2. KAPITEL
Sophie saß an ihrem Schreibtisch und verspeiste gerade den letzten Bissen ihres Thunfischsandwichs, als das Telefon klingelte. Vor ihrer Scheidung war sie meistens freitags in der Mittagspause mit Lindsay zum Lunch ausgegangen, das konnte sie sich jetzt nicht mehr leisten. Aber eines Tages gönne ich es mir wieder, dachte sie und nahm den Hörer ab.
„Hier ist Sophie Baldwin.“
„Mom?“
Überrascht sah sie auf die Uhr. Es war erst halb eins, der Unterricht noch lange nicht zu Ende.
„Hallo, Schatz. Was gibt’s?“ Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich vor Mary rechtfertigen sollte, falls ihre Tochter krank war und von der Schule abgeholt werden musste.
„Bitte komm nach Hause. Sofort!“
In Savannahs Stimme schwang Panik mit, und Sophie bekam es mit der Angst zu tun.
„Bist du etwa schon dort?“
„Grandma und Grandpa sind hier. Hast du gewusst, dass sie kommen? Sie haben sechs unheimliche Typen mitgebracht.“
„Wie? Meine Eltern? Was ist los?“
„Keine Ahnung. Deshalb rufe ich dich ja an!“
Der Sarkasmus, der sich in letzter Zeit in fast jedes Gespräch mit ihrer Tochter einschlich, war auch jetzt nicht zu überhören.
„Haben deine Großeltern dich von der Schule abgeholt?“
Schweigen.
„Savannah, bist du noch dran?“
„Ja.“
„Hol Grandma ans Telefon.“
„Das geht nicht.“
„Wieso?“
Wieder herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, und Sophie begann sich zu fragen, ob Savannah mit diesem Anruf lediglich Aufmerksamkeit erregen wollte. Seit ihr Vater fortgegangen war, hatte sie alle möglichen Nummern abgezogen und Dinge getan, die sie sich früher nie erlaubt hätte. Sie hatte den Unterricht gestört, die Schule geschwänzt und sich mit einem Mädchen aus der Emo-Szene angefreundet, schwarz gekleideten Leuten, deren Gedanken fast ausschließlich um Gefühle kreisten. Jess, die neue Freundin ihrer Tochter, hatte sich sogar den Namen ihres Freundes in großen schwarzen Lettern auf den Nacken tätowieren lassen.
„Savannah, hol sofort Grandma an den Apparat!“
„Sie hat mir verboten dich anzurufen und gesagt, wir könnten über alles sprechen, sobald du von der Arbeit kommst. Aber ich fürchte mich! Bitte komm schnell.“
Alle Aufsässigkeit war aus ihrer Stimme gewichen, und sie klang wieder wie das niedliche kleine Mädchen, das sie vor der Scheidung gewesen war.
„Okay, Süße. Ich bin schon unterwegs.“
Sophie stand vor der Haustür und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, als ihr die Tür von innen geöffnet wurde von einem Mann, der sich mit einem leichten französischen Akzent als Luc Soundso vorstellte und – wieso auch immer – vor ihr verneigte.
Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache, und sie sah ihn überrascht an. Mit seinen hohen Wangenknochen, dunklen Augen, in deren Winkeln sich beim Lächeln zarte Fältchen bildeten, der geraden Nase und den vollen Lippen hätte er ein Schauspieler sein können.
„Was ist hier los, Mr. …? Was machen Sie in meinem Haus?“, brachte sie schließlich heraus.
„Luc Lejardin“, stellte er sich ein zweites Mal vor. „Ich bin in Begleitung Ihrer Eltern gekommen, um eine ausgesprochen wichtige Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.“
Etwas beruhigt folgte sie ihm ins Haus. Dennoch beschloss sie, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Sie schob eine Hand in die Manteltasche, in der sich ihr Handy befand. So war sie in der Lage, in einer kritischen Situation schnell einen Notruf abzusetzen.
