3. KAPITEL
In der folgenden Woche musste Polly alles an Willensstärke aufbieten, was sie besaß. Zum Glück besaß sie reichlich davon. Es war beinahe so, als legte Luca es darauf an, schwierig zu sein, um sie dafür zu bestrafen, dass sie es wagte, ihn zu verlassen. Bei jedem anderen hätte sie das geglaubt. Doch Luca machte nichts einfach so, und sie hatte ihn nicht einmal kleinlich erlebt. Er machte nur, was notwendig war. Zumindest, was er für notwendig hielt. Das Problem war, dass das, was er für notwendig hielt, anderen nicht immer notwendig erschien. Sie eingeschlossen. Deshalb der Streit über seine nächtliche Anzugauswahl.
Wo ein anderer vielleicht versucht hätte, besonders entgegenkommend zu sein, um sie zu überzeugen, dass sie einen Fehler beging, oder sich bemüht hätte, ihre letzte Woche besonders miserabel zu machen, war Luca einfach Luca. Vor dem Gipfel war er nur mehr er selbst als sonst – eine besondere Form von schwierig, die fast eine eigene Kategorie verdiente. Der Luca-Salvatore-Effekt. Vielleicht sollte sie nach ihrer Kündigung medizinische Studien an ihrem Gehirn vornehmen lassen. Dann würde es eventuell als Krankheit anerkannt. Was mit einer Person geschah, die über lange Zeit Luca ausgesetzt war. Dann würde sich Luca eventuell dafür interessieren und mehr darüber lernen. Vielleicht war das der Weg zu persönlicher Weiterentwicklung für ihn. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Sie unterdrückte es.
Sie war erschöpft. Sie war fest entschlossen, zu gehen. Sie träumte von dem neuen Job. Von der Freiheit, die sie dort hätte. Von der Freiheit normaler Arbeitszeiten, statt rund um die Uhr auf Abruf bereitzustehen. Von der Freiheit, ihren Arbeitsplatz zu verlassen und nicht an ihren Chef zu denken. Ständig. Ununterbrochen. Jeden Moment des Tages. Sogar jetzt, in ihrer Wohnung, während sie telefonisch die Einzelheiten mit dem Hotel in Singapur besprach, dachte sie an Luca. Daran, sein Zimmer vorzubereiten. Daran, dass seine Laune nach ihrer Ankunft noch starrer werden würde, weil er an die Rede dachte und nicht in seinem Element wäre, ein notwendiges Übel, für das er seine Forschung unterbrechen musste.
Dann wandten sich ihre Gedanken der Nacht zu, in der sie gekündigt hatte. Seine nackte Brust. Der Ärger in seinen Augen. Diese verwirrende Kombination ging ihr nicht aus dem Sinn. Das war das Problem. Es war nicht nur ein Job. Anfangs war es ums Überleben gegangen, dann darum, ihre Träume zu verwirklichen, und irgendwann … um ihre Gefühle für Luca. Er war der allerschlimmste. Sie wusste das. Er war unvernünftig. Er tat Dinge, die kein normaler Mensch tun würde, und er erwartete von ihr, Dinge zu tun, die kein zurechnungsfähiger Mensch von seinen Angestellten erwarten würde. Dennoch kam sie seinen Launen im Voraus nach. Sie empfand sogar den seltsamen Wunsch, sich schützend vor ihn zu stellen.
Hinzu kam, dass er verdammt heiß war. Was sie davon abhielt, sich einem anderen Mann zuzuwenden. Deshalb steckte sie nun in einem Haufen unangenehmer Gefühle fest, die sie nicht haben wollte. In den letzten fünf Jahren hatte sich ihr Leben nur um ihn gedreht. Vielleicht war das ja das Problem. Es gab sonst nichts und niemanden. Sie hatte sich zu sehr darauf konzentriert, ihr Leben zu ändern, sich etwas Besseres aufzubauen. Deshalb hatte sie ihren Job allumfassend werden lassen. Sie wollte verzweifelt dem entfliehen, was sie gewesen war. Nie in das Leben zurückkehren, das sie mit ihren Eltern geführt hatte. Kontrolle haben.
