vor. Ich habe Kalender, Telefonlisten, Einlog- und Auslogzeiten, Passwörter, wer an welchem Meeting wann teilgenommen hat. Mithilfe des Ausschlussverfahrens lässt sich herausfinden, wer die rechtswidrigen Abhebungen getätigt hat – ich weiß, dass ich es feststellen kann.“

„Darum müssen Sie sich nicht kümmern. Die Behörde hat einige der besten Köpfe im Land …“ Bryan hielt inne. Bevor er nicht wusste, wer ihn hinterging, konnte er es nicht wagen, die Informationen weiterzugeben. Ein Tastendruck, und die Beweise, für die Lucy ihr Leben riskiert hatte, könnten gelöscht werden.

„Ich würde es gern selbst tun“, sagte sie. „Ihre Organisation hat vielleicht Experten und eine Hightech-Ausrüstung, aber ich kenne die Menschen, die involviert sind. Ich weiß, wie bei der Bank alles läuft. Niemand ist für die Auswertung der Daten qualifizierter als ich.“

Sie könnte recht haben. „Was brauchen Sie?“

„Einen leistungsstarken Computer und einen ruhigen Arbeitsplatz. Das genügt.“

Ein Plan konkretisierte sich. Die Idee war vielleicht verrückt, doch es gab keine andere Möglichkeit, Lucys Sicherheit zu garantieren. Er hatte zwar Zugang zu bestimmten Häusern, in denen Kronzeugen bis zur Verhandlung versteckt werden konnten, aber waren sie sicher?

Jeder seiner Kollegen, der Teil dieser gefährlichen Mission war, kannte diese Unterschlupfe – Tarantula, Stungun, Orchid und sein direkter Vorgesetzter Siberia. Seine Liste von Verdächtigen. Vier Menschen, denen er bis vor Kurzem sein Leben anvertraut hätte.

„Ich denke, das kann ich Ihnen bieten“, sagte er.

„Dann ist ja alles geregelt.“ Sie setzte sich zufrieden zurück. „Wohin fahren wir?“

„New York.“

„Ihre Heimat.“

Bryan verspürte ein Kribbeln. Woher wusste sie das?

„Ihr Akzent“, fuhr sie fort, bevor er fragen konnte. „Ich hatte einen Schulkameraden aus New York. Long Island. Sie sprechen genau wie er.“

Sie war eine gute Beobachterin. Während seiner Ausbildung hatte er gelernt, den Akzent abzulegen. Seine Sicherheit und auch die seiner Familie hingen davon ab, dass er seine wahre Identität im Beruf geheim hielt. Das galt für alle Agenten. Sie benutzten Decknamen und gaben keine persönlichen Informationen preis.

Wann war er so unachtsam gewesen, dass Lucy herausfinden konnte, woher er stammte? Offenbar ließ er nach. Viele Ermittler überstanden den Druck im praktischen Einsatz nicht lange.

„Arbeiten Sie für die CIA?“, fragte sie.

Anfangs schon. Wegen seiner guten Noten und seiner außergewöhnlichen Fitness war er angeworben worden, als er mit der festen Absicht, einmal ins Familienunternehmen Elliott Publication Holdings einzutreten, Wirtschaftswissenschaften studierte. Er hatte einige Einsätze als verdeckter Ermittler gehabt.

Später hatte ihn eine unbekannte Person anonym für eine neu aufgebaute Einheit angefordert, die dem Heimatschutzministerium unterstellt war, eine Gruppe, die so geheim war, dass sie nicht einmal einen Namen hatte. Es gab kein zentrales Büro und sie wurde im Staatshaushalt nicht erwähnt. Offiziell existierte sie gar nicht.

Normalerweise fiel ihm das Lügen leicht, doch bei Lucy nicht. Er entschied sich für die Halbwahrheit. „Ich arbeite für das Innenministerium.“

„Ich wusste gar nicht, dass das Ministerium eigene Spione hat.“

„Die Behörde ist noch im Aufbau.“

„Wie wird man Spion?“

„Warum? Haben Sie Interesse an dem Job?“

„Vielleicht. Alles ist besser als das, womit ich mich im Moment beschäftige.“

Er hatte nur einen Scherz gemacht, sie meinte es ernst. „Wieso arbeiten Sie in einer Bank, wenn es Ihnen nicht gefällt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es wurde von mir erwartet. Und die Bezahlung war gut. Ich spiele aber mit dem Gedanken, mir einen anderen Job zu suchen.“

„Was würden Sie gern tun?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht weglaufen und mich einem Zirkus anschließen. Ich wäre eine gute Löwenbändigerin.“

„Sie?“

„Warum sollte ich keine Löwen zähmen können?“

„Ich bin sicher, Sie könnten es. Mit Ihrem Regenschirm.“

„Sie machen sich über mich lustig, aber als Sie auf dem Boden lagen, fanden Sie das nicht so witzig.“ Sie blickte sich im Wagen um. „Wir haben ihn nicht mitgenommen. Schade, ich habe den Schirm geliebt.“

„Ich kaufe Ihnen einen neuen.“ Er empfand Mitleid mit ihr. Ihr Leben war aus den Fugen geraten und würde nie wieder dasselbe sein. Vermutlich war ihr das bis jetzt gar nicht bewusst geworden.