Ohne den Mantel abzulegen, eilte sie ins Wohnzimmer. Dort saßen ihre Eltern Rose und John Jones auf der Couch. Sie schienen sich nicht sehr wohl in ihrer Haut zu fühlen. Außer ihnen befanden sich fünf Männer in dunklen Anzügen in dem Raum, ein Anblick, der Sophie unwillkürlich an den Film „Men in Black“ erinnerte.
„Hallo, Liebling!“, rief ihre Mutter überrascht und erhob sich. Ihr Vater, kein Mann großer Worte, folgte ihrem Beispiel. „Ich wusste gar nicht, dass du zum Lunch nach Hause kommst!“
„Das ist auch nicht der Fall. Savannah hat mir verraten, dass ihr gekommen seid, zusammen mit … euren Freunden. Was führt euch den weiten Weg von Florida hierher?“
„Ich habe ihr ausdrücklich verboten, dich bei der Arbeit zu stören.“ Der französische Akzent ihrer Mutter trat viel deutlicher zutage als normalerweise, ein untrügliches Zeichen, dass sie aufgeregt war. Die Frauen umarmten einander und küssten sich auf die Wangen, dann begrüßte Sophie auch ihren Vater.
„Wieso ist Savannah eigentlich nicht in der Schule?“ Rose hob mahnend den Zeigefinger. „Wenn sie krank ist, sollte sie keinen Besuch empfangen und ganz gewiss nicht den ganzen Tag allein mit dem Jungen verbringen!“
„Sie ist nicht krank. Ihr habt sie also nicht von der Schule abgeholt?“
Ihre Eltern verneinten, und Sophie sah sie bestürzt an. Hatte ihre Tochter sie etwa hintergangen?
„Wo ist sie?“
„In ihrem Zimmer.“
„Ich befasse mich gleich mit ihr. Vorher würde ich jedoch gern erfahren, was hier vor sich geht.“
„Das ist eine lange und komplizierte Geschichte.“ Rose und ihr Mann nahmen wieder Platz und sahen erst einander an, dann warfen sie dem Fremden, der die Tür geöffnet hatte, einen Hilfe suchenden Blick zu.
„Gestatten Sie“, ergriff er, an Sophie gewandt, das Wort. „Sicher haben Sie von dem tragischen Unglück gehört, das sich in St. Michel ereignet hat.“
Was hat das mit mir zu tun? fragte sie sich verwundert, nickte jedoch. Der Unfall hatte auch in den USA Schlagzeilen gemacht, und ihre Mutter, schon immer ein treuer Fan des kleinen Inselkönigreichs, hatte sie in Tränen aufgelöst angerufen, als sie davon erfahren hatte.
Natürlich war auch ihr die Tragödie nahegegangen. Der König tat ihr leid. Wie schrecklich musste es für ihn sein, die eigenen Kinder zu überleben. Savannah war ihr Leben, sie zu verlieren, könnte sie nicht ertragen!
„Dass ich mich an Sie wende, hängt direkt mit diesen dramatischen Ereignissen zusammen.“
Bei diesen Worten schrillten in Sophies Kopf förmlich sämtliche Alarmglocken. Sie warf ihren Eltern einen fragenden Blick zu, konnte ihren Mienen jedoch nichts entnehmen.
„Ich kann mir nicht vorstellen, inwiefern ich davon betroffen bin.“
„Dennoch sind Sie allein in der Lage, König Bertrand zu helfen. Möchten Sie nicht Platz nehmen, während ich Ihnen alles erkläre?“ Er schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln, mit dem er vermutlich schon viele Frauen um den Finger gewickelt – und um ihr Vermögen erleichtert hatte.
