Julia Weekend Band 115

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SINNLICHER MASKENBALL IN VENEDIG von LYNN RAYE HARRIS

„Keine Namen“, flüstert der geheimnisvolle Fremde, den Valentina auf dem Maskenball in Venedig trifft. Aber er ist so attraktiv, dass sie sofort in seinen sinnlichen Bann gerät. Wie verzaubert, tut sie, was sie noch niemals tat – und lässt sich zu einer Liebesnacht hinreißen …

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  • Erscheinungstag 03.02.2024
  • Bandnummer 115
  • ISBN / Artikelnummer 0838240115
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Lynn Raye Harris, Muriel Jensen, India Grey

JULIA WEEKEND BAND 115

1. KAPITEL

Es konnte gar nicht sein! Valentina D’Angelis Blick war auf den Teststreifen in ihrer Hand gerichtet. Ihre Finger zitterten. Die blaue Linie sagte ihr eindeutig, dass sie ein Kind erwartete.

Es war absurd. Und doch nicht völlig unmöglich.

Tina schauderte. Die Nacht des Maskenballs war die verrückteste Nacht ihres Lebens gewesen. In dieser Nacht hatte sie sich über alle Tabus hinweggesetzt. Sie hatte ein einziges Mal in ihrem Leben die Frau sein wollen, die sie nie hatte sein dürfen. Eine Frau, die aus purer Lust mit einem fremden Mann schlief. Und am nächsten Morgen verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen.

Eine einzige Nacht lang hatte sie sich leidenschaftlich und verführerisch geben wollen, um ihre Schüchternheit ein für alle Mal zu überwinden. Sie wollte wie all die anderen Frauen in ihrem Alter sein – selbstbewusst, erfahren und souverän.

Seufzend nahm Tina einen neuen Teststreifen aus der Verpackung. Irgendetwas musste mit dem ersten Streifen nicht in Ordnung sein. Zumindest hoffte sie, es wäre so.

Rein theoretisch war diese Nacht eine gute Idee gewesen. In der Praxis jedoch hatte es ganz anders ausgesehen. Selbst mit der Maske, die ihr eine gewisse Anonymität verlieh, hatte sie sich nicht so hemmungslos geben können wie geplant. Dabei war sogar ihre Freundin Lucia von der Idee überzeugt gewesen.

„Du musst endlich mal mit einem Mann schlafen, Tina“, hatte Lucia sie gedrängt.

Tina war errötet und hatte gar nicht gewusst, was sie sagen sollte. Ihre Freundin hatte recht. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und immer noch Jungfrau. Sie hatte es satt. Aber sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass sie in dieser Nacht ihre Unschuld verlieren würde. Sie hatte getanzt und versucht, ein wenig zu flirten. Doch als ihr Tanzpartner sie an sich zog und ihr seine Knoblauchfahne in die Nase stieg, wusste sie, dass sie es nicht konnte. Sie stieß ihn von sich und floh aus dem Palazzo, hinaus an einen der unzähligen Kanäle Venedigs. Tief atmete sie die frische Luft ein. Hier war es angenehm ruhig und kühl.

Und in diesem Moment tauchte er auf. Nicht der Mann, vor dem sie geflohen war, sondern der, mit dem sie die Nacht verbringen würde. Groß und dunkelhaarig, trug er einen eleganten schwarzen Samtanzug und eine seidene Maske über den Augen.

Er zog sie sofort in seinen Bann. Und sie ließ sich bereitwillig von ihm verführen. Er hatte sie so zärtlich geliebt, dass ihr allein bei der Erinnerung daran Tränen in die Augen stiegen.

„Keine Namen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. „Keine Gesichter.“

Das war es, was die Magie zwischen ihnen ausgemacht hatte. Und dennoch – sie hätte nur zu gern gewusst, wer er war. Es hatte sie traurig gemacht, dass sie es wohl nie herausfinden würde.

Tina schluckte, als das vertraute Gefühl der Beklemmung sie wieder überkam. Manchmal war es besser, wenn man nicht alles wusste. Sie wünschte, sie hätte es immer noch nicht gewusst.

Als das Mondlicht das Gesicht des schlafenden Fremden neben ihr erhellte, hatte sie sich nicht zurückhalten können. Vorsichtig hatte sie die Maske hochgeschoben. Ihr stockte noch immer der Atem, wenn sie an diesen Moment dachte.

Er hatte seelenruhig weitergeschlafen, während sie nach Luft rang. Er war nicht einmal aufgewacht, als sie aus dem Bett sprang und mit wild klopfendem Herzen in dem dunklen Hotelzimmer stand und auf ihn herabsah.

Musste es ausgerechnet dieser Mann sein?

Im nächsten Moment hatte sie nicht mehr klar denken können. Panisch hatte sie sich angezogen und war, so leise sie konnte, aus dem Zimmer geflohen.

Tina seufzte, während sie auf den neuen Teststreifen in ihrer Hand starrte. Das Universum hatte sich offenbar einen Scherz mit ihr erlaubt. Oder es wollte sie bestrafen. Dafür, dass sie mit einem fremden Mann geschlafen hatte.

Dabei war er gar kein Fremder. Sie kannte ihn, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Er war immer ihr großer Schwarm gewesen.

Tina biss sich auf die Lippe. Die Sekunden schienen in Zeitlupe zu verstreichen.

Dann hatte sie die Antwort. Diese war ebenso eindeutig und schockierend wie beim ersten Versuch.

Schwanger.

„Da ist eine Frau, Signore Marchese“, informierte ihn der Ober.

Niccolo Gavretti, der Marchese di Casari, saß in einem exklusiven Hotelrestaurant in Rom und warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu.

Da war immer eine Frau. Frauen waren nun einmal sein liebstes Hobby. Jedenfalls solange sie nicht mehr forderten, als er zu geben bereit war. Und solange sie nicht glaubten, er sei ihnen etwas schuldig, bloß weil er mit ihnen schlief.

Nein, er liebte Frauen – aber nur zu seinen Bedingungen.

„Wo ist sie, und was will sie?“, fragte er mit einem resignierten Unterton.

„Sie weigert sich hereinzukommen, mein Herr“, entgegnete der Ober ein wenig ungehalten.

Nico winkte ab. „Dann sagen Sie ihr, dass ich keine Zeit für sie habe.“

Der Ober nickte. „Wie Sie wünschen, mein Herr.“

Nico richtete den Blick wieder auf die Papiere vor ihm auf dem Tisch. Er hatte sich an diesem Morgen mit einem Geschäftspartner zum Frühstück verabredet und war gerade dabei, in Ruhe noch einen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass eine Frau in seinem Hotel auftauchen würde. Sonderlich überrascht war er allerdings auch nicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm eine seiner Geliebten nachstellte.

Einige Sekunden später stand der Ober erneut vor seinem Tisch. Es schien ihm furchtbar peinlich zu sein.

„Mein Herr, ich bitte vielmals um Entschuldigung wegen der erneuten Störung.“

Stirnrunzelnd ließ Nico die Zeitung sinken. Während der letzten Wochen hatten seine Nerven ständig blank gelegen, nicht zuletzt wegen all der Probleme, die sein Vater ihm nach seinem Tod hinterlassen hatte.

„Ja, Andres?“

„Die Dame sagt, sie müsste wirklich dringend mit Ihnen sprechen. Unter vier Augen. Sie möchte, dass Sie sie in ihrem Zimmer aufsuchen.“

Nico verdrehte die Augen. Er war einer der weltbesten Grand-Prix-Motorradfahrer. Erst vor einigen Monaten hatte er den Weltmeistertitel gewonnen. Die Frauen rissen sich um ihn. Sie ließen sich alles Mögliche einfallen, nur um sein Interesse zu wecken. Manchmal ließ er sich darauf ein – wenn er gerade Lust dazu hatte.

Heute hatte er keine Lust.

„Richten Sie ihr bitte aus, dass ich keine Zeit habe“, wies er den Ober an und sah auf seine Uhr. „Ich habe gleich noch einen Termin.“

Dieser sah ihn unbewegt an. Dann zog er eine Karte aus seiner Schürzentasche. „Sie hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben, mein Herr.“

Nico warf einen Blick auf die Visitenkarte. Sie war schlicht weiß, bis auf ein großes D in einer Ecke. Es war der Name auf der Rückseite der Karte, der sein Herz einen Schlag aussetzen ließ.

Valentina D’Angeli.

Sofort stieg die vertraute Wut in ihm hoch. Valentinas Bruder, Renzo D’Angeli, war sein größter Rivale auf der Rennbahn. Und zugleich sein schärfster Konkurrent in der Motorradbranche.