So merkwürdig es auch war, obwohl Luca ein Tyrann war, kontrollierte sie sein Leben. Sie kümmerte sich um alle Aspekte seines täglichen Lebens. Sie hatte das Steuer in der Hand. Vielleicht war das ihr Problem. Sie stand kurz vor einer Veränderung. Niemand mochte Veränderung. Selbst wenn man sie wollte, wenn sie unvermeidlich schien, war sie angsteinflößend. Sie würde aus Rom wegziehen. Es war die letzten fünf Jahre ihr Zuhause gewesen. Sie hatte die USA zum ersten Mal verlassen und nicht vermisst. Sie war nicht zurückgekehrt. Zwar war sie gereist, aber das hier war ihre Heimat gewesen. Seit drei Jahre wohnte sie in derselben Wohnung. Sie ließ alles hinter sich, was sie kannte. Deshalb fühlte sich alles so unsicher an. Es ging nicht um Luca. Weil sie nicht glauben wollte, dass sie wärmere Gefühle für Luca hegte. Wo er doch der unvernünftigste Mensch auf Erden war.
Und doch. Sie war unwichtig für ihn. Dass sich sein Verhalten in der letzten Woche in keinster Weise geändert hatte, bewies das. Ihr Weggang bedeutete ihm nichts. Anfangs hatte es ihn zwar verstört, weil er keine Kontrolle über diese Änderung hatte. Luca war ein Meister darin, Veränderungen nicht zu mögen. Doch es hatte nichts mit ihr zu tun. Nichts damit, dass er sie in der Nähe haben wollte oder sie irgendwie gern hatte. Dasselbe galt für sie. Sie hatte ihn nicht gern. Sie hing nur an ihrer Lebensweise. Das war alles.
Als die Reise zum Gipfel schließlich anstand, hatte sie das Gefühl, dass jeden Moment eine Guillotine herabfallen würde. Denn es war so weit. Der Weg war zu Ende. Vielleicht hätte sie noch etwas länger in Singapur bleiben sollen. Ein wenig Zeit zwischen dem Ende eines Jobs und dem Beginn eines anderen. Zeit, um einen Teil der Welt zu erkunden, den sie nicht kannte, und vielleicht etwas Neues zu erleben. Kurz stellte sie sich vor, vollkommen loszulassen. Sich zu vergessen. Einen Mann zu finden – der nicht Luca war – und sich in ein wildes Abenteuer zu stürzen. Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. So war sie nicht. Sie war nicht aus Prinzip noch Jungfrau. Es war nur … Er beschäftigt dich. War das der einzige Grund? Ja, er war sexy. Umwerfend wie kein anderer Mann in ihren Augen, aber sie hegte keine Gefühle für ihn. Unmögliche Anziehung konnte nicht der einzige Grund sein, aus dem sie nie einen Liebhaber hatte. Sie schob den Gedanken beiseite, da Luca jeden Moment eintreffen würde.
Prüfend ging sie durch das Privatflugzeug, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war. „Ich sehe keine drei Notizbücher“, sagte sie.
Die Stewardess runzelte die Stirn. „Sind da nicht zwei?“
„Dr. Salvatore hat drei verlangt. Das ist Standard auf Flügen über drei Stunden.“
„Kann er kein eigenes mitbringen?“
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. „Dr. Salvatore bezahlt nicht Personal dafür, alles vorzubereiten, um seine wertvolle Zeit darauf zu verwenden, über die Anzahl seiner Notizbücher nachzudenken.“
Da war sie wieder. Die Entrüstung, die sie in seinem Namen verspürte, wenn nicht alles so war, wie er es verlangte. Sie hatte diesen Job nicht all die Jahre gemacht, ohne eine gewisse Indoktrination zu erleben. Der Mann heilte Krebs. Das wog es irgendwie auf, dass er ein Arschloch war. Das hieß nicht, dass sie ewig für ihn arbeiten konnte oder wollte, aber es war nicht so, als könnte sie beweisen, dass seine exzentrischen Ansichten nicht gerechtfertigt waren. Die Frau sah Polly schief an, und Polly kam sich … entblößt vor. Als würde die Flugbegleiterin dahinter etwas anderes vermuten als Professionalität, und das gefiel Polly nicht.
„Sie müssen neu sein“, sagte Polly und sah die andere Frau schneidend an. Sie klammerte sich an ihre hochmütige Assistentinnenfassade, weil es besser war, als durchschaut zu werden. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, stand Luca da. Ihre körperliche Reaktion bei seinem Anblick war ihr unerklärlich. Immerhin hatte sie ihn erst gestern gesehen. Doch hatte sie nicht die letzte Woche versucht zu entwirren, warum ihre Gefühle für ihn, für ihren Abschied, nicht so eindeutig waren, wie sie sollten?