„Wir kehren also nicht wieder zurück“, stellte sie fest.

„Auf jeden Fall nicht in nächster Zeit.“

„Gut. Noch eine Nacht in dem langweiligen Stadthaus mit den ätzend weißen Wänden und noch ein Tag in einem dieser spießigen Kostüme, und ich hätte mir die Pulsadern aufgeschnitten.“

Schon wieder überraschte sie ihn. Er hatte einige Nachforschungen über Lucy Miller angestellt. Sie kam aus einer soliden Farmerfamilie in Kansas, hatte die staatliche Universität besucht und gute Noten erzielt. Sie arbeitete in einem Job, für den sie unterqualifiziert war, doch ihre Vorgesetzten lobten sie in den höchsten Tönen.

Das einzige Geheimnis um Lucy Miller war ein Zeitabschnitt von etwa zwei Jahren kurz nach dem Ende ihres Studiums.

„Meine Familie wird sich Sorgen machen“, sagte sie.

„Sie können keinen Kontakt zu ihr aufnehmen.“

„Nie wieder?“, fragte sie leise. „Komme ich in ein Zeugenschutzprogramm?“

„Möchten Sie das?“

Sie seufzte. „Ich hätte nichts gegen eine neue Identität. Ich habe den Namen Lucy immer gehasst. Den neuen Namen will ich mir aber selbst aussuchen.“

„Welchen würden Sie auswählen?“

„Ganz bestimmt nicht so einen idiotischen wie Casanova – obwohl er passt, so wie Sie Mrs. Pfluger um den Finger gewickelt haben. Zu mir war sie meistens ziemlich gemein.“

„Casanova war nicht meine Idee. Sie können mich Bryan nennen.“ Sie hätte seinen Namen sowieso bald erfahren.

„Und Sie können mich … Lindsay nennen. Lindsay Morgan.“

„Klingt sehr anspruchsvoll. Hat der Name eine Bedeutung für Sie? Kennen Sie eine Lindsay? Oder eine Morgan?“

„Nein. Ich mag die Schauspielerin Lindsay Wagner. Sie wissen schon, die Sieben-Millionen-Dollar-Frau. Ich habe die Serie im Fernsehen gesehen. Und Morgan – ich weiß nicht. Ist mir einfach so eingefallen.“

Genau das hatte er hören wollen. „Dann also Lindsay Morgan. Gewöhnen Sie sich an den Namen.“

Oje, dachte Lucy, er meint es ernst. Sie würde tatsächlich eine neue Identität erhalten. Ein neues Leben. Einen neuen Job, ein neues Zuhause, vielleicht in einer Stadt, die so aufregend war wie New York.

Eigentlich sollte sie Angst empfinden. Skrupellose Kriminelle mit Verbindung zum internationalen Terrorismus waren in ihr Haus eingebrochen und hatten es verwanzt. Möglicherweise suchten sie jetzt gerade nach ihr mit der Absicht, sie zu töten, doch sie spürte nur gespannte Erwartung.

Bryan dagegen wirkte nervös. Irgendetwas beunruhigte ihn.

Er hatte nicht geglaubt, dass sie wirklich verfolgt wurde, und war nur zu ihrem Stadthaus gekommen, weil sie gedroht hatte, mit allen Daten zu verschwinden. Vermutlich war er überrascht gewesen, als er feststellte, dass sie recht hatte und dass die Operation tatsächlich aufgeflogen war.

Machte er sie dafür verantwortlich?

„Ich habe mich nicht verraten“, sagte sie unvermittelt. „Ich war extrem vorsichtig. Bis auf heute habe ich immer nur fünf oder höchstens zehn Minuten Daten kopiert, und das nur bei geschlossener Tür und wenn ich allein in meinem Büro war. Ich habe mit keiner Menschenseele darüber gesprochen. Nie. Und niemand kam an den Stick heran. Er steckte ständig in meinem BH.“

Er blickte zu ihr. „Wirklich? Jetzt auch?“

„Ja.“

Der Wagen schlingerte aus unersichtlichem Grund. Einen Moment zog sie in Erwägung, Bryan könnte das Lenkrad verrissen haben, weil sie ihren BH erwähnt hatte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.

Der Mann war ein Spion – er hatte sicherlich Dinge gesehen, die für normale Menschen unvorstellbar waren. Die Dessous einer Frau brachten ihn garantiert nicht durcheinander. Vor allem nicht ihre, die so langweilig waren, wie Unterwäsche nur sein konnte.