Vor langer Zeit jedoch waren sie beste Freunde gewesen. Damals hatten sie gemeinsam an einer Maschine getüftelt, die alles bisher Dagewesene übertreffen sollte. Bis es zu einem bitterbösen Streit zwischen ihnen gekommen war.

Es war lange her, doch es machte ihn noch immer furchtbar wütend. Und traurig.

Ein weiterer Blick auf die Karte, und Nico versuchte, sich an das Mädchen zu erinnern. Sie war noch ein Teenager gewesen, als er sie zuletzt gesehen hatte. Valentina D’Angeli. Sie müsste inzwischen Mitte zwanzig sein, überlegte er.

Valentina war ein süßes Mädchen gewesen, aber sie war unglaublich schüchtern. Ihr Bruder Renzo war davon so genervt gewesen, dass er sie in ein renommiertes Internat schicken wollte, in der Hoffnung, dass eine gute Ausbildung ihr ein wenig mehr Selbstbewusstsein verleihen würde.

Nico hatte versucht, Renzo von der Idee abzubringen. Er wusste, wie es war, wenn man von der Familie fortgeschickt wurde. Er hatte sich im Internat furchtbar einsam gefühlt, obwohl er viele Freunde hatte. Er hatte es gehasst. Dieses Gefühl, dass er seinen Eltern im Weg stand. Dass sie ihn loswerden wollten, weil er zu Hause störte.

Nico runzelte die Stirn. Er hatte damals gar nicht so falschgelegen mit seinen Vermutungen. Das hatte er jedoch erst Jahre später herausgefunden.

Dennoch hatte die teure Ausbildung sich bezahlt gemacht. Sicher hatte sie auch Valentina geprägt. Der Rohdiamant würde inzwischen auf Hochglanz geschliffen sein.

Aber warum war sie hier?

Zimmer 386 stand unter ihrem Namen. Eigentlich sollte er die ganze Sache ignorieren. Einfach aufstehen, hoch in sein Zimmer gehen und so tun, als wäre nichts passiert.

Aber das konnte er nicht. Er musste herausfinden, was sie von ihm wollte. Sicher hatte Renzo sie geschickt. Aber aus welchem Grund? Er hatte Renzo zuletzt beim Grand Prix in Dubai gesehen. Dieser hatte seine Karriere an diesem Tag offiziell beendet. Soweit Nico informiert war, hatte er danach seine Sekretärin geheiratet und war nun dabei, Kinder in die Welt zu setzen. Er lebte mit seiner Familie irgendwo in der Toskana.

Nico hatte ein mulmiges Gefühl. Renzo fuhr zwar keine Rennen mehr, war allerdings immer noch sein größter Konkurrent im Geschäft. Und wenn er seine Schwester zu ihm schickte, dann führte er etwas im Schilde.

Tina war nervös. Mit verschränkten Armen stand sie am Fenster und beobachtete die Autos auf der Straße unter ihr. Sie wusste nicht, ob er kommen würde. Was wäre, wenn er nicht kam? Würde sie es wagen, ihn in seinem Büro aufzusuchen? Oder sollte sie direkt zu seiner Villa fahren?

Das Problem war nur, dass er mehr als eine Villa besaß. Außerdem hatte sich in den letzten zwei Monaten, seit sie die Nacht mit ihm verbracht hatte, viel in seinem Leben verändert. Sein Vater war gestorben, und Nico war nun der Marchese di Casari. Ein wichtiger Mann. Er war nicht mehr der Junge, der damals endlos viel Zeit damit verbracht hatte, mit ihrem Bruder an Motorrädern herumzuschrauben.

Möglicherweise erinnerte Nico sich nicht einmal mehr an sie. Schließlich waren er und Renzo schon lange keine Freunde mehr. Und sie war damals so unscheinbar und schüchtern gewesen. Ein unauffälliges kleines Mädchen, das zu den Jungs in die Garage geschlichen kam und sie schweigend bei der Arbeit beobachtete. Nicht gerade jemand, an den man sich erinnerte.

Aber das alles war nun so lange her. Fast schien es, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Und nun stand sie hier und war von ihm schwanger. Tina stiegen die Tränen in die Augen. Wie hatte das bloß passieren können? Es war doch bloß eine einzige Nacht gewesen. Eine einzige wunderbare Nacht voller Erotik und Leidenschaft, in der sie ausnahmsweise mal in eine andere Rolle geschlüpft war.

Sie hatte es damals schrecklich gefunden, so schüchtern zu sein. Und sie litt auch heute noch darunter. Sosehr sie sich auch anstrengte, selbstbewusst zu wirken, innerlich war sie noch immer dasselbe schüchterne Mädchen von damals. Und für diese eine Nacht, in der sie endlich einmal aus sich herausgegangen war, war sie sofort bestraft worden. Es war einfach nicht fair.

Hätte sie auch nur die leiseste Ahnung gehabt, um wen es sich bei ihrem mysteriösen Liebhaber handelte, hätte sie die Flucht ergriffen. Sie hätte sich niemals fallen lassen können in dem Wissen, dass der Mann, der ihr die Kleidung vom Leib riss, der war, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte.

Damals war er ihr großes Idol gewesen. Sie war vierzehn gewesen und er zwanzig und hatte wahnsinnig gut ausgesehen. Sie hatte sich in seiner Nähe nie entspannen können, obwohl er immer nett zu ihr war. Sobald er sie auch nur anlächelte, hatte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können und kein Wort mehr herausgebracht.

Und dann, als sie sich eines Tages mal wieder in die Garage schlich, um sein hübsches Gesicht zu sehen, war er nicht mehr da gewesen. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Und Renzo hatte sich geweigert, darüber zu sprechen. Monatelang hatte sie nachts im Bett an Nico denken müssen und gebetet, dass er wiederkommen möge.

Tina zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Ihr Herz begann zu rasen. War es überhaupt richtig, dass sie hier war? Sollte sie es ihm wirklich sagen?

Er würde ausflippen. Es wäre ein Schock für ihn. Andererseits hatte Nico das Recht, zu erfahren, dass er Vater wurde. Sie selbst hatte ihren Vater nie kennengelernt. Und ihre Mutter hatte sich geweigert, ihr zu verraten, wer er war. Das würde sie ihrem eigenen Kind nicht antun.

Entschlossen sprang Tina auf und riss die Tür auf, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Der Mann, der vor ihr stand, war groß, dunkelhaarig und unglaublich attraktiv. Eine erwachsene Ausgabe des hübschen jungen Mannes, in den sie sich vor so vielen Jahren verliebt hatte. Sofort bekam sie weiche Knie.

Er wirkte angespannt, als ihre Blicke sich trafen. Unsicher schlug sie die Augen nieder, während er sie prüfend musterte. Sie trug einen Blazer mit einem blauen Seidentop darunter, einen knielangen Rock und hochhackige Pumps. Sie wusste, dass sie in diesem Outfit elegant und erwachsen wirkte. In diesem Moment jedoch kam sie sich vor wie der verklemmte Teenager von damals.

„Valentina?“

In seiner Stimme schwang Ungläubigkeit mit. Und dieser erotische Unterton, der sie in Venedig so in seinen Bann gezogen hatte. Wie hatte sie bloß nach all den Jahren seine Stimme vergessen können? Daran hätte sie ihn doch sofort erkennen müssen. Dann wäre sie jetzt nicht in dieser unmöglichen Situation.

„Schön, Sie wiederzusehen, Signore Gavretti.“

Tina trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatten eine wunderschöne Nacht in Venedig zusammen verbracht, und nun stand Nico vor ihr und hatte keine Ahnung, dass sie die Frau war, mit der er geschlafen hatte. Tina hatte fast geglaubt, er würde sie erkennen, wenn er sie sah. Er würde spüren, dass sie die Frau war, die er in jener Nacht vor zwei Monaten so leidenschaftlich geliebt hatte.

Doch er erkannte sie nicht. Und für einen Moment versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich. Wie albern von ihr. Er war schließlich kein Hellseher.

„Kommen Sie rein“, forderte Tina ihn auf.

Als er über die Schwelle trat, rang sie unmerklich nach Luft. Seine plötzliche Anwesenheit überforderte sie. Es fühlte sich an wie in jener Nacht, als sie ihm willenlos ergeben war. Sie hatte alles gemacht, was er wollte. Hingebungsvoll und hemmungslos. Und alles andere als schüchtern.

Allein bei der Erinnerung daran wurde ihr heiß. Was er wohl von ihr denken würde, wenn er es wüsste?

„Tee?“, fragte sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Hand zitterte, als Tina nach der Kanne griff.