„Es gibt ein Problem mit den Notizbüchern“, sagte Polly langsam. „Aber es wird geklärt.“
Sein Blick blieb unverwandt auf sie gerichtet. „Gut.“
Polly rief den Concierge-Service am Flughafen an. „Könnten Sie in den nächsten fünfzehn Minuten ein Notizbuch zum Flugzeug von Dr. Salvatore bringen? Ja.“ Sie gab die Einzelheiten durch und legte auf. „Alles wird bereit sein“, sagte sie. Er nickte einmal und verschwand im Schlafzimmer am Heck des Fliegers.
Sie atmete auf, und die Stewardess sah sie an. „Haben Sie Angst vor ihm? Sorgen Sie sich deshalb so um seine Notizbücher?“
Die Frau dachte, Polly hätte Angst? Sie runzelte die Stirn. „Ich habe keine Angst vor ihm. Aber Dr. Salvatore ist ein Genie. Er benötigt gewisse Dinge, damit er den Kopf frei hat, um über Medizin nachzudenken. Ich höre bald auf, aber …“
„Ach, dann mögen Sie es nicht. Oder ihn.“
Plötzlich herrschte ein seltsamer Meinungskrieg zwischen ihr und der anderen Frau. Als wollte sie Polly dazu bringen, zuzugeben, dass Luca unvernünftig war. Dem stimmte Polly zwar zu, aber sie konnte ihn einordnen. Und das würde sie der anderen Frau nicht erzählen.
„Falls Sie ein Problem mit Dr. Salvatore und seiner Arbeitsweise haben, sollte dies vielleicht Ihr erster und letzter Flug mit ihm sein“, erklärte sie bissig.
Luca wählte diesen Moment, um aus dem Schlafzimmer zu kommen. „Es gibt keinen Grund, mich zu verteidigen, Polly. Obwohl ich es schätze. Mir war nicht bewusst, dass Ihnen mein Image so wichtig ist. Andererseits ist es mir egal, ob mich die Flugbegleiterin vernünftig findet oder nicht.“ Er wandte sich der anderen Frau zu. „Sie muss lediglich ihre Arbeit machen. Ist das möglich?“ Die Flugbegleiterin nickte so eingeschüchtert, wie es Polly längst nicht mehr war.
Nachdem das Notizbuch gebracht worden war, konnten sie abheben. Polly versuchte, das Geschehene vom Standpunkt einer Frau zu bewerten, die Luca noch nie begegnet war. Dann analysierte sie ihre eigene Reaktion. Es war unvernünftig zu denken, dass Luca drei Notizbücher brauchte. Luca mochte das glauben, aber das war nur … eine seiner speziellen Gewohnheiten. Sie fragte sich, wann sie diesen Gewohnheiten gegenüber so verständnisvoll geworden war. Sie würde gern glauben, dass sie es nicht war, dass sie nur ihren Job so gut machte wie immer, bis zuletzt. Schließlich war sie wütend geworden, weil er sie um Mitternacht in seine Wohnung gerufen hatte. Aber lag das an der Lächerlichkeit der Forderung, der Uhrzeit oder der Art und Weise, wie sie sich bei seinem halbnackten Anblick gefühlt hatte?
Du braucht es nicht zu wissen. Weil du bald einen neuen Job hast. Sie fühlte sich erleichtert. Zum ersten Mal diese Woche. Vielleicht zum ersten Mal seit fünf Jahren. Sie musste die Antwort auf die Frage nach Luca nicht wissen. Weil sie kein Teil seines Lebens mehr sein würde. Du warst nie Teil seines Lebens. Du könntest genauso gut ein Briefbeschwerer sein. Ein Briefbeschwerer, den er wirklich mochte, aber trotzdem ein Briefbeschwerer.
Sie hatte sich daran gewöhnt, im Privatjet zu fliegen. Doch sie brauchte keinen Luxus. Sie wollte wichtig sein. Eine Hauptfigur in ihrem Leben. Das war sie in ihrer Kindheit nie gewesen. Für ihre Eltern hatte sie nur eine Nebenrolle gespielt, und sie war es leid. Mit Luca war es dasselbe. Er kannte nur eine Sichtweise, und zwar seine. Alles andere gehörte zu den unbedeutenden Extras.
