Julia Extra Band 560

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ZURÜCK IM PALAZZO DES GLÜCKS von ROSIE MAXWELL

Niemals verzeiht der stolze Venezianer Domenico Ricci seiner Noch-Ehefrau Rae, dass sie ihn kurz nach der Hochzeit verlassen hat! Aber um sein Erbe nicht zu gefährden, muss er jetzt gegen seinen Willen wieder mit ihr in seinem Palazzo wohnen. Eine gefährlich sinnliche Versuchung …

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  • Erscheinungstag 05.11.2024
  • Bandnummer 560
  • ISBN / Artikelnummer 0820240560
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Rosie Maxwell

1. KAPITEL

Domenico Ricci litt Schmerzen. Sein ganzer Körper war davon erfüllt, ein Gefühl, als bestünden seine Knochen aus Blei. Selbst das Atmen kostete ihn Mühe und rief ein Brennen in seiner Brust hervor.

Trauer, dachte er. Er hatte immer geglaubt, Leute, die erzählten, welchen Effekt der Verlust auf sie hatte, wären einfach nur zu schwach, sich der Realität zu stellen. Immerhin war der Tod unvermeidlich, eine unleugbare Tatsache. Es war deutlich besser, die Errungenschaften einer Person zu würdigen, statt sich dem Jammer und der Weinerlichkeit hinzugeben.

Doch diesmal war es seine Tante Elena, die gestorben war, und Domenico spürte nichts als Schmerz. Er stand am Fenster seines Arbeitszimmers im Palazzo Ricci, aber selbst der Ausblick auf seine geliebte Heimat Venedig, in der er seit seiner skandalumwitterten Geburt lebte, schenkte ihm heute keinen Trost.

Trotz Elenas hohen Alters war er auf ihren Tod nicht vorbereitet gewesen. Der Verlust des einzigen Menschen, der ihn niemals zurückgewiesen, ihn sein Leben lang unterstützt und ermutigt hatte, war kaum zu ertragen. Elena hatte ihm ein Zuhause und elterliche Zuneigung geschenkt, während diejenigen, deren Aufgabe das eigentlich gewesen wäre, ihm beides verweigert hatten.

Und nun war sie nicht mehr da.

Genau wie alle anderen Menschen in seinem Leben hatte auch Elena ihn schließlich verlassen.

Unwillkürlich presste er die Lippen zusammen, als er an die vielen Zurückweisungen dachte, die er über die Jahre erfahren hatte.

Sie begannen mit seinen Eltern und Großeltern und endeten mit seiner Ehefrau Rae.

Rae.

Bei dem Gedanken an sie spannte sich sein ganzer Körper an. Ihr herzförmiges Gesicht, ihr üppiges kastanienbraunes Haar, ihre wunderschönen blauen Augen, die in die Tiefe seiner Seele blickten.

Domenico hob das Glas, das er zwischen den Fingern hielt, an die Lippen, und nahm einen tiefen Schluck Whisky. Von allen Narben, die andere Menschen auf seiner Seele hinterlassen hatten, ging diese am tiefsten.

Weil er Rae gewählt hatte.

Er hatte in seinem Leben Raum für sie geschaffen, ihr einen Ring an den Finger gesteckt und einen Schwur abgelegt.

Und sie hatte ihn einfach verlassen.

Der Schmerz ging deutlich tiefer als alles, was er von seinen Blutsverwandten hatte ertragen müssen.

Was es umso bitterer machte, war, dass er sich in diesem Moment tiefer Trauer nach ihrer tröstenden Berührung sehnte. Dass er im Moment nur eine einzige Person in diesem Palazzo sehen wollte: Rae. Aber sie als Einzige war nicht gekommen, um der Toten ihren Respekt zu erweisen.

Wieder hob Domenico das Glas an die Lippen. Er war ein Dummkopf. Natürlich war sie nicht gekommen. Sie hatte ihn verlassen, ihn zurückgewiesen. Sie hatte nicht einmal den Mut besessen, ihm zu erzählen, was sie so unglücklich machte. Hatte ihm keine Chance gegeben, das Problem zu lösen. Stattdessen war sie einfach eines Tages gegangen und hatte ihm nicht mehr als einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, sie müsse sich von ihm trennen.

Rae war der letzte Mensch, dem er in seinen Gedanken Raum geben sollte. Die allerletzte Frau, nach deren Berührung und Trost er sich sehnen sollte. Es gab genügend andere, die sehr wohl zu schätzen wussten, was er im Bett geben konnte. Und das war alles, was er anzubieten hatte: eine Nacht, eine einzige flüchtige Begegnung.

Niemals wieder würde er eine Frau näher an sich heranlassen.

Die Dielen draußen auf dem Flur ließen ihn mit ihrem Knarzen wissen, dass jemand vor seinem Arbeitszimmer stand. Kurz darauf erklang das leise Quietschen, als jemand behutsam die Tür öffnete. Domenico blieb still. Diejenigen, die ihn kannten, wussten es besser, als ihn zu stören. Das hieß, es musste ein Fremder sein. Irgendein flüchtiger Bekannter, ein neugieriger Trauergast.

Aber dann auf einmal sträubten sich ihm die Nackenhaare. Ein schwacher Duft stieg ihm in die Nase.

Und sein verräterisches Herz setzte einen Schlag aus.

Rae.

„Domenico?“ Seinen Namen auszusprechen, fühlte sich sonderbar an, nachdem sie ihn so lange nicht gesagt hatte.

Rae sah nur seinen Rücken. Er stand am Fenster, schaute hinaus auf die zeitlose Eleganz der Stadt mit ihren Palazzi und Kanälen. Seine Schultern waren so breit, dass es immer ein bisschen den Eindruck machte, als würden die maßgeschneiderten Jacketts und Hemden gleich platzen. Ihr Hals war auf einmal trocken, und sie hatte Schmetterlinge im Bauch.

Nicht, dass sie gedacht hatte, aus dem Adonis wäre in den Monaten ihrer Abwesenheit ein buckliger Gnom geworden. Aber ein bisschen hatte sie doch gehofft, dass der Effekt, den er schon immer auf sie gehabt hatte, nachgelassen hätte. Sein Anblick belehrte sie prompt eines Besseren.

„Also bist du tatsächlich gekommen. Nur leider zu spät“, sagte er. Die sichtbare Anspannung ließ seinen Körper noch größer, noch beeindruckender wirken. Rae konnte sehen, wie sich seine Muskeln bewegten – Muskeln, die sie so gern mit den Händen erkundet hatte –, und ohne jede Vorwarnung erfüllte sie eine Welle hilfloser, brennender Sehnsucht.

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Ihre Stimme schwankte, während sie gegen den Drang ankämpfte, Domenico zu berühren. „Irgendein arktisches Tief hat dafür gesorgt, dass alle Flüge ausgefallen sind. Ich habe den ersten Flieger genommen, in dem ein Platz frei war.“ Sie verhaspelte sich beinahe bei ihrem Versuch, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie hätte Elenas Tod nicht für wichtig befunden.

„Es überrascht mich, dass du dir solche Mühe gegeben hast.“

„Ich wollte herkommen“, antwortete sie sofort. „Um Elena Lebewohl zu sagen und ihr meinen Respekt zu erweisen. Sie war eine wunderbare Frau.“ Allerdings empfand sie ein starkes Schuldgefühl, weil sie Elena so lange nicht gesehen und mit ihr gesprochen hatte. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie krank war …“

Domenico wirbelte herum. Sein Gesicht lag im Schatten, aber sie sah den Ärger darin. „Und woher hättest du es auch wissen sollen, angesichts der Tatsache, dass du diese Familie einfach verlassen hast?“

„Bitte, Domenico.“ Das Ausmaß seines Zorns zwang Rae beinahe in die Knie. Aber sie wusste, sie hatte ihn verdient. „Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu streiten.“

„Warum bist du dann hier?“, fragte er ungehalten. Der Ärger ließ seine Gesichtszüge noch strenger wirken.

