Julia Extra Band 566

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

NUR EINE NACHT ... UND DANN FÜR IMMER? von CLARE CONNELLY

Spontan lässt Milliardär Raul Ortega sich dazu hinreißen, die hübsche Libby auf seiner Luxusjacht zu verführen. Natürlich nur für einen One-Night-Stand – Libby und ihn trennen Welten! Doch dann überrascht sie ihn mit einem süßen Geständnis. Die logische Folge: eine Pflichtehe?


BETÖRT VON DER SCHÖNEN LÜGNERIN von BELLA MASON

Ist die betörende Schönheit im Ballkleid wirklich Celeste? Auf Geschäftsreise in Italien fühlt sich Enzo De Luca wie verzaubert von seiner sonst so unscheinbaren Assistentin. Doch nach einer Nacht der Leidenschaft muss er entdecken, dass Celeste nicht die ist, für die er sie hielt …


FREI WIE EIN FALKE IM WIND von KELLY HUNTER

Als kleines Mädchen wurde Prinzessin Claudia entführt! Jetzt kann Tomas, der Falkner des Königshauses, nicht fassen, dass seine Kindheitsfreundin plötzlich vor ihm steht. Doch auch wenn sie insgeheim sein Verlangen weckt, könnte er es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren …

SCHEINVERLOBUNG MIT DEM SPANISCHEN TYCOON von CATHY WILLIAMS

Sammy ist erleichtert: Bauunternehmer Rafael Moreno zieht sein Angebot für das alte Hotel, das auch sie kaufen will, zurück. Allerdings nur, wenn sie bei einer Karibikreise seine Verlobte spielt! Trotzdem scheint es ein guter Deal. Bis es immer sinnlicher zwischen ihnen prickelt …




  • Erscheinungstag 01.04.2025
  • Bandnummer 566
  • ISBN / Artikelnummer 0820250566
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Clare Connelly

1. KAPITEL

Libby fluchte leise, als sich die Luxusjacht ebenso eindeutig wie unerwartet bewegte. Nicht sanft auf und ab, wie es sich gehörte, wenn sie im Hafen vor Anker lag, sondern vielmehr in dem Tempo, mit dem ein Stier durch ein Gatter bricht.

Sie stand auf – und stürzte fast, weil die Jacht scharf nach links abdrehte. Sie zog einen gelben Gummihandschuh aus und ließ ihn zu Boden fallen, genau wie das Mikrofasertuch, mit dem sie gerade auf dem Schreibtisch des Arbeitszimmers Staub gewischt hatte. Gleichzeitig stellte sie sich breitbeiniger hin.

So sollte sich die Jacht definitiv nicht bewegen.

Jedenfalls nicht, während Libby an Bord war.

Hastig blickte sie zur Wanduhr.

Ihre Putzschicht dauerte noch eine Stunde, und die sollte sie allein hier verbringen. Nur war sie es nicht. Bei ihrer Ankunft hatte sie festgestellt, dass der Jachtbesitzer nicht wie angekündigt bei einer Veranstaltung war, sondern an Bord. Ein grüblerischer Milliardär mit olivfarbener Haut.

An sich störte Libby das nicht, obwohl sie grundsätzlich lieber allein war. Alte Gewohnheiten ließen sich schwer abschütteln.

Jetzt bemerkte sie, dass noch jemand hier war. Vielleicht sogar mehrere Leute.

Jenseits des Arbeitszimmers hörte sie erhobene Stimmen. Rufe. Sie spitzte die Ohren. War das Spanisch? Italienisch?

Sie drehte sich um die eigene Achse, hielt nach einem Versteck Ausschau, nach etwas, mit dem sie sich notfalls verteidigen konnte. Kurz entschlossen schnappte sie einen Briefbeschwerer und krabbelte unter den Schreibtisch. Schon oft in ihren sechsundzwanzig Jahren hatte Libby Langham sich gewünscht, ein paar Zentimeter größer zu sein. Jetzt tat sie es nicht. Ihr zierlicher Körper passte problemlos in die Lücke.

Es kostete sie große Mühe, halbwegs ruhig zu atmen. Sie kniff die Augen zu und versuchte, mit schierer Willenskraft jegliche Bedrohung von sich abzuwenden.

Plötzlich sprang die Tür auf. Sie hörte weitere Rufe – Stimmen von mehreren Männern. Dann einen Schlag, und die Tür knallte zu.

Libby ließ die Augen geschlossen. Massiv und glatt fühlte sich der Briefbeschwerer an, irgendwie beruhigend. Sie wartete. Lauschte.

Schritte.

Keuchen.

Jemand sagte harsch etwas, und obwohl er es in der fremden Sprache tat, erkannte Libby am Tonfall, dass es ein Fluch war.

Angst baute sich in ihrer Brust auf wie eine Flutwelle, die sie zu überrollen drohte.

Sie hörte, wie jemand hin- und herging und scharf ausatmete. Dann befahl eine raue Stimme mit einem Akzent auf Englisch: „Sie können jetzt rauskommen.“

Erschrocken riss sie die blauen Augen auf, blieb aber, wo sie war.

„Sie sind die Putzfrau, sí?“

Ihr Herz sank. Gleichzeitig durchströmte sie so etwas wie Erleichterung. Das musste der Jachtbesitzer sein. Seinen Namen kannte sie nicht, weil die Firma ihr nur Adresse und Stundenlohn genannt hatte. Als sie an Bord gekommen war, hatte er ihr zugenickt und schroff „Hallo“ gesagt. Diese Stimme klang genauso.

Bei der kurzen Begegnung hatte sich Libby gefragt, ob er ein Hollywoodstar war. In diesem luxuriösen Jachthafen von Sydney wäre er nicht der Einzige. Das Aussehen eines Filmstars besaß er jedenfalls. Gleichzeitig wirkte er ungeschliffen, gar nicht gestylt und herausgeputzt. Er hatte etwas Raues, beinahe Urwüchsiges an sich.

„Sprechen Sie Englisch?“, unterbrach er ihren Gedankengang.

Mit zitternden Beinen kroch Libby unter dem Schreibtisch hervor und wischte sich die Hand ohne Gummihandschuh an ihrer Uniform ab.

Ja. Es war derselbe Mann. Für jemanden auf einer Jacht trug er ziemlich förmliche Kleidung – eine Anzughose und ein weißes Hemd, das er bis zu den Ellbogen hochgeschoben hatte. Seine Schuhe glänzten.

„Wir haben ein Problem“, sagte er finster.

„Das habe ich mir gedacht.“ Sie war froh, dass sie ihre Stimme endlich wiedergefunden hatte. Rasch leckte sie sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Was ist los?“

„Vier Männer haben …“, er brach ab, weil die Jacht schlingerte, „das Boot unter ihre Kontrolle gebracht. Weiß der Himmel, was sie davon übrig lassen.“

„Sie sind verletzt“, sagte Libby, die erst jetzt die Schramme auf seiner Wange entdeckte.

Er hob eine Hand und betastete flüchtig seinen Wangenknochen. „Das ist unwichtig.“

„Brauchen Sie irgendetwas?“

Im Blick aus seinen dunkelgrauen Augen lag ein Hauch Spott. „Haben Sie zufällig einen Eisbeutel dabei?“

„Na ja … nein“, musste sie einräumen, und das Blut stieg ihr in die Wangen. „Ich dachte nur …“

„Mir geht es gut“, schnitt er ihr das Wort ab, beugte sich vor und hob ihren Handschuh und das Tuch auf. „Wenn Sie sich das nächste Mal verstecken wollen, sollten Sie alle Beweise mitnehmen.“ Er reichte ihr die Sachen.

Libby kam sich dumm vor, was sie mehr als alles andere hasste. Wie viele Partner ihrer Mutter hatten ihr das Gefühl gegeben, dämlich zu sein? Manche hatten sie einfach ignoriert, andere mit offenkundigem Unmut geduldet. Die waren schlimm genug gewesen. Aber es hatte auch durch und durch unfreundliche Männer gegeben, die sie ausschimpften und auf jeden Fehler hinwiesen, bloß weil sie nachdenklich war und gern wusste, worüber sie redete, bevor sie den Mund aufmachte.

Sie wandte sich ab, damit der Jachtbesitzer ihr die Kränkung nicht ansah, und ging ein paar Schritte von ihm weg. „Haben Sie versucht, Hilfe zu rufen?“

„Die Typen haben mir mein Handy weggenommen. Aber Sie …“

„Ja, ich habe eins.“ Ungeschickt zog Libby es aus ihrer Tasche und sah auf den Bildschirm. „Kein Netz.“

„Egal. Der Notruf funktioniert. Er wird per Satellit weitergeleitet. Geben Sie es mir.“

Ihr kam es gar nicht in den Sinn, zu widersprechen. Der Mann strahlte eine natürliche Autorität aus. Es fiel ihr leicht, zu glauben, dass er das Problem lösen konnte.