Wie üblich, redeten sie auf einem langen Flug nicht. Sie hatte ein Buch dabei, und Luca füllte alle Notizbücher. Manchmal fragte sie sich, ob er das tat, weil er beweisen wollte, dass seine exzentrischen Anweisungen notwendig waren. Vielleicht wusste er aber auch nur, dass ein langer Flug drei Notizbücher voller Gedanken ergeben würde.
„Sie könnten Ihre Notizen digitalisieren.“ Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Nachdem sie ihm stundenlang gegenüber gesessen hatte, bettelte dieser Kommentar förmlich darum, gemacht zu werden. Obwohl sie es besser wusste.
„Ich sehe keinen Grund, etwas zu ändern, was funktioniert“, erwiderte er, ohne aufzusehen.
„Sie haben endlose Stapel Notizbücher.“
„Ja. Ich habe auch den Platz dafür.“
„Wenn sie digitalisiert wären, könnten sie durchsucht werden.“
Er sah sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. „Ich weiß, was in jedem Notizbuch steht.“
Seine Ernsthaftigkeit erinnerte sie daran, warum es manchmal leichtfiel, ihn zu verteidigen. Er war nicht absichtlich schwierig oder eigensinnig. Er verstand wirklich nicht, warum sie so etwas vorschlug. Sie fragte sich, wie seine Kindheit mit solch einem Gehirn gewesen sein musste. Hatten die Leute schon damals Ehrfurcht vor ihm?
„Waren Sie schon immer so?“, fragte sie unwillkürlich. Warum auch nicht? Sie hörte auf.
„Wie so?“
„Sie sind so penibel. Bei allem. Und überzeugt. Obwohl Ihre Überzeugungen für gewöhnlich begründet sind.“
„Sie arbeiten seit fünf Jahren für mich, und erst jetzt fragen Sie sich das?“
„Ich höre bald auf. Vielleicht frage ich deshalb.“ Ihr wurde bewusst, dass hierbei die Uhr lief. Sie würde sich oder ihr Leben in den letzten fünf Jahren nie verstehen, wenn sie ihn nicht verstand. Plötzlich erschien es dringend.
„Ich weiß nicht, wie ich die Frage beantworten soll. Ich war schon immer ich. Hatten Sie schon immer Ihr durchschnittliches Erinnerungsvermögen?“
„Ja. Ich war schon immer so.“
„Ich auch. Auch wenn ich nicht immer an Medizin interessiert war. Meine Mutter starb, als ich zehn war. Das hat mein Leben verändert.“
Er sprach sachlich, doch in seinem Ton lag eine Intensität, die sie erkannte. Sie tauchte bei bestimmten medizinischen Entdeckungen auf.
„Das tut mir leid.“ Sie hatte nie über Lucas Eltern nachgedacht. Für sie war er als erwachsener Mann aus dem Boden geschossen. Es war unmöglich, ihn sich als Kind vorzustellen. Und nun stellte sie ihn sich als verletztes Kind vor.
„Ich beschloss herauszufinden, was getan werden konnte. Um zu verhindern, dass andere so starben wie sie. Ich wollte es wieder in Ordnung bringen. Natürlich geht das nicht. Ich kann vielleicht verhindern, dass andere sterben, aber ich kann sie nicht zurückbringen. Doch daran dachte ich nicht als Kind. Ich war getrieben, das zurückzuholen, was ich verloren hatte.“ Er zuckte eine Schulter. „Jetzt bin ich nur getrieben.“
Viele seiner Angestellten hielten ihn für gefühllos. Doch sie hatte immer gewusst, dass das nicht stimmte. Er hatte sehr viele Gefühle im Hinblick darauf, was er wollte und brauchte. Er konnte fordernd, aufbrausend und schlecht gelaunt sein. Was sie nicht erlebt hatte, waren … sanftere Empfindungen. Doch nun sah sie sich gezwungen, ihn sich als kleinen Jungen vorzustellen. Der seine Mutter vermisste. Der glaubte, sie mithilfe seines erstaunlichen Gehirns zurückbringen zu können.
„Woran haben Sie vorher gedacht?“, fragte sie.