Rae versuchte, gelassen zu bleiben, was angesichts seiner Ausstrahlung schierer männlicher Stärke nicht ganz einfach war. Mit seinen fast eins fünfundneunzig, seinen starken Armen, dem breiten Brustkorb, dem markanten Kiefer, der aristokratischen Nase und den dunkelbraunen Augen unter dicken, ausdrucksstarken Brauen hatte Domenico die körperliche Präsenz eines Anführers. Zu anderen Zeiten wäre er ein Krieger gewesen, ein Feldherr. Schon beim ersten Mal, als Rae ihm begegnet war, hatte sie gedacht, dass die maßgeschneiderten Anzüge und seidenen Krawatten nicht zu ihm passten. „Ich habe dir gesagt, warum ich hier bin“, antwortete sie auf seine Frage. „Um mich von Elena zu verabschieden und dir mein Beileid auszusprechen.“

Das klang wie eine leere Floskel. In Wirklichkeit schmerzte der Verlust sie um seinetwillen zutiefst. Deshalb war sie nach Venedig zurückgekehrt.

Als sie von Elenas Tod erfahren hatte, galt ihr erster Gedanke Domenico. Sie hatte das Bedürfnis gehabt, möglichst schnell herzukommen. Aber jetzt, da sie hier war, reichte das nicht. Die wenigen Meter zwischen ihnen hätten auch tausend Kilometer sein können. Und derselbe Instinkt, der sie dazu gebracht hatte, in den Palazzo Ricci zurückzukehren, forderte nun von ihr, den Abstand zu überbrücken und Domenico in die Arme zu schließen.

Das ließ eine Alarmglocke in ihrem Kopf schrillen. Verfiel sie schon wieder in die alten Verhaltensmuster, die sie so unglücklich gemacht hatten? Sicher, es war ein besonderer Moment. Wahrscheinlich konnte sie dafür eine Ausnahme machen. Aber sie musste sich trotzdem fragen, ob ein Rückfall drohte. Das war ein beunruhigender Gedanke.

„Also schön, das hast du jetzt“, sagte er. Er musterte sie von oben bis unten. So gnadenlos sein Gesichtsausdruck auch war, sein Blick verursachte ihr trotzdem eine Gänsehaut. „Du kannst gehen, wann immer du willst. Ich würde dich ja zur Tür begleiten, aber ich bin sicher, du weißt noch, wo sie ist.“

Mit einem letzten vernichtenden Blick drehte er sich um und schaute wieder aus dem Fenster.

Hitze stieg Rae in die Wangen. Sie hatte immer gewusst, wie kalt und scharfzüngig Domenico sein konnte. Die Führung eines internationalen Konzerns mit Tausenden von Mitarbeitern verlangte das manchmal von ihm. Aber sie wusste auch, dass er sich nicht gern so verhielt, und bisher war sie niemals in den fragwürdigen Genuss seiner vollen Missbilligung gekommen.

Aber natürlich war er wütend. Sie hatte ihn verlassen, ihn gedemütigt. Wahrscheinlich hätte er sie am liebsten niemals wiedergesehen. Was sich auch daran zeigte, dass er ihr nicht gefolgt war und versucht hatte, sie zu einer Rückkehr zu überreden.

Und doch war sie jetzt hier.

Vielleicht sollte sie tun, was er sagte, und einfach gehen. Eindeutig wollte Domenico sie hier nicht. Entfremdete Ehefrauen hatten bei familiären Anlässen ohnehin keinen Platz. Das Personal im Palazzo würde sich um ihn kümmern. Und bestimmt hatte er … Freundinnen, die seine emotionalen Bedürfnisse erfüllen würden, wenn er das wollte.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger Gründe gab es für sie, hier zu sein. Es war dumm gewesen, überhaupt herzukommen.

Rae hatte den ersten Schritt zurück in Richtung Tür gemacht, als ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie sich schon wieder von Domenico einschüchtern ließ. Sie reagierte, wie sie es immer getan hatte: indem sie sich verschloss und zurückwich.

Diesmal nicht.

Grimmig erinnerte sie sich selbst an das Versprechen, das sie sich gegeben hatte. Nie wieder würde sie schweigen.

Sie war nach Venedig zurückgekehrt, weil sie sich Sorgen um Domenico gemacht hatte. Sorgen, Elenas Tod würde ihn so tief treffen, dass er damit nicht umgehen könnte. Sorgen, er würde niemanden an sich heranlassen. Aus eigener Erfahrung wusste Rae, dass das Bemühen, Domenico dazu zu bringen, sich zu öffnen, ein bisschen so war, als versuche man, Kontinentalplatten zu verschieben. Nichts, was sie bisher gesehen hatte, linderte ihre Sorgen. Also würde sie erst gehen, wenn sie getan hatte, wozu sie hergekommen war.

Sie seufzte leise, drehte sich wieder um und trat einen Schritt näher. „Du möchtest, dass ich gehe, und das werde ich auch. Aber zuerst möchte ich sicherstellen, dass es dir gut geht. Deswegen bin ich eigentlich hergekommen“, gab Rae zu. „Nicht nur, um dir mein Beileid auszudrücken. Sondern um zu sehen, wie es dir geht.“

Er stieß ein verächtliches Lachen aus. Eins, das fragte, warum sie das überhaupt kümmerte, nachdem sie ihn doch verlassen hatte? Und es war eine berechtigte Frage, nahm sie an. Aber ein Mangel an Zuneigung zu ihm war in ihrer Ehe nie das Problem gewesen.

„Mir geht es gut.“

Rae unterdrückte den Drang, zu schreien. Warum musste er immer so stur sein? „Wirklich, Domenico? Der wievielte Drink heute Nachmittag ist das?“ Sie deutete auf das Whiskyglas, das er in seiner Hand hielt. „Hast du irgendwas gegessen? Genug geschlafen?“

„Wo oder wie ich schlafe, geht dich nichts mehr an, Rae!“, schleuderte er ihr entgegen.

Seine Worte trafen ihr Ziel.

„Nein, das tut es nicht“, sagte Rae und bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, dass er mit einer anderen Frau schlief. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. „Aber ich weiß, wie schwer es ist, so einen Verlust zu verkraften. Der Tag will nicht vorübergehen. Man möchte nur noch vergessen. Doch wenn man dann im Bett liegt, kann man nicht einschlafen. Ich weiß, wie schwer es einem fällt, ganz normale Dinge zu tun. Essen. Sich bewegen.“ Domenico drehte den Kopf und starrte sie an, als wäre sie eine Hexe, die Gedanken lesen konnte. „Ich habe es selbst durchgemacht“, erinnerte sie ihn. „Zweimal. Oder hast du das vergessen?“

Beide Eltern zu verlieren, und das kurz nacheinander, war die schlimmste Erfahrung ihres Lebens gewesen. Sie wusste gar nicht, wie es ihr gelungen war, das zu überstehen. Sie hielt sich nicht für eine besonders starke Frau. Und im Moment fühlte sie sich schon gar nicht stark. Nicht in Gegenwart von Domenico, dieser Naturgewalt.

Die Alarmglocken läuteten erneut.

„Nein.“ Domenico stellte sein Glas ab.

Im Licht der einzigen brennenden Lampe konnte Rae sehen, wie sehr ihn Elenas Tod gezeichnet hatte. Linien hatten sich tief in sein Gesicht gegraben. Unter seinen Augen lagen Ringe. Sie hatte ihn noch nie in so einem Zustand gesehen. Einmal mehr verspürte sie den Drang, zu ihm zu gehen und ihn irgendwie zu trösten.

„Ich habe es nicht vergessen“, sagte er. „Jemanden, der einem nahesteht, zu verlieren, ist furchtbar.“ Etwas flackerte in seinen Augen, als er sich ihr zuwandte, sich gegen den ausladenden Schreibtisch lehnte. „Weißt du, ich habe gedacht, gerade weil du wüsstest, wie so etwas ist, würdest du Beziehungen nicht einfach so wegwerfen. Aber da habe ich wohl falschgelegen.Du bist nicht der Mensch, für den ich dich gehalten habe.“

„Du bist nicht der Einzige, der sich verschätzt hat.“ Auch er war nicht der Mann, für den sie ihn gehalten hatte.

Seine Verärgerung war offensichtlich. „Was für eine Fehleinschätzung? Ich habe dir alles gegeben!“

Dem konnte und würde Rae nicht widersprechen. Domenico war großzügig gewesen. Jedenfalls im materiellen Sinn. Aber der Preis dafür war zu hoch gewesen.

Immer an seiner Seite zu sein. Ihr eigenes Leben aufzugeben. Ihn und seine Bedürfnisse an erste Stelle zu setzen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.

Es war gar nicht so schwierig gewesen, sich auf ihn einzulassen, ihm das Leben ein bisschen leichter zu machen, während er eine solche Verantwortung schulterte. Ihn glücklich zu machen, machte auch sie glücklich. Und was Domenico glücklich machte, war, sie die ganze Zeit bei sich zu wissen.