Diesmal hast du dir das falsche Opfer ausgesucht, dachte Sophie, ich bin dir und deinen Machenschaften allemal gewachsen! Gleichzeitig wunderte sie sich, dass er nicht, wie andere Betrüger heutzutage, mit E-Mails arbeitete: „Sie wurden dazu auserwählt, uns zu helfen, eine Million Dollar auf unser Konto an der Elfenbeinküste zu transferieren …“
„Ich wusste gar nicht, dass Betrüger noch Hausbesuche machen“, antwortete sie daher spöttisch.
Für einen Moment aus dem Konzept gebracht, warf er ihr einen verwirrten Blick zu – und sah dabei unglaublich süß aus. Obendrein musste er ziemlich clever sein, da er ausgerechnet ihre Familie als Ziel eines Coups um die Founteneau-Tragödie ausgewählt hatte.
„Verschwinden Sie alle auf der Stelle, sonst rufe ich die Polizei!“ Mit ausgestrecktem Arm wies sie zur Tür.
Sogleich protestierte Rose: „Nicht, Sophie!“
„Ich meine nicht dich und Dad. Ihr könnt gern bleiben. Aber diese Männer müssen gehen, sofort!“ Sie zog das Handy aus der Manteltasche und begann zu wählen.
„Bitte warten Sie“, bat nun auch der Fremde. „Ich weiß, das ist viel verlangt, doch hören Sie mich erst an.“
„Lass ihn reden“, mischte sich nun auch ihr Vater ein.
Sophie sah ihn entgeistert an. Hatte er sich ebenfalls einwickeln lassen? Etwas in seiner Miene hielt sie jedoch davon ab, den Notruf abzusetzen.
Den Finger über der letzten Taste schwebend, lenkte sie ein. „Mr. Lejardin, Sie haben zehn Sekunden, um mir alles zu erklären. Ab jetzt.“
Er nickte. „Hoheit, Sie sind die Enkelin von König Bertrand. Er bittet Sie, nach St. Michel zu kommen, um Ihren rechtmäßigen Platz als Thronfolgerin einzunehmen.“
Hoheit? Im ersten Moment schwindelte ihr, doch dann sah Sophie förmlich Rot.
„Für wie dumm halten Sie mich? Sind Sie auf mein Geld aus? Da muss ich Sie enttäuschen: Ich besitze ebenso wenig wie meine Eltern. Und wenn Sie sich nicht von meiner Tochter fernhalten, reiße ich Ihnen mit bloßen Händen …“
Plötzlich schlang John, der von Sophie unbemerkt aufgestanden war, die Arme um sie. „Still, Liebling. Sprich nicht so.“
„Monsieur Lejardin sagt nichts als die Wahrheit“, bestätigte Rose und senkte den Blick.
Ihr Mann ließ Sophie wieder los, und sie wandte sich unverzüglich zu dem Fremden um. Wider besseres Wissen hoffte sie, er hätte sich in Luft aufgelöst und sie würde aus einem bizarren Traum erwachen. Leider stand er weiterhin in ihrem Wohnzimmer, attraktiv und elegant zwischen den billigen Möbeln.
Wie in Trance ließ sie sich von ihrem Vater zum Sofa führen und nahm zwischen ihren Eltern Platz.
Luc bedeutete den anderen Männern, nach draußen zu gehen.
In diesem Augenblick platzte Savannah in die surreal anmutende Szene. „Mom, was ist hier los?“ Sie stand an der Tür, den Freund von Jess an ihrer Seite, einen düsteren Jungen, bleich und unheimlich, mit zu Stacheln hochgegeltem schwarzem Haar und einem Piercing in der Unterlippe.
Sophie blieb ihr die Antwort schuldig – sie verstand es selbst nicht. Stattdessen gewann ihr Mutterinstinkt allmählich die Oberhand über ihre Verwirrung, und es drängte sie, Savannah ihrerseits dieselbe Frage zu stellen.
Im Geist zählte sie eins und eins zusammen: Ihre Tochter wirkte aufgekratzt und hatte rosige Wangen. Der Junge, von dessen Freundin weit und breit nichts zu sehen war, hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, seine rechte Hand war ihrer Brust gefährlich nah.