„Spielzeugautos.“
„Spielzeugautos?“
„Alle Autos. Aber ich hatte eine große Sammlung an Spielzeugen.“
„Haben Ihre Eltern Ihnen die gekauft?“
„Meine Mutter. Mein Vater fand es seltsam. Etwas so obsessiv zu sammeln und sämtliche Details darüber zu wissen.“ Er verzog den Mund. Beinahe ein Lächeln und auch wieder nicht. „Es ist seltsam. Er hatte recht.“
Ihr Mitgefühl überraschte sie. Als sie in sein unbewegliches, schönes Gesicht sah, während er von Verlust erzählte, von Schmerz. Dem Gefühl, anders zu sein. Ein Außenseiter. Das kannte sie nur zu gut. Sie hatte sich immer außen vor gefühlt. Nie konnte sie Freunde mit nach Hause bringen, weil ihre Eltern so unberechenbar waren. Sie schuf sich eine Maske der Leichtigkeit. Sie lernte, sich in eine nette Version von jemandem zu verwandeln, dessen Leben und Kindheit ganz normal verliefen. Sie lernte, sich zu verschließen, um sich vor den Beleidigungen ihrer Mutter und den verbalen Wutausbrüchen ihres Vaters zu schützen, dem nichts zu gemein war, um eine Reaktion zu bewirken. Als wäre es die ultimative Quelle der Macht, andere zum Weinen zu bringen. Sie war zu einer emotionslosen Hülle geworden. Sie beobachtete, zog ihre Schlüsse, doch nie gab sie die verborgenen, echten Teile von sich preis, weil sie sich damit dem Schmerz öffnen würde. Sie hatte gedacht, dass sie das gegen Luca wappnen würde. Doch er war nicht manipulativ. Luca konnte nur Luca sein. Vielleicht war es diese fehlende Fassade, die ihre Schutzmauern schließlich durchbrochen hatte.
„Ich finde es nicht so seltsam“, sagte sie leise. „Und überhaupt, warum sollte man seinem Kind das Gefühl geben, seltsam zu sein?“
„Er wollte nicht, dass ich es war. Mein Vater war ziemlich erfolgreich. Er wollte, dass ich so war wie er. Doch dazu glaubte er, dass ich mich anders benehmen müsste. Er war ein Verkäufer. Bei ihm drehte sich alles um Beziehungen. Ich war schlecht darin. Doch ich bin auf meine Weise erfolgreich geworden. Ich muss nicht die Dinge lernen, die er für wichtig hielt. Ich muss mich nur auf meine Stärken stützen.“ Er blickte auf seine Notizbücher und dann wieder zu ihr. „Und das bedeutet, drei echte Notizbücher auf einem Langstreckenflug auszufüllen.“
Sie seufzte. „Dagegen kann ich wohl nichts einwenden.“
„Das könnten Sie“, gab er zurück.
Ja, aber das wäre, als würde sie gegen eine Mauer rennen. „Ich muss es nicht.“
Sie beschloss, etwas zu schlafen. Als sie landeten, war sie ausgeruht. Ein Auto holte sie vom Flugzeug ab, und sie tat ihr Bestes, nicht über ihr Gespräch nachzugrübeln. Nicht sentimental zu werden. Warum hatte sie ihm bloß diese Fragen gestellt? Sie konnte ihn sich vorstellen – ein kleiner Junge, dem nur ein Elternteil geblieben war, der ihn nicht verstand. Es versetzte ihr einen Stich. Natürlich war Luca jetzt ein genialer Milliardär, und wenn die Leute ihn nicht verstanden, sagten sie meist nichts. Doch es war Teil seines Lebens. Ein Aspekt seiner Persönlichkeit. Er musste immer noch damit zurechtkommen.
Er war ein furchtbarer Chef, unflexibel und stur. Doch er war in keinster Weise wie ihre Eltern. Vielleicht verspürte sie deshalb, gegen ihren Willen, Zuneigung zu ihm. Oder etwas, was an Zuneigung grenzte. Die Erkenntnis ließ ihr Herz höher schlagen, und sie fing an, ihre Umgebung zu katalogisieren. Die schönen Gebäude, die makellose Sauberkeit. Es war einer der spektakulärsten Orte, die sie je gesehen hatte, wo natürliche Pracht auf menschengemachte Innovationen traf. Sie verstand, warum er diesen Ort gewählt hatte, um neue Fortschritte in der Medizin zu präsentieren. Dieser Ort fühlte sich wie die Zukunft an.
Luca war brillant in allem, was seine Arbeit betraf. Und das genaue Gegenteil in jeder anderen Hinsicht. Doch er war ehrlich. Bei ihm wusste man immer, woran man war. Vielleicht hatte sie deshalb keine Angst vor ihm. Vielleicht war sie deshalb nicht von ihm eingeschüchtert wie viele andere. Sie wusste gern, wo sie stand. Auch wenn der Boden rutschig war.