Aber dann, eines Tages, hatte Rae begriffen, dass sie nichts Eigenes hatte. Keine Arbeit. Keine Freunde. Keine Hobbys. Kein Leben. Nichts, das ihr Halt geben würde, wenn sie ihn jemals verlor, wenn die Beziehung jemals in die Brüche ging.

Es war ihr größter Albtraum.

Denn sie wusste genau, wie dieses Szenario endete. Sie hatte es aus nächster Nähe miterlebt. Und nichts dagegen tun können.

Der Gedanke, wieder in so eine Situation zu geraten, erschreckte sie. Und mit einem Ehemann, der nicht willens war, ihr zu helfen, das Leben außer mit ihm noch mit anderen Dingen zu füllen, hatte Rae immer das Gefühl gehabt, dass genau dieses Schicksal auf sie wartete.

Aber hinter ihrer Rückkehr steckte nicht die Absicht, das Scheitern ihrer Ehe zu ergründen. Ganz sicher würde sie das nicht am Tag von Elenas Beerdigung tun, während ein Haus voller Trauergäste zuhörte. „Ich denke, was das angeht, sind wir wohl unterschiedlicher Meinung“, sagte sie.

Domenico antwortete nicht, sondern warf ihr lediglich einen Blick zu, in dem sich Wut und Verachtung mischten.

Aber es lauerte noch etwas anderes dahinter, etwas, das sie mit einem Hauch von Aufregung erfüllte. Viel zu gefährlich, um seine Existenz anzuerkennen.

Rae trat einen Schritt zurück. Sie holte tief Atem. „Unten sitzen immer noch viele Leute. Du solltest bei ihnen sein, nicht allein hier oben.“

Erst machte es den Eindruck, als wollte Domenico schweigen, doch dann atmete er geräuschvoll aus. „Ich bin lieber hier oben. Unten wollen mir alle nur erzählen, wie wundervoll Elena war. Und ich bin im Moment einfach zu wütend auf sie, um ihre Großartigkeit zu preisen.“

Diese Enthüllung erfüllte Rae um seinetwillen mit Schmerz. „Domenico …“, sagte sie leise.

Seine Beziehung zu Eleanor war ihm sehr wichtig gewesen. Als sie selbst die ältere Frau das erste Mal getroffen hatte, hatte sie sofort begriffen, warum. Elena hatte einen scharfen Verstand, ein großzügiges Herz, einen inspirierenden Geist. Und sie war die einzige Konstante in Domenicos Leben, die einzige Verwandte, die sich etwas aus ihm machte. Sie hatte ihn großgezogen, weil seine biologische Mutter es nicht gekonnt hatte – oder nicht gewollt, Rae wusste es nicht mit Sicherheit. Wann immer sie versucht hatte, mehr über seine Familie herauszufinden, hatte Domenico das unterbunden.

Genau wie jede Diskussion über seine Gefühle oder sein Leben. Von dem Moment an, als sie sich begegnet waren, hatte Rae gespürt, dass seine Vergangenheit ihn belastete. Aber während er keine Probleme damit gehabt hatte, sie körperlich nahe an sich heranzulassen, hatte er Sex gleichzeitig als Mittel benutzt, sie emotional auf Abstand zu halten. Ihre Fragen zum Verstummen zu bringen.

Anfangs hatte Rae gedacht, vielleicht würden die schmerzlichen Erfahrungen, die sie beide hatten machen müssen, ein Band zwischen ihnen entstehen lassen. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie sich stattdessen als unüberwindliche Mauer zwischen ihnen auftürmen würden. Eine Mauer, die Domenico nicht abbauen wollte. Seine Weigerung, sich ihr zu öffnen, hatte sie tief verletzt. Wie konnte sie mit jemandem zusammenleben, der nicht wollte, dass sie ihn richtig kennenlernte? Wie konnte sie ihr ganzes Leben und Selbst einem Mann schenken, der sie nicht in sein Herz blicken ließ?

Aber gerade in diesem Moment war sein Schmerz deutlich zu sehen, und Rae konnte sich nicht länger daran hindern, auf ihn zuzugehen. Es war ganz natürlich, die Hand nach ihm auszustrecken, den Wunsch zu haben, die Arme um seinen Nacken zu legen, Domenico festzuhalten. Ihn wissen zu lassen, dass er nicht allein war. Berührung war immer der beste Weg gewesen, Domenico zu erreichen, ihm die Bürde zu erleichtern. Ihn zu ermutigen, mit ihr zu sprechen. Und Rae konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sich in seiner Trauer in sich zurückzog.

Sie wusste noch, wie wütend sie unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters gewesen war. Es war unfair, dass er so früh hatte sterben müssen, gerade ihr Vater. Warum mussten sie und ihre Schwestern ohne ihn weiterleben? Sie war sich sicher, dass Domenico ähnlich empfand. Seine Stärke und Größe ließen ihn so oft unberührbar wirken, aber in Wirklichkeit fühlte er alles sehr tief.

Die Kälte in seinen Augen brachte sie dazu, die Hand schnell wieder zurückzuziehen.

„Was tust du?“, sagte er angewidert.

„Ich …“

„Ist das der Grund, warum du hier bist?“ Er schaute ihr ins Gesicht, als stünden die Antworten dort geschrieben. „Hast du gehofft, es wäre die richtige Gelegenheit, mich zu ‚trösten‘, damit ich dir verzeihe und dich wieder in meine Arme schließe?“ Rae war zu verblüfft, um ihm zu widersprechen. „Selbst in meiner Trauer bin ich nicht so dumm, zu vergessen, wie wenig dir an mir liegt. Das hast du ja ganz deutlich gemacht. Ich schlage vor, du drehst dich um und verschwindest wieder. Und bleibst diesmal verschwunden.“ Mit steinerner Miene deutete er auf die Tür.

Rae hatte immer gewusst, dass Domenico wütend auf sie sein würde. Er war es nicht gewohnt, dass andere Entscheidungen trafen, ohne ihn zu konsultieren. Aber sie hatte gehofft, er würde mit der Zeit einsehen, dass sie recht gehabt hatte und ihre Entscheidung, ihn zu verlassen, notwendig gewesen war – weil ihre Vorstellungen von einer Zukunft einfach zu weit auseinanderklafften.

Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass seine Wut so lange anhalten würde.

Sie hatte ihm niemals wehtun wollen. Aber sie hatte die Notbremse ziehen müssen. Die Probleme ihm gegenüber anzusprechen, hatte zuvor nie etwas gebracht, und sie hatte keinen Anlass gehabt, zu glauben, dass sich das ändern würde. Am Ende war es einfacher gewesen, zu gehen.

Und wie er so vor ihr stand, unbeugsam und stur, hatte sie auch nicht den Eindruck, dass sie mit dieser Einschätzung falschgelegenhatte.

Trotzdem fühlte sich ihre Kehle wie zugeschnürt an, als sie sich langsam umdrehte und zur Tür ging.

„Um ehrlich zu sein, wäre es eine gute Idee, wenn Rae bleiben würde.“

Überrascht hob Rae den Kopf. Elenas Anwältin Alessandra Donati, eine alte Freundin der Familie, stand in der Tür und betrachtete sie beide.

„Che cosa? Perché?“, fragte Domenico hitzig, stemmte die Hände in die Hüften und musterte Alessandra mit einem Blick, als wollte er sie erdolchen.

Alessandra ließ sich nicht einschüchtern. „Ich denke, Rae sollte bleiben, bis morgen das Testament verlesen wird. Immerhin gehört sie zur Familie. Elena hätte sie sicher gern dabei.“

Rae versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ausgerechnet Alessandra sprach zu ihrer Verteidigung? Damals hatte sie nie erkennen lassen, dass sie Rae mochte.

Domenico fluchte auf Italienisch und schien sich nur mit Mühe zu beherrschen. „Willst du mir allen Ernstes erzählen, dass meine Tante Rae in ihrem Testament bedacht hat?“ Seine Miene drückte schieren Unglauben aus.

„Ich erzählte dir nichts dergleichen“, sagte Alessa ruhig. „Elenas Letzter Wille wird morgen verlesen. Alle erfahren gleichzeitig, was sie verfügt hat. Aber da Rae schon einmal hier ist, sollte sie ruhig bleiben.“

Alessandra und Domenico schauten sich an, eine Art stummer Austausch. Rae empfand eine Spur von Neid und wünschte sich, ihre Kommunikation mit Domenico würde ähnlich gut funktionieren.