Das also hatte Rose gemeint, als sie einen Jungen erwähnte! Hatten die beiden etwa die Schule geschwänzt und den ganzen Morgen allein im Haus verbracht?
Sophie war, als würde die Welt um sie herum in Trümmer fallen. Wundersamerweise fand sie dennoch die Sprache wieder: „Wir werden gleich eine Familienkonferenz abhalten. Dein Freund muss jetzt leider gehen.“
Der Junge bewegte sich jedoch keinen Schritt, sondern blieb schweigend und mit ausdrucksloser Miene stehen. In tief sitzenden engen Jeans und einem zerrissenen schwarzen T-Shirt, sah er schmuddelig und heruntergekommen aus. Immer noch hielt er den Arm um ihre Tochter geschlungen.
Savannah griff nach seiner Hand. „Tick will nicht gehen, und wenn ihr über mich reden wollt, kann er bleiben. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.“
Rose schnappte erschrocken nach Luft.
„Er geht“, beharrte Sophie.
Tick rührte sich nicht.
Ratlos sah sie von ihrer Tochter zu ihren Großeltern und dann zu Luc.
Er fing ihren Blick auf und erhob sich. Im nächsten Augenblick stand er schon neben dem Jungen und manövrierte ihn zur Tür hinaus, ohne ihn auch nur zu berühren.
„Ich fasse es nicht! Wie kannst du das zulassen, Mom“, schrie Savannah wütend.
„Geh auf dein Zimmer. Wir unterhalten uns später“, fuhr Sophie das Mädchen entnervt an, das daraufhin beleidigt davonstürmte und die Tür hinter sich ins Schloss knallte.
„Lässt du ihr dieses Benehmen ungestraft durchgehen?“, fragte Rose empört.
„Sicher nicht, aber zunächst muss ich mich mit einer anderen Angelegenheit befassen. Wo waren wir stehengeblieben?“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann ergriff ihre Mutter das Wort. „Vor vielen Jahren standen dein Vater und ich im Dienst von König Bertrand. Als seine ledige Tochter schwanger wurde, schickte er sie, um einen Skandal zu vermeiden, an einen geheimen Ort, ehe ihr Zustand bekannt werden konnte. Nach der Entbindung gab er das Neugeborene zur Adoption frei – die Prinzessin war damals gerade erst siebzehn Jahre alt und mit dem Rockstar Nick Morrison liiert, eine absolut unpassende Verbindung …“
Sophie dachte an ihre eigene Tochter, die gerade den Tag allein mit einem Jungen verbracht hatte, und unterdrückte einen Schauder.
„Verstehst du nicht, worauf ich hinaus will?“
Überrascht sah sie ihre Mutter an und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Liebling, wir haben die neugeborene Prinzessin adoptiert, dein Vater und ich! Wir gaben ihr den Namen Sophie, zogen sie auf und liebten sie wie unsere eigene Tochter.“
Unvermittelte schwindelte es Sophie. Sie hörte die Stimme ihres Vaters wie durch einen langen Tunnel hindurch: „Da wir dem König absolutes Stillschweigen geschworen hatten, durften wir dir deine Herkunft nicht offenbaren. Wir waren nur Diener, denen er seine Enkelin anvertraute!“
Zutiefst bestürzt, sprang sie von ihrem Platz auf, drohte jedoch, das Gleichgewicht zu verlieren. Rasch trat Luc zu ihr und stützte sie mit festem Griff.
Was sie jetzt am dringendsten benötigte, waren frische Luft und ein vertrauter Anblick. Danach, so hoffte sie, könnte sie vielleicht das Chaos entwirren, das in ihrem Kopf herrschte. „Entschuldigung.“ Sie löste sich aus seinem Griff und trat ans Fenster.