Es war lange her, seit etwas, das sie gesagt oder getan hatte, eine Wirkung auf das andere Geschlecht ausgeübt hatte. Das unbekümmerte Mädchen, das früher so gern flirtete, versteckte sich unter spießigen Kostümen, dicken Brillengläsern und mattbraunen Haaren. Aus gutem Grund, rief sie sich in Erinnerung.

Bryan war vermutlich nur einem Schlagloch ausgewichen.

Sie fuhren fast fünf Stunden, doch es war Juli und daher noch hell, als sie New York erreichten. Lucy war lange nicht dort gewesen und hatte ganz vergessen, wie sehr sie die quirlige Metropole liebte. New York strahlte eine Energie aus wie kaum eine andere Stadt der Welt.

„Bleiben wir in Manhattan?“, fragte sie.

„Ja.“

„Bringen Sie mich in einem Hotel unter?“

„Nein. Solange Ihre neue Identität nicht offiziell ist, will ich nirgendwo hin, wo ein Ausweis verlangt wird.“

„Ein sichere Wohnung also?“

„Die sicherste.“

Er lächelte sie flüchtig an, das erste Mal, seit sie ihn kannte. Ein Prickeln schoss durch ihren Körper. Kein Wunder, dass die schrullige Mrs. Pfluger so kooperativ gewesen war.

Sie erreichten Manhattan über den Lincoln Tunnel und befanden sich unmittelbar darauf inmitten von Wolkenkratzern, Bussen, Autos, Taxis und interessanten Menschen. Einige waren elegant gekleidet – Theaterbesucher auf dem Weg zu einer Vorstellung vielleicht, andere, in zerknitterten Anzügen und nach einem Taxi winkend, sahen aus, als kämen sie gerade nach einem langen Tag aus dem Büro.

Es gab schillernde Figuren, die in jeder Stadt zu finden waren – Hotdog-Verkäufer, zwielichtige Typen, die geklaute Designeruhren und raubkopierte DVDs verkauften, und natürlich gewöhnliche Landstreicher.

Lucy liebte New York, obwohl sie auch schmerzliche Erinnerungen daran hatte, doch diese Zeit lag hinter ihr, die Wunden waren verheilt, sie war älter und reifer geworden und bereit, zu neuen Ufern aufzubrechen. Endlich lebte sie wieder.

Sie öffnete das Autofenster, und die wunderbaren Düfte der Großstadt stürmten auf sie ein. Der Hauch eines exotischen Essens kitzelte ihre Nase – Knoblauch, Estragon, Curry – und ihr Magen fing an zu knurren.

„Ich sterbe vor Hunger“, sagte sie. „Meinen Sie, in diesem sicheren Haus gibt es einen gefüllten Kühlschrank? Oder können wir vielleicht etwas bei einem Chinesen bestellen?“

„Keine Sorge, Sie bekommen etwas zu essen.“

Sie fuhren durch die Upper West Side. Elegante Geschäfte säumten die Straße, angesagte Lokale und Bodegas, Luxus-Wohnhochhäuser, in denen die Schönen und die Reichen lebten.

Als sie ein Restaurant namens Une Nuit passierten, sah sie eine Schlange schick angezogener Menschen vor der Tür warten, obwohl es für Manhattaner Verhältnisse noch früh war.

„Ich habe von diesem Restaurant gehört“, sagte sie und deutete mit dem Kopf in die Richtung. „Ein Artikel in People, glaube ich. Vielleicht auch in The Buzz. Irgendein Filmstar hat dort Geburtstag oder so etwas gefeiert.“

„Es war eine der Hilton-Schwestern.“

„Ach, Sie sind über das Leben der Stars und Sternchen informiert? Wann findet ein Spion Zeit, The Buzz zu lesen?“

„Ehrlich gesagt, habe ich es nicht gelesen. Ich war dabei.“

„Soll das ein Witz sein? Sie kennen die Hilton-Schwestern?“ Lucy war von der Welt der Stars schon immer fasziniert gewesen. Seit ihrer Schulzeit las sie die Regenbogenpresse und träumte davon, eines Tages zu diesen meist wunderschönen Menschen zu gehören – oder zumindest mit ihnen zu verkehren.

Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass das Leben der Promis nicht nur aus Partys und Glamour bestand, aber selbst nach ihrer kurzen unglücklichen Begegnung mit diesem Milieu hatte es seine Faszination nicht verloren.

Bryan antwortete nicht. Er bog in eine Tiefgarage ein, wobei er sich mit einer Codekarte Einlass verschaffte.