Domenico schien sich von seiner Verblüffung zu erholen. „Von mir aus.“ Er hob die Hände. „Sie kann bleiben.“

„Ich weiß nicht …“, begann Rae, aber bei Domenicos finsterem Blick verstummte sie. Stattdessen sah sie zu Alessandra. „Wann wird das Testament verlesen?“

„Um zehn Uhr. Hier im Palazzo.“

Sie nickte. Die Aussicht, in so einem heiklen Moment Zaungast zu spielen, missfiel ihr. „Dann komme ich morgen wieder her.“

Alessandra nickte, lächelte sie an und ging wieder. Rae fand, es war an der Zeit, dasselbe zu tun. Die Begegnung mit Domenico hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie wünschte sich nichts mehr als einen Moment für sich, eine heiße Dusche und ein weiches Bett.

„Wo willst du hin?“, fragte Domenico, als sie auf die Tür zuging.

„In mein Hotel.“

„Auf keinen Fall! Du bleibst hier.“

Raes Herz schlug schneller bei dem Gedanken, hier im Palazzo zu übernachten, wo jeder Winkel Erinnerungen wachrief. Als sie vorhin durch die Eingangstür hereingekommen war, hatte sie daran denken müssen, wie Domenico sie über die Schwelle getragen hatte, und hätte beinahe geweint. „Das ist nicht nötig. Ich habe ein …“

Domenicos Gesicht verfinsterte sich. „Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Rae, nicht heute. Ich vertraue dir kein bisschen. Also bleibst du hier, wo ich dich im Auge behalten kann.“

„‚Mich im Auge behalten‘?“ Sie konnte ihren Unglauben nicht verbergen. „Was denkst du, was ich anstellen könnte?“

„Ich werde nicht so tun, als hätte ich irgendeine Ahnung, was in dir vorgeht“, schoss er zurück, ein weiterer Schlag unter die Gürtellinie.

Er war der einzige Mensch, dem Rae je erlaubt hatte, sie wirklich kennenzulernen. Aber nun begriff sie, dass er sie trotzdem nicht kannte. Bei dem Versuch, die Frau seiner Träume zu sein, hatte sie Teile von sich verloren. Und doch blieb er der einzige Mensch, den sie seit dem Tod ihrer Eltern nahe an sich herangelassen hatte.

„Bis ich weiß, welche Rolle du in Elenas Testament spielst, will ich dich dort haben, wo ich dich sehen kann“, fuhr Domenico fort. „Portia wird ein Gästezimmer für dich herrichten.“

Es überraschte Rae nicht, dass Domenico wie üblich die Kontrolle übernahm und sie und ihre Wünsche ignorierte. Sie wollte schon den Mund öffnen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Aber auf einmal merkte sie, dass sie schlicht zu erschöpft zum Streiten war. Sie nickte und ließ Domenico seinen Willen.

Wenn sie erst einmal ausgeschlafen war und sich mehr wie sie selbst fühlte, würde sie sich ihm gegenüber besser behaupten können.

Sie hatte sich verändert. Die Tage, in denen sie sich ihm schweigend gefügt hatte, waren vorbei.

2. KAPITEL

Wie eine gefangene Raubkatze tigerte Domenico ruhelos durch den Palazzo. Er war innerlich zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Die Stunden, die er gerade in seinem Fitnessraum auf dem Laufband und am Boxsack verbracht hatte, hatten seinen Körper erschöpft. Aber emotional fand er einfach keine Ruhe.

Rae.

Verdammt noch mal, er hatte zu viele andere Dinge zu tun, um Gedanken an die Frau zu verschwenden, die ihn verlassen hatte.

Und doch konnte er seit dem Moment, als er sie wiedergesehen hatte, nur noch an sie denken. An ihren Körper. Daran, in ihr zu sein.

Er hatte sie packen und auf den Schreibtisch werfen wollen, in die Wärme zwischen ihren Schenkeln gleiten und sich in ihr verlieren wollen. Er hungerte nach der samtigen Hitze ihres Körpers, ihren Muskeln, die ihn umschlossen. Nach ihrer Stimme, die ihn drängte, tiefer in sie zu einzudringen.

Dabei wollte er sie nicht begehren.

Aber seine Gefühle für Rae hatte er noch nie kontrollieren können. Schon bei ihrer ersten Begegnung vor dem Flughafen nicht, als er sie ganz in Schwarz dort hatte stehen sehen, mit rötlichen Farbreflexen in ihrem kastanienbraunen Haar. Er hatte wissen wollen, wer sie war. Hatte sie in seinem Bett gewollt, unter ihm, über ihm und auf hundert andere Arten. Das heftige Verlangen hatte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf vertrieben. Wie vom Donner gerührt war er stehen geblieben.

Und das Verlangen hatte nicht nachgelassen, wie das normalerweise geschah, in den flüchtigen Beziehungen, die er sonst hatte. Aus der anfänglichen Hitze war eine unstillbare Sehnsucht geworden.

Und das Bedürfnis, Rae in der Nähe zu wissen. Er brauchte sie. Ihr Lächeln, das Funkeln ihrer blauen Augen. Ihre Wärme, ihren Körper. Immer in Reichweite. Den ganzen Tag, jeden Tag.

Keine seiner früheren Beziehungen hatte so ein Bedürfnis in ihm geweckt. Aber keine dieser Frauen hatte ihm gegeben, was Rae ihm schenkte – ihr Herz, ihre Hingabe, ihre Wärme und Liebe. Sie sprach die Worte zwar nicht aus, aber Domenico wusste, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Er erkannte es an der Art, wie ihr Blick ihm folgte, wie sie jede Gelegenheit nutzte, ihn zu berühren, und sich nachts in seine Arme schmiegte.

Als ihre Affäre vorüber war und Rae nach Hause zurückflog, versank Domenico in Melancholie. Er vermisste sie, so sehr, dass er am Ende nachgab und in ein Flugzeug nach London stieg. Vor der Boutique für Brautkleider, in der sie arbeitete, fing er sie ab. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihn sah, und warf sich in seine Arme. In diesem Moment spürte Domenico, wie sich etwas in ihm veränderte. Er begriff, sein Leben wäre besser, wenn Rae ein Teil davon wäre. Vorsichtig stellte er sie auf die Füße, schaute sie an und sagte: „Heirate mich.“

Ihre Antwort kam sofort, ohne eine Sekunde des Zögerns. „Ja.“

Vier Wochen später heirateten sie in Venedig. Domenico wollte nicht länger warten, sondern es offiziell machen, Fakten schaffen. Wollte dieses neue Leben mit einer Frau, die ihn liebte und immer an seiner Seite war.

Gefangen in der Erinnerung fluchte Domenico leise. Er hasste sich für seine eigene Schwäche. Hatte er wirklich geglaubt, Rae würde ihn aufrichtig lieben, auf eine Weise, wie es nie zuvor jemand getan hatte? Jetzt kam ihm das lächerlich vor. Wie schwach er gewesen war … Aber es hatte sich so gut angefühlt, dass sie ihn wollte. Dass sie Anspruch auf ihn erhob. Seine Mutter hatte ihn nicht gewollt; Elena hatte ihn nie offiziell adoptiert. Seine Ehe hatte ihm etwas gegeben, das er nie zuvor gehabt hatte – Bestätigung und ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Aber dann hatte Rae ihm das wieder entrissen. Und das war schlimmer, als wenn er nie gewusst hätte, wie es sich anfühlte.

Nie wieder würde er sich einem anderen Menschen so ausliefern. Nie wieder würde er jemandem vertrauen. Trost fand er ausschließlich darin, dass ihm durch Raes Verrat bewusst geworden war, wie verwundbar und schwach er war.

Es war den Schmerz beinahe wert.

Den Schmerz, den er empfunden hatte, als er heimgekommen war und festgestellt hatte, dass sie einfach gegangen war. Dass sie ihn nicht mehr liebte. Ihn zurückwies …

Abrupt blieb Domenico stehen. Erst in diesem Moment begriff er, dass er, verloren in seinen Erinnerungen, vor Elenas Tür im obersten Stockwerk angekommen war. Trotz seiner Bitten, in eins der unteren Stockwerke zu ziehen, damit sie nicht mehr so viele Treppen steigen musste, hatte sie sich immer geweigert. In diesen Zimmern hatte sie gelebt, seit sie als frisch verheiratete junge Frau in den Palazzo gezogen war.

Domenico wollte sich gerade abwenden, als ihm auffiel, dass die Tür einen Spaltweit offen stand und Licht nach draußen auf den Flur fiel.