„Nein, danke“, erwiderte Nico kühl.

Schweigend schenkte sie sich eine Tasse ein – natürlich war es kein schwarzer Tee. Als sie sich wieder umdrehte, erstarrte sie und wich einen Schritt zurück. Nico stand direkt vor ihr und sah sie mit seinen grauen Augen herausfordernd an. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihm über die Wange zu streichen. So wie in der Nacht vor einigen Wochen. Mittlerweile schien es ihr, als wäre das alles in einem anderen Leben passiert.

„Du hast mich doch sicher nicht hierher gebeten, um mit mir Tee zu trinken“, erklärte er finster. „Sag mir einfach, was dein Bruder will. Dann haben wir das erledigt.“

Tina blinzelte erstaunt. Das warme Gefühl, das sich eben noch in ihr breitgemacht hatte, war bei seinen Worten sofort verflogen.

„Renzo weiß gar nicht, dass ich hier bin“, rechtfertigte sie sich. Renzo würde ausrasten, wenn er wüsste, dass sie sich mit Nico traf.

Irgendwann jedoch würde er sowieso alles erfahren. Wenn er herausfand, dass sie schwanger war, würde er wissen wollen, wer der Vater war. Und dann würde die Hölle über sie hereinbrechen.

Tina stellte die Tasse ab und presste ihre Hand an die Stirn. Was für ein Schlamassel! Und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.

Nicos Lächeln war eisig. Sein Blick glitt erneut über ihren Körper.

„Du bist eine hübsche junge Frau geworden, Valentina. Dein Bruder ist bestimmt sehr stolz auf dich.“

Tina hätte am liebsten gelacht. Für Renzo war sie bloß eine Last. Er kümmerte sich um sie, und sie wusste, dass er sie liebte. Aber er sah in ihr nicht mehr als die dumme kleine Schwester. Seit einer gefühlten Ewigkeit lag sie ihm damit in den Ohren, dass sie für ihn arbeiten wollte. Doch er sah ihr Potenzial einfach nicht.

„Du bist eine D’Angeli“, hatte er erklärt. „Du hast es nicht nötig zu arbeiten.“

Nein, sie musste nicht arbeiten. Aber sie wollte es. Und wenn ihr Bruder sich nicht umstimmen ließ, dann würde sie eben anfangen, sich anderweitig nach einem Job umzusehen. Dabei war sie sich so sicher, dass sie bei D’Angeli Motors am besten aufgehoben war. Immerhin hatte sie ihr Studium des Finanz- und Rechnungswesens mit Auszeichnung abgeschlossen. Und zurzeit konnte sie gar nichts damit anfangen, von kleineren Börsengeschäften mit den Auszahlungen aus ihrem Treuhandfonds einmal abgesehen. Es machte sie verrückt, ihre Kenntnisse nicht anwenden zu können.

„Hast du eine Ahnung! Du kennst meinen Bruder doch gar nicht mehr …“

Nicos Miene verhärtete sich für einen Augenblick. Tina war selbst überrascht, wie verbittert sie beim Gedanken an Renzo klang.

„Willst du mir nicht endlich sagen, was du von mir willst?“, fragte er schließlich ungeduldig.

Tina seufzte und sank auf die Couch. Sie nahm einen kleinen Schluck Tee, in der Hoffnung, dass es ihren Magen ein wenig beruhigte. Vielleicht hätte sie am Morgen doch etwas essen sollen. Aber der Anblick der verschiedenen Wurst- und Käsesorten auf ihrem Frühstückstisch hatte lediglich dafür gesorgt, dass ihr wieder übel wurde.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll, Signore“, gestand sie und schlug die Augen nieder.

„Es gab einmal eine Zeit, da hast du mich Nico genannt“, erinnerte Nico sie. „Wenn du dich mal überwunden hast, überhaupt mit mir zu sprechen.“

Die Erinnerung an damals ließ Tina erröten. Sie hatte kaum je ein Wort herausbekommen, wenn er da war. Und es ging ihr in diesem Moment nicht anders. Er wirkte angespannt und fast etwas bedrohlich, wie er da vor ihr stand und auf sie herabblickte.

Wenn er nur wüsste, wen er da vor sich hatte …

Sie musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Dabei war ihr gar nicht nach Lachen zumute. Gleich würde sie es ihm sagen.

„Das ist lange her“, erwiderte sie. „Damals war das Leben noch einfacher als jetzt.“

Ihr entging nicht, wie seine Gesichtsmuskeln bei ihren Worten zuckten. Doch schon im nächsten Moment hatte er sich wieder im Griff.

„Das Leben ist nie einfach, cara. Es scheint nur so, als wäre früher alles einfacher gewesen.“

„Was ist zwischen dir und Renzo vorgefallen?“

Sofort bereute sie ihre Worte. Sie wusste genau, dass er nicht darüber sprechen wollte.

„Wir sind einfach keine Freunde mehr. Das ist alles.“

Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie hatte schon damals um jeden Preis wissen wollen, warum Nico nicht mehr zu ihnen kam. Monatelang hatte sie gehofft, die beiden hätten bloß einen Streit gehabt und würden sich schon wieder vertragen. Aber sie hatte ihn nie wiedergesehen.

Ihr Magen rumorte erneut, und sie strich sich mit der Hand über den Bauch, als könnte sie das unangenehme Gefühl dadurch ausschalten.

Überrascht sah sie auf, als Nico plötzlich vor ihr kniete. Das Grau seiner Augen erinnerte sie an Gewitterwolken. Es machte ihr Angst. Als könnte das Unwetter jeden Moment losbrechen.

Doch in diesem Moment wirkte er bloß besorgt. Irgendwie rührte sie das.

„Was ist los, Valentina? Du siehst … irgendwie grün aus im Gesicht.“

Tina schluckte und unterdrückte das Gefühl der Übelkeit mit aller Macht.

„Ich bin schwanger“, stieß sie leise hervor. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.

„Ich gratuliere.“ Sein Blick sagte ihr, dass Nico es ehrlich meinte. Wieder musste sie ein nervöses Lachen unterdrücken.

„Danke“, antwortete sie. Langsam brach ihr der Schweiß aus. Sie stellte die Teetasse auf dem Tisch ab und zog umständlich ihre Jacke aus. Er streckte den Arm aus, um ihr behilflich zu sein.

Sein Gesichtsausdruck war nun etwas sanfter. Dennoch spürte sie seine Anspannung. Ein falsches Wort, und Nico würde explodieren.

Tina schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Konzentrier dich.

„Kann ich dir irgendetwas bringen?“, fragte er höflich.

„Könntest du mir vielleicht die Schale mit den Keksen auf dem Tisch reichen?“, bat sie ihn erschöpft.

Er nickte, und sie zwang sich, einen Schokoladenkeks zu essen, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.

„Wenn du mir jetzt vielleicht noch sagen könntest, warum wir hier sind, wäre ich dir wirklich dankbar. Wie gesagt, ich habe viel zu tun …“, begann er erneut.

„Ja“, antwortete sie. „Natürlich.“ Was würde er bloß sagen? Wäre er bereit, sie zu unterstützen? Oder würde er sich sofort aus dem Staub machen? Eigentlich war es egal. Sie war stark genug, dieses Kind allein großzuziehen.

Sie schluckte die letzten Kekskrümel hinunter und ließ sich wieder gegen die Couchlehne sinken.

„Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du geheiratet hast“, murmelte Nico.

Resigniert sah sie ihn an. „Ich bin nicht verheiratet.“

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.

„Ah“, sagte Nico schließlich und nickte.

Tina wusste genau, was er dachte. Und es machte sie wütend.

„Ich hatte es nicht geplant, falls du das jetzt denkst. Aber ich werde mich auch nicht für mein Kind schämen.“

„Das musst du auch gar nicht“, versuchte er sie zu beruhigen. Es nützte nichts. Sie wusste genau, wie Leute aus reichen Familien dachten. Die Erfahrung hatte sie schon damals im Internat gemacht, als die anderen Mädchen sie wie eine Außenseiterin behandelten, bloß weil sie keinen Vater hatte. Und weil ihre Mutter Kellnerin war und nie geheiratet hatte, obwohl sie Kinder hatte.

Diese Mädchen hatten ihr das Leben zur Hölle gemacht. Und mit ihrer Schüchternheit war sie ein leichtes Opfer für sie gewesen. Diese verdammten Snobs! Bis auf Lucia natürlich.

Verärgert krallte Tina die Finger in das Kissen neben sich. Nico gehörte auch zu diesen Leuten aus reicher, adliger Familie. Und auch er verurteilte sie. Auch wenn er es nicht zugab. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen.