Leider standen vor dem Haus die fünf Männer in dunklen Anzügen, frierend in der Eiseskälte, und erinnerten sie daran, dass sie adoptiert war. Bin ich tatsächlich die Tochter einer Prinzessin und eines berühmten Musikers, dessen CDs in meinem Schrank stehen? fragte sie sich zweifelnd.
Die Vorstellung erschien ihr unfassbar und absurd, wie ein übler Streich.
Bei diesem Gedanken wirbelte sie auf dem Absatz herum. „Das alles ist ein Scherz, oder? Wie bei ‚Verstehen Sie Spaß‘ mit der versteckten Kamera.“
Niemand antwortet ihr. Das war auch nicht nötig. Den ernsten Mienen ringsum konnte sie alles entnehmen, was sie wissen musste.
„Oh Gott!“, stöhnte sie. „Ich brauche frische Luft!“
Es gehörte zu seinen Aufgaben, den Ereignissen stets einen Schritt voraus zu sein, und Luc war in der Lage, menschliche Verhaltensweisen treffsicher einzuschätzen. Daher erreichte er die Haustür noch vor Sophie.
„Gehen Sie mir aus dem Weg“, fuhr sie ihn wütend an, und in ihren grünen Augen funkelte es bedrohlich.
„Verzeihung, Hoheit. Ich kann es nicht verantworten, Sie ungeschützt nach draußen zu lassen.“
„Wollen Sie mich in meinem eigenen Haus gefangen setzen?“ Ihre Wangen waren gerötet, das Kinn hatte sie angriffslustig gehoben.
Die Fotos werden ihr nicht annähernd gerecht, dachte Luc voller Bewunderung. Ihr dunkles Haar bildete einen reizvollen Kontrast zu den smaragdgrünen Augen und dem zarten hellen Teint.
„Hoheit …“
„Nennen Sie mich nicht so!“
„Wie Sie wünschen, Madame. Nach dem Tod Ihres Onkels dürfen wir kein Risiko eingehen.“
„Sophie!“
„Wie bitte?“
„Sie sollen mich Sophie nennen.“
„Wenn Sie darauf bestehen, Sophie“, gehorchte er, obwohl es ihm unangemessen erschien, sie mit ihrem Vornamen anzureden. „Natürlich sind Sie keine Gefangene. Wenn Sie das Haus verlassen wollen, steht Ihnen mein Wagen zur Verfügung, der vor der Tür wartet, und ich begleite Sie gern.“
„Das heißt, wohin ich auch gehe, Sie kommen mit?“
Er nickte. Und zwar mit dem größten Vergnügen, dachte er, schob den ungehörigen Gedanken jedoch gleich wieder beiseite. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Dilemma, vor dem er gerade stand: Als Angestellter des Königshauses durfte er die Kronprinzessin zu nichts zwingen. Er konnte ihr lediglich Vorschläge unterbreiten. Falls das nichts half, musste er seinen ganzen Charme spielen lassen.
Ihm blieben nur vierundzwanzig Stunden Zeit, um sie dazu zu überreden, nach St. Michel zu reisen. Gelang ihm dies nicht, würde er Plan B aktivieren müssen, was bedeutete, dass König Bertrand persönlich nach Trevard kommen würde, um mit ihr zu sprechen. Darauf wollte er es jedoch nach Möglichkeit nicht ankommen lassen.
„Und wenn ich die Polizei rufe?“
„Davon kann ich Sie nicht abhalten. Allerdings sollten Sie zuvor die Folgen bedenken: Die Medien könnten Kenntnis von Ihren Angelegenheiten erlangen. Ist die Story erst veröffentlicht, schwebt Ihre Familie in großer Gefahr, und Sie können keinen Schritt mehr unbehelligt vor die Tür tun, da die Presse Ihr Haus belagert.“
Sie sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
„Wenn deine Sicherheit dir gleichgültig ist, denk wenigstens an Savannah“, rief Rose aus dem Wohnzimmer.