Er kniff die Augen zusammen und streckte die Hand nach der Klinke aus, aber in diesem Moment wurde die Tür von innen aufgezogen und Rae kam heraus.

Als sie ihn sah, blieb sie wie erstarrt stehen.

Domenico unterdrückte ein Knurren. Gab es vor ihr denn gar kein Entkommen?

„Es tut mir leid“, sagte sie und starrte ihn aus großen Augen an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sie trug einen kurzen Pyjama und hatte ihr Haar zu demselben losen Pferdeschwanz gebunden wie vorhin.

Ihm hatte es immer besser gefallen, wenn sie es offen trug und es ihr über die Schultern fiel, sodass er mit den Händen hindurchfahren konnte. Und schon von Anfang an hatte er es genossen, ihr die Kleider förmlich vom Leib zu reißen. Ihr Anblick erregte ihn. Er konnte nicht wegsehen.

„Ich wollte nicht hier eindringen. Es ist nur … Ich konnte nicht schlafen, und ich habe an Elena gedacht. Ich wollte mich ihr nahefühlen, deshalb bin ich hochgekommen, um still Lebewohl zu sagen.“ Sie schluckte. „Aber das war eindeutig die falsche Entscheidung. Es tut mir leid. Ich gehe schon.“

Domenicos erster Instinkt war es, etwas bewusst Verletzendes zu sagen. Aber als er die Tränen sah, die in ihren Augen glänzten, erstarben ihm die Worte auf der Zunge. Er wusste, dass Rae seine Tante gemocht und respektiert hatte. In vielerlei Hinsicht hatte sie die Leere gefüllt, die der Tod von Raes Eltern hinterlassen hatte. Elena hatte ihr gern den Inhalt ihres riesigen Kleiderschranks gezeigt und Anekdoten über ihre alten Roben und die Anlässe, zu denen sie sie getragen hatte, erzählt.

Ihr plötzlicher Tod musste auch für Rae schmerzlich sein.

„Schon gut. Du kannst dich in Ruhe verabschieden. Ich weiß, dass du sie sehr gemocht hast. Meinetwegen musst du nicht davonlaufen“, sagte er und seufzte. Die plötzliche Sanftheit, die er empfand, ärgerte ihn.

„Danke.“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Hat Elena … Ich weiß nicht genau, wie sie gestorben ist. Ich würde nur gern wissen, ob sie gelitten hat.“

„Der Pathologe hat gesagt, es sei wahrscheinlich eine Hirnblutung gewesen. Schnell und beinahe sofort tödlich. Schmerzlos. Es ist ihr vermutlich nicht einmal bewusst geworden.“

„Gut. Ich bin froh. Der Gedanke, sie hätte Schmerzen gehabt …“ Wieder glitzerten Tränen in Raes Augen.

Und Domenico hatte auf einmal das Gefühl, als würde ihm der Atem aus den Lungen gepresst. Er hatte es immer gehasst, Rae weinen zu sehen. Es war wie ein Stich direkt ins Herz. Ein Instinkt tief in ihm ließ ihn die Hand ausstrecken, Raes Wange berühren und die Tränen mit dem Daumen wegwischen.

Er erschauerte, als er ihre weiche, warme Haut unter seinen Fingern spürte. Ein deutlich gefährlicheres Verlangen erwachte auf einmal in ihm, ließ ihm bewusst werden, wie lange es her war, seit er seine körperlichen Bedürfnisse gestillt hatte.

Wenn es einen Moment gab, in dem er es wirklich brauchen konnte, die Welt zu vergessen, war es dieser. Und Sex war nie besser gewesen als mit Rae …

Es war zu schwer, dagegen anzukämpfen. Domenico strich mit dem Daumen abwärts, über ihre Unterlippe. In Raes blauen Augen flammte ein Hunger auf, der sein Herz zum Pochen brachte.

Nichts zählte mehr außer seinem überwältigenden Verlangen. Er hob die andere Hand, umfasste Raes Gesicht. Mit zwei Schritten hatte er sie gegen die nächstbeste Wand gepresst.

Wie betäubt starrte sie ihn an. Er starrte zurück, auf ihre erröteten Wangen, ihr zartes Kinn, ihre leicht geöffneten Lippen.

„Domenico …“

War das eine Warnung? Ein Flehen? Er wusste es nicht, und es war ihm egal. Die Art, wie sie seinen Namen hauchte, war beinahe sein Untergang. Er musste nur ein klein bisschen näher kommen, nur eben seinen Mund senken und das überwältigende Bedürfnis stillen, sie zu schmecken … Danach sehnte er sich, seit sie gegangen war.

Domenico erstarrte, als ihm die Realität wieder mit voller Deutlichkeit zu Bewusstsein kam.

Sie hatte ihn verlassen.

Was zum Teufel tue ich hier eigentlich?

Er knurrte frustriert und zog sich von ihr zurück, brachte Abstand zwischen sie beide und versuchte, seinen unregelmäßigen Atem unter Kontrolle zu bringen. „Es ist spät. Geh besser zurück in dein Zimmer und schlaf ein bisschen. Der Tag war lang.“

Rae blinzelte. Die lustvolle Benommenheit wich aus ihrem Blick. „Ja, du hast recht. Das sollte ich tun.“ Langsam, beinahe unstet, löste sie sich von der Wand. Ihre Wangen waren immer noch leicht errötet. Sie ging auf die Treppe zu. „Gute Nacht.“

„Buona notte“, sagte er heiser, fuhr sich mit der Hand durch das Haar und befahl seinem Körper, sich im wahrsten Sinne des Wortes abzuregen.

Als der das partout nicht tun wollte, marschierte Domenico zurück in seine eigene Suite und stieg direkt unter die Dusche. Eine kalte Dusche.

Kalt genug, um das Verlangen zu löschen, das in ihm brannte.

Die Verlesung des Testaments fand in einem der Salons im Erdgeschoss statt. In der gesellschaftlichen Schicht, aus der Rae stammte, war es nicht üblich, Testamente offiziell zu verlesen. Als ihr Vater gestorben war, hatten sie zusammen um den Küchentisch gesessen. Aber die Riccis waren anders. Mit ihrem Status und Wohlstand gingen Formalitäten einher.

Um fünf vor zehn ging Rae die Treppe herunter. Sie plante, sich im Hintergrund zu halten, auf einem Sitzplatz irgendwo in der Ecke, und zu verschwinden, sobald es vorüber war. Ihr kleiner Koffer stand schon gepackt neben der Tür, sodass sie nicht mehr Zeit im Palazzo verbringen musste als notwendig.

Beinahe sofort wurden ihre Pläne über den Haufen geworfen. In dem Moment, in dem sie den Raum betrat, unterbrach Alessandra ihre Unterhaltung mit einem anderen entfernten Familienmitglied und kam direkt auf Rae zu, lächelte sie an und küsste sie auf beide Wangen. „Kommen Sie, meine Liebe“, sagte sie.

„Oh, ich setze mich einfach hier hinten hin …“, erwiderte Rae und deutete auf einen Stuhl an der Wand, aber Alessandra schüttelte den Kopf.

„Auf keinen Fall. Sie gehören zur Familie, Rae, und die Familie sitzt vorn.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass Domenico das gefallen wird“, protestierte Rae.

„Es geht nicht um ihn. Es geht um Elena.“ Alessandra bedeutete Rae, ihr zu folgen, und wies auf einen Stuhl in der ersten Reihe, direkt neben Domenico, dessen Schultern so breit waren, dass er beinahe noch einen zweiten Platz in Anspruch nahm.

„Willst du den Stuhl nur anstarren oder dich setzen?“, fragte Domenico, als Rae zögerte, und hob eine schwarze Augenbraue.

Resigniert seufzte sie und setzte sich. Ihr Arm stieß gegen seinen. Hitze durchflutete sie, und die Berührung ließ sie sofort an die vorige Nacht denken.

Stundenlang hatte sie wach gelegen und versucht, nicht daran zu denken, wie zärtlich Domenico sie berührt hatte. Wie sanft er ihr Gesicht in seinen starken Händen gehalten hatte, sie zwischen der Wand und seinem muskulösen, heißen Körper gefangen gehalten hatte. Wie seine Lippen beinahe ihre berührt hatten. Die Tatsache, dass nichts passiert war, war kein Trost. Es hätte etwas passieren können. Rae war nur Sekunden davon entfernt gewesen, darum zu betteln, dass er sie küsste. Und mehr als das …

Ihre einzige Hoffnung bestand darin, zu flüchten, sobald sie konnte. Wenn sie es schnell hier herausschaffte, konnte sie den Vorfall der gestrigen Nacht aus ihrem Kopf verbannen. Und nach ein paar Wochen würde es hoffentlich so sein, als wäre nichts gewesen.