Während er den Notruf absetzte, glitt ihr Blick immer wieder zur Tür. Angestrengt lauschte sie. Gab es draußen Geräusche? Kehrten die Piraten zurück?

Sachlich beschrieb Raul, diesen Namen schnappte Libby am Anfang des Telefonats auf, seine Jacht und gab an, wo er sie derzeit vermutete. Dann erzählte er, wie die vier Angreifer aussahen und wo er selbst sich gerade befand.

„Jemand ist bei mir – eine Putzfrau.“ Er hielt die freie Hand über das Handy. „Wie heißen Sie?“

„Libby.“ Sie räusperte sich. „Libby Langham.“

„Haben Sie Verwandte, die kontaktiert werden sollen?“

Die Farbe wich ihr aus den Wangen, und sie schüttelte den Kopf. Keine Verwandten. Sie war seit Langem allein und daran gewöhnt. Alleinsein war besser als der Teufelskreis von Verliebtsein und traumatischen Trennungen, das hatten die gescheiterten Beziehungen ihrer Mutter sie gelehrt. Einsam mochte sie sein, aber wenigstens tat es nicht weh.

Er musterte ihr Gesicht flüchtig. Prompt vollführte ihr Magen einen Sturzflug. „Was haben sie gesagt?“, fragte sie ängstlich, nachdem er aufgelegt hatte.

„Die Polizei ist unterwegs. Es ist wohl nicht der erste Diebstahl eines Boots in dieser Gegend. Das hätte der Jachthafen erwähnen sollen, finden Sie nicht?“

„Ja, es wäre hilfreich gewesen.“

„Sie arbeiten doch hier. Haben Sie so etwas schon mal erlebt?“

Libby musste lachen, obwohl es nicht lustig war. „Bei Hochgeschwindigkeit gekapert zu werden? Nein. Aber dies ist erst mein zweiter Job auf einem Boot.“

„Ich gehe da raus“, erklärte er, ging zur Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war.

„Auf keinen Fall. Das wäre verrückt. Sie wissen doch nicht, ob die Leute Waffen haben und wozu sie fähig sind. Die Polizei ist unterwegs. Warten Sie einfach ab.“

„Vorhin bin ich überrumpelt worden, aber das wird kein zweites Mal passieren. Sie bleiben hier.“

Libby schluckte. „Ich lasse nicht zu, dass Sie das ganze Risiko allein eingehen.“

„Es ist mein Boot. Sie sind nur zwischen die Fronten geraten.“

„Ja, aber ich bin dazwischengeraten, also machen Sie keine Dummheiten.“

„Es sind noch Kinder“, schnappte er. „Dämliche Kinder. Das weiß ich, weil ich selbst mal eins war. Ich komme klar.“

Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, warum sie sich solche Sorgen machte. Schließlich war es sein Leben, und er konnte damit machen, was er wollte. „Na gut, aber ich komme mit“, sagte sie kühn, womit sie ein spöttisches Lachen erntete.

„Sehr mutig, Libby Langham, aber ich vermute, dass Sie bald eine Last für mich sein würden.“

„Ich bin zäher, als ich aussehe“, entgegnete sie. Der Mann ahnte ja nicht, dass sie schon in jungen Jahren zwangsgereift war.

„Sie bleiben hier.“

„Auf keinen Fall. Wenn Sie gehen, gehe ich auch.“

Er funkelte sie an.

„Wie wollen Sie überhaupt rauskommen? Die Tür ist abgeschlossen.“

„Ich bin sicher, dass ich das ändern kann.“

„Indem Sie was tun? Die Tür eintreten?“

Raul zog eine Braue hoch. „Trauen Sie mir das nicht zu?“

„Was, wenn die Verbrecher auf der anderen Seite stehen?“

„Für den Fall haben Sie ja Ihren Briefbeschwerer. Wie gut können Sie zielen?“

Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, er solle stillhalten, dann würde sie es ihm zeigen. „Es ist mein Ernst“, antwortete sie ruhig. „Wie sieht Ihr Plan aus? Wollen Sie sich in Rambo-Manier auf die Leute stürzen?“

„Warum nicht?“

Libby musterte ihn. Er hatte zweifellos den Körper eines Mannes, der sich durchsetzen konnte. Womöglich besaß er auch die dafür notwendigen Fähigkeiten. „Wie stehen Ihre Chancen?“

Zu ihrer Überraschung marschierte er auf sie zu und stoppte erst direkt vor ihr. „Sagen wir mal so: Ich gehe nie einer Kampfansage aus dem Weg.“

„Was bedeutet das?“ Aus der Nähe erkannte sie, dass Rauls Augen mehr als nur grau waren – beinahe silber- oder goldfarben mit leuchtenden Sprenkeln, die dank seiner dichten dunklen Wimpern umso stärker auffielen.

„Meine Chancen stehen gut, Libby. Aber sie stehen besser, wenn Sie hierbleiben.“

„Wohl kaum“, brummte sie. Trotz ihrer Angst würde sie sich nicht im Arbeitszimmer verstecken, während er sein Leben riskierte.

Jäh machte die Jacht einen Ruck nach links und brachte beide aus dem Gleichgewicht. Raul schloss eine Hand um Libbys Ellenbogen, nur lange genug, bis er sah, dass sie wieder sicher stand. Aber es war mehr als lang genug.

Hitze strömte durch ihre Haut in den gesamten Körper, während Adrenalin ihre Adern flutete.

„Na los, wir ziehen es durch“, sagte sie und blickte zur Tür.

Seine Augen verengten sich. „Unter einer Bedingung.“

Sie wartete.

„Sie tun genau, was ich sage. Und Sie bleiben hinter mir.“

„Das sind zwei Bedingungen.“

Er schüttelte den Kopf. „Lassen Sie es mich nicht bereuen. So, wie die Kerle das Boot steuern, könnten wir tot sein, bevor die Polizei eintrifft. Also?“

„In Ordnung“, stimmte sie zu, obwohl sie hinter dem Rücken Zeige- und Mittelfinger kreuzte. Sie würde tun, was nötig war, ob es Raul gefiel oder nicht.

Er ging zur Tür, rüttelte noch einmal daran, beugte sich vor und lauschte. Dann hockte er sich hin und spähte durch den Spalt zwischen Teppich und Holz.

Libby fand es seltsam, dass sich ihr Blick in einem Moment wie diesem auf Rauls Po senkte und dort verweilte. Schlagartig wurde ihr Mund trocken. „Können Sie etwas sehen?“, fragte sie mit ungewohnt dünner Stimme.

„Nichts.“

„Okay, gut.“ Rasch sah sie zur Seite und blinzelte, um das Bild seines Hinterteils loszuwerden. „Das ist doch gut, oder?“

Er stand auf. „Ja. Treten Sie zurück.“

Erleichtert ging Libby auf Distanz zu ihm.

Raul schaute sie an. „Ich weiß nicht, wo die Typen sind – mindestens einer von ihnen muss an Deck sein. Vielleicht hören sie es, wenn die Tür aufgeht. Seien Sie auf alles gefasst, okay?“

Sie nickte, weil sie vor Nervosität nicht sprechen konnte.

„Haben Sie den Briefbeschwerer parat?“

„Machen Sie sich etwa über mich lustig?“

„Im Gegenteil, er ist eine ausgezeichnete Waffe. Halten Sie ihn fest, für den Fall, dass Sie sich verteidigen müssen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Glauben Sie …“

„Ich weiß es nicht“, unterbrach er sie scharf. „Wenn Sie lieber hierbleiben und die Sache mir überlassen, wäre mir das sehr recht.“

„Nein.“

Raul wandte sich der Tür zu, machte ein paar schnelle Schritte und trat im letzten Moment mit dem rechten Fuß zu, so geschickt und präzise, als würde er das jeden Tag tun.

Am Rahmen zersplitterte die Tür ein wenig, aber sie gab nach. Noch während er den rechten Fuß wieder auf den Boden stellte, packte er blitzschnell die Tür, damit sie nicht gegen die Wand donnerte. Dann drehte er sich zu Libby um und legte unnötigerweise den rechten Zeigefinger an die Lippen.