Sie seufzte. „Also gut. Dann gehen wir beide irgendwohin, wo wir uns ungestört unterhalten können. Ich muss die ganze Wahrheit erfahren.“
Luc wies seine Männer an, das Haus gut zu bewachen, während Sophie sich von ihren Eltern verabschiedete und sie bat, Savannah auszurichten, dass sie bis zur Schlafenszeit zurück wäre.
Zwei Minuten später saßen sie nebeneinander im Fond der Limousine. Der Fahrer erkundigte sich nach ihrem Ziel, doch Sophie zuckte die Schultern. „Fahren Sie einfach ins Blaue. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“
Die nächsten fünfundvierzig Minuten sah sie schweigend aus dem Fenster. Luc nutzte die Zeit, um sie eingehend in Augenschein zu nehmen. Sie ähnelt Prinzessin Sylvie sehr, dachte er und sprach den Gedanken sogleich aus.
„Hat Ihnen jemals jemand gesagt, dass Sie Ihrer Mutter gleichen?“
„Welcher?“, fragte sie sarkastisch.
„Prinzessin Sylvie, natürlich.“
Sie lachte bitter auf. „Seltsamerweise hat man mich immer wieder auf meine große Ähnlichkeit mit Rose hingewiesen. Ich konnte sie nie erkennen, jetzt weiß ich auch, wieso.“
„Sie sind das Abbild der verstorbenen Prinzessin. Das ist … stupéfiant.“
„Verblüffend, meinen Sie?“ Sie lächelte, und ihre Miene entspannte sich. „Wie war sie?“
„Sie besaß so viel Lebensfreude und Energie und bereitete Ihrem Großvater jede Menge Kummer. Die Presse liebte sie und fotografierte sie, wenn sie die Nächte in Paris durchtanzte oder auf der Jacht irgendeines Barons an der Côte d’Azur sonnenbadete. Auf sämtlichen Bildern wirkt sie herrlich unbekümmert. Sie haben ihre Augen, wissen Sie das? Vielen galt sie als das Sinnbild perfekter Weiblichkeit, und die, die ihr nahestanden, berichten von ihrem liebenswerten Naturell.“
In diesem Moment fuhren sie an einem hübschen Blockhaus vorüber, in dem sich ein Restaurant befand. „Können wir hier anhalten? Ich brauche eine Tasse Kaffee“, bat Sophie.
Der Fahrer wendete, und Luc musterte die Örtlichkeit gründlich, während sie langsam in die kiesbestreute Einfahrt einbogen. Alles sah friedlich aus, das Lokal lag weit außerhalb der Stadt. Auf dem Parkplatz standen nur zwei Autos, es herrschte kaum Betrieb, nichts deutete auf irgendeine Gefahr hin.
Im Lokal fand Luc seine Einschätzung bestätigt. Die Gaststube war tatsächlich so gut wie leer. Lediglich ein älteres Pärchen saß bei Kaffee und Kuchen am Tresen. Eine Kellnerin hinter der Theke aus Resopal forderte sie auf, sich einen Tisch nach Belieben auszusuchen. Luc entschied sich für eine Nische im hinteren Bereich. Sie nahmen auf zwei sich gegenüberliegenden gepolsterten Bänken Platz, dazwischen stand ein Tisch mit rot-weiß karierter Decke. Aus Neugier griff er nach der Speisenkarte. Wie erwartet standen diverse Hamburger, Pommes frites und Milchshakes zur Auswahl.
Sie bestellten Kaffee, und nachdem er serviert worden war, erkundigte sich Sophie: „Wie geht es jetzt weiter?“
Luc leerte ein Päckchen Zucker in seine Tasse und rührte sorgfältig um.
„Ich würde Sie und Ihre Tochter gern nach St. Michel bringen, zu einem Treffen mit König Bertrand.“
„Auf keinen Fall“, wehrte sie entsetzt ab.
„Wieso nicht? Sind Sie nicht gespannt auf Ihr Heimatland?“
„Sie verstehen das nicht!“
Er zuckte die Schultern. „Anscheinend. Erklären Sie es mir.“
Sie legte die Hände flach auf die Tischplatte und beugte sich zu ihm vor.