„Du hast gut geschlafen, hoffe ich“, sagte Domenico plötzlich, ohne sie dabei anzusehen.

„Das Zimmer war sehr komfortabel“, entgegnete Rae. Er durfte nicht ahnen, wie sehr die Begegnung auf dem Gang ihr zugesetzt hatte.

Diesmal wandte er den Kopf. „Aber geschlafen hast du nicht?“ Sein dunkler Blick hielt sie gefangen. Ein Blick, so heiß und schwer wie Domenicos Berührung. Raes Mund wurde trocken. Es kribbelte in ihren Lippen, und sie spürte ein Pulsieren in ihrer Körpermitte.

Sie presste ihre Beine zusammen, aber das half nicht, die Wärme zu unterdrücken, die sie durchströmte. Sie sehnte sich nach Domenicos Berührung. Und es war ein Gefühl, wie zu fallen. Kopfüber in ihn hineinzustürzen, sich in ihm zu verlieren.

Nur entfernt hörte sie, dass Alessandra alle zusammenrief und die übrigen Anwesenden ihre Plätze annahmen. Rae konzentrierte sich auf Alessandras Stimme, um sich mühsam aus der erotischen Gedankenspirale zu hangeln. „Ich habe gut geschlafen, danke“, sagte sie und schaute weg, direkt nach vorn. Ignorierte die eindeutigen Signale ihres Körpers und hörte Alessandras Begrüßung zu.

Die Verlesung des Testaments fiel dem anderen Testamentsvollstrecker zu, ebenfalls ein langjähriger Freund der Familie, Vincenzo D’Aragona. Vielleicht noch eine Stunde, schätzte Rae, als Vincenzo begann, die einzelnen Klauseln des Testaments vorzulesen. Bei dem Gedanken beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie Domenicos Gegenwart noch ertragen konnte.

Vincenzo verlas Elenas Wunsch, dass ihre Spenden für wohltätige Zwecke weiterhin jährlich aus ihrem Nachlass gezahlt werden sollten. Danach kamen Geschenke, vor allem Geld und bestimmte Erbstücke, an einzelne enge Freunde und Familienangehörige. Elena war immer sehr großzügig gewesen.

„Und schließlich zu den Firmenanteilen und Immobilien. Es ist Elenas Wunsch, dass all ihre Anteile an der Ricci Group an ihren Erben Domenico Paolo Ricci übergehen. Ihre Immobilien, einschließlich der Häuser in Rom und am Comer See und des Apartments in Paris, erbt ebenfalls Domenico.“ Vincenzo machte eine Pause und räusperte sich. Alessandra warf Domenico einen etwas beunruhigten Blick zu, und Rae spürte ein unangenehmes Ziehen im Magen. „Was den Palazzo Ricci hier in Venedig angeht“, fuhr Vincenzo fort, „so hat Elena vor einigen Monaten eine zusätzliche Klausel eingefügt. Sollte Domenico die darin festgelegte Bedingung nicht erfüllen, wird der Palazzo Ricci stattdessen Elenas nächster lebender Verwandte zufallen, ihrer Schwester.“ Vincenzos strenger Blick setzte allem Tuscheln, das bei dieser Enthüllung ausbrach, rasch ein Ende.

Mit ausdruckslosem Gesicht beugte sich Domenico vor.

„Das Testament legt fest, dass Domenico den Palazzo erst zur Feier seines zweiten Hochzeitstags mit seiner Frau Raegan Dunbar-Ricci am zweiten Oktober dieses Jahres erben wird.“

Domenico versteifte sich.

Rae brauchte eine Sekunde länger, um zu begreifen. Sie riss die Augen auf.

Wie bitte?

3. KAPITEL

Domenico ging im Flur auf und ab. Wenn er nur scharf genug nachdachte, würde er einen Ausweg finden, irgendeine clevere Strategie … Aber stattdessen hörte er im Kopf nur immer wieder die Worte aus Elenas verfluchtem Testament.

„Geht es dir gut?“

Er hatte geglaubt, er wäre allein. Schnell blieb er stehen und drehte sich um. Alessandra war gerade die Treppe hinaufgekommen.

Domenico funkelte sie wütend an. „Was denkst du?“ Nur wegen der rigiden Selbstkontrolle, die er sich über die Jahre angewöhnt hatte, war es ihm gelungen, seine Reaktion vor den übrigen Anwesenden zu verbergen und sich nach der Testamentsverlesung höflich von allen zu verabschieden. Aber seine Geduld war am Ende. „Ich kann nicht glauben, dass du wusstest, was passieren würde, und mich nicht gewarnt hast!“, sagte er harsch. Es fühlte sich an wie ein Verrat.

Zumindest verstand er jetzt, warum Alessandra darauf bestanden hatte, dass Rae der Testamentseröffnung an seiner Seite beiwohnte. Aber er war zu wütend, um dafür dankbar sein.

„Du weißt genau, dass der Inhalt eines Testaments bis zur Verlesung vertraulich bleiben muss“, erwiderte Alessandra. „Ich habe meinen Job erledigt, Domenico. Es war nichts Persönliches.“

„Für mich schon!“

„Und ist das alles, was dir zu schaffen macht?“

„Reicht das nicht?“

„Es geht also nicht um diese Klausel bezüglich des Palazzos?“ Einen Moment ließ sie ihre Worte in der Luft hängen. „Ich will nicht so tun, als wüsste ich, was in deiner Ehe vor sich geht, Domenico“, fuhr sie dann fort. „Aber Rae ist seit vielen Wochen nicht mehr hier gewesen. Und du hattest in dieser Zeit nicht gerade die beste Laune.“

Er wirbelte herum und starrte aus dem Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Zustand meiner Ehe geht niemanden außer Rae und mir etwas an.“ Noch während er das sagte, wurde ihm klar, dass das nicht stimmte. Ihre Ehe war jetzt zur Bedingung für etwas geworden, das ihm unglaublich wichtig war.

Es kostete ihn eine fast übermenschliche Anstrengung, den Fluch zu unterdrücken, der ihm auf den Lippen lag. Elena hatte genau gewusst, was sie tat. Sie hatte gewusst, dass er den Palazzo, das einzige Heim, das er je gekannt hatte, nie freiwillig aufgeben würde. Schon gar nicht, damit er an eine Verwandte fiel, die ihn zurückgewiesen und verleugnet hatte. Und natürlich hatte auch Elena nicht wirklich gewollt, dass ihr geliebter Palazzo ihrer entfremdeten Schwester zufiel. Aber sie war das Risiko eingegangen, weil sie genau gewusst hatte, dass er alles tun würde, um das zu verhindern. Auch, sich mit Rae zu versöhnen.

Das hatte Elena immer gewollt. Wie oft hatte sie ihm geraten, nach London zu fliegen und mit Rae zu sprechen, um zu versuchen, sie zurückzugewinnen? Unzählige Male. Aber da Domenico sich beharrlich geweigert hatte, hatte sie offenbar entschieden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

So hinterlistig und manipulativ das auch war, er konnte ihr nicht böse sein. Selbst im Tod versuchte Elena noch, für ihn zu sorgen. Sie hatte immer geglaubt, dass Rae die einzig Wahre für ihn sei. Bestimmt hatte sie gedacht, sie könnte auf diesem Weg eine Versöhnung herbeiführen.

Aber so ungern Domenico sie auch enttäuschte: Das würde nicht passieren.

Rae hatte ihn verlassen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie hatte sich genauso gefühllos und grausam gezeigt wie die Mutter, die ihn einfach zurückgelassen hatte. Eine Versöhnung war unmöglich.

Niemals wieder würde Domenico sich der Gefahr einer solchen Zurückweisung aussetzen. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, sich der Klausel zu entziehen, würde er das tun.

Nur, dass Vincenzo D’Aragona genau hinsehen würde. Weshalb Elena ihn wahrscheinlich auch zu ihrem Testamentsvollstrecker bestimmt hatte. Wenn Domenico nicht für alle Welt sichtbar mit Rae zusammenlebte, würde D’Aragona nicht zögern, die entsprechenden Schritte einzuleiten.