„Äh, wir wollen doch nicht da essen, oder?“, fragte Lucy und blickte an sich herab auf die orangerote Polyesterhose. „Ich meine, ich würde gern irgendwann in das Restaurant gehen, so lassen sie mich allerdings nicht rein.“

Er grinste. „Ich könnte Sie reinbringen, aber nein, wir gehen jetzt nicht dorthin. Dies ist der sichere Ort, an dem ich Sie unterbringen will.“ Er fuhr auf einen reservierten Parkplatz und schaltete den Motor aus.

„Eine geheime Wohnung habe ich mir irgendwie anders vorgestellt“, bemerkte sie. „Ich dachte, sie liegt etwas … einsamer.“

„Eine geheime Wohnung kann überall sein, solange niemand davon weiß.“

Sie stiegen aus und er führte sie durch eine Tür, die mit „Eingang Une Nuit“ gekennzeichnet war, in ein kleines, unauffälliges Foyer. Hier folgten sie nicht weiter dem Hinweiszeichen zum Restaurant, sondern nahmen einen klapprig aussehenden Fahrstuhl. Bryan drückte eine Taste, auf der keine Etage verzeichnet war.

„Passwort, bitte“, ertönte eine Computerstimme.

„Enchilada-Kaffee“, erwiderte Bryan und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Das Erstaunen in Lucys ausdrucksvollem Gesicht bereitete Bryan freudige Erregung. Obwohl ihm der Ernst seiner Situation bewusst war, genoss er ihre Reaktion. Er hatte damit gerechnet, dass sie ein Nervenbündel war, das dauernd in Panik geriet, doch sie zeigte sich der Herausforderung gewachsen und bewies eine Geistesgegenwart, die nur wenigen Menschen eigen war.

„Wie bei James Bond“, sagte sie. „Der Fahrstuhl ist mit einem Passwort geschützt?“

„Mit der neuesten Stimmerkennungssoftware. Niemand außer mir kommt in das Loft – und meinen Gäste natürlich.“

„Sie wohnen hier?“

„Ja. Haben Sie ein Problem damit?“

„Nein, es ist nur etwas komisch. Ich dachte nicht, dass Agenten die Zeugen, die unter besonderem Schutz stehen, in die eigene Wohnung mitnehmen.“

„Das tun sie normalerweise auch nicht. Dies ist eine Ausnahmesituation.“

„Warum? Dieser Fall ist sicher nicht außergewöhnlich groß oder bedeutsam.“

Er überlegte, wie viel er ihr sagen sollte, und entschied dann, dass sie mit der Wahrheit umgehen konnte. Sie musste begreifen, dass sie niemandem außer ihm vertrauen durfte. „Ich habe einen triftigen Grund zu glauben, dass ich von meinen eigenen Leuten hintergangen werde – das bedeutet, dass wir kein Haus haben, das wirklich sicher ist. Dies ist der einzige Platz, an dem Sie niemand finden kann.“

„Wollen Sie damit sagen, dass die Leute, mit denen Sie arbeiten – die anderen Spione – nicht wissen, wo Sie wohnen?“

„Sie kennen nicht einmal meinen Namen. Selbst für meinen Chef bin ich Casanova.“

„Wow!“

Die Fahrstuhltür glitt auf, und Bryan führte Lucy in seinen privaten Wohnbereich. Vor ein paar Jahren hatte er das gesamte Gebäude gekauft, in dem sich das Une Nuit befand. Er hatte das Restaurant im Erdgeschoss renovieren und vergrößern lassen, in der ersten Etage Büro- und Lagerräume untergebracht und die zweite und dritte zu einer Wohnung umgebaut.

Er hatte keine Kosten gescheut – es war nicht nötig gewesen. Schon von Haus aus war er wohlhabend und als ranghoher Regierungsagent wurde er gut bezahlt. Diese Räumlichkeiten hatte er mit den Einnahmen aus dem Une Nuit finanziert. Das Restaurant, das ursprünglich nur seiner Tarnung dienen sollte, sodass nicht einmal seine engsten Freunde und seine Familie seinen wahren Beruf kannten, war unerwartet populär geworden – und sehr lukrativ.

Der Grundriss des Lofts war großzügig gehalten. Das Foyer öffnete sich auf einer Seite zu einer riesigen modernen Küche, die er selbst entworfen und mit den neuesten Geräten in gebürstetem Edelstahl ausgestattet hatte. Daran schloss sich das Wohnzimmer an. Große Fenster boten einen Blick auf die Columbus Avenue. Der Fußboden bestand aus alten Lagerhausdielen, die geschliffen und auf Hochglanz poliert worden waren.

Die Möblierung war modern und behaglich, jedoch nicht überladen. Originalkunstwerke schmückten die Räume nach der Devise, weniger ist mehr. Einige abstrakte Gemälde und ein paar kuriose Skulpturen genügten ihm.