„Savannah geht zur Schule, ich halte uns mit zwei Jobs über Wasser. Wir können nicht einfach alles hinwerfen, nur weil Opa König nach uns ruft.“
Ihre Wortwahl amüsierte ihn, doch er verkniff sich ein Schmunzeln. Die Sache war zu ernst, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen.
Je besser er sie kennenlernte, desto mehr Züge ihrer Mutter entdeckte er an ihr. Sie war ebenso willensstark, respektlos, intelligent und lustig, und das gefiel ihm. Tatsächlich fand er sie so anziehend wie lange keine Frau mehr.
Wieso ausgerechnet sie? fragte er sich verwundert, doch die Antwort darauf fiel im nicht schwer: Sie war einfach bezaubernd. Dass sie gleichzeitig die Enkelin des Königs war, machte die Situation für ihn hoffnungslos.
Vor wenigen Jahren hatten die Indiskretionen seiner Stiefmutter den guten Ruf seiner Familie ruiniert. Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern hatte er hart darum gekämpft, ihn wieder aufzupolieren. Er würde ihn nicht aufs Spiel setzen, indem er anfing, wie ein Schuljunge von der Enkelin des Königs zu schwärmen.
Entschlossen drängte er alle entsprechenden Gedanken beiseite, trank einen Schluck Kaffee und antwortete: „Wenn Sie nicht zu ihm fahren, wird der König Sie aufsuchen.“
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich bin noch nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Das alles ist wie aus heiterem Himmel auf mich eingestürzt, und ich hatte noch keine Zeit, es zu verdauen.“
Luc nippte erneut an seiner Tasse, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Es stand ihm nicht zu, ihr einen Rat zu erteilen. Gleichzeitig musste er dafür sorgen, dass sie mit dem König sprach und auf seine Wünsche einging.
„Bitte bedenken Sie: Als uneheliche Tochter von Prinzessin Sylvie wäre Ihr ganzes Leben von einem Skandal überschattet gewesen. Sie hätten teuer für den Fehler Ihrer Mutter bezahlen müssen.“
Empört sah sie ihn an. „Dann bin ich also in den Augen des Königs ein Fehler?“
„Bitte drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um. Der König tat das für die damaligen Verhältnisse einzig Richtige, indem er Sie adoptieren ließ – auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Er ermöglichte Ihnen ein besseres Leben.“
Da war Sophie ganz anderer Meinung. „Während Grandpa in seinem Elfenbeinturm auf großem Fuß residierte, habe ich mich zwischen zwei Jobs aufgerieben, um meiner Tochter ein anständiges Leben zu ermöglichen. War das wirklich besser?“
„Sie sind doch erst seit Ihrer Scheidung im letzten Jahr finanziell schlecht gestellt.“
Schwungvoll stellte sie ihre Tasse zurück auf den Tisch, und etwas Kaffee schwappte über den Rand.
„Woher wissen Sie davon? Das ist mir unheimlich! Bis vor wenigen Stunden waren Sie ein Fremder für mich, doch Ihnen ist bekannt, dass ich geschieden bin, wie Sie Kontakt zu meinen Eltern aufnehmen können und sicher auch, wo ich arbeite. Oder etwa nicht?“
Tatsächlich wusste er sogar, welche Art von Unterwäsche sie kürzlich erstanden hatte – einen Fünferpack weißer Baumwollslips. Das erwähnte er vorsichtshalber nicht. „Es gehört zu meinem Job.“
Sie verzog die Lippen. „Haben Sie eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn Ihr Leben vor anderen liegt wie ein offenes Buch?“
Einen Moment lang dachte Luc über diese Frage nach. Die Antwort lautete: ja. Er wusste noch allzu gut, wie er empfunden hatte, als intime Details über die Fehltritte seiner Stiefmutter ans Licht gekommen waren und die Karriere und schließlich sogar das Leben seines Vaters zerstört hatten.
