Keusche Nächte mit dem Earl?

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„Heirate mich.“ Eigentlich hat die verwitwete Susanna sich geschworen, nie wieder eine Ehe einzugehen. Doch Schulden zwingen sie, den Antrag ihres Kindheitsfreundes Quinton Langford anzunehmen. Er hat den Titel eines Earls geerbt und braucht eine standesgemäße Gattin. Sie schließen einen gewagten Heiratspakt: keusche Nächte, Liebe ausgeschlossen. Susanna ahnt nicht, welch dramatische Bewährungsprobe sie erwartet! Nicht nur wegen der unerwarteten Leidenschaft, die sie plötzlich für ihren distanzierten Gatten empfindet. Sondern auch wegen eines dunklen Geheimnisses, das der Earl ihr wohlweislich verschwieg …


  • Erscheinungstag 17.09.2024
  • Bandnummer 410
  • ISBN / Artikelnummer 0814240410
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

„Lord Amesbury!“, rief ihm der Kutscher zu. „Verzeihen Sie, man hat mich in die falsche Richtung geschickt! Jetzt kenne ich den richtigen Weg zu Mr. Adairs neuer Adresse, in einem Londoner Vorort.“

An den neuen Titel noch nicht gewöhnt, riss Quinton sich zusammen.

Beinahe hätte er sich nach seinem Onkel umgesehen. Lord Amesbury. Nicht nur der Arzt Quinton Langford. Außerdem der Earl of Amesbury. Niemals – nicht einmal in seinen kühnsten Träumen – hatte er erwartet, eines Tages diesen Namen zu tragen.

Der Fahrer rannte zum Kutschbock zurück. Bald danach begannen die Räder zu rollen, das Gespann wirbelte regenfeuchte Luft durcheinander.

Wie mochte Susanna sich fühlen? Von der Witwenschaft am Boden zerstört? Quinton hatte sich nach ihr erkundigt und beinahe den Eindruck gewonnen, sie wäre verschwunden.

Unentwegt kehrten Erinnerungen an Susanna zurück, an wundervolle gemeinsame Stunden. So glücklich waren sie gewesen – bis zu dem Tag, an dem er ihr erklärt hatte, er würde abreisen, um Medizin zu studieren.

Seine Kutsche hielt wieder, und er sah das steinerne Gebäude, bemerkte den durchhängenden Ziergiebel. Kaum besser als das baufällige Haus in der Londoner Innenstadt, in dem er aufgewachsen war – nur größer. Die Gerüchte schienen sich zu bestätigen.

Natürlich wollte er Susanna helfen.

„Das ist die richtige Adresse!“, verkündete der Fahrer voller Stolz und öffnete den Wagenschlag. „Im obersten Stockwerk sind zwei Fenster zugemauert. So wie’s der Mann vorhin gesagt hat.“

Quinton stieg aus der Kutsche, musterte das dreistöckige Haus und entdeckte die beiden Fenster. Weiter unten spiegelte eine Glasscheibe kein Tageslicht, ein dunkler Vorhang verbarg das Zimmer.

Während er gegen die zerkratzte Holztür hämmerte, hoffte er, wegen der instinktiven Wucht seiner Schläge würde das Haus nicht einstürzen.

Nach einer längeren Wartezeit erschien ein alter Butler mit hängenden Schultern und buschigen Brauen, dichter als sein Haupthaar. An diesen Mann erinnerte sich Quinton, denn er hatte ihn im anderen Amesbury-Domizil gesehen.

In gleichmütigen blauen Augen las er ein vages Wiedererkennen. „Ist Mr. Adair hier?“

Der Butler nahm die Visitenkarte entgegen, die ihm gereicht wurde. Eine Zeit lang hielt er sie auf Armeslänge vor sein Gesicht, schließlich blinzelte er und nickte. „Der Master ist ausgegangen, aber …“ Dann änderte sich seine Attitüde, und er warf Quinton einen keineswegs unterwürfigen Blick zu. „Kommen Sie mit!“

Verblüfft über den Befehlston des gebrechlichen Dienstboten starrte Quinton ihn an.

Auf dem Weg die Treppe hinauf hielt der alte Mann kein einziges Mal inne.