„Das ist wunderschön!“ Lucy wirbelte herum und nahm alles auf. „Und hier leben Sie?“

„Wenn ich mal zu Hause bin, was in letzter Zeit nicht allzu oft der Fall war.“

„Wie lange werde ich bleiben? Nicht, dass ich mich beklage, ich möchte mich nur darauf einstellen. Wollen Sie, dass ich vor Gericht aussage? Muss ich mich ständig in der Wohnung aufhalten, oder kann ich auch nach draußen gehen?“

Er lächelte über den Überschwang, den sie zeigte. Beim ersten Kennenlernen hatte er sie für reizlos gehalten, doch das war sie nicht. Selbst in dieser entsetzlichen Hose nicht. Sie hatte ein ansteckendes Lachen und strahlende, lebhafte Augen in einem ungewöhnlichen Blau.

„Ich schließe Sie nicht wie eine Gefangene ein. Wir werden uns ab und zu hinauswagen. Ich denke, so weit weg von zu Hause, wird Ihnen niemand begegnen, den Sie kennen.“

„Hm, das stimmt nicht ganz“, sagte sie. „Ich habe hier eine Zeit lang gelebt.“

„Was?“ Das war ihm neu. Bei seiner Recherche war er auf keine Wohnung in New York gestoßen. „Das ist unmöglich.“ Doch dann erinnerte er sich an die zwei Jahre, die sie verschwunden gewesen war.

„Haben Sie je von der Band In Tight gehört?“, fragte sie.

„Sicher. Die ist gerade jetzt ganz aktuell. Waren das nicht sogar die, die in der Halbzeit beim Super Bowl gespielt haben?“

Lucy nickte. „Ich habe für diese Band gearbeitet.“

„Sie? Sie haben für eine Rockband gearbeitet?“

„Ich meldete mich auf eine Anzeige im Internet, habe den Job bekommen und war für deren Finanzen verantwortlich.“

Bryan fiel es schwer, sich Lucy Miller unter wilden, langhaarigen Musikern vorzustellen. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? War Lucy Miller eine notorische Lügnerin?

„Ich habe mich über Sie informiert, aber nichts darüber gefunden.“

„Mein Gehalt haben sie mir bar auf die Hand gezahlt. Damals war die Gruppe noch nicht so berühmt. Wir hatten alle zusammen eine Wohngemeinschaft, deshalb konnten Sie keine Wohnung unter meinem Namen finden. Ich erzähle Ihnen das auch nur, damit Sie wissen, dass ich auf Leute treffen könnte, die mich wiedererkennen.“

„Wir sorgen dafür, dass das nicht passiert.“ Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß und überlegte, wie ihr Erscheinungsbild verändert werden könnte – andere Frisur, andere Augenfarbe. „Was halten Sie von einer Typveränderung?“

„Das wäre super! Darf ich eine Blondine sein? Ich denke, Lindsay Morgan wäre blond.“

„Wie Sie wollen. Meine Cousine Scarlet ist Assistentin in der Moderedaktion von Charisma. Sie kann eine ganze Lkw-Ladung Kleidung, Kosmetika und Zeug für die Haare bringen. Brauchen Sie die Brille?“

„Unbedingt.“

„Wir besorgen Ihnen Kontaktlinsen. Vielleicht grüne, obwohl es eine Schande ist, ihre schönen blauen Augen zu verbergen.“

Sie sah beschämt weg. „Nehmen Sie mich nicht auf den Arm. Meine Augenfarbe ist ein ganz gewöhnliches Blau – fast grau. Langweilig.“

„Ich finde Sie ganz und gar nicht langweilig.“

Sie schaute zu ihm auf. „Sie meinen es ernst.“

„Keine Sorge, ich will Sie nicht anbaggern, aber Sie haben wirklich schöne Augen.“

„Mich anbaggern, aber klar.“ Sie schnaubte. „Also gut, wann soll die magische Verwandlung stattfinden?“

„Wie wäre es nach dem Abendessen?“ Er führte Lucy in das Gästezimmer, zu dem ein eigenes Bad gehörte.

„Wo schlafen Sie?“, fragte sie.

„Mein Schlafzimmer ist oben. Auch das Büro. Ich zeige es Ihnen später. Sie werden dort viel Zeit verbringen, wenn Sie wirklich die Daten entschlüsseln wollen.“

„Absolut.“

„Schön. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich frisch machen können, während ich mich um das Abendessen kümmere.“

„Okay. Haben Sie einen Bademantel oder irgendwas, das ich anziehen kann, bis Ihre Cousine mir Kleidung bringt? Nach dem Duschen möchte ich nicht so gern wieder in Mrs. Pflugers Hose schlüpfen. Am liebsten würde ich sie verbrennen.“

„Ich bringe Ihnen was.“

Bryan fand einen Pyjama, der noch originalverpackt war. Ein Präsent seiner Großmutter. Jedes Jahr schenkte sie ihm einen Schlafanzug, und er traute sich nicht, ihr zu sagen, dass er keinen trug.