Stattdessen wurde sie nun richtig wütend.

„Ich weiß genau, was du denkst. Du brauchst es gar nicht abzustreiten.“

Regungslos blickte er sie an. Er sah so unglaublich gut aus, wie er da vor ihr stand.

„Ich denke überhaupt nichts. Ich frage mich bloß, was das alles mit mir zu tun haben soll.“

Ihr Herz schien stillzustehen, während sie ihn betrachtete. Jetzt oder nie. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sie musste die Worte nur noch aussprechen.

„Es hat sehr viel mit dir zu tun“, stieß sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Doch er hatte sie verstanden. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde noch abweisender. Er war der Aristokrat, sie das uneheliche Kind.

„Ich wüsste nicht, was ich mit der Sache zu tun haben sollte. Ich habe dich fast zehn Jahre lang nicht gesehen. Und glaub mir“, erklärte er, während sein Blick über ihren Körper glitt, „ich würde mich daran erinnern, wenn es nicht so wäre.“

Tina errötete. Wieder hatte seine Stimme diesen erotischen Unterton, an den sie sich noch gut erinnern konnte. Als sie weitersprach, blickte sie ihm fest in die Augen.

„Nicht unbedingt“, sagte sie. „Es war schließlich dunkel, und wir haben … Masken getragen.“

2. KAPITEL

Er fühlte sich seltsam leer. Ungläubig sah Nico auf die Frau herab, die vor ihm auf dem Sofa saß. Es war seltsam genug, dass dies hier die kleine Schwester seines alten Freundes sein sollte. Aus dem schüchternen kleinen Mädchen von damals war eine schöne und selbstbewusste junge Frau geworden.

Aber das, was sie da gerade gesagt hatte, verwirrte ihn richtig. Oder vielmehr das, was sie nicht ausgesprochen hatte.

Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie schwanger war. Mit seinem Kind. Das war gelogen, auch wenn sie von dem Maskenball in Venedig zu wissen schien. Sie war nicht die Frau, mit der er damals die Nacht verbracht hatte. Es war ein Trick. Offensichtlich wollte Renzo ihn reinlegen, um ihre alte Rechnung zu begleichen. Nico war enttäuscht. Er hätte nicht gedacht, dass Tina genauso skrupellos sein könnte wie ihr Bruder.

Er hatte keine Ahnung, wie die beiden davon wissen konnten. Wenn sie jedoch glaubten, er würde darauf hereinfallen, dann hatten sie sich getäuscht.

Wieder ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. Er versuchte, sich an die Frau in Venedig zu erinnern. Sie hatte draußen vor dem Palazzo am Kanal gestanden und vor Kälte gezittert. Im ersten Moment hatte er geglaubt, ihr wäre etwas passiert, aber es schien ihr gut zu gehen.

Er erinnerte sich noch genau, wie süß und unschuldig sie auf ihn gewirkt hatte. Und wie er sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Obwohl er sonst eher erfahrene Liebhaberinnen bevorzugte. Trotzdem hatte es ihn erstaunt, dass sie noch Jungfrau war.

Valentina D’Angeli und jene Frau konnten nicht ein und dieselbe Person sein. Valentina kannte die Frau offensichtlich, und nun nutzten Renzo und sie diese Tatsache zu seinem Vorteil aus. Alles andere wäre einfach zu absurd.

„Du lügst“, sagte Nico kalt.

Seine Worte ließen sie zusammenzucken.

„Warum sollte ich das tun?“, stieß sie hervor. „Was würde mir das bringen?“

Langsam wurde er wütend. Sie spielte ihre Rolle ganz gut.

„Ich wüsste einiges, was du dir davon versprechen könntest“, konterte er. „Ich bin reich. Ich habe einen Weltmeistertitel. Und mein Unternehmen ist D’Angeli Motors ein Dorn im Auge.“

Nun schüttelte sie den Kopf.

Er sah sie prüfend an und spürte, wie eine unwillkommene Hitze in ihm aufstieg, als Tina sich von der Couch erhob. Sie war wunderschön. Das glänzende kastanienbraune Haar fiel ihr lockig über die Schultern. Ihre glatte Haut schien zu schimmern. Und ihre Lippen waren voll und sinnlich, wie zum Küssen gemacht. Er hätte sich ganz sicher an ihre Locken erinnert. Angestrengt versuchte er, an die Nacht in Venedig zurückzudenken. Er war sicher, dass die Frau langes dunkles Haar gehabt hatte. Und es war glatt gewesen.

Entrüstet stemmte Tina die Hände in die Hüften. „Vor sechs Wochen hattest du noch keinen Weltmeistertitel. Und mein Bruder hat mindestens genauso viel Geld wie du. Außerdem interessiert mich euer Geschäftskrieg nicht die Bohne!“

Nico versuchte, sich nicht vom Anblick ihrer schmalen Taille ablenken zu lassen. Oder von ihren vollen Brüsten, die sich unter dem Seidentop abzeichneten. Es erstaunte ihn, wie sein Körper auf sie reagierte.

„Sie hatte glattes Haar“, erklärte er kühl.

Tina blinzelte. Einen Moment lang schien sie verwirrt zu sein, und er triumphierte innerlich. Jetzt hatte er sie, diese kleine Lügnerin.

Doch dann lachte sie und griff sich mit der Hand ins Haar. „Schon mal was von einem Glätteisen gehört?“

Nico verspannte sich. „Das beweist noch lange nicht, dass du es gewesen bist.“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und ihre plötzliche Nähe weckte ein unerwartetes Verlangen in ihm. Er ertappte sich bei der Vorstellung, wie er Tina an sich zog und den Mund auf ihre vollen Lippen presste.

Herausfordernd hob sie das Kinn. Ihre Augen blitzten vor Zorn. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie als junges Mädchen so temperamentvoll gewesen war.

„Weißt du, ich kann dir auch gern sämtliche Details von jener Nacht aufzählen, wenn du mir nicht glaubst. Angefangen mit der Situation draußen vor dem Palazzo, als du mich gefragt hast, ob alles in Ordnung sei. Ich kann dir auch dein Zimmer im Hotel Daniele haarklein beschreiben. Und wie du sämtliche Lichter ausgemacht und darauf bestanden hast, keine Namen zu nennen. Und die Masken anzubehalten. Wie du mir das Kleid ausgezogen hast und …“ Sie schluckte. „… jede freie Stelle meiner Haut geküsst hast …“

Ihre Wangen waren gerötet, als sie verstummte. Nico spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Während der letzten Jahre hatte er unzählige Frauen verführt, aber keine war so faszinierend gewesen wie die Unbekannte in Venedig. Es war ein typischer One-Night-Stand gewesen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sie nicht mehr da gewesen. Es hatte ihn fast ein wenig amüsiert, als er feststellte, dass er sich irgendwie benutzt und weggeworfen gefühlt hatte. Er hatte sich den ganzen restlichen Tag nach ihr gesehnt.

Und er hatte versucht, herauszufinden, wer sie war. Auch wenn er in der Nacht darauf bestanden hatte, ihre Identität nicht preiszugeben. Sie hatte irgendetwas an sich, das ihn neugierig gemacht hatte. Etwas, das er gern weiter ergründen würde. Auch wenn es nicht mehr als Sex war, was sie beide verband. Mit interessanten Frauen wie ihr verbrachte er gern mehr als nur eine Nacht.

Er hatte sich beim Portier erkundigt, in welche Richtung sie gegangen war, nachdem sie das Hotel verlassen hatte. Dieser hatte bloß den Kopf geschüttelt. Es sei etwa zwei Uhr morgens gewesen, als sie an ihm vorbeigeeilt war, mit ihrer Maske und dem blassgrünen Kleid, die Handtasche an ihre Brust gedrückt. Sie sei in eine Gondel gestiegen. Doch er erinnere sich nicht, welcher Gondoliere sie gefahren habe.

Nico war enttäuscht gewesen. Doch er hatte nicht allzu lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Schließlich hatte er überhaupt kein Problem damit, eine neue sexy Frau fürs Bett zu finden.

„Das alles hätte dir jemand erzählen können“, erklärte er. „Es heißt überhaupt nichts, dass du sämtliche Details kennst.“

Warum wurde ihm dann so heiß in ihrer Nähe? Es fühlte sich fast so an wie mit der Frau in Venedig damals.

„Das ist doch lächerlich“, protestierte Tina, bevor sie sich seufzend in die Kissen lehnte. Ihr Gesicht wirkte noch blasser als zuvor. Erschöpft schloss sie die Augen.