Im ersten Stock folgten sie einem düsteren Korridor, Schatten verschleierten die Gemälde an einer Wand. Der Butler scheuchte Quinton in ein halbdunkles Zimmer, vollgestopft mit einem Sofa, einem Tisch, mehreren Polstersesseln und Stühlen. Vor dem Piano gab es kaum Platz für die Bank.

„Ich werde Miss Susanna zu Ihnen schicken.“ Noch immer klang die Stimme des alten Mannes gebieterisch. Doch das störte Quinton nicht. Nur seine Erinnerungen an Susanna hatten ihn hierhergeführt.

Wenig später tänzelten leichte Schritte die Stufen vom zweiten Stock heran, dann sah er sie in der Tür stehen. Und da glaubte er fast, er hätte ihr Gelächter erst am Vortag gehört. Reglos stand er da und ließ den Moment auf sich wirken. An ihrem Kleid fand er keine Spitzenborten – nichts, was sie vom Aufzug einer Kaufmannsgemahlin unterschieden hätte. Aber ihre vornehme Haltung und das ungekünstelte Lächeln, genauso wie früher.

„Der Earl of Amesbury …“, begann sie und unterbrach sich. In einer Hand hielt sie etwas, das wie ein kleiner Ball aus Lumpen aussah, in der anderen Quintons Visitenkarte. Sie kam näher zu ihm und legte den Ball auf den Tisch, lehnte die Karte an eine Vase und studierte sie. „Ja, dieser Titel passt zu dir. Irgendwie siehst du sogar noch größer aus.“

„Wenn ich den Titel eines Duke geerbt hätte, vielleicht …“

„O nein, so meine ich es nicht. Sicher bist du gewachsen.“ Forschend betrachtete sie seinen Scheitel. „Seit unserer letzten Begegnung – eindeutig größer.“

„Dafür müssen wir meinem Schuhmacher danken.“

„Amesbury … Du hast dich nicht verändert, abgesehen von der Größe.“

So melodisch klang ihre Stimme, hüllte ihn ein wie Musik, die alles aus seiner gewohnten Welt vertrieb.

„Und wie wundervoll du meinem Vater geholfen hast, als er krank war!“, fuhr Susanna nach einer kurzen Pause fort. „Damals wusste ich deinen Trost sehr zu schätzen.“

Das Lavendelaroma der Halbtrauer wehte zu ihm, obwohl seit dem Tod ihres Ehemanns über ein Jahr verstrichen war. Also musste sie den Taugenichts sehr geliebt haben.

„Nun bist du also Lord Amesbury. Erinnerst du dich an die Picknickparty, auf der wir uns kennengelernt haben? Im Garten meines Onkels?“

„O ja. Du hast einen diebischen Hund erwischt und meine Puppe gerettet.“ Sie trat noch einen Schritt näher, leises Lachen verzauberte ihre Stimme. „Und du hast Carolinas schmutziges Gesicht abgewischt und versucht, die Bissspuren aus ihrem Kleidchen zu entfernen. Erst danach hast du sie mir überreicht. Du warst mein edler Ritter. Und dieser andere Junge amüsierte sich über mich. Da hast du die Augen verdreht und mir bedeutet, er sei nicht ganz richtig im Kopf.“

Wie ihr Gesicht strahlen konnte … Das hatte er vergessen.

„So lange haben wir uns nicht gesehen, Quinton. Was führt dich heute hierher?“

„Ich habe von einigen Schwierigkeiten deines Vaters gehört.“ Langsam ging er zu ihr. „Und ich dachte, ich müsste feststellen, wie es ihm gesundheitlich geht.“

„Neulich hatte er einen Schnupfen. Deshalb sorgten wir uns nur, weil er damals schwer krank war. Inzwischen hat er sich erholt. Er sucht gerade jemanden, der ihm bei der Arbeit am Haus hilft. Wahrscheinlich wird er ziemlich spät heimkommen. Erst kurz vor deiner Ankunft ist er weggegangen.“

Wie festgewurzelt blieb Quinton stehen. „Da ich nicht gebraucht werde, sollte ich mich verabschieden.“

Mehrere Sekunden lang schwiegen beide.