Und selbst wenn D’Aragona bereit wäre, wegzuschauen, andere würden das nicht tun. Wenn Domenico nicht allen überzeugend den glücklichen Ehemann vorspielte, lief er Gefahr, dass jemand klagte. Er wollte den Palazzo nicht aufs Spiel setzen.

Seine Bindung an das Anwesen war stärker als aller Groll, den er Rae gegenüber fühlte.

Er schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Die Tatsachen lagen auf dem Tisch. Es gab nur einen Weg.

„Wohin gehst du?“, fragte Alessandra, als er sich ohne ein weiteres Wort abwandte.

„Ich spreche mit meiner Frau.“

Das hätte er sofort im Anschluss tun sollen. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass es nur einen Ausweg gab. Aber er hatte einen Moment gebraucht – oder mehrere –, um es zu verarbeiten.

Als er unten ankam und feststellte, dass der Raum leer war, bereute er sein Zögern bitterlich.

Warum hatte er Rae auch nur eine Sekunde aus den Augen gelassen?

Rae schob ihre Sonnenbrille hoch, um sich damit das lange Haar aus dem Gesicht zu halten, während das Wassertaxi rasant zum Marco Polo Airport düste. Bei dem Gedanken daran, wie Domenico reagieren würde, wenn er begriff, dass sie schon wieder einfach gegangen war, wünschte sie sich, es führe noch schneller.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Zwar sah sie keine Anzeichen dafür, dass ihnen jemand folgte, aber das war kein großer Trost.

Rae fühlte sich schlecht. Aber was sollte sie tun? Elenas Testament hatte alles verändert. Ob Domenico den Palazzo erbte, hing nun von ihrer Ehe ab. Von ihr, Rae. Sie hatte sofort gewusst, dass er sie nicht gehen lassen würde.

Aber sie konnte nicht bleiben. Es ging nicht.

Seit weniger als vierundzwanzig Stunden war sie wieder in Venedig, und es hatte jetzt schon zu viele Momente gegeben, in denen sie in alte Gewohnheiten verfallen war. Sie fühlte sich nicht nur körperlich, sondern auch emotional zu Domenico hingezogen. Einen Moment lang, unmittelbar nach der Verlesung dieser letzten bedeutsamen Testamentsklausel, hatte Rae nur an ihn gedacht. Was es für ihn bedeutete, wie es ihm ging. Was er brauchte. Und fast vergessen, was für sie selbst das Beste war. Innerhalb eines Augenblicks war sie wieder zu der Rae von vor sechs Monaten geworden, der unterwürfigen Ehefrau, die sich nie durchsetzen konnte, die nicht entschlossen genug war, um ihre eigenen Bedürfnisse geltend zu machen. Die nicht einmal wusste, was das für Bedürfnisse waren.

Aber dieser Mensch war sie nicht mehr.

In gewisser Weise waren ihre Eheprobleme sehr erhellend gewesen. Sie hatten Rae gezwungen, in sich hineinzuhorchen, darüber nachzudenken, was für ein Leben sie führen wollte. Was für ein Mensch sie sein wollte. Und weil all der Schmerz und das Scheitern ihrer Ehe nicht umsonst sein durften, hatte Rae in London alles darangesetzt, ebendiese Person zu werden. Sie hatte sich voll und ganz auf ihren lebenslangen Traum konzentriert, Brautmode zu designen, hatte ihre Stifte aus dem Schrank gekramt und begonnen zu entwerfen. Inzwischen arbeitete sie an ihrer eigenen Kollektion. Und sie hatte einen Plan, wie sie weitermachen wollte.

Es war ihr gelungen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Stimme wiederzufinden.

Sich in der Ehe mit Domenico zu verlieren, sich selbst aufzugeben, war nie Raes Absicht gewesen. Aber sie hatte ihn so sehr geliebt und ihn unbedingt glücklich machen wollen.

Als ihr bewusst geworden war, wie einsam sie sich fühlte, hatte sie versucht, mit ihm darüber zu reden, eine Veränderung anzustoßen. Aber er war immer so verschlossen gewesen, hatte sich jeder Intimität entzogen, die nicht körperlich war. Irgendwann hatte Rae Angst davor gehabt, dass er nur wieder abwiegeln würde. Ihre Beziehung, hatte sie begriffen, war einfach nicht tragfähig. Davonzulaufen war leichter gewesen, als eine Konfrontation herbeizuführen.

Trotzdem dachte sie immer wieder, sie hätte es weiter versuchen sollen. Oft genug bereute sie ihre Entscheidung. Und wann immer das der Fall war, tröstete sie sich mit der Versicherung, dass sie sich geändert hatte und nie wieder den Mut und die Entschlossenheit verlieren würde.

Aber genau das ist passiert, begriff sie.

Statt im Palazzo zu bleiben und sich mit Domenico auseinanderzusetzen, war sie in Panik geraten und davongerannt.

Schon wieder.

Das Wassertaxi hielt vor dem Flughafen. Rae drückte dem Fahrer eine Handvoll Euro in die Hand und stieg an Land. Ihr war flau im Magen, als sie den Griff ausfuhr und den Koffer hinter sich herzog.

Und dann konnte sie auf einmal nicht mehr weitergehen.

Wenn sie wirklich jetzt ging, würde diese Entscheidung sie ein Leben lang verfolgen. Nicht nur weil Domenico sein Heim verlieren würde, sondern weil Weglaufen keine Lösung war.

Wenn sie sich wirklich geändert hatte, dann musste sie das auch unter Beweis stellen. Beweisen, dass sie anders war. Stärker. Kein Feigling.

Rae setzte sich auf eine freie Bank und nahm sich einen Moment Zeit, darüber nachzudenken.

Dort fand Domenico sie eine Viertelstunde später. Er blieb vor ihr stehen. Im ersten Moment stockte ihr bei seinem Anblick beinahe der Atem.

„Ich bin davon ausgegangen, dass du schon an Bord des nächstbesten Flugzeugs bist“, sagte er. Er ließ seinen Blick über sie wandern, als wäre er sich nicht sicher, dass sie real war.

„Das war mein Plan.“

„Was ist passiert?“

„Mir ist klar geworden, dass Weglaufen die falsche Entscheidung wäre. Wir müssen uns beide der Situation stellen.“

Sie sah etwas in seinen dunklen Augen – Überraschung, vielleicht? –, bevor er sich neben sie setzte. Sie zuckte ein wenig zusammen, aus dem Konzept gebracht durch seine plötzliche Nähe. Er nahm so viel Raum ein, war so präsent, unmöglich zu ignorieren.

„Ich bin froh, dass du begreifst, was als Nächstes geschehen wird.“

Rae schaute zu ihm und legte einen Hauch von Warnung in ihren Blick und ihre Stimme. „Ich habe bisher keine Zustimmung zu irgendetwas gegeben, Domenico.“

„Natürlich hast du das. Sonst würdest du nicht hier sitzen, sondern im Flugzeug.“ Beinahe mitfühlend schaute er sie an. „Es sind nur ein paar Monate, Rae. Maximal ein halbes Jahr.“

Er hatte recht. Sechs Monate waren gar nicht so viel. Ihr Herz pochte trotzdem ungewohnt heftig. In seiner Gegenwart reichten schon sechs Minuten, um sie völlig durcheinanderzubringen. „Machst du dir keine Sorgen, weil wir die letzten vier Monate nicht zusammen waren?“, fragte sie. „Ich war nicht einmal in der Stadt. Wir sind nicht zusammen gesehen worden. Und dann, nach dem Testament, in dem unsere Ehe zur Bedingung dafür wird, dass du dein Erbe antreten kannst, bin ich auf einmal wieder da.“

„Elenas Testament ist ja der Öffentlichkeit nicht bekannt. Es ist ein privates Familiendokument.“

„Wir wissen beide, wie schnell sich solche Dinge verbreiten.“

„Gerüchte sind mir egal“, sagte er lässig. Aus seinen dunklen Augen schaute er sie auf eine Weise an, die sie kribblig machte. „Und es spielt alles keine Rolle. Niemand weiß, dass du mich verlassen hast.“

„Niemand weiß …?“, wiederholte Rae ungläubig. Das klang lächerlich. „Wie ist das möglich? Ich war seit Monaten nicht hier. Hat das denn niemand hinterfragt?“