Als er in Lucys Zimmer zurückkehrte, stand sie bereits unter der Dusche. Die Tür zum Bad war nur angelehnt. Er verspürte den Drang, einen heimlichen Blick auf ihren nackten Körper zu werfen.

Seit sie auf ihn gefallen war, lief seine Fantasie auf Hochtouren, doch er widerstand der Versuchung, legte den Pyjama aufs Bett und kümmerte sich um das Abendessen. Ein kurzer Anruf im Restaurant genügte. Anschließend wählte er Scarlets Nummer.

„Du weißt, dass ich solche Herausforderungen liebe“, sagte sie, nachdem er sie ins Bild gesetzt hatte, und erwärmte sich sofort für die Idee. „John ist geschäftlich verreist, also habe ich heute Abend frei. In etwa einer Stunde könnte ich bei dir sein.“

„Wollt ihr heiraten?“

„Die Hochzeit wird erst nächstes Jahr sein. Wenn du nicht so viel unterwegs wärst, wüsstest du das. Jetzt aber mal ehrlich. Gibt es nicht auch jede Menge Gewürze in Amerika?“

Vielleicht war die Standardausrede für seine häufige Abwesenheit, dass er nach exotischen Würzmitteln suchte, langsam etwas mau. „Ich muss immer auf dem neuesten Stand sein“, antwortete er vage.

„Egal. Wo hast du dieses Mädchen gefunden? Was ist das für eine Geschichte? Die Frauen, mit denen ich dich bisher gesehen habe, brauchten keine Hilfe bei Kleidung oder Kosmetik.“

„Sie ist nicht …“ Er hielt inne. Wie sollte er Scarlet und dem Rest seiner Familie Lucys Anwesenheit erklären? Sie würde womöglich monatelang unter seinem Schutz stehen. Er könnte sie nicht ewig totschweigen.

„Lindsay ist anders als die Frauen, die ich bisher kennengelernt habe“, fuhr er ruhig fort. „Sie ist auf einer Farm aufgewachsen und hat eine natürliche Ausstrahlung. Ehrlich gesagt, finde ich sie so, wie sie ist, absolut perfekt, aber sie besteht auf einer Typänderung, damit sie besser nach New York passt.“

„Ich helfe gern, so gut ich kann“, sagte Scarlet.

Im Klartext bedeutete es, dass sie sie ausquetschen würde, bis sie alles über seine neue Flamme wusste. Er musste Lucy mitteilen, dass Lindsay gerade seine Freundin geworden war.

3. KAPITEL

Lucy konnte es kaum glauben. Bryan hatte sie bei seiner Cousine als seine Freundin ausgegeben.

„Tut mir leid, aber mir fiel keine andere Erklärung für Ihre Anwesenheit hier ein. Meine Familie weiß nichts von meinem Doppelleben und darf auch nichts davon erfahren. Es würde ihre Sicherheit gefährden. Das verstehen Sie doch, oder?“

„Ja. Aber …“

„Sie haben bereits bewiesen, dass Sie unter Druck einen klaren Kopf bewahren können. Wenn Scarlet eintrifft, dann überlassen Sie alles mir und spielen einfach mit. Einverstanden?“

Der Gedanke erregte sie. „Sicher, für mich ist das kein Problem, aber niemand wird glauben, dass ich tatsächlich Ihre Freundin bin.“

„Warum nicht?“

„Eine unscheinbare kleine Bankangestellte aus Washington? Und Sie sind ein … ein …“

„Ich besitze ein Restaurant. Mehr weiß keiner.“

Das Telefon klingelte, und er nahm den Anruf entgegen. Lucy war nicht entgangen, dass er ihrer Selbsteinschätzung nicht widersprochen hatte. Offensichtlich fand er sie auch unscheinbar.

„Okay, danke.“ Er legte auf. „Unser Essen ist fertig. Ich bin gleich zurück.“

Während er fort war, versuchte sie, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, Bryans Freundin zu spielen. Früher war sie ein ziemlich heißer Feger gewesen. Sie hatte sogar Cruz Tabors Interesse geweckt, Drummer bei In Tight und einer der begehrtesten Männer im Land, wenn man den Boulevardblättern glauben durfte. Er hatte mit ihr geflirtet, und sie hatte jede Lüge geglaubt, die der Mistkerl ihr auftischte.

Irgendwann hatte sie die schmerzliche Entdeckung gemacht, dass sie nicht die einzige Frau war, die er mit teuren Geschenken überhäufte und mit der er schlief.

Dies ist etwas ganz anderes, rief sie sich in Erinnerung. Sie war kein heißer Feger und sie würde sich nicht noch einmal der Illusion hingeben, es zu sein. Wie also sollte irgendjemand glauben, sie hätte Bryans Aufmerksamkeit erregt? Er war unglaublich attraktiv und sexy und konnte jede haben.