Als sie ihm folgte, raste ihr Puls dermaßen, dass sie kaum noch klar denken konnte. Am Ende des Korridors stieg er in eine Luke unter der Treppe. Wenig später tauchte er mit orangefarbenen Seilen und Netzen auf.

„Lassen Sie mich raten“, zischte sie. „In einem anderen Leben waren Sie Pfadfinder.“

Sein jungenhaftes Grinsen stellte Sonderbares mit ihrem Magen an. „Nicht ganz. Bereit?“

Sie nickte. Doch wie sollte sie bereit sein? Ohne den Hauch einer Ahnung, was ihr bevorstand?

„Warten Sie mein Zeichen ab“, murmelte er und schlich die Treppe hinauf, verharrte, blickte sich um und stieg höher, bis er verschwand. Plötzlich erschien seine Hand wieder und winkte Libby näher.

Die schluckte und folgte ihm. Auf einer Stufe stolperte sie und erschrak über das Geräusch, doch der Motor übertönte es.

Hinter Raul stieg sie auf die Rückseite des Decks. „Sie sind zusammen“, sagte er. „Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite. Außerdem …“, er sah durch die Fenster, bevor er in die Hocke ging, „wirken sie betrunken.“

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht einfach abwarten wollen?“

Die Jacht machte eine scharfe Rechtskurve, und Libby riss den Mund auf, um zu kreischen, weil sie glaubte, sie würden kentern. Nur Rauls Hand – groß, warm und stark – auf ihrem Mund hielt sie davon ab. Sie starrte ihn an. In seinen Augen las sie eine Warnung und enorme Zuversicht. Wenn sie nur still blieb, würde alles gut gehen, sagte ihr der Blick. Und aus einem unerfindlichen Grund glaubte sie es.

„Wir können nicht abwarten“, sagte er. „Glauben Sie mir: Wir tun auch diesen Burschen einen Gefallen. Anscheinend sehnen sie sich nach dem Tod.“

Libby hob den Kopf minimal, bis sie durch die Fenster sehen konnte. Raul hatte recht, die Entführer waren vermutlich noch Teenager. Skeptisch betrachtete sie den Briefbeschwerer. Ihn würde sie wohl kaum einsetzen müssen.

„Behalten Sie ihn“, sagte Raul, als könnte er Gedanken lesen. „Für den Fall der Fälle.“

Und dann lächelte er – ein umwerfendes, wunderschönes Lächeln, mit dem es ihm gelang, all ihre Zweifel und Ängste zu beschwichtigen. „Folgen Sie mir.“

In dieser Sekunde war sie ziemlich sicher, dass sie ihm sogar in das Feuer der Hölle gefolgt wäre, wenn er sie darum gebeten hätte.

2. KAPITEL

Er glich einem Orkan, einem Phänomen der Kraft und Präzision. Wie der geborene Kämpfer stürmte er in den Kontrollraum seiner Megajacht. Die Entführer waren zu viert, und Raul war allein, aber er ging auf den größten Teenager, den Anführer, los und stieß ihn vom Steuerbord weg. Breitbeinig stand er da und musterte die geschockten, betrunkenen jungen Männer.

„So“, sagte er im Befehlston. „Rüber mit dir zu den anderen.“

Der Anführer rieb sich die Schulter, mit der er gegen die Wand geprallt war, und starrte Raul wütend an. „Wer will uns dazu zwingen?“

„Glaub mir, die Antwort willst du nicht wissen. Ich gebe euch eine Chance, das hier friedlich zu beenden“, meinte Raul, streckte eine Hand zur Steuerung aus und stoppte das Boot. Den Schlüssel zog er heraus und steckte ihn in die Hosentasche.

Clever, dachte Libby. Die Ruhe nach der wilden Fahrt war eine riesige Erleichterung. Erstaunlicherweise fühlte sie sich nicht bedroht. Raul wirkte wie der unangefochtene Herr der Lage.

„Tja, du bist in der Unterzahl.“ Mutig ging einer der jüngeren Teenager auf ihn zu. „Na los, mit dem werden wir fertig.“

„Darauf würde ich nicht wetten.“

Als der Angreifer die Hände zu Fäusten ballte und zuschlagen wollte, packte Raul seinen rechten Arm und bog ihn ihm ebenso rasch wie heftig auf den Rücken. „Zurück“, sagte er zu den anderen, die auch einen Schritt in seine Richtung gemacht hatten. Dann sah er Libby an. „Kommen Sie bitte her.“

Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Beine mobilisiert hatte und sich um die Entführer herum zu Raul schob.

„Nehmen Sie das Seil. Fesseln Sie den hier.“

Sie nickte und machte sich so schnell an die Arbeit, wie ihre bebenden Finger es zuließen, während Raul die Hände des jungen Mannes festhielt und den Rest der Gruppe beobachtete, deren Kampfgeist sichtlich schwand.

„Wir haben nicht gewusst, dass Sie an Bord sind“, sagte einer der Burschen. „Die Jacht sollte leer sein.“

„Meine Pläne haben sich geändert. Wie auch immer: Niemand hat euch eingeladen, mein Boot zu kapern und fast zu zerstören.“

„Wir haben es nicht …“

„Genug.“ Er funkelte den Anführer an. „Setz dich an die Wand. Hände auf den Rücken.“

Libby dröhnte das Blut in den Ohren. Konnte es wirklich so rasch zu Ende sein?

Offenbar nicht. Gerade fing sie an, sich zu entspannen, da stürzte sich ein kleinerer Teenager auf sie und schlang ihr einen Arm um den Hals. Bevor sie aufschreien konnte, schoss ihr Rauls Bemerkung durch den Kopf, sie werde eine Last sein. Er sollte nicht recht behalten.

Instinktiv trat sie dem Angreifer mit aller Kraft auf einen Fuß, drehte sich um und stieß ihm das rechte Knie in einen empfindlichen Teil seiner Anatomie. Er sank zu Boden und rollte sich zusammen.

„Effektive Technik“, bemerkte Raul anerkennend. „Will noch jemand eine Lektion von Libby?“

„Und wie seid ihr überhaupt an seinen Terminplan gekommen?“, fragte sie, weil ihr die gelungene Abwehrreaktion Mut machte.

„Ich …“

„Halt die Klappe, Jerry!“, rief der Kleinste.

Raul sah Libby an. In seinem Blick las sie etwas, das Bewunderung ziemlich nahekam.

„Einer von euch hat einen Freund, der im Hafen arbeitet.“ Ihre Augen weiteten sich. „Oder für die Reinigungsfirma! Natürlich. Wie sonst solltet ihr etwas über die Termine des Jachtbesitzers erfahren?“

Mühelos fesselte Raul einen Teenager und nahm sich den nächsten vor. „Hinsetzen. Und sag kein Wort.“ Er wandte sich an Libby. „Sie behalten die vier im Auge.“ Er senkte die Stimme. „Sind Sie okay?“

Sie nickte, obwohl das Adrenalin etwas anderem wich. Ihre Kehle wurde eng, als sie daran dachte, was gerade passiert war.

Raul steckte den Schlüssel wieder ins Schloss und startete den Motor. Wenig später waren sie auf dem Rückweg zum Hafen – schnell, aber sicher.

Libby versuchte, sich auf die vier Teenager zu konzentrieren, doch dann und wann blickte sie verstohlen zu Raul und hatte das Gefühl, ihr Puls geriet ins Stolpern.

Er befand sich im Überlebensmodus. Dieselben Stärken und Instinkte, die ihn als Jugendlichen auf den spanischen Straßen hatten durchhalten lassen, waren wiedererwacht. Für ihn gab es nur ein einziges Ziel: überleben. Nicht nur sein eigenes Überleben, sondern auch das von Libby.

Als er die Jacht unter Kontrolle hatte und die Teenager kleinlaut dasaßen, erlaubte er sich einen Blick auf Libby und erkannte Dinge, die er wegen des Stresses noch nicht wahrgenommen hatte.

Ihre schimmernden blonden Haare und eisblauen Augen, die zierliche Figur mit der Haut, die ihn an goldfarbenen Honig erinnerte, und die vollen Lippen, die ihr den Ausdruck verliehen, als würde sie ständig schmollen. Sportlich war sie, das wusste er, seit sie ihren Angreifer außer Gefecht gesetzt hatte.

Jetzt hob sie den Kopf – und ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte. Er lächelte, ganz leicht nur. Sie öffnete die Lippen halb, und er fühlte, wie sich etwas in seinem Unterleib anspannte.

Schlagartig flammte Adrenalin einer völlig anderen Art in ihm auf. Es war Raul vertraut. In der Euphorie des Sieges fühlte er sich lebendiger als in fast jeder anderen Situation.

Heutzutage fanden seine Siege eher in der Vorstandsetage als auf der Straße statt. Zuerst war das aufregend gewesen, doch seit ein paar Jahren löste selbst der größte geschäftliche Erfolg nur noch Zufriedenheit aus.

Der Hafen kam in Sicht. Warnblinklichter zeigten, dass die Wasserpolizei vor Ort war. Raul steuerte die Jacht zu einem Anlegeplatz. Sobald sie stoppte, hörte er schwere Stiefelschritte an Deck. Polizisten stürmten mit gezückten Pistolen in den Kontrollraum.

„Ich bin der Eigentümer“, erklärte Raul und hob beide Hände. Er sah, dass auch Libby die Hände hob.

„Können Sie sich ausweisen, Sir?“, fragte ein Polizist.

Raul holte eine flache Geldbörse aus der Hosentasche und zog seinen Führerschein heraus. Der Polizist sah von ihm zum Foto und nickte. Dann drehte er sich zu Libby um. „Und Sie?“

„Das ist meine Begleiterin“, sagte Raul, erstaunt, weil ein heißer Besitzanspruch durch seinen Körper strömte. Andererseits hatte Libby die Gefahr Seite an Seite mit ihm durchgestanden. Selbstverständlich fühlte er sich ihr verbunden.

„Gut. Bringt sie raus“, sagte der Polizist zu seinen Kollegen und nickte in Richtung der vier Teenager. „Brauchen Sie ärztliche Hilfe, Sir?“

„Sie haben ihn geschlagen“, meldete sich Libby zu Wort.

Fast hätte Raul gelacht, so besorgt klang sie. „Ich bin ziemlich sicher, dass ich es überlebe“, meinte er und machte unwillkürlich einen Schritt auf sie zu. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte knapp.

„Sind Sie bereit zu einer Aussage?“, fragte der Polizist.

Raul sah, dass Libby zitterte. Wie erwartet setzte der Schock ein. „Eine kurze Aussage. Morgen kann ich ausführlicher mit Ihnen reden.“

Der Polizist zückte seinen Notizblock und stellte Fragen, die Raul beantwortete. Libby nickte dazu. Der Polizist gab Raul seine Visitenkarte. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.“

„Verlassen Sie sich drauf.“ Rauls Augen glitzerten.

So schnell, wie alles begonnen hatte, ging es zu Ende. Die Polizisten fuhren ab, die Sirenen verklangen, und Libby war mit Raul allein. Von Adrenalin gab es bei ihr inzwischen keine Spur mehr, sie schlotterte von Kopf bis Fuß.

„Ich … gehe jetzt besser“, sagte sie am eigenartigsten Nachmittag ihres Lebens.

„Kommt nicht infrage“, widersprach er mit einem halben Lächeln, obwohl sein Tonfall ernst war. „Setzen Sie sich.“ Er führte sie zum Kapitänsstuhl, verschwand und kehrte mit einer Decke zurück, die er ihr um die Schultern legte. Dann reichte er ihr ein Glas Scotch. „Trinken Sie das.“

Libby zog die Nase kraus. „Eigentlich trinke ich nichts Hochprozentiges.“

„Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen“, meinte er leise und liebenswürdig.

Sie sah ihm in die Augen, und etwas schien in ihrer Brust zu explodieren. Es war das merkwürdigste Gefühl, das sie sich vorstellen konnte! Als würde etwas in den Tiefen ihrer Seele etwas in Rauls Seele erkennen, das nach ihr rief und bedingungsloses Vertrauen auslöste.

Libby nahm das Glas. Ohne den Blick von Raul zu lösen, hob sie es an die Lippen und nippte. Als der Scotch ihre Zunge berührte, stellte sie fest, dass er wider Erwarten angenehm schmeckte. Beruhigend. Sie trank den Rest und hustete, weil er wie ein Molotowcocktail auf ihren Gaumen prallte.

„Alles gut?“ Raul klopfte ihr auf den Rücken und hockte sich neben sie. Als sie einander in die Augen sahen, ging ein Ruck durch Libbys Körper. Sie glaubte auf Wasser zu treiben und gleichzeitig zu fliegen. Ihre Knochen kamen ihr vor wie Wackelpudding. Sie nickte, obwohl sie zitterte. Wegen der bedrohlichen Lage, in der sie sich gerade befunden hatte? Oder aus einem anderen Grund?

Raul hatte ihr das Gefühl gegeben, alles sei in Ordnung. Sie hatte instinktiv gewusst, dass er die Oberhand behalten würde. Er besaß eine außergewöhnliche Eigenschaft: Aus ihm sprach etwas grundsätzlich Vertrauenswürdiges. Etwas, das sie noch nie bei einem Mann erlebt hatte. Weder bei ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hatte, noch bei einem der Liebhaber ihrer Mutter oder ihrem ersten – und einzigen – festen Freund.

Libby starrte Raul an, weil es ihr unmöglich war, den Blick von ihm abzuwenden. „Ich fühle mich …“, begann sie und drückte eine Hand auf ihr Brustbein, während sie mit gerunzelter Stirn nach dem richtigen Wort suchte.

Er sah sie an, doch sie konnte nichts in seinem Blick lesen. Trotzdem regte sich etwas in ihr auf. Es war wie ein Erwachen, lebenswichtig, und es erwischte sie kalt, weil es all ihren Gewohnheiten widersprach.

Nachdem ihre Mutter sich Hals über Kopf in Affären gestürzt hatte, war Libby bewusst anders vorgegangen. Oh, sie sehnte sich nach Liebe, aber nicht so wie ihre Mutter. Wenn Libby sich verliebte, würde es für immer sein, in den richtigen Mann. Jemanden, der freundlich und einfühlsam war und ihr nicht wehtat. Ganz bestimmt würde sie nie etwas derart Oberflächlichem und Unzuverlässigem wie körperlicher Anziehungskraft nachgeben!

„Raul“, sagte sie eindringlich und legte die Hand von ihrem Brustkorb auf seinen. „Sie waren unglaublich.“ In ihrer Stimme schwangen Ehrfurcht und Bewunderung mit. Sie überlegte, ob sie sich beherrschen und die Coole spielen sollte, brachte es aber nicht fertig. „Ich fühle mich lebendiger als je zuvor“, gestand sie lächelnd.

Als er den Blick auf ihren Mund senkte, trieb eine unsichtbare Macht sie vorwärts. Es erschien ihr unausweichlich, hundertprozentig richtig. Bevor sie länger darüber nachdenken oder auf die warnende Stimme hören konnte, die sie all die Jahre vor Liebeskummer bewahrt hatte, streifte sie Rauls Lippen mit ihren, auf der Suche nach einer Verbindung.

Libby hatte halb erwartet, dass er zurückwich. Sie fühlte, wie sich sein Körper versteifte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn küsste. Sie verharrte, die Lippen auf seinen, ohne den Kuss zu vertiefen, atmete Rauls Nähe ein und fragte sich, ob sie gerade einen kolossalen, beschämenden Fehler machte.

Doch in der nächsten Sekunde küsste Raul sie, als würde er von derselben Macht angetrieben. Ein kehliger Laut entschlüpfte seiner Brust, als er sie an sich zog, damit er sie noch intensiver küssen konnte. Seine Lippen schienen nicht weniger zu fordern als einen vollkommenen Kuss. Libby und er bewegten sich in einzigartigem Gleichklang. Sie wusste nicht, ob sie aufstand oder Raul sie hochzog, sondern nur, dass er sie mit beiden Händen enger an sich drückte, an seinen breiten, starken Brustkorb.

Es war wie ein Dammbruch.

Die Anspannung und Gefahr der vorangegangenen dreißig Minuten hatten sich wie Wellen bei starkem Seegang zu einer verzehrenden Sehnsucht aufgebaut, die Libby zu verschlingen drohte. Raul war ihre Rettung.

Geschickt zog er sie aus, und sie kam gar nicht auf die Idee, ihr ungewöhnliches Verhalten zu hinterfragen. Sie schwamm einfach mit dem Strom, überließ sich einem Moment, der so viel größer war als sie selbst.

Plötzlich war Rauls Oberkörper nackt, und sie begriff, dass sie selbst Raul das Hemd ausgezogen hatte, um sich gleich darauf seinen anderen Sachen zu widmen. Im selben Augenblick, in dem sie den Hosenbund herunterschob, streifte Raul das Kleidungsstück auch schon ab. Wie zwei Verzweifelte knieten sie sich hin. Er legte sich auf sie, hungrig, drängend, küsste sie verlangend, ließ die Hände über ihre Haut gleiten, berührte jeden Zentimeter ihres Körpers, liebkoste ihre Brüste, bis sie kaum noch Luft bekam. Mit dem Mund folgte er seinen Fingern, übersäte ihre Haut mit Küssen. Es kam ihr vor, als würde sich die Welt viel zu schnell drehen und als könnte sie nichts anderes wahrnehmen als dies hier.

Gleich darauf löste er sich von ihr. Verdutzt stützte Libby sich auf die Ellenbogen und sah, wie er ein Kondom aus seiner Geldbörse zog, um es überzustreifen.

Ihre Augen weiteten sich, denn seine Erektion war riesig, und sie hatte schon lange keinen Sex mehr gehabt. Alles in allem überhaupt nur wenige Male – und fast immer, ohne es wirklich zu genießen. Mitten in das Gefühl, dass dies unausweichlich war, meldete ihr Bewusstsein scharfe Zweifel an.

Sie sollte es beenden.

Sie war nicht wie ihre Mutter.

Sie hatte ihre Lektionen gelernt.

Offenbar nicht, weil Sehnsucht und Begehren derart in ihr brannten, dass ihr Hirn die Zweifel ignorierte. Raul kehrte zu ihr zurück und mit ihm ihre Gewissheit, ihre Lust, die alles andere verdrängte, bis sie ausschließlich gespannte Vorfreude empfand, als er mit dem Knie ihre Beine spreizte. Gleich darauf drang er in sie ein, und sie schrie auf, denn ein ganz neues Gefühl brandete durch ihren Körper, während lauter lebensbejahende Kräfte wie Erleichterung, Adrenalin, Sehnsucht und Macht von ihr Besitz ergriffen. Raul küsste sie, und sie schlang ihm instinktiv die Beine um die Hüften. Irgendwie passte dieser gewaltige perfekte Moment genau zu dem merkwürdigen Umweg, den ihr Leben heute genommen hatte. Später würde sie sich vermutlich fragen, was in sie gefahren war, aber jetzt konnte sie nur daliegen und die herrlichsten Wonnen auskosten, die sie je erfahren hatte.

„Also.“ Raul löste sich mit aufrichtigem Bedauern von Libby, doch er wusste, dass er auf Distanz gehen musste, wenn er wieder zur Vernunft kommen wollte. „Das kam unerwartet.“

Zu seiner Erleichterung lächelte Libby. Es war ein langsames, sinnliches Lächeln. „Welcher Teil? Der Diebstahl der Jacht oder der Sex?“

Etwas wie Belustigung keimte in ihm auf. „Beides.“

„Stimmt.“ Sie sah sich um. Als ihr Blick auf das Knäuel aus Kleidungsstücken fiel, senkten sich ihre Mundwinkel.

„Ich denke, im Überschwang des Augenblicks …“, begann Raul.

„Die Euphorie, weil wir überlebt haben“, ergänzte Libby und nickte.

Er war froh, dass sie vernünftig reagierte und seine Sichtweise teilte. Warum spürte er trotzdem einen Hauch von Enttäuschung darüber, dass sie so rasch abtat, was eben zwischen ihnen passiert war? Morgen verließ er Australien. Es war nicht so, als hätte er Libby mehr bieten können – oder wollen.

„Das alles war … surreal“, meinte sie.

„Aber wundervoll“, murmelte er und zog seine Boxershorts an. „Jedenfalls der zweite Teil.“

Das Blut stieg ihr in die Wangen. Sie wirkte auf eine so süße Weise unschuldig, dass er sich fragte, wie oft sie etwas wie eben wohl machte. Jungfrau war sie nicht gewesen, aber angesichts ihrer absolut ungehemmten Reaktionen auf seine Zärtlichkeiten wunderte ihn ihr Erröten.

Raul schob die Gedanken beiseite. Er machte sich keine Gedanken über die Frauen, mit denen er schlief. Er stellte keine Vermutungen über ihr Privatleben an. Er hatte Sex, und danach ging er seiner Wege.

„Bist du okay?“

Sie nickte und seufzte leise.

„Wegen der Entführung, meine ich. Manchmal können derartige Vorfälle ein Trauma auslösen. Falls du Hilfe brauchst, will ich, dass du mich informierst.“

„Ich bin sicher, dass ich es gut wegstecke.“

„Ich auch. Trotzdem …“ Er nahm seine Geldbörse und musste beträchtliche Willenskraft mobilisieren, um das zweite Kondom darin zu ignorieren. „Hier ist meine Karte.“

Sie nahm das Kärtchen, das er ihr hinhielt, ohne es anzusehen. „Danke.“

„Ich würde jegliche Kosten übernehmen für eine Therapie oder was auch immer du brauchst.“

Libby musste lachen. „Raul, es ist in Ordnung. Ich bin in Ordnung.“ Sie stand auf, schnappte sich ihre Unterwäsche und zog sie mit so geschmeidigen Bewegungen an, dass sein Mund trocken wurde. Die Frau besaß eine natürliche Anmut. Sie war wunderschön.

Er runzelte die Stirn. „Möchtest du mit mir zu Abend essen?“

Ihre Augen weiteten sich, als wären seine Worte das Letzte, was sie erwartet hatte.

Aber traf das nicht auch auf ihn selbst zu? Abendessen? Im Anschluss an Sex? Er konnte das für ihn so untypische Angebot nur mit dem bizarren Tag erklären, der hinter ihm lag.

„Es ist zu früh für ein Abendessen.“ Libby hatte recht. Wahrscheinlich war es noch nicht mal sechzehn Uhr. „Außerdem bin ich nicht hungrig.“ Sie zog sich vollständig an. „Ich hole schnell meine Sachen und gehe.“

Der Sex war fantastisch gewesen. Gleichzeitig sah dieses unerwartete Intermezzo Libby überhaupt nicht ähnlich.

Bei der Vorstellung, mit Raul beim Abendessen zu sitzen, zog es schmerzhaft in ihrer Magengrube. Warum, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass ihr Rauls Anziehungskraft gefährlich vorkam. Überraschend gefährlich, denn eben noch hatte er für sie Sicherheit und Vertrauen verkörpert.

Es frustrierte sie, so hin- und hergerissen zu sein. Sie setzte ein fröhliches Lächeln auf und hoffte, dass es eine Zuversicht ausstrahlte, die sie nicht empfand. „Tja, es war … nett, wenn auch … ziemlich seltsam, dich kennenzulernen“, sagte sie und streckte ihm die rechte Hand hin. Das mochte komisch aussehen, weil sie eben mit ihm auf dem Boden seiner Jacht geschlafen hatte, aber Libby wollte wieder die selbstbewusste, vernünftige Frau sein, die sie war – das Gegenteil ihrer Mutter.

„Gleichfalls, Libby Langham.“ Er nahm ihre Hand.

Ein köstlicher Schauer lief von ihren Fingerspitzen geradewegs zu ihrem Herzen. Hastig zog sie die Hand weg und drehte sich um, bevor Raul ihr etwas ansehen konnte. Sie musste hier raus.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein.“ Der Polizist starrte Raul an, als besäße er drei Köpfe. „Die Typen wollten Ihre Jacht stehlen. Sie haben Sie geschlagen. Und Sie bieten an, ihre Schulgebühren zu zahlen?“

„Ich biete jegliche Unterstützung, die sie brauchen. Bitte arrangieren Sie für den späten Nachmittag ein Treffen mit den Eltern.“ Raul blickte auf seine Armbanduhr. Heute Abend flog er ab, daher blieb ihm nur begrenzt Zeit. Er war in armen Verhältnissen aufgewachsen und hatte in seiner Jugend Dinge getan, für die er sich heute schämte. Die Wende zum Guten in seinem Leben verdankte er der Tatsache, dass zwei Menschen Vertrauen in ihn gesetzt hatten. Ihnen zuliebe versuchte er heute, jungen Menschen Hoffnung zu schenken.

„Die Jungs stecken schon den größten Teil ihres Lebens in Schwierigkeiten“, erklärte der Polizist.

„Ein Grund mehr, etwas Neues zu probieren.“

Raul verließ das Polizeirevier zufrieden, weil er wusste, dass er das Richtige tat. Gleichzeitig meldete sich in ihm eine nervöse Ungeduld. Das Gefühl, mehr zu wollen.

Libby zu wollen.

Vor ihm blitzten Bilder des gemeinsamen Nachmittags auf. Einen Moment schloss er die Augen, weil ihn eine Welle des Verlangens erfasste und das gleiche Gefühl in ihm aufstieg, mit dem er die erotischen Wonnen ganz und gar ausgekostet hatte. Resolut verdrängte er das Erlebnis und konzentrierte sich auf sein nächstes Ziel, die nächste Herausforderung. Raul schaute nie zurück. Er hielt nichts davon, Erfahrungen zu wiederholen, und er blieb nie lange genug irgendwo oder bei irgendwem, um sich emotional an den Ort oder die Person zu binden.

3. KAPITEL

Drei Monate später …

Es war ein Wunder, dass Libby die Visitenkarte behalten hatte, denn sie wollte Raul auf keinen Fall um Hilfe bitten. Vielleicht war die Karte für sie eine Art Talisman. Der Beweis, dass sie sich die ganze Sache nicht eingebildet hatte. Sie hatte sie in ihre Geldbörse gesteckt und ignoriert.

Wenn sie Einkäufe machte, streiften ihre Fingerspitzen die Ecken des Kärtchens, aber sie war kein einziges Mal schwach geworden, hatte es nie herausgezogen und das Bild von Raul Ortega heraufbeschworen. Andererseits brauchte sie dafür keine Visitenkarte.

Er schien in ihr Hirn eingebrannt zu sein. Sehr ärgerlich, wenn sie bedachte, wie wenig Zeit sie mit ihm verbracht hatte. Libby musste nur die Augen schließen, um seine vor sich zu sehen – um sich daran zu erinnern, wie er sich angefühlt, wie er gerochen, geschmeckt hatte …

Was soll ich jetzt machen, fragte sie sich, während ein Schwarm Schmetterlinge ihren Bauch terrorisierte.

Sie senkte den Blick auf das weiße Stäbchen mit den beiden pinkfarbenen Strichen. Eine Mischung aus Panik und Ungläubigkeit stieg in ihr auf.

Schwanger!

Wie war das möglich?

Sie hatten doch ein Kondom benutzt!

Und nur ein einziges Mal miteinander geschlafen!

Sie kannten einander kaum!

Es war … unvermeidlich? Noch während ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, wusste sie, dass er dumm und falsch war. Nichts hieran hätte unvermeidlich sein sollen. Es hätte gar nicht passieren dürfen.

Ächzend drückte sie den Hinterkopf an das abgewetzte Sofapolster. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich eine Hand schützend auf den noch flachen Bauch legte.

Auch Libby war ein Unfall gewesen. Sie war von ihrer alleinstehenden Mutter großgezogen worden und hatte ihren Vater nie kennengelernt. Meistens hatte sie Lebensmittel eingekauft, Essen gekocht und geputzt. Nach Schule und Haushalt war sie zu müde für die üblichen Zerstreuungen eines Teenagers gewesen. Und was ein Studium betraf – ausgeschlossen.

Gerade jetzt, da sie auf dem Weg war, Stabilität in ihr Leben zu bringen, sah sie einer Zukunft als Alleinerziehende ohne Sicherheitsnetz entgegen. Genau wie ihre Mutter damals. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, ein anderes Leben zu führen, und nun steckte sie im selben Dilemma.

Libby schlang sich beide Arme um den Oberkörper. Trotz des warmen Tages fröstelte sie. Es graute ihr davor, Raul von dem Baby zu erzählen, und es graute ihr davor, ihm nicht davon zu erzählen.

New York glitzerte wie eine Million Sterne, doch Raul nahm es kaum wahr. Als aufstrebender junger Mann hatte er sich geschworen, den Anblick nie als selbstverständlich hinzunehmen. Nach fast einem Jahrzehnt als Milliardär neigte er allerdings dazu, die Privilegien seines Lebens nicht mehr zu erkennen.

Als sein Telefon klingelte, wollte er es ignorieren, aber es handelte sich um seine Privatverbindung, die kaum jemand kannte. Wenn ihn jemand unter dieser Nummer anrief, war es wichtig. Also klemmte er den Hörer unter sein Kinn.

„Ortega“, brummte er, den Blick auf den Computerbildschirm gerichtet.

„Hallo?“, fragte er ungeduldig, weil der Anrufer nicht reagierte.

„Äh, hallo.“

Die Stimme klang leise und vertraut. Obwohl er sie nicht auf Anhieb einordnen konnte, spannte sich sein Körper an. „Wer spricht da?“, fragte er wachsam. Jeder Mensch, der ihn instinktiv so reagieren ließ, verdiente seine Wachsamkeit.

Stille.

Schwere Atemzüge.

Er fasste den Hörer fester, doch in der nächsten Sekunde ertönte das Freizeichen. Wer auch immer in der Leitung gewesen war, hatte aufgelegt.

Raul sprang aus dem Schreibtischstuhl und ging mit langen Schritten zum Fenster. Breitbeinig stand er da, die Hände in den Hosentaschen, und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen. Unbehagen erfüllte ihn, als hätte er etwas Wichtiges oder jemand Wichtigen verpasst.

Libby wusste, dass sie sich wie ein Feigling benommen hatte, aber Rauls Stimme hatte sie dermaßen nervös gemacht, dass sie nicht mehr klar denken, geschweige denn reden konnte.

Er haute sie um mit seiner natürlichen Autorität und seiner Art, wie selbstverständlich die Führung zu übernehmen. Genau diese Eigenschaften hatten bei ihrem Anruf in seiner Stimme mitgeschwungen – und sie aus dem Konzept gebracht.

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie eine Bombe in sein Leben werfen und er seine Autorität gegen sie richten würde. Vor dem Gespräch brauchte sie einen Plan. Wenn Raul Fragen bezüglich des Babys stellte, musste sie entschieden antworten können.

In den frühen Morgenstunden fiel Raul die Antwort ein.

Seltsamerweise waren es eher die kurzen, heiseren Atemzüge am Telefon gewesen als die Stimme. Diese Atemzüge hatten auf urwüchsige Weise eine seit Monaten schlummernde Erinnerung getriggert. Hitze jagte durch seinen Körper. Er war überrascht, dass Libby sich doch noch bei ihm gemeldet hatte – und dass er sich so darüber freute.

Im nächsten Moment meldete sich Sorge. Wenn sie ihn kontaktierte, musste es ein Problem geben. Bestimmt waren die Ereignisse auf der Jacht traumatisch für sie gewesen. Er musste sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Das hätte ich schon früher tun sollen, dachte er beschämt. Aber er hatte sich ihre Telefonnummer nicht notiert, sondern ihr nur seine eigene gegeben.

Und sie hatte davon Gebrauch gemacht.

Morgenübelkeit hat man also auch abends, dachte Libby, während sie sich vorsichtig aufrichtete und im Badezimmerspiegel anschaute.

Nach Feierabend hatte sie geduscht, ein ärmelloses Top und einen luftigen Rock angezogen. Endlich fühlte sie sich gut genug für eine Tasse Tee. Sie schaltete den Wasserkessel ein und blickte aus dem Küchenfenster. Die Ziegelmauer des Nachbarhauses sah nicht gerade inspirierend aus, aber beim Anblick der Details wurde Libby leichter ums Herz: die Bougainvillea, die an den Seiten entlangrankte, voller grüner Blätter und pinkfarbener Blüten. Das Graffiti in Form eines Hundewelpen in einem Heißluftballon. Die Wäscheleine zwischen Fenster und Zaun war bestimmt ein Verstoß gegen die Bauordnung, aber für Libby sah die Szene wie ein Stillleben aus.

Als das Wasser kochte, goss sie es in eine Tasse und schaute zu, wie es die Farbe des Tees annahm. Sie unterdrückte ein Gähnen. Die Doppelschichten, die sie seit einer Woche schob, verstärkten ihre ständige Müdigkeit noch.

Wenn sie nach der Geburt ein paar Monate freinehmen wollte, musste sie Geld sparen, und zwar schnell. Sie brauchte einen Job, den sie zu Hause erledigen konnte. Putzen schied aus. Ihr Blick glitt zum Kühlschrank, an dem ein Flyer der Volkshochschule hing. Schon vor der folgenreichen Begegnung mit Raul hatte sie den Kurs in Buchhaltung eingekreist.

Schaffe ich das? Libby legte sich eine Hand auf den Bauch.

Sie wusste es nicht. Ihre Mutter hatte gewollt, dass sie die Schule nach der zehnten Klasse verließ, um zu arbeiten und Geld zum Haushalt beizutragen, aber Libby hatte sich durchgesetzt und das Abitur gemacht. Mit mehr Zeit zum Lernen wären ihre Noten deutlich besser ausgefallen.

Was hielt sie jetzt davon ab, sich weiterzubilden? Sicher, es würde anstrengend sein, aber wenigstens hätte sie ein Erfolgserlebnis und die Aussicht, gut für ihr Kind sorgen zu können.

Sie holte die Milch aus dem Kühlschrank und goss etwas in ihre Teetasse. Als sie die Flasche zurückstellen wollte, klopfte es an der Wohnungstür. Sie ging durch das kleine Apartment und zog mit einem höflichen Lächeln die Tür auf.

Ihr Lächeln erlosch, als sie sich Raul Ortega gegenübersah. Sie öffnete die Lippen halb, alles in ihrem Kopf fühlte sich schwammig an, und sie sah nur noch ein strahlend helles Licht.

„Raul“, hauchte sie und packte die Tür fester. „Was machst du hier?“ Sie blinzelte. Bildete sie sich den Mann nur ein?

„Du hast mich angerufen“, sagte er.

Ihr Puls schoss in die Höhe. „Oh …“, murmelte sie, während sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog.

„Ich habe angenommen, dass du etwas brauchst.“

Er sollte nicht hier sein! Dies war kein Gespräch, das sie von Angesicht zu Angesicht führen wollte. Am liebsten hätte sie es gar nicht geführt. Doch es kam für sie nicht infrage, ihr Kind von seinem Vater fernzuhalten – oder umgekehrt.

Natürlich musste sie Raul informieren. Zum richtigen Zeitpunkt, wenn sie ihren Mut zusammengenommen hatte. Allerdings stand er nun direkt vor ihr und sah sie mit einem ungeduldigen Zug um den Mund an. Sämtlicher Sauerstoff schien aus ihren Lungen zu weichen.

„Raul“, wiederholte sie, als wäre sein Name ein rettender Anker. Als ergäbe alles einen Sinn, wenn sie diesen Namen aussprach.

Was nicht zutraf.

War er nur wegen ihres Anrufs nach Sydney gekommen oder bereits hier gewesen? Garantiert Letzteres. Er wäre auf keinen Fall aufgrund eines zehnsekündigen Telefonats nach Australien geflogen. Schweißperlchen bildeten sich über Libbys Oberlippe. Sehnsüchtig dachte sie an ihren Tee.

„Warum hast du angerufen?“ Er fragte es so gebieterisch, so fordernd.

„Ich …“ Rasch fuhr sich Libby mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Noch nie war sie dermaßen ängstlich gewesen. Eigenartig, wenn sie bedachte, dass sie sich seit einer Woche für diese Unterhaltung wappnete. Als Raul den Blick auf ihren Mund senkte und der Bewegung ihrer Zunge folgte, schien etwas in ihrem Bauch überzusprudeln und in ihre Adern zu strömen. Alle möglichen Empfindungen, die sie nicht einordnen konnte, bildeten ein wirres Knäuel.

Libby atmete tief ein und versuchte, sich zu sammeln. „Komm doch rein“, sagte sie in der Hoffnung, entschlossen zu klingen. Doch ihre Stimme hörte sich ängstlich an. Sie räusperte sich. „Es … dauert nicht lange.“

Raul zog die Stirn kraus und schob die Hände in die Hosentaschen, nickte aber knapp.

Ihr Magen vollführte einen Sturzflug. Rasch drehte sie sich um und ging vor. Sofort schämte sie sich für ihr heruntergekommenes, winziges Apartment. Ihr war klar, wie es auf Raul wirken musste. Sie hatte ihr Bestes getan, damit es freundlicher wirkte, doch trotz der gebraucht gekauften bunten Tischdecke und der Decke über dem Sofa wirkte es billig.

Nicht, dass sie sich für ihre finanzielle Lage hätte entschuldigen müssen. Im Gegenteil, Libby war stolz darauf, wie sie sich am eigenen Schopf aus der Misere gezogen hatte. Aber Raul war nun einmal anders als jeder Mensch, den sie kannte. Sie wollte nicht, dass er sie durch diesen Filter sah.

„Ich habe gerade Tee gemacht. Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie nervös, ging in die Küche und legte beide Hände um den Becher.

„Nein, danke.“ Die Furche zwischen seinen Brauen grub sich tiefer ein. „Wie geht es dir?“

„Gut“, log sie. „Richtig gut. Und dir?“

Er ließ einen Moment verstreichen. „Auch gut.“

Es war eine Katastrophe! Viel gezwungener als auf der Jacht. Damals hatten sie sich wegen des Adrenalins und des Abenteuers auf Augenhöhe befunden. Libby war durch die Stärke, die sie bewiesen hatte, mutig gewesen. Jetzt fühlte sie sich verkrampft und hatte keine Ahnung, wie sie die nächsten Minuten überstehen sollte. Sie wusste nur, dass sie es schaffen musste – irgendwie.

„Warum hast du mich angerufen, Libby?“, fragte er noch einmal und lehnte sich mit einer Hüfte an die Arbeitsplatte.

Auch die Küche wirkte schäbig, aber sie war ihr Lieblingsort wegen des Blicks auf die Bougainvillea und des bunten Geschirrs. Sie versuchte, daraus Zuversicht zu schöpfen. „Ich … dachte, dass du wissen solltest …“, begann sie und nippte an ihrem Tee.

„Ja?“

Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Himmel, das ist viel schwerer, als es sein sollte“, meinte sie und lachte freudlos.

„Libby, bist du okay?“

„Nein.“ Ächzend stellte sie den Becher auf die Arbeitsplatte. „Nicht wirklich. Und doch, gleichzeitig bin ich okay.“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Ich weiß“, sagte sie leise und holte tief Luft. „Die Sache ist die …“ Sie fixierte ihren Becher, weil sie Raul nicht in die Augen sehen wollte. Sein Blick war viel zu scharfsinnig, zu fragend. Zu alles. „Die Sache ist die“, begann sie noch einmal. „Damals …“

Stille. Nur das Ticken der Uhr auf der Arbeitsplatte war zu hören. Libby merkte erst jetzt, wie laut es war. Geräuschvoll verstrich jede Sekunde.

„Raul, ich bin schwanger“, sagte sie endlich. Nun, da sie beschlossen hatte, es auszusprechen, purzelten die Worte nur so aus ihrem Mund: „Dreieinhalb Monate schwanger, um genau zu sein. Du bist der Vater.“

4. KAPITEL

Raul kannte die Redewendung, jemandem werde der Boden unter den Füßen weggerissen. Bisher hatte er sie für eine Übertreibung gehalten. Er hatte etliche Schicksalsschläge erlebt und all seine innere Stärke und Entschlossenheit mobilisieren müssen, aber nie geglaubt, ihm werde der Boden unter den Füßen weggerissen.

Bis zu dem Moment, als alles in seinem Leben die vertraute Form, den vertrauten Zusammenhang verlor. Sogar er selbst kam sich fremd vor.

Nein, wollte er schreien. Libbys Behauptung mit jeder Faser seines Wesens zurückweisen. Die Welt mit bloßen Händen auseinanderreißen und diese Wirklichkeit abschütteln. Er konnte kein Vater sein. Konnte niemandem etwas bedeuten. Er war ein Einzelgänger. So war er zur Welt gekommen und aufgewachsen. Allein war er besser dran.

Seine Atemzüge wurden unregelmäßig. Er starrte Libby an, als könnte er ihre Worte dadurch ungesagt machen oder begreifen.

Mit gesenktem Blick stand sie da. Sonnenlicht fiel in die Küche und verlieh ihrem Kopf einen goldenen Schimmer, wie ein Heiligenschein. Wie von selbst glitt Rauls Blick zu ihrem Bauch. Der war flach, genau wie in seiner Erinnerung an jenen Nachmittag. Libby war schlank, doch als er ihr wieder ins Gesicht sehen wollte, blieb sein Blick an ihren Brüsten hängen. Bildete er sich nur ein, dass sie voller wirkten? War das ein Beweis?

Bestand irgendeine Wahrscheinlichkeit, dass diese Sache nicht stimmte?

Warum sollte Libby lügen?

Raul hatte ein Kondom benutzt, doch die Methode war nicht absolut sicher. Er hob eine Hand, rieb sich das Kinn und sah schweigend geradeaus. Nach dem anfänglichen Schock funktionierte sein Hirn wieder. Fieberhaft überlegte er.

Offenbar war Libby arm. In ihrem Beruf verdiente man nicht gut, und ihr Apartment zeigte, dass sie knapp bei Kasse war. Vielleicht betrachtete sie die Schwangerschaft als Weg, um an Geld zu gelangen.

Nicht, dass sie es geplant hatte. Wie auch? Zum Sex war es spontan gekommen. Wie immer hatte Raul verhütet. Allerdings hatte er Libby nicht gefragt, ob sie selbst verhütete. Er war davon ausgegangen, dass eine Frau in ihrem Alter es tat. Dumm von ihm.

„Ich verstehe“, sagte er schließlich. In seiner Stimme schwang keinerlei Emotion mit, obwohl die Neuigkeit ihn bis ins Mark traf. Während Gedanken rasend schnell durch seinen Kopf schwirrten, schwankte sein Körper zwischen Kampf und Flucht. Bevor er irgendetwas tat, musste er Libbys Absichten ergründen und sich selbst besser verstehen. Ein Baby war so ziemlich das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Er hatte nie Kinder gewollt. Trotzdem … Irgendetwas an dieser Nachricht versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube und drängte ihn, für das Kind zu kämpfen, das er nie gewollt hatte.

„Und?“, fragte er vermeintlich geduldig.

Endlich sah sie ihm in die Augen.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Dies war die Mutter seines Kindes. Obwohl sie einander kaum kannten, stand sie mit einem engelsgleichen Gesicht vor ihm und erzählte ihm, dass sie ein Baby gezeugt hatten. Ein tief verwurzelter wilder Besitzanspruch brandete in ihm auf.

„Ich habe meinen Vater nie kennengelernt und weiß nicht mal seinen Namen. Ich brauche dich nicht als Vater. Ich brauche dich für gar nichts.“ Sie reckte das Kinn vor. „Aber ich finde, dass du es verdienst, Bescheid zu wissen. Unser Kind wird auch von dir erfahren. In welcher Weise du ein Teil seines Lebens sein willst, liegt bei dir – und bei ihm, wenn es alt genug ist, um selbst zu entscheiden.“

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Das Gefühl gefiel ihm kein bisschen.

Anfangs war Libby enorm unsicher gewesen, aber nun packte sie den Stier bei den Hörnern. Hatte sie auch nur den Schimmer einer Ahnung, wie verstörend ihr Bild von der Zukunft für Raul war?

Natürlich nicht.

Er war gezwungen, sich in Lichtgeschwindigkeit mit einer Idee auseinanderzusetzen, die er verabscheute und dennoch als Tatsache akzeptieren musste. Einerseits bot Libby ihm einen Ausweg. Er konnte ihr Geld geben, damit sie dieses Baby ohne ihn großzog.

Aber kein Kind zu wollen, war nicht dasselbe wie sein eigenes Kind zu ignorieren. Es ging nicht mehr um ein theoretisches Szenario, sondern um die Realität. Allein die Vorstellung, nichts mit seinem Kind zu tun zu haben, war Raul ein Gräuel, und er musste kein Psychotherapeut sein, um den Grund zu erkennen.

Für ihn hatte niemand gekämpft. Ihn hatte niemand beschützt. Kein Kind, das von ihm abstammte, würde durchmachen, was er durchgemacht hatte – nicht, solange er atmete.

„Du schlägst vor, dass du das Kind allein großziehst?“ Er hörte den spöttischen Unterton selbst, konnte seine Gefühle aber nicht mehr zügeln.

„Warum nicht?“ Sie verschränkte die Arme.

Bevor er es verhindern konnte, senkte sich sein Blick auf ihre Brüste. Als er ihn wieder hob und Libbys gerötete Wangen sah, regte sich etwas in seiner Leistengegend. Er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen. „Wie willst du Geld verdienen?“ Betrachtete sie ihn als jemand, dank dem sie finanziell ausgesorgt hatte? Falls ja, war dies ihre Chance.

Selbstverständlich wollte er finanziell für sein Kind aufkommen. Gleichzeitig musste er mehr über Libby herausfinden. Sie war derart plötzlich und überwältigend in sein Leben geplatzt und wieder verschwunden, dass er sich manchmal gefragt hatte, ob die Begegnung nur ein Traum gewesen war. Er wollte sie kennenlernen. Nicht, weil sie die Frau war, die sie war, sagte er sich, sondern weil sie die Mutter seines Kindes sein würde.

„Ich habe schon ein paar Ideen. An den Details feile ich noch, aber keine Sorge“, erwiderte sie mit einem Hauch von Verachtung. „Ich habe nicht vor, auch nur einen Cent von dir anzunehmen, Raul. Dies ist keine Erpressung.“

Dass sie ihn durchschaute, machte ihn verlegen. Er wollte mehr tun, als jeden Monat Geld zu überweisen. „Du brauchst Geld, und natürlich werde ich es dir zur Verfügung stellen.“

„Das möchte ich nicht.“

„Warum nicht?“

Sie hob die schmalen Schultern und ließ sie wieder sinken. „Weil … Ich weiß einfach, dass ich es selbst schaffen kann.“

„Du weißt ebenfalls, dass ich ein sehr vermögender Mann bin. Glaubst du, ich würde dich in dieser erbärmlichen Umgebung lassen, damit du hier ein Kind großziehst, das ich gezeugt habe?“

„Ich …“ Sie blickte sich um. Nun waren ihre Wangen hochrot. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Raul bereute seine Worte sofort. Mit erbärmlich mochte er über das Ziel hinausgeschossen sein. Libbys Apartment war heruntergekommen, aber sie hatte sich Mühe gegeben, es hell und freundlich zu gestalten. Andererseits war dies nicht der richtige Zeitpunkt für einen Rückzieher. Er musste sie dazu bringen, Vernunft anzunehmen.

„Ich habe nie Kinder gewollt“, sagte er leise.

Sie presste die Lippen zusammen und sah ihn an. „Du musst nichts mit unserem Kind zu tun haben.“

„Das ist keine Option mehr. Ich habe das hier nicht geplant. Genau darum lege ich größten Wert auf Verhütung. Trotzdem sind die Dinge jetzt so, wie sie sind.“ Aus heiterem Himmel fiel ihm etwas ein. Sein Herz sank. „Bist du dir hundertprozentig sicher?“

Libby holte einen Umschlag aus einer Schublade und zögerte kurz. Dann schob sie den Umschlag über die Arbeitsplatte zu Raul.

Er zog ein kleines quadratisches Foto heraus. Es war körnig, aber man konnte genug erkennen. Ein Ultraschallbild. Sein Kind. Er starrte es an, wartete darauf, dass sich jenes Gefühl einstellte, von dem alle immer erzählten. Überbordende Liebe zu dem verschwommenen Klümpchen. Doch er spürte lediglich das Bedürfnis, alles so zu arrangieren, dass er dieses Kind beschützen konnte. Es war keine Liebe, sondern Verantwortungsbewusstsein.

„Ich bin definitiv schwanger“, erklärte Libby. „Tut mir leid.“

Raul gab ihr das Bild zurück. „Es ist nicht deine Schuld.“

Sie wand sich kaum merklich. „Trotzdem ist es nicht ideal.“

„Stimmt. Ganz und gar nicht. Aber wir können es nicht ändern, also lass uns einen Plan machen.“

Hatte er eine Ahnung, wie beruhigend dieser Satz war? Hinter Libby lagen zwei Wochen, in denen sie ganz auf sich allein gestellt gewesen war, und plötzlich war Raul da. Bot an, wenigstens auszutüfteln, was als Nächstes passieren sollte. Sie hätte vor Erleichterung weinen können.

Lange hielt dieses Gefühl allerdings nicht an.

„Ich habe meinen Vater ebenfalls nicht kennengelernt, Libby. Und auch meine Mutter nicht. Du und ich haben etwas gemeinsam. Wir kennen beide die Unsicherheit, die durch eine...

Autor

Bella Mason
Mehr erfahren
Kelly Hunter
<p>Obwohl sie von Beruf Naturwissenschaftlerin ist, hatte Kelly Hunter schon immer eine Schwäche für Märchen und Fantasiewelten und findet nichts herrlicher, als sich in einem guten Buch zu verlieren. Sie ist glücklich verheiratet, hat zwei Kinder und drückt sich gerne davor, zu kochen und zu putzen. Trotz intensiver Bemühungen ihrer...
Mehr erfahren
Cathy Williams
<p>Cathy Willams glaubt fest daran, dass man praktisch alles erreichen kann, wenn man nur lang und hart genug dafür arbeitet. Sie selbst ist das beste Beispiel: Bevor sie vor elf Jahren ihre erste Romance schrieb, wusste sie nur wenig über deren Inhalte und fast nichts über die verschiedenen Schreibtechniken. Aber...
Mehr erfahren