Sophies Scheidung war in aller Stille abgewickelt worden, vermutlich hatte die Untreue ihres Exmannes sie jedoch tief verletzt.
Was für ein Dummkopf lässt eine Frau wie sie im Stich?
Wieder drohten seine Gefühle sein Denkvermögen zu beeinträchtigen, also konzentrierte er sich rasch auf das Wesentliche.
„Seit Ihrer Scheidung kämpfen Sie mit großen Problemen. Doch glauben Sie mir, finanzielle Sorgen gehören der Vergangenheit an, sobald Sie Ihren rechtmäßigen Platz als Nachfolgerin Ihres Großvaters eingenommen haben.“
„Mir geht es nicht um das Geld das Königs. Ich will nur klarstellen, dass er mir keinen Gefallen getan hat, als er mich verleugnete. Das war bestimmt keine noble Geste!“
Luc unterdrückte einen Seufzer. Leider hatte sie auch die Hartnäckigkeit der verstorbenen Prinzessin geerbt! Genau das machte sie wiederum zur idealen Thronfolgerin.
„Ihr Großvater hat sich die Entscheidung damals nicht leicht gemacht. Auch John und Rose ist es schwergefallen, Ihr Geheimnis über all die Jahre zu wahren. Sie haben es aus Pflichtgefühl und Mitleid getan, aus Liebe zu Ihnen. Wollen Sie sich nicht wenigstens anhören, was der König zu sagen hat?“
„Wie bitte? Ich lasse hier doch nicht alles stehen und liegen, nur weil er mit den königlichen Fingern schnippt! Und weshalb stellt es heute kein Problem mehr dar, dass ich die uneheliche Tochter der Prinzessin bin?“
„Die Menschen sind mit der Zeit toleranter geworden. Zudem würde man Sie mit offenen Armen willkommen heißen, weil …“ Er brachte es nicht über sich, laut auszusprechen, dass alle anderen Mitglieder des Hauses Founteneau tot waren. „Das Land liebt seine königliche Familie.“
Erschöpft schloss Sophie die Augen und lehnte den Kopf an die hohe Rückenlehne ihrer Bank.
Luc blickte auf ihre vollen Lippen und überlegte, wie sie wohl schmecken würden. Gleich darauf rief er sich zur Ordnung. Seine Aufgabe war es, für ihre Sicherheit zu sorgen – nichts sonst. Er durfte nicht zulassen, dass ihm Gefühle den Blick auf das Wesentliche trübten.
Seit seiner Ernennung zum Protokollchef vor drei Jahren kannte er nichts anderes als Arbeit. Bedingt durch die enge Kooperation mit dem König, war es für ihn zwingend erforderlich, große Umsicht in allen Dingen walten zu lassen, auch in Herzensangelegenheiten. Was passieren konnte, wenn man sich in die Falsche verliebte, hatte er am Beispiel seines Vaters miterlebt. Aus diesem Grund mied er ernsthafte Beziehungen, was ihm nicht schwerfiel. Bisher hatte keine seiner flüchtigen Bekanntschaften ihn wirklich fasziniert.
Sophie schlug die Augen wieder auf. „Wenn der König mich sprechen will, muss er zu mir kommen. Ich habe keine Zeit, nach Europa zu fliegen.“
„Ich werde es ihm mitteilen. Wahrscheinlich trifft er bereits morgen hier ein.“
Als Sophie und Luc zu Sophies Haus zurückkehrten, fanden sie Rose und John im Wohnzimmer auf Sofa und Lehnsessel schlafend vor. Der Fernseher lief leise im Hintergrund.
Während Sophie nach ihrer Tochter sah, unterzog Luc das Haus einer gründlichen Sicherheitsüberprüfung. Er hatte jedoch kaum damit begonnen, als ein gellender Schrei ihn zusammenfahren ließ.