Offenbar kannte er die Hilton-Schwestern. In seinem angesagten Restaurant trafen sich die Promis. Vielleicht schlief er sogar mit den schönen Frauen. Wie sollte sie mit denen konkurrieren?

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Bryan mit zwei großen weißen Tüten zurückkam. Ein köstlicher Duft stieg ihr in die Nase, und ihr Magen knurrte. „Was ist das?“

„Chinapfanne mit Gemüse, Shrimps und einer Sauce bordelaise. Das Gericht ist nicht zu scharf, und Sie können alles weglassen, was Sie nicht mögen.“

„Chinapfanne mit einer französischen Soße?“

„Richtig. Das macht das Une Nuit so einzigartig – die Kombination aus französischer und asiatischer Küche.“

Er musterte sie kurz von oben bis unten. Sie trug sein Pyjamaoberteil und kaum etwas darunter. Es bedeckte alle wichtigen Körperteile und reichte ihr fast bis an die Knie, deshalb hatte sie angesichts der sommerlichen Temperaturen auf die Pyjamahose verzichtet. Jetzt wünschte sie, sie hätte es nicht getan.

„Schöner Anblick“, sagte er und zwinkerte ihr zu, dann packte er die Tüten aus, gab eine große Portion auf jeden Teller und bemerkte nicht einmal, dass sie rot geworden war.

Mann, werd endlich erwachsen, schalt sie sich. Er hatte garantiert schon zig Frauen mit weniger als einem unförmigen Pyjamaoberteil bekleidet gesehen.

„Mögen Sie Wein?“ Er nahm eine Flasche Weißwein aus einem Weintemperierschrank, der so groß wie ein Kühlschrank war.

„Ich … ja, ich mag Wein.“ Sie war drauf und dran gewesen zu sagen, dass sie keinen Alkohol trank. Alkohol gehörte zu den Dingen, die sie aufgegeben hatte, als sie die Entscheidung traf, ihr Leben zu ändern und endlich erwachsen zu werden, doch nach einem Tag wie diesem war ein Glas Chardonnay zu verlockend.

Bryan füllte zwei Kristallgläser und reichte ihr eins davon.

„Auf Ihr neues Leben als Lindsay Morgan.“ Er hielt kurz inne. „Da Sie ab jetzt meine Freundin spielen, sollten wir anstoßen und uns duzen.“

„Einverstanden.“ Sie stieß mit ihm an und trank einen Schluck. „Auf Lindsay.“ Die ganze Geschichte erschien ihr unwirklich, doch sie schwang sich auf den Barhocker und begann zu essen. „Hmm, schmeckt das lecker. Kein Wunder, dass dein Restaurant so erfolgreich ist. Ist das Konzept von dir, oder hast du es so übernommen?“

„Als ich es gekauft habe, war es ein einigermaßen einträgliches französisches Bistro. Die Idee, die französische Küche mit der asiatischen zu kombinieren, ist in einer Nacht entstanden, als der Koch und ich zu viel getrunken hatten. Dann dachte ich, warum eigentlich nicht? Wir haben experimentiert, haben nach und nach neue Gerichte auf die Karte gesetzt, und das Restaurant erfreute sich immer größerer Beliebtheit.“

„Das kann ich verstehen.“ Die feine Mischung exotischer Gewürze regte ihre Geschmacksknospen an, während die gelungene Kombination aus Farben und Aromen die anderen Sinne verwöhnte. Sie aß alles auf. Wenn Bryan ihr jeden Tag so ein Gericht vorsetzte, würde sie den Hometrainer brauchen, den sie in einem der Schlafräume gesehen hatte.

Ein Summton kündigte Scarlet an, und Bryan ging hinunter, um seiner Cousine zu helfen, die Sachen heraufzubringen.

Lucy war wegen dieses Treffens nervös, redete sich aber ein, dass es keine Rolle spielte, ob Scarlet sie mochte oder nicht. Bryan war nicht wirklich ihr Freund. Sobald die Täter überführt waren, würde sie ein neues Leben weit weg beginnen und ihn und seine Cousine vermutlich nie wiedersehen.

Die Fahrstuhltür glitt auf, und Bryan kehrte mit Taschen bepackt zurück. Ihm folgte eine der schönsten, exotischsten Frauen, die sie je gesehen hatte. Sie war fast so groß wie er, gertenschlank und hatte wunderschönes kastanienbraunes Haar, das in ungebändigten Locken um ihre Schultern und über ihren Rücken fiel. Sie trug eine durchscheinende, schulterfreie Bluse in einem knalligen Grün und dazu eine enge, farblich passende Hose. Die Farbkombination betonte ihre hellgrünen Augen – Augen, die sich auf sie richteten und denen nichts entging.