Ein wenig betroffen sah Nico sie an. „Möchtest du noch einen Keks? Oder noch etwas Tee?“

„Nein, danke“, entgegnete sie leise. „Ich muss bloß mal einen Augenblick sitzen.“

Dann warf sie ihm einen wütenden Blick zu. „Aber du hast natürlich recht. Ich habe mir das alles bloß ausgedacht. Renzo hat mich auf dich angesetzt, weil wir dich in eine peinliche Situation bringen wollten. Es wäre dir doch peinlich, oder? Du bist ja schließlich der Mann, auf den nach jedem Rennen ein Dutzend halb nackter Groupies wartet. Der Mann, von dem regelmäßig Schnappschüsse mit irgendeiner neuen Frau im Arm veröffentlicht werden. Und der Mann, der sich auf einer berühmt-berüchtigten Party mitten auf die Tanzfläche gestellt hat und sich von sämtlichen Frauen hat abknutschen lassen. Ja, diesem Mann wäre es furchtbar peinlich, wenn die Welt erfährt, dass er Vater wird. Und dann auch noch mit einer Frau wie mir.“

Langsam hatte er genug. Jetzt machte sie sich auch noch über ihn lustig. Und was ihn noch viel mehr ärgerte, war die Tatsache, dass Tina recht hatte.

„Woher soll ich denn wissen, was ihr für Hintergedanken habt?“, fuhr er sie an. „Vielleicht wollt ihr mich ja auch nur bloßstellen, damit die D’Angelis im Gegensatz zu mir gut dastehen. Ich weiß genau, dass Renzo mir den Weltmeistertitel nicht gönnt.“

Erstaunt beobachtete er, wie sie noch blasser wurde.

„Du bist gemein, weißt du das?“, schoss sie zurück. „Und so eingebildet! Ich weiß nicht genau, warum ich dir das mit dem Baby erzählen wollte. Ich dachte, du hättest ein Recht, es zu erfahren.“ Sie rang nach Luft. „Auf jeden Fall kannst du dir sicher sein, dass ich nichts von dir will und keinerlei Erwartungen habe. Und wenn es dir jetzt nichts ausmacht, dann würde ich mich gern etwas ausruhen. Mir ist nämlich ziemlich übel.“

Entgeistert sah Nico sie an. Es schien ihr tatsächlich nicht gut zu gehen. Fast tat sie ihm etwas leid. Allerdings konnte er auch nicht einfach vergessen, dass sie ihn hereinlegen wollte.

„Offensichtlich ist dir ein wichtiges Detail entgangen, cara. Vielleicht hat deine Informantin vergessen, es zu erwähnen, aber wir haben in der besagten Nacht verhütet. Ich bin schließlich nicht blöd.“

„Ich weiß. Ich habe es nicht vergessen. Auf der Packung steht allerdings, dass es zu neunundneunzig Prozent sicher ist, stimmt’s? Scheinbar gehören wir zu dem einen Prozent, das Pech hatte.“

Mühsam beherrscht presste er die Lippen zusammen. „Netter Versuch, bella, aber so funktioniert das nicht. Sag Renzo, er soll sich etwas anderes ausdenken.“

Mit diesen Worten ging er zur Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.

Am liebsten hätte sie Nico etwas hinterhergeworfen. Aber es war die Anstrengung einfach nicht wert. Besser, sie blieb auf der Couch sitzen, trank ihren Tee und versuchte, sich zu beruhigen.

Eigentlich sollte sie nun zufrieden sein. Sie hatte es ihm gesagt, und das war richtig gewesen. Stattdessen war Tina wütend und frustriert. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihr so feindselig begegnen würde. Offensichtlich war er weit davon entfernt, den Streit mit Renzo zu vergessen. Damals, als sie noch fast Teenager gewesen waren.

Eine Sache war ihr jetzt allerdings klar. Sie würde Renzo auf keinen Fall erzählen, wer der Vater ihres Kindes war. Er würde sie drängen, es ihm zu sagen, aber sie würde sich hüten. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und damit alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Bisher hatte sie immer zugelassen, dass Renzo alles für sie entschied. Und nun hatte sie sich selbst in diese Situation gebracht und würde mit den Konsequenzen leben müssen. Vielleicht war es sogar das Beste für sie, wenn Nico ihr nicht glaubte. Dann brauchte sie es auch niemand anderem zu erzählen.

Ihre Mutter würde ihr ihre Entscheidung sicher nicht übel nehmen. Wie konnte sie auch? Schließlich hatte sie ihr jahrelang verheimlicht, wer ihr Vater war.

Beim Gedanken an ihre Mutter runzelte Tina die Stirn. Ihre Mutter hatte so viele Männer gehabt. Jetzt war sie gerade mit ihrem aktuellen Freund auf Bora Bora. Tina hoffte, es wäre dieses Mal der Richtige. Ihre Mutter hatte es verdient, geliebt zu werden. Sie hatte sehr hart gearbeitet und viele Opfer für ihre Kinder bringen müssen, bis Renzo schließlich mit seinen Motorrädern Geld verdient hatte.

Tina seufzte. Wenigstens hatte sie nun etwas Zeit, sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Ihre Mutter war im Urlaub, und Renzo war mit seiner Frau Faith und ihrem Kind auf einer Yacht in der Karibik unterwegs, um sich nach einer komplizierten Operation am Bein zu erholen. Auf keinen Fall wollte sie ihn mit schlechten Nachrichten aufregen.

Sie hätte zwar gern mit ihrer Schwägerin über ihre Schwangerschaft gesprochen, aber das musste wohl noch etwas warten. Jetzt würde sie erst einmal Zeit haben, sich Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen sollte.

Am Nachmittag fühlte sie sich bereits besser. Sie hatte sich vorgenommen, Rom früh am nächsten Morgen zu verlassen. Renzo besaß ein Ferienhaus auf Capri. Dort würde sie für die nächsten Tage Ruhe finden. Nach dem Treffen mit Nico hatte sie keine Lust mehr auf die hektische Großstadt. Außerdem wollte sie einfach weg. Von ihm. Zwar erwartete sie nicht, dass er sie noch einmal aufsuchen würde. Es reichte schon, zu wissen, dass er sich in derselben Stadt aufhielt wie sie. Dass er vielleicht schon in dieser Nacht wieder mit einer fremden Frau schlief, vielleicht nur einen Steinwurf von ihr entfernt.

Capri würde ihr guttun. Die frische Brise auf der Insel, der Duft der Zitronenbäume … Aber zuerst würde sie ihre alte Freundin Lucia anrufen und sie fragen, ob sie sich mit ihr zum Abendessen treffen wollte. Lucia würde die Erste sein, der sie von ihrer Schwangerschaft erzählte. Sie war gespannt auf ihre Reaktion. Lucia wusste nicht, wer ihr mysteriöser Liebhaber in Venedig gewesen war. Sie hatte ihr bloß erzählt, dass sie die Nacht mit einem Fremden verbracht hatte, und Lucia hatte sich für sie gefreut.

Tina hinterließ eine Nachricht auf Lucias Mailbox und machte sich dann auf den Weg zur Via dei Condotti, um einige Einkäufe zu erledigen. Sie würde am Pantheon vorbeilaufen. Der Weg führte an einigen der schönsten Ecken Roms entlang. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. Schnell zog sie sich eine Jeans und Sandaletten an und band sich einen leichten Schal um den Hals.

Unterwegs kam sie an unzähligen Eisdielen und Antiquitätengeschäften mit Gemälden und eleganten alten Möbeln vorbei. An jeder Ecke gab es Trattorien, die ihre Tische und Stühle auf dem Bürgersteig aufgestellt hatten. Schließlich trat sie auf den Platz vor dem Pantheon.

Jedes Mal, wenn sie hierherkam, hielt sie einen Moment inne, so beeindruckend wirkte das alte Bauwerk vor dem strahlend blauen Himmel. Es war ihr Lieblingsort in Rom.

Sie überquerte den Platz und trat zwischen den mächtigen Säulen hindurch in das Innere des Monuments mit seiner beeindruckenden Kuppel. Es wimmelte nur so vor Touristen mit Kameras. Tina ignorierte sie, ging zielstrebig auf eine der Bänke gegenüber dem Altar zu und setzte sich hin.

Und dann legte sie den Kopf in den Nacken und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken durch die Öffnung in der Kuppel über ihr. Es war ihr kleines persönliches Ritual. Sofort fühlte sie sich entspannt.

Sie kam hierher, seit sie denken konnte. Einmal hatte sie sich am Ende der Schulferien aus Renzos Apartment hierher geschlichen, in der Hoffnung, nicht wieder zurück ins Internat zu müssen. Stundenlang hatte sie hier gesessen, bis ein Mann des Sicherheitsteams ihres Bruders sie gefunden und nach Hause gebracht hatte.