„Ich habe es mir nie zur Gewohnheit gemacht, mein Privatleben zu kommentieren“, sagte er auf seine kühle, gleichgültige Weise, die so effektiv alle Nachfragen im Keim erstickte. „Und etwas an meinem Auftreten scheint die meisten Menschen davon abzuhalten, nachzubohren. Denen, die tatsächlich gefragt haben, habe ich nur gesagt, es gebe einen familiären Notfall, der deine Anwesenheit in England erforderlich mache. Das können wir ausbauen, sagen, dass die Lage sich beruhigt hat.“

„Und welche meiner Schwestern möchtest du dafür verantwortlich machen? Maggie oder Imogen?“

Domenico zuckte die Schultern. „Das ist nicht wichtig. Je weniger wir sagen, desto besser. Es zählt nur, dass du wieder glücklich bei deinem Ehemann lebst.“

Die Panik, die vorhin verebbt war, begann von Neuem in Rae aufzusteigen. „Domenico, wir können nicht einfach weitermachen, wo wir aufgehört haben, als wäre nichts passiert. Das geht nicht.“

„Das will ich auch gar nicht. Ich rede nicht davon, unsere Ehe wiederaufleben zu lassen, Rae“, stellte er ungeduldig klar. „Der Gedanke widerstrebt mir mindestens so sehr wie dir. Ich spreche davon, ein Schauspiel aufzuführen, um Vincenzo D’Aragona zu überzeugen. Das wird für dich bestimmt keine große Herausforderung. Immerhin hast du die hingebungsvolle, glückliche Ehefrau beim ersten Mal anscheinend auch nur gespielt.“

„Und wie viele solcher Bemerkungen darf ich mir in den nächsten Monaten anhören?“

„Die Wahrheit tut weh, Rae, oder? Aber keine Sorge, wir werden die nächsten sechs Monate so wenig Kontakt miteinander haben wie möglich. In der Öffentlichkeit müssen wir natürlich die Turteltauben spielen. Aber im Privatleben können wir uns aus dem Weg gehen.“

„Warum eigentlich ein halbes Jahr? Unser Hochzeitstag ist in viereinhalb Monaten.“

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Wir können uns nicht am Tag nach unserem Hochzeitstag trennen, Rae. Das wäre viel zu verdächtig. Wir brauchen eine Karenzzeit. Außerdem ist einen Monat nach unserem Hochzeitstag der Ricci-Ball. Es wäre besser, wenn wir uns dort noch einmal zusammen zeigen. Irgendwann danach können wir die Ehe langsam auflösen. Ein paar Gerüchte streuen, dass wir streiten und unglücklich sind. Elenas Tod, der berufliche Stress. Du ziehst zurück nach London, dann lassen wir uns scheiden. Ich behalte den Palazzo, und du … du kannst tun, was du willst.“

„Du hast das alles schon gründlich geplant, oder?“, sagte sie.

Sie sah, wie er die Zähne zusammenbiss. „Ich bin nicht bereit, den Palazzo aufzugeben, Rae. Er bedeutet mir zu viel. Also werde ich tun, was nötig ist. Aber ich kann es nicht allein, ich brauche deine Hilfe. Deshalb … deshalb bitte ich dich, hierzubleiben.“

Das allein musste für Domenico eine unglaubliche Demütigung sein. Es zeigte, wie ernst es ihm war.

„Sobald die Sache mit dem Erbe endgültig geklärt ist, gehen wir getrennte Wege“, sagte er. „Du bekommst eine großzügige finanzielle Abfindung, keine Sorge.“

„Ich will dein Geld nicht, Domenico.“ Rae sah ihn an. Hatte er wirklich eine so schlechte Meinung von ihr, dass er dachte, sie würde sich dafür bezahlen lassen? Sein Geld hatte für sie nie eine Rolle gespielt.

Sie begriff, dass die Rückkehr nach Venedig gleichzeitig eine Gelegenheit war. Als sie ihn verlassen hatte, waren die Dinge ungeklärt geblieben. Sie war nicht über ihn hinweg – auch wenn sie das ihren Schwestern gegenüber behauptete. Und war das nicht auch der Grund, weshalb sie noch nicht offiziell die Scheidung eingereicht hatte? Aber vielleicht konnten ihr diese sechs Monate dabei helfen, endlich einen Schlussstrich unter ihre Ehe zu ziehen. Wenn sie es schaffte, in seiner Gegenwart sie selbst zu bleiben, sich nicht unterzuordnen oder Teile von sich zu opfern, dann würde sie wissen, dass sie wirklich ein anderer Mensch geworden war. Dass es richtig gewesen war zu gehen. Und dann konnte sie sich mit reinem Gewissen auf die Zukunft konzentrieren. Domenico zu helfen, war die richtige Entscheidung. „Deine Abfindung kannst du behalten“, sagte sie. „Aber ich werde dir helfen.“

„Danke.“ Er stieß das Wort widerwillig hervor, doch Rae konnte seine Erleichterung hören.

Der Palazzo Ricci bedeutete ihm offensichtlich sehr viel. Sie hatte nie erfahren, wie er zu Domenicos Zuhause geworden war und warum seine Tante ihn großgezogen hatte. Was war mit seinen Eltern, warum hatte er nicht bei ihnen gelebt?

Das waren nur einige der Fragen, die sie sich schon immer gestellt hatte. Vielleicht würden ihr die kommenden Monate die Gelegenheit geben, Antworten darauf zu bekommen. Es würde ihr helfen, ihre Beziehung mit Domenico richtig einzuordnen.

Rae stand auf. Konzentrierte sich auf das, was nun zu tun war. „Also schön. Dann werde ich zurück nach London fliegen, dort alles regeln und in ein paar Tagen wiederkommen.“

Domenico zog die Augenbrauen zusammen, während er sich ebenfalls von der Bank erhob. „Was meinst du damit, du wirst zurück nach London fliegen?“ Er schüttelte den Kopf. „Du kannst nicht gehen, Rae.“

„Das muss ich! Zum einen habe ich nicht genug Kleider hier.“ Sie deutete auf den kleinen Koffer.

„Es gibt ausreichend Läden hier in Venedig“, sagte er ungeduldig. „Und all deine Sachen sind noch immer im Palazzo.“

Der Gedanke, die Garderobe dieses früheren Lebens zu tragen, gefiel Rae nicht. Sie wollte nicht daran anknüpfen. Und überhaupt musste sie sich auf die Zunge beißen, um auf seine Ungeduld und Unbeugsamkeit nicht gereizt zu reagieren. „Und ich habe Verpflichtungen in London. Ich kann mich ihnen nicht einfach entziehen.“

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Bisher hatte sie sich immer nach seinen Wünschen gerichtet, und es war offensichtlich, dass ihn der Wandel, der mit ihr vorgegangen war, irritierte.

„Was für Verpflichtungen?“, fragte er.

„Einen Job. Rechnungen. Meine Schwestern.“

Domenico starrte sie weiter an. „Steckt ein anderer Mann dahinter?“

„Wie bitte?“ Beinahe lachte Rae ungläubig, so absurd war der Gedanke.

Er trat einen Schritt näher. „Du hast mich schon gehört.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es gibt niemanden.“

„Denn ich lasse mich von dir kein zweites Mal zum Narren halten. Das ist genau die Art von Detail, die meinen Anspruch auf den Palazzo untergraben könnte. Dann wäre die ganze Scharade umsonst. Du musst es mir sagen, falls es so ist“, forderte er in einem mehr als herrschsüchtigen Tonfall.

Rae machte einen Schritt auf ihn zu, schaute ihn an und machte aus ihrem eigenen Ärger bewusst keinen Hehl. „Erstens: Ich muss dir gar nichts erzählen, wenn ich das nicht will. So wie du mir auch nie etwas erzählt hast, wenn du das nicht wolltest. Aber ich habe dir gesagt, es gibt niemand anderen. Zweitens: Das hier ist keine Verhandlung.“ Sie straffte die Schultern. „Ich werde zurück nach London fliegen. Zwei Tage, höchstens drei. Dann bin ich wieder hier, und die Maskerade kann losgehen.“

Domenico starrte sie an, verblüfft und ausnahmsweise um Worte verlegen.

Rae genoss den Moment des Triumphs.

Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er sich erholt. „Bene“, erwi...

Autor

Caitlin Crews
<p>Caitlin Crews wuchs in der Nähe von New York auf. Seit sie mit 12 Jahren ihren ersten Liebesroman las, ist sie dem Genre mit Haut und Haaren verfallen und von den Helden absolut hingerissen. Ihren Lieblingsfilm „Stolz und Vorurteil“ mit Keira Knightly hat sie sich mindestens achtmal im Kino angeschaut....
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