„Du bist also mein Opfer“, sagte seine Cousine fröhlich. „Hallo, Lindsay, ich bin Scarlet.“

Lucy murmelte ein paar freundliche Worte, doch innerlich zitterte sie. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Sie würde eine Lüge leben und fing in diesem Moment damit an. Was, wenn sie es nicht schaffte, die Scharade durchzuziehen? Bryan hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, wie wichtig es war, dass seine Familie nichts von seinem Doppelleben erfuhr. Sie könnte nicht mehr in den Spiegel sehen, sollte sie ihm die Tour vermasseln.

„Dann wollen wir mal schauen, was wir tun können“, sagte Scarlet.

Bryan lehnte an der Frühstückstheke und beobachtete sie. Lucy merkte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Hast du nichts zu tun?“, fragte seine Cousine ihn. „Zum Beispiel ein Restaurant zu leiten? Stash hat sich schon bei mir beschwert, weil du ihm die ganze Arbeit überlässt und nur noch durch Europa und Asien tourst.“

„Ich möchte sehen, was du mit ihr machst.“

„Nein“, widersprach Scarlet mit fester Stimme. „Geh endlich und lass dich vor Mitternacht nicht wieder blicken.“

Bryan grummelte vor sich hin, ging aber in Richtung Fahrstuhl. Plötzlich blieb er stehen und kehrte zu ihr zurück. Lucy schluckte.

„Amüsier dich. Wir sehen uns später“, sagte er und berührte ihre Wange, drehte zärtlich ihr Gesicht zu sich und küsste sie leicht auf den Mund.

Das Ganze dauerte vielleicht eine halbe Sekunde, doch sie war von den Zehen bis in die Haarspitzen elektrisiert und musste sich am Barhocker festhalten, um nicht umzukippen.

Es war eindeutig, sie hatte ein Problem. Natürlich wusste sie, dass alles nur gespielt war, dass Bryan seit Jahren als verdeckter Ermittler arbeitete und es für ihn einfach war, so zu tun, als wäre sie seine Freundin; für sie aber war das alles neu. Und der Kuss hatte sich verdammt real angefühlt.

Scarlet merkte offensichtlich nicht, dass ihre Gefühle gerade Achterbahn fuhren.

„Du hast tolle Haare“, sagte sie. „Kräftig und gesund. Mit ihnen kann man alles machen. Ich vermute, du willst die Länge behalten, wir könnten es etwas stufiger …“

„Ich will sie kurz haben. Eine völlig neue Frisur. Und blond.“

„Du denkst an Strähnchen?“

„Nein. Ich möchte richtig blond sein.“

Scarlet grinste. „Ich freue mich, dass du das sagst. Ich war darauf vorbereitet, vorsichtig zu sein, aber wenn du mir vertraust, wenn du mich machen lässt, dann kannst du für ein Charisma-Titelbild posieren, sobald ich fertig bin.“

Lucy lachte verlegen. „Nun, das glaube ich nicht.“

„Warum nicht? Du hast eine ausgezeichnete Figur, ebenmäßige Gesichtszüge, schöne Zähne. Die Brille muss allerdings weg.“

„Kontaktlinsen“, sagte sie und erinnerte sich an Bryans Anweisung. „Ich möchte gern grüne Augen haben, strahlend grün, aber ich fürchte, an meiner Figur kannst du nicht viel ändern.“

„He, die meisten Models haben weniger Oberweite als du. Du wirst überrascht sein, was man mit den richtigen Dessous erreichen kann. Hilf mir bitte, alles ins Schlafzimmer zu bringen, damit wir anfangen können.“

„Ich bin …“ Beinah hätte sie es schon in den ersten fünf Minuten vermasselt, indem sie Scarlett darauf hinwies, dass sie im Gästezimmer untergebracht war. „Ich bin froh, dass du so viel Kleidung mitgebracht hast“, rettete sie sich schnell.

„Was ist mit deinen Sachen passiert?“, wollte Scarlet wissen. „Keine Angst, mich kann nichts erschüttern. Meine Zwillingsschwester heiratet einen Rockstar.“

„Wirklich? Wen?“ Bitte, lieber Gott, lass es niemanden sein, den ich kenne, betete sie. Nicht jemanden von In Tight.

„Zeke Woodlow.“

Lucy war unendlich erleichtert – bis sie eins und eins zusammenzählte. Sie hatte über Zekes Verlobung in The Buzz gelesen. „Deine Schwester ist Summer Elliott. Du gehörst zu den Elliotts, die diese Magazine besitzen.“ Eine der reichsten Familien an der Ostküste.

Scarlet machte ein verdutztes Gesicht. „Das wusstest du nicht?“

Vielleicht sollte sie einfach den Mund halten. „Mir war nicht klar, dass Bryan zu diesen Elliotts gehört. Ich bin offensichtlich etwas schwer von Begriff und kapiere es erst jetzt. Wir sind noch nicht lange zusammen“, fügte sie in der Hoffnung hinzu, so ihre Ahnungslosigkeit zu erklären. „Und was m...

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