„Wenn du sicher bist, dass er gesund ist, Susanna …“

„Ja, das bin ich. Aber es freut mich, dich wiederzusehen. Es wäre wundervoll, einiges nachzuholen – wenn du Zeit hast.“

Ihre Mundwinkel zogen sich empor, und helles Sonnenlicht schien die beklemmende Atmosphäre des Raums zu erhellen. „Bitte, vergönn mir noch einen Moment …“ Sie eilte zum Fenster an der Rückfront, hob schlanke Arme und versuchte es zu öffnen. Das Holz rührte sich nicht.

„Lass mich das machen.“ An ihrer Seite roch er frische Seife, spürte den Stoff, der seinen Ellbogen streifte.

Mit einem kräftigen Ruck drückte er das Schiebefenster hoch und hörte ein knarrendes Geräusch. Fliederduft strömte ins Zimmer.

Verwundert sah Quinton einen kleinen Jungen heraufschauen. Susannas Kind hatte er völlig vergessen. Sie beugte sich so weit aus dem Fenster, dass er seine gesamte Selbstkontrolle aufbieten musste, um sie nicht festzuhalten. Doch er blieb in ihrer Nähe, falls sie aus dem Gleichgewicht geraten sollte.

Sie holte den Lumpenball und warf ihn in den Garten. „Spiel noch eine Weile, Christopher!“, rief sie. „Ich werde die Köchin bitten, sie soll einen Aprikosenkuchen backen!“

Dann bedeutete sie Quinton beiseitezutreten, holte tief Luft und stemmte mit aller Kraft das Fenster hinauf. Mit dumpfem Krach schloss es sich, und er beobachtete ein winziges Gipsteilchen, das sich aus der Zimmerdecke löste, herabschwebte und auf Susannas Schulter landete. Sicher würde es dreist wirken, einem ersten Impuls zu gehorchen und es wegzuwischen.

„Für mich ist das Frühlingswetter immer noch zu kühl, um das Fenster offen zu lassen.“ Sie rieb sich die Hände, dann sank sie in einen Lehnstuhl. Einladend wies sie auf das Sofa, und er setzte sich ihr gegenüber.

„Ich habe noch gar nicht mein Beileid zum Verlust deines Mannes ausgesprochen.“

„Nun, unsere Ehe war – schwierig.“ Sie winkte ab, ihre Stimme verlor die Lebensfreude. „Für mich war es kein schmerzlicher Verlust …“ Sie legte den Kopf schief. „Vielmehr ein schrecklicher – ein unvergesslicher. Hauptsächlich ein Verlust.“

„Tut mir leid.“

„Als mein Mann starb, wurde ich von Gefühlen überwältigt. Obgleich – wir hatten schon jahrelang nicht mehr richtig zusammengelebt. Bei der Hochzeit war ich natürlich verliebt in ihn. Manchmal konnte er unglaublich charmant sein. Doch wir wurden nicht glücklich miteinander. So traurig ist es gewesen … Und jetzt bin ich sehr zufrieden mit meinem Witwenstand.“

„Ich kam nicht besonders gut mit deinem Gemahl aus.“

„Da bist du nicht der Einzige …“ Eine Zeit lang starrte sie den kalten Kamin an, dann wandte sie sich wieder zu Quinton. „Dein Besuch würde ihn beeindrucken. Alles hat ihn beeindruckt – zunächst.“

„Ich nicht.“

„Weil du damals ein Arzt warst, Quinton Langford. Kein Earl.“ Ihr Blick bat ihn um Entschuldigung. „Aber reden wir nicht über meinen Mann. Ich versuche nicht mehr an ihn zu denken. Trotzdem – seit ich mit Christopher hierherzog, scheinen die Erinnerungen an Walton immer lebhafter zurückzukehren, statt zu verblassen.“

Sie strich über ihre Schulter, entfernte das Gipsstückchen.

„Erstaunlich, dass du jemanden getroffen hast, der dir meine jetzige Adresse mitteilen konnte … Hier wohnen wir noch nicht lange. Mein Vater möchte das Haus renovieren …“ Bevor sie weitersprach, schluckte sie. „Das Ausmaß dieses Unterfangens ist ihm wohl kaum bewusst. Dagegen kann ich natürlich nicht protestieren. Gestern besuchte ihn ein Zimmermann und erklärte ihm die erforderlichen Reparaturen. Und deshalb schmiedet Papa immer neue Pläne.“

„Ein alter Bekannter informierte mich über deine Übersiedlung.“ Und über die finanziellen Probleme der Familie. „Wenn du in dieser ländlichen Gegend wohnst, werden deine Fahrten zu den Londoner Soireen ziemlich lange dauern.“

Ihre Lippen verkniffen sich, und sie schüttelte den Kopf. „Die habe ich früher genossen. Seit meiner Heirat nicht mehr so sehr. Ich bin gern daheim.“

„Das verstehe ich, und es passt zu dir. Übrigens, auch du bist größer geworden.“

„Unsinn! Was dich betrifft, habe ich die Wahrheit gesagt, Quinton Langford.“

„Ich ebenso, Susanna Walton.“

„Nenn mich nicht so!“, verlangte sie schaudernd.

„Wenn es dich dermaßen stört, wird der Name nicht mehr über meine Lippen kommen.“

„An den konnte ich mich nie gewöhnen. Das habe ich jahrelang vertuscht. Jedes Mal, wenn ich für eine Weile zu meinen Eltern zog, gab ich vor, es wäre ein normaler Besuch. Dennoch wussten sie Bescheid. Dass ich Ethelbert nur höchst selten sah, blieb ihnen nicht verborgen.“

„Auch ich habe es vermutet.“

„Schon immer warst du einfühlsam. Und du hast mir meinen ersten Kuss gegeben.“

„Keineswegs!“, protestierte er entschieden. „Der zählt wohl kaum. Und du hast mich geküsst.“

„Daran erinnere ich mich sehr gut. Vor deiner Reise zur Universität hast du mich besucht, um dich zu verabschieden. Und du hast mir einen so süßen Kuss gegeben.“

„Wie freundlich von dir, immer noch daran zu denken … Aber dein keuscher Kuss hat meinen Mund halb verfehlt. Ein unmissverständlicher Abschied.“

Achselzuckend reckte sie ihr Kinn vor. „Behalt es in deinem Gedächtnis, wie immer du willst. Offenbar kann ich dich nicht vom Gegenteil überzeugen.“

„Ganz sicher nicht“, stimmte er lächelnd zu. „Weil ich dabei war.“ Nur zu gut entsann er sich, wie sie ins Haus zurückgelaufen war – an sein Gefühl, die Freundschaft, die er so sehr geschätzt hatte, würde nicht fortbestehen.

Welch verflixte Unschuld … Beinahe hatte Susanna ihren Puppen geglichen, ohne die geringste Ahnung von der Realität dieser Welt. Sie musste beschützt werden. Doch er war nicht für sie verantwortlich – und damals nur ein armer Waisenjunge gewesen, allerdings von seinem steinreichen Onkel gefördert. Nur zu gern hatte Quinton die Chance genutzt.

Und die junge Lady hatte turmhoch über ihm gestanden.

Jetzt ergriff sie ein Taschentuch, das neben ihr auf einem kleinen Beistelltisch lag, und begann es zu falten.

Hörte er ein leises Seufzen?

Susannas Lächeln verebbte nicht, ihre Hände glätteten das gefaltete Leinen, bis es wie frisch gebügelt aussah.

So wundervoll, Quinton wiederzusehen …

Inzwischen war er zu einem imposanten Mann herangereift – doch er hatte sie schon in seiner Jugend mit äußerer und innerer Kraft beeindruckt. Nachdem er sein Studium begonnen hatte, schien er ihre Existenz zu vergessen. Nur gelegentlich besuchte er ihre Familie, nahm keinen Kontakt mit ihr persönlich auf. Das kränkte sie, bis sie schließlich von zu vielen gesellschaftlichen Ereignissen abgelenkt wurde. Auf solchen Festen ließ Quinton sich nur selten blicken.

Dann war Ethelbert Walton in ihr Leben getreten.

Ein Desaster.

In den ersten Monaten ihrer Ehe hatte sie Bälle und Partys nur zusammen mit ihrer Familie besucht.

Weil Ethelbert sich zu sehr für andere Frauen interessierte … Die Anwesenheit seiner Gemahlin störte ihn, und er zog es vor, wenn sie im Hintergrund blieb.

Zutiefst verletzt, begriff sie nicht, wie naiv sie vor der Hochzeit gewesen war. Der charmante Mann, der sie betört hatte, verwandelte sich in einen zynischen Spötter. Dauernd stellte er sie in aller Öffentlichkeit bloß.

Letzten Endes waren keine Einladungen mehr eingetroffen, beziehungsweise hatte Susanna sie verbrannt …

Nun schüttelte sie den Kopf und verdrängte die beklemmenden Erinnerungen.

„Seit dem Antritt meines Erbes nahm ich an ein paar Soireen teil“, erklärte Quinton. „Auf keiner einzigen habe ich dich gesehen.“

Weil niemand meine beklagenswerte Situation erraten soll …

Das verschwieg sie und begann wieder von erfreulichen Zeiten zu sprechen. „Welch eine glückliche Kindheit wir hatten … Und du warst immer so nett, mich zu amüsieren. Mit dir habe ich mich nie gelangweilt.“

„Sicher genoss ich deine Gesellschaft viel mehr als du meine.“

„Wie galant du bist … Das warst du schon immer.“ Nun wich sie seinem Blick aus. „Meistens.“

„Meistens …?“, wiederholte er ausdruckslos.

Susanna schöpfte tief Atem. „Während deines Studiums am Royal Physician’s College hast du uns nie besucht – bis Papa krank wurde.“

„Vor meiner Abreise habe ich gefragt, ob ich dir schreiben soll.“ Du hast Nein gesagt – und mir diesen Abschiedskuss gegeben.

„Oder du mir!“ Seltsam, dass er das Wort Nein sehr stark betonte … „Ich habe erklärt, ich korrespondiere nur ungern. Und du hast gesagt, dafür würdest du dich auch nicht begeistern.“

„So viel stürmte auf mich ein – die lebhafte Atmosphäre an der Universität, die faszinierenden Vorlesungen, mein Wunsch, möglichst viel zu lernen … Für Briefe wollte ich mir keine Zeit nehmen. Nur dir hätte ich geschrieben.“

Darauf antwortete sie nicht. Doch sie schaute ihn wieder an.

„Wenigstens ein paarmal“, ergänzte er.

„Nur ein paarmal? Genau das meine ich. Je älter wir wurden, desto deutlicher spürte ich eine gewisse Distanz zwischen uns.“

„Weil ich mich um untadelige Manieren bemühte, wenn wir uns trafen.“

„O ja, du warst immer überaus korrekt. Und manchmal zu distanziert.“

„Also, ich – du …“ Er unterbrach sich und begann noch einmal von vorn. „Damals hat sich das Kind, das seine Puppen, fröhliche Spiele und Gelächter mochte, in eine junge Frau verwandelt. Die gab mir zu verstehen, ich dürfe ihr nicht zu nahe treten.“

„Bei unserem letzten Treffen sagte ich, wir könnten immer befreundet sein. Und dann wurde jemand von jemandem geküsst.“

Quinton zog die Brauen hoch. „Sei versichert, es war ein Abschiedskuss, kein – Bis-später-Kuss.“

„Deshalb hast du weitere Begegnungen vermieden.“

„Ja. So verhält man sich in einer Freundschaft, die engere Kontakte ausschließt.“

„Und dann bist du bis zur Erkrankung meines Vaters verschwunden.“

„Einige Feinheiten der gehobenen Gesellschaft sind mir nach wie vor rätselhaft“, gestand er. „Gleichwohl glaube ich zu wissen, wie man – eh – private Zwickmühlen höflich beenden oder im Keim ersticken kann, bevor sie entstehen.“

„Um mich zu wiederholen, bei unserem Abschied betonte ich, wir könnten Freunde bleiben. Und – ich wollte einfach keine Briefe schreiben.“

„Um ehrlich zu sein, ich auch nicht.“ Quinton krümmte und spreizte seine Finger. „Wenn man den ganzen Tag an einem Schreibtisch sitzt, altert man schnell. Aber ich bin nach wie vor dankbar für die Gelegenheit zu einem Studium, für mich war das sehr wichtig …“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Und du wolltest mich damals nicht an der Abreise hindern?“

„Wann immer wir uns trafen, amüsierten wir uns großartig“, antwortete sie ausweichend.

„Und ich fand dein Gelächter stets hinreißend – mit einer einzigen Ausnahme.“

„Als du nach dem Kuss gegen einen Baum gerannt bist. Zuerst dachte ich, du würdest herumalbern.“

Lächelnd dachte er an den peinlichen Zwischenfall. Er war weggelaufen, weil sein Onkel schon dreimal nach ihm gerufen hatte. Um Susanna zu winken, hatte er sich umgedreht, war gegen den Baumstamm geprallt und mit einem farbenfrohen Bluterguss auf einer Wange bestraft worden. Das zählte zu den wenigen Ereignissen seines Lebens, die ihn in Verlegenheit gestürzt hatten.

„Danach meinte jemand, ein sehr großer Mann müsse mich niedergeschlagen haben. ‚Groß wie ein Baum‘, stimmte ich zu.“

„Ich nahm an, du hättest nur vorgegeben, den Baum zu übersehen.“

„Zweifellos hat er sich bewegt, um mir den Weg zu versperren.“

„Mindestens um zehn Schritte“, scherzte Susanna.

„Also können wir uns darauf einigen?“

„Auf viele Dinge. Wir sind nur manchmal nicht dazu bereit.“

„So wie bei unseren ersten Begegnungen. Da wolltest du wissen, ob ich mich an die Namen der Puppen erinnere, die du mir vorgestellt hattest. Lady Matilda Margaret Montague und Lady Louise Sowieso. Auch die Lieblingstiere der Damen, über die du fantasievolle Geschichten erzähltest, hatten ziemlich komplizierte Namen. Eine besaß einen Löwen, eine andere einen Elefanten, dem ein sprechender Vogel gehörte.“

„Nein, der war Lady Matildas Eigentum.“

„Alle deine Spielsachen hast du nach ihren gesellschaftlichen Status aneinandergereiht. Und ich schwöre, du hast die Adelsränge immer wieder ausgetauscht.“ Quinton war verblüfft gewesen, weil ein einziges kleines Mädchen in so ungeheuerlichen Spielzeugmassen geschwelgt hatte. Und weil ihm gestattet worden war, auch damit zu spielen …

„Mag sein“, gab Susanna zu. „Um dich bei der Stange zu halten.“ Sie schaute zum Fenster. „Später war ich so dankbar, wenn ich nach Hause kam und deine Betreuung meines Vaters beobachten konnte. Ach, ich schwatze in einem fort …“ Abrupt erhob sie sich, und Quinton stand ebenfalls auf. „Du bist hierhergekommen, um meine Eltern zu besuchen, ich werde meine Mutter holen …“

„Um deinen Vater sorgte ich mich“, unterbrach er sie. „Da er gesund ist, muss ich nicht auf ihn warten. Natürlich hat es mich gefreut, dich wiederzusehen, hoffentlich werden wir uns bald öfter auf Soireen begegnen. Vor allem auf Bällen. Früher hast du wundervoll getanzt – und so unbefangen mit allen Leuten geplaudert.“

„Diese Zeiten sind vorbei“, erwiderte sie leise. „Jetzt habe ich einen kleinen Sohn und bin mit banaleren Dingen beschäftigt.“

„Zum Beispiel musst du Lumpenbälle aus dem Fenster werfen?“

Lächelnd nickte sie. „Heute besucht die Gouvernante ihre Familie.“

Diesen Worten folgte ein längeres Schweigen. Quinton dachte wieder an die Gerüchte über die finanziellen Schwierigkeiten ihres Vaters. Wahrscheinlich gab es keine Gouvernante.

„Geh noch nicht!“, bat sie. „Nun will ich Mama Bescheid geben. Ganz schlimme Vorwürfe würde sie mir machen, wenn sie hört, du seist hier gewesen und sie habe nicht mit dir reden können! So froh bin ich über deinen Besuch, Lord Amesbury … Nein, verbessere mich nicht