Sie hatte das Internat damals gehasst. Bis sie ihre beste Freundin Lucia kennengelernt hatte.

„Sie hatte eine Narbe.“

Tina schrak zusammen. Die Stimme war direkt an ihrem Ohr. Sie fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie den großen, dunkelhaarigen Mann neben sich erkannte. Wie jedes Mal bei seinem Anblick machte ihr Herz einen Satz.

„Eine Blinddarmnarbe“, fuhr er fort. „Genau hier.“ Er deutete auf die rechte Seite seines Bauchs.

„Ich habe mir vor vier Jahren den Blinddarm herausnehmen lassen“, erklärte sie kühl.

Der Blick aus seinen grauen Augen war undurchdringlich. „Würdest du mir die Narbe zeigen?“

„Kann ich machen“, erwiderte sie. „Aber nicht jetzt, okay?“

Sie würde nicht sofort springen, nur weil er etwas von ihr wollte.

Unverwandt betrachtete er sie. „Nehmen wir also an, dass du tatsächlich diese Narbe an der richtigen Stelle hast und die Frau bist, mit der ich vor zwei Monaten geschlafen habe. Woher weißt du, dass ich es war?“

Tina sah wieder hinauf zu der Öffnung in der Kuppel. Ein Vogel flog hoch über ihnen. Er hatte die Flügel weit ausgebreitet und schien sich vom Wind tragen zu lassen.

„Ich habe deine Maske hochgeschoben, als du geschlafen hast. Und als ich dich erkannt habe, bin ich weggelaufen“, erklärte sie.

„Woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst? Vielleicht hast du an dem Abend ja auf mich gewartet und die ganze Sache eiskalt geplant.“

Als sie ihn anblickte und das Verlangen in seinen Augen bemerkte, krampfte ihr Magen sich zusammen. Sie kannte das Gefühl. Es passierte jedes Mal, wenn sie diesen Mann ansah. Es erschreckte und beunruhigte sie gleichermaßen.

„Glaub von mir aus, was du willst“, stieß sie heftiger als beabsichtigt hervor. „Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst. Für mich ist die Sache damit erledigt. Ich erwarte nichts von dir, Nico. Ich dachte bloß, du solltest vielleicht wissen, dass du Vater wirst.“

Als sie aufstehen wollte, griff Nico nach ihrem Handgelenk. Die plötzliche Berührung ließ eine unerwartete Hitze in ihr aufsteigen. Verlegen riss Tina sich von ihm los und verschränkte die Arme vor der Brust. Er beugte sich so dicht zu ihr herüber, bis sie seinen Atem im Gesicht spürte.

„Wenn du wirklich mit meinem Kind schwanger bist, Valentina, dann werde ich an seinem Leben teilhaben, darauf kannst du Gift nehmen. Ich werde nicht bloß zahlen und es alle zwei Wochen sehen. Und wenn du mein Kind in dir trägst, dann gehörst auch du zu mir.“

Sein Blick schien bis zum Grund ihrer Seele zu dringen. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Nico verunsicherte sie zutiefst. Doch die Zeit im Internat hatte sie abgehärtet. So schnell wie früher würde sie nicht mehr den Kopf einziehen. Sie hatte sich lange genug gegen all die reichen kleinen Mädchen durchsetzen müssen, die dachten, sie seien etwas Besseres als sie. Und so begegnete Tina seinem Blick mit der gleichen Kälte und Entschlossenheit.

Bis sie genug hatte, nach ihrer Handtasche griff und aufstand, um zu gehen. Dieses Mal hielt er sie nicht auf. Es gab ihr ein Gefühl von Überlegenheit, auf ihn hinabzusehen. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr klar, dass er so gefährlich wie eh und je war. Dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste, denn er konnte jeden Augenblick explodieren.

Und sie würde sich hüten, ihm auch nur den geringsten Anlass dafür zu geben.

„Ich bin nicht dein Besitz, Nico. Wenn du für das Kind da sein möchtest, dann werden wir schon eine Lösung finden. Ich möchte ja schließlich auch, dass es einen Vater hat. Aber ich werde mich aus der Sache zwischen dir und Renzo heraushalten. Damit will ich nichts zu tun haben.“

Jetzt hatte sie es doch getan. Sie hatte ihn provoziert. Sein Lächeln war kalt und unnachgiebig. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass er für diese Momente lebte. Er liebte die Herausforderung. Die Gefahr. Deswegen fuhr er Motorradrennen. Deswegen brauchte er immer wieder neue Frauen in seinem Leben. Und deswegen würde er jetzt auch keinen Rückzieher machen. Die Explosion würde stattfinden. Es war nur eine Frage der Zeit. Und das machte Tina Angst.

„Zu spät, cara“, drohte er leise. „Du steckst bereits mit drin.“

3. KAPITEL

Sie saßen im Hotelrestaurant gegenüber vom Pantheon. Draußen tummelten sich die Touristenscharen mit ihren Fotoapparaten und Rucksäcken. Vor dem Hotel stand eine Kutsche, die auf Kundschaft wartete.

Sie sehen glücklich aus, dachte Tina sehnsüchtig, während sie in dem überfüllten Restaurant auf ihre Suppe wartete.

Nico saß ihr gegenüber und hatte sein Handy ans Ohr gepresst. Sie hatte ihn zuvor im Pantheon einfach sitzen lassen wollen. Doch sie war nicht weit gekommen. Draußen hatte sie eine neue Welle von Übelkeit erfasst, und sie hatte sich gegen eine der Säulen lehnen müssen.

Im nächsten Moment war er bei ihr gewesen und hatte den Arm um sie gelegt. Und dann hatte er sie in das Restaurant geführt, damit sie etwas in den Magen bekam.

Nachdem er sein Telefongespräch beendet hatte, trank er einen Schluck Kaffee. Tina sah bewusst an ihm vorbei. Jeder Blick in seine Richtung erinnerte sie an ihre gemeinsame Nacht. Wie Nico sie zärtlich gestreichelt hatte. Und wie er Gefühle in ihr geweckt hatte, die sie noch nie zuvor gespürt hatte.

Die Nacht mit Nico war eine Offenbarung für sie gewesen. Sosehr sie sich auch wünschte, dass die Erinnerung daran verblasste, sie konnte es einfach nicht vergessen. Am liebsten würde sie das alles noch mal erleben.

Die Suppe kam, und erst jetzt merkte Tina, wie hungrig sie war. Es war ihre erste richtige Mahlzeit seit Tagen. Sie aß viel zu schnell. Doch so musste sie wenigstens nicht mit Nico reden.

Tina spürte, wie er sie beobachtete. Als sie aufsah und seinem Blick begegnete, stellte sie fest, dass er sie betrachtete, als sähe er sie zum ersten Mal. Es irritierte sie. Und es ärgerte sie irgendwie.

„Gibt’s ein Problem?“, fragte sie scharf und erschrak im selben Augenblick über ihren harschen Ton. Es war normalerweise nicht ihre Art, Streit zu inszenieren. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand böse auf sie war.

Doch bei diesem Mann hier war ihr alles egal. Er war ja ohnehin bereits wütend auf sie. Was machte es schon, wenn sie ihn nun auch noch provozierte? Sie würden nie die besten Freunde sein.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sein unglaublicher Sex-Appeal keine Wirkung auf sie hatte.

„Nichts, womit ich nicht klarkommen würde“, erwiderte Nico gelassen.

Sofort spürte Tina, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Er war einfach zu schlagfertig für sie. Am besten hielt sie den Mund und ließ ihn gewähren.

Warum hatte sie ihm überhaupt von dem Baby erzählt? Sie hätte es für sich behalten sollen. Dem Kind hätte es schon nicht allzu sehr geschadet, wenn es seinen Vater nicht kannte. Und ihre Familie wäre zumindest sicher vor diesem Mann.

Sie hatte keine Ahnung, wozu er fähig war. Aber Tina spürte seinen Hass und seine Wut. Und das machte ihr Angst. Er war nicht mehr der Mensch, den sie damals als Teenager so angehimmelt hatte.

„Vielen Dank für das Mittagessen“, murmelte sie schließlich und stieß ihren Stuhl zurück. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

Nico warf ihr einen fast trägen Blick zu. Sie wusste genau, was das bedeutete. Er war wie eine Wildkatze, die sich in der Sonne aalte und innerhalb von Sekunden aufspringen konnte, um eine Gazelle zu reißen.

„Du gehst nirgendwohin, Valentina.“

Nico sprach sanft. Aber sie wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Er spielte mit ihr.

Stolz hob sie das Kinn. „Du kannst mich nicht davon abhalten zu gehen.“

Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu. „Ich habe es bereits getan“, erklärte er und winkte dem Ober.

Tina holte tief Luft und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Sie war schließlich nicht Nicos Gefangene. Er konnte sie nicht aufhalten, wenn sie wegwollte.

Wortlos griff sie nach ihrer Handtasche und strebte auf den Ausgang zu, angestrengt bemüht, langsam zu gehen. Nico rief ihr weder nach, noch kam er hinterher. Als sie durch die Tür in das helle Sonnenlicht trat, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.

Ohne zu überlegen, in welche Richtung sie musste, lief sie los. Es war ihr egal, solange Nico ihr nur nicht folgte. Dieses Mal würde sie ihm entkommen. Sie würde sich einfach unter die Menschenmenge mischen und untertauchen.

Während sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen lief, vorbei an den unzähligen Touristen, murmelte sie immer wieder vor sich hin, dass sie Nico schließlich nicht gehörte. Autos hupten, Männer pfiffen ihr hinterher. Tina kümmerte das alles nicht.

Außerdem lebten sie nicht mehr im Mittelalter. Frauen zogen andauernd Kinder allein groß. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben. Und erst recht nicht diesen. Er konnte sie zu nichts zwingen, was sie nicht wollte.

Je weiter sie ging, desto mehr Menschen bevölkerten die Bürgersteige der kleinen Gassen. Schließlich hörte sie Wasser rauschen. Noch einige Schritte, und sie stand vor dem berühmten Trevi-Brunnen. Das Herz wurde ihr schwer, als sie sich umsah und überall lachende Menschen um sich herum sah. Vor ihr stand ein junges Pärchen, das gemeinsam eine Münze in das Wasser warf.

Instinktiv begann Tina, in ihrer Tasche zu wühlen, bis sie ebenfalls eine Münze in der Hand hatte. Dann schloss sie die Augen, wünschte sich etwas und warf sie ins Wasser.

Sie hatte sich gewünscht, dass Nico sie in Ruhe ließ. Und dass Renzo niemals herausfand, wer der Vater ihres Kindes war.

Zu spät, sagte eine innere Stimme. Dann hättest du es ihm nicht sagen dürfen.

Gedankenverloren starrte sie ins Wasser, bevor sie langsam die Stufen hinaufging, die hoch zur Straße führten. Oben angekommen, blieb sie abrupt stehen, als sie sah, wer sie dort erwartete.

So viel also zum Thema Wünschen.

Mit den Händen in den Taschen lehnte er lässig an einer Mauer. Tina spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Überrascht stellte sie fest, dass Nico trotz seiner Lässigkeit einsam und verloren wirkte.

Das konnte eigentlich gar nicht sein. Niccolo Gavretti war nicht der Typ Mann, der jemals einsam war. Er war reich, berühmt und gut aussehend. Und wie sie aus Erfahrung wusste, war er ein fantastischer Liebhaber.

Er konnte also nicht einsam sein.

Am liebsten wäre sie einfach an ihm vorbeigeeilt, doch als sie sich ihm näherte, stieß er sich von der Mauer ab und baute sich vor ihr auf.

„Ich habe einen Termin beim Frauenarzt für dich vereinbart“, erklärte er.

Tina seufzte. Es hatte keinen Sinn, vor ihm wegzulaufen. Sie würde ihm nicht entkommen. Genauso wenig hatte es Sinn, gegen ihn anzukämpfen. Er würde sie immer wieder aufs Neue besiegen. So hatte sie sich die Beziehung zum Vater ihres Kindes eigentlich nicht vorgestellt.

Widerstandslos ließ sie sich von ihm zu dem dunklen Mercedes führen, der auf der Straße auf sie wartete. Der Fahrer stieg aus und öffnete ihnen die Tür.

Während der Wagen sich einen Weg durch die Innenstadt Roms bahnte, war es im hinteren Bereich des Innenraums durch die Trennscheibe ganz still.

„Vielleicht könntest du mir jetzt kurz deine Narbe zeigen“, forderte Nico sie schließlich auf.

„Ich glaube, ich habe gerade keine Lust dazu“, antwortete Tina schnippisch. „Irgendwie hat es mir besser gefallen, als du noch dachtest, ich würde dich anlügen.“

Überrascht wandte er sich zu ihr um. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Valentina. Ich werde dir nicht wehtun“, versicherte er ihr.

„Auch nicht meiner Familie?“, wagte sie sich vor. Ihr war erst jetzt klar geworden, dass er Renzo durchaus in irgendeiner Weise schaden könnte.

Nico schwieg.

„Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte er dann.

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie sah Renzo und seine kleine Familie vor sich, und es macht sie verrückt, dass sie möglicherweise dafür verantwortlich sein würde, wenn diese wegen Nico Probleme bekamen.

„Ich tue alles, was du willst, solange du Renzo aus dem Spiel lässt“, erklärte Tina schließlich.

Aufmerksam sah Nico sie an, als wollte er prüfen, ob sie es ehrlich meinte. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er nicht doch etwas mit unserer Situation zu tun hat. Wie also soll ich ihn ignorieren?“

Es ist alles deine Schuld.

Ja, es war ihre Schuld. Diese verdammten Männer! Instinktiv legte Tina eine Hand auf ihren Bauch. Sie musste jetzt stark sein.

„Weißt du, Valentina …“, fuhr er fort. „Im Geschäftsleben muss man hart sein. Sonst überlebt man nicht.“

„Das heißt aber nicht, dass man im Privatleben ebenso hart sein muss“, widersprach sie. „Wer keine Rücksicht auf andere Menschen nimmt, ist bald allein.“

„Vielleicht ist es manchmal auch gar nicht so schlecht, allein zu sein“, murmelte er, als spräche er mit sich selbst. „Man kann sich aussuchen, wann und mit wem man sein Leben und sein Bett teilt. Und man kann wieder für sich sein, wenn man keine Lust mehr auf den anderen hat. Ich finde, es kann mitunter ziemlich anstrengend sein, mit jemandem zusammenzuleben.“

„Klingt nach einem ziemlich traurigen Leben“, gab sie zurück.

Seine Miene wurde hart. Offensichtlich hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Tina verstand nur nicht, warum er so empfindlich reagierte. Während der letzten Jahre hatte sie immer wieder in den Zeitschriften über ihn und sein Leben gelesen. Er schien alles andere als unglücklich zu sein. Gab es da eine Seite an ihm, die er vor der Welt versteckte?

„Zeig mir die Narbe“, forderte er sie wieder auf, und sofort legte sich ihr Mitgefühl für ihn.

Am liebsten hätte sie sich geweigert, aber was würde ihr das bringen? Sie war schließlich von ihm schwanger. Und nun, da er es wusste, konnte sie sich auch nicht einfach so zurückziehen und so tun, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen.

Resigniert zog sie ihr Top aus der Jeans und schob den Hosenbund gerade so weit hinunter, dass er die kleine Narbe schräg unterhalb ihres Bauchnabels erkennen konnte. Ihr entging nicht, wie er nach Luft rang. Dann streckte er die Hand aus und strich leicht über die dunkle Stelle hinweg.

Tina verharrte regungslos, denn das Gefühl seiner Fingerspitzen auf ihrer Haut weckte ein unbändiges Verlangen in ihr, das sie fast erschreckte. Hitzewellen durchfluteten ihren ganzen Körper.

Nico schien es zu spüren, denn plötzlich hielt er inne und sah sie an. Und in seinen Augen lag ein Ausdruck von Leidenschaft, der sie überraschte. Empfand er das Gleiche wie sie?

Es kostete sie sämtliche Willenskraft, seine Hand wegzustoßen und ihr Top hastig wieder in die Hose zu stecken. Ihre Wangen glühten. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen.

Eine Weile schwieg er bloß. Dann räusperte er sich. Und seine Stimme klang erstaunlich zärtlich.

„Du warst es tatsächlich.“

Sofort stiegen Tina Tränen in die Augen. Sie blickte zu ihm auf, und mit einem Mal war es ihr egal, dass ihre Gefühle ihr im Gesicht geschrieben standen.

„Ich wünschte, es wäre anders“, flüsterte sie. „Ich wünschte, das alles wäre nie passiert.“ Als sie noch ein naiver Teenager war, hatte es nichts auf der Welt gegeben, was sie sich mehr gewünscht hätte. Sie hatte davon geträumt, wie er sie küsste. Sie hatte sich gewünscht, er würde sich in sie verlieben und sie heiraten. Es war immer nur ein Traum gewesen. Damals hätte sie nie geglaubt, dass sie tatsächlich einmal mit Nico schlafen würde. Sicher, die Nacht in Venedig war wunderschön gewesen. Und fast etwas unwirklich. Aber es war ein großer Fehler gewesen.

Gerade als sie zu überlegen begann, wie sie das Thema wechseln könnte, hielt der Wagen an. Der Fahrer kam herum, um ihnen die Tür zu öffnen.

Wenige Minuten später betraten sie die Praxis des Frauenarztes. Nicos Hand lag auf ihrem Rücken. Sein Duft machte sie ganz benommen. Und erinnerte Tina schmerzlich an ihre gemeinsame Nacht.

Die Dame am Empfang sah nicht einmal auf. Wortlos reichte sie ihr ein Klemmbrett mit einem Formular für sie zum Ausfüllen.

„Wir werden erwartet“, erklärte Nico der Dame knapp. „Und ich bin ein viel beschäftigter Mann.“

Erst jetzt sah sie zu ihnen auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie erkannte, wer da vor ihr stand.

„Signore Gavretti … Entschuldigen Sie vielmals!“ Hastig sprang sie von ihrem Stuhl auf. „Bitte folgen Sie mir.“

Nun ging alles ganz schnell. Tina wurde in den Ultraschallraum geführt und musste sich ausziehen. Nachdem der Arzt die Bilder gemacht hatte, ging es weiter in das Sprechzimmer, wo Nico bereits auf sie wartete.

Kurz darauf hatten sie die endgültige Gewissheit. Die Bilder ergaben, dass Tina schwanger war, was sie nicht wirklich überraschte. Der Arzt klärte sie ausführlich darüber auf, worauf sie zu achten hatte und was in den nächsten Wochen passieren würde.

Als sie die Praxis verließen, schwirrte Tina der Kopf. Einem Impuls folgend, legte sie die Hand auf ihren flachen Bauch, als wollte sie das winzige Leben darin beschützen.

Ein Baby. Sie würde also tatsächlich ein Baby bekommen. Auf dem Ultraschallbild hatte sie den winzigen Fötus sogar sehen können. Auch Nico hatte einen Blick darauf werfen dürfen. Er hatte im ersten Moment ziemlich geschockt gewirkt, als könnte er es noch immer nicht glauben.

Auf dem Rückweg schwiegen sie. Es herrschte dichter Feierabendverkehr, Autofahrer hupten und gestikulierten. Im Inneren des Wagens war es auffällig still. Irgendwann fiel Tina auf, dass sie nicht in Richtung ihres Hotels fuhren.

„Ich bin müde, Nico. Fahren wir nicht zum Hotel?“, erkundigte sie sich matt. „Ich wollte jetzt eigentlich packen.“

Lucia hatte ihr eine SMS geschrieben, doch Tina hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt. Sie war etwas enttäuscht, weil ihre Freundin keine Zeit hatte, sich mit ihr zu treffen.

Seine Miene blieb unbewegt. Er wirkte so kühl und unnahbar wie immer. Unwillkürlich begann Tina bei seinem Anblick zu frösteln.

„Deine Koffer sind bereits gepackt“, erklärte er und sah auf die Uhr. „Wahrscheinlich sind sie bereits angekommen.“

Seine Worte weckten Panik in ihr. „Angekommen? Wo? Was meinst du damit? Ich fahre morgen nach Capri. Ich brauche meine Sachen heute Abend.“

„Ich fürchte, deine Pläne haben sich geändert, cara.“ Er wandte den Kopf und sah sie durchdringend an. „Wir werden zum Castello di Casari fahren.“

Tina konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. „Ich kann nicht mitkommen“, erklärte sie hastig. „Ich bin bereits verabredet. Meine Freunde auf Capri erwarten mich.“

„Nun, ich fürchte, dann wirst du sie enttäuschen müssen“, erklärte er unbeeindruckt, während er auf seinem Handy herumtippte. „Du bist jetzt auf dich allein gestellt, Valentina. Renzo und die liebe Faith sind in der Karibik, und deine Mutter ist auch im Urlaub.“

Tina verspannte sich. „Ja, meine Familie ist gerade nicht da. Aber ich habe Freunde, die auf mich warten.“

Eigentlich waren es bloß gute Bekannte. Und sie warteten nicht wirklich auf sie. Wenn sie ehrlich zu sich war, würde es ihnen wahrscheinlich nicht einmal auffallen, wenn sie sich morgen nicht bei ihnen melden würde.

Sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Und sie wollte es auch gar nicht anders haben. Darum mochte sie wahrscheinlich Mathe und Zahlen so gern. Solange sie mit irgendwelchen komplizierten Gleichungen beschäftigt war, musste sie sich nicht um die Welt da draußen kümmern.

„Dann wirst du sie wohl anrufen und ihnen sagen müssen, dass deine Pläne sich geändert haben.“

„Ach ja? Und wie lange werde ich verhindert sein?“, fragte Tina entrüstet.

Nicos Lächeln war eisig. „Auf unbestimmte Zeit.“

4. KAPITEL

Das Castello di Casari war eine alte Familienfestung. Mit seiner isolierten Lage auf der kleinen Insel mitten im Lago di Casari galt sie als uneinnehmbar. Nico betrachtete die Anlage aus der Luft. Mächtig hob sie sich aus dem blanken Fels empor. Sofort ergriff ihn jenes überwältigende Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung, das er jedes Mal verspürte, wenn er hierher zurückkehrte.

Während der letzten Jahre war die Festung komplett modernisiert worden. Ihr mittelalterlicher Charakter war erhalten geblieben, aber das Gebäude verfügte nun über jeglichen modernen Komfort, den man sich nur wünschen konnte. Er war seit dem Tod seines Vaters vor einem Monat nicht hier gewesen. Was ihn jetzt dazu veranlasst hatte hierherzukommen, war ihm selbst nicht ganz klar.

Bis sein Blick auf die Frau fiel, die angespannt neben ihm saß. Die Insel war nur per Helikopter oder Boot zu erreichen – der perfekte Ort, um ein widerspenstiges weibliches Wesen zur Vernunft zu bringen. Es fiel Nico immer noch schwer, zu glauben, dass die Frau mit der Löwenmähne und den sinnlichen Lippen die kleine Valentina D’Angeli sein sollte.

So langsam gewöhnte er sich jedoch an diese Tatsache. Ebenso wie an den Gedanken, dass sie ein Kind von ihm erwartete.

Bis zum heutigen Nachmittag war er davon überzeugt gewesen, dass es nicht sein konnte. Als er sich an die Nacht in Venedig erinnerte, war ihm allerdings eingefallen, dass es da einen kleinen Zwischenfall gegeben hatte. Er hatte tatsächlich ein Kondom benutzt, aber es war gerissen. Es konnte also durchaus sein, dass er Valentina in dieser Nacht geschwängert hatte.

Und nun war sie hier bei ihm. Und er würde sie nicht mehr gehen lassen. Denn wenn er es tat, würde ihr Bruder alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um ihn von dem Kind fernzuhalten.

Das würde Nico nicht zulassen. Er ließ sich nicht einfach etwas wegnehmen, was ihm gehörte.

Der Helikopter setzte zur Landung an. Nachdem die Rotoren zum Stillstand gekommen waren, trat ein Mann auf den Landeplatz und begrüßte sie beim Aussteigen.

„Signore Marchese, wir freuen uns sehr, dass Sie da sind“, erklärte der alte Mann lächelnd.

„Ich freue mich auch sehr, Sie zu sehen, Giuseppe“, erwiderte Nico, während er Valentina die Hand reichte.

„Es tut mir sehr leid wegen Ihres Vaters, mein Herr. Der Tod des Marchese hat uns alle sehr getroffen.“

Nico klopfte dem runzeligen kleinen Mann auf die Schulter. Die Leute erwarteten von ihm, dass er Gefühle zeigte, sobald e...

Autor

Lynn Raye Harris

Lynn Raye Harris las ihren ersten Harlequin Mills & Boon Roman als ihre Großmutter mit einer Kiste Bücher vom Flohmarkt zurück kam. Sie wusste damals noch nicht, dass sie eines Tages selber Schriftstellerin werden wollte. Aber sie wusste definitiv, dass sie einen Scheich oder einen Prinzen heiraten und ein so...

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Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

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India Grey
<p>India Grey liebte schon als kleines Mädchen romantische Liebesgeschichten. Mit 13 Jahren schrieb sie deshalb das erste Mal an den englischen Verlag Mills &amp; Boon, um die Writer's Guidelines anzufordern. Wie einen Schatz hütete sie diese in den nächsten zehn Jahren, begann zu studieren … und nahm sich jedes Jahr...
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