Als sie am Hotel ankamen, war sie kurz sprachlos von dessen Pracht. Auf ihren Reisen mit Luca hatte sie einiges an Luxus erlebt, doch das hier übertraf ihre Erwartungen. Das Hotel war ein rechteckiger Turm mit großen offenen Bereichen, die mehrere Stockwerke umfassten und von beleuchteten und berankten Säulen getragen wurden. Eine prachtvolle Darstellung der Natur inmitten der Stadt. In der modernen Lobby stand eine große Glassäule, in der wie in einem Gewächshaus ein echter Dschungel wuchs.
Luca würdigte seine Umgebung kaum eines Blickes. Stattdessen ging er auf sein Zimmer und überließ Polly alles Weitere. Es störte sie nicht. Das würde sie ablenken. Solche Veranstaltungen mochte sie am meisten an ihrer Arbeit. Dabei musste sie seine interpersonellen Fähigkeiten in gewissem Grade ausgleichen, was ihr gefiel. In vielerlei Hinsicht war sie Lucas Vermarkterin. Seine Arbeit verkaufte sich von selbst, aber er …
Es war fast Zeit für die Eröffnungsrede. Natürlich würde Luca sie halten. Als Redner war er sehr überzeugend. Was ihm an Fähigkeiten fehlte, Kontakte im Saal zu knüpfen, machte er auf der Bühne mehr als wett. Er war magnetisch. So gut aussehend. So faszinierend. Vielleicht war sie voreingenommen. Das glaubte sie nicht. Bis letzte Woche war sie überzeugt gewesen, dass sie sich nichts aus ihm machte, doch nun, da ihr Abschied bevorstand, nahmen ihre Gedanken eine andere Wendung.
Mit ihrer Schlüsselkarte für sein Zimmer ließ sie sich ein. Und blieb wie angewurzelt stehen, als er mit nichts als einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam. Wassertropfen glitten über seine breite, muskulöse Brust, und Verlangen traf sie wie ein Pfeil zwischen ihren Schenkel. Warum war sie dazu verdammt, ihn so oft halb bekleidet anzutreffen?
„Tut mir leid.“ Sie spürte, wie ihr Gesicht sie verriet. Es fühlte sich so heiß an, dass es knallrot sein musste.
„Das macht nichts“, erwiderte er, als wäre ihm nichts aufgefallen.
Obwohl er von seiner Arbeit besessen schien, wusste sie, dass er Geliebte hatte. Sie gehörten zu ihren Aufgaben, wenn er zu beschäftigt war, sich um sie zu kümmern. Wenn er mit ihnen fertig war, war er fertig. Doch ihr war er immer so leidenschaftslos erschienen. Es war unmöglich, sich vorzustellen, wie er war, wenn er mit einer Frau zusammen war. Wenn er … Vielleicht sollten Jungfrauen keinen Fantasien darüber nachhängen, wie ihre Vorgesetzten Liebe machten. Zweifellos machte Luca keine Liebe. Vermutlich wäre er der Erste, der das zugeben würde. Dafür konnte sie ihn nicht einmal hassen. Er war ehrlich. Vielleicht verdiente das Anerkennung. Doch gerade war es nicht seine Ehrlichkeit, die sie anerkannte.
„Es ist nicht professionell“, erklärte sie.
„Richtig“, sagte er. Kurz wirkte er reumütig. Ihr wurde klar, dass er dachte, sie hätte ihn gemeint.
„Ich meinte mich“, sagte sie. „Ich hätte anklopfen sollen.“
„Sie haben aus gutem Grund einen Schlüssel für mein Zimmer. Sie sollen mir assistieren, ohne zu unterbrechen.“
„Trotzdem. Vielleicht hätte ich mich vergewissern sollen, dass Sie nicht unbekleidet sind.“
„Ich bin keine Jungfrau.“
„War das ein Scherz?“
„Ja und nein. Es stimmt. Aber es war auch witzig gemeint.“
Unwillkürlich musste sie lachen. Nicht jeder Moment in den letzten fünf Jahren war schrecklich gewesen. Dieser hier war es bestimmt nicht.
„Amüsant.“ Plötzlich spürte sie eine Spannung zwischen ihnen und wandte sich ab. „Ich mache mich jetzt fertig und treffe Sie dann im Ballsaal.“
„Wie Sie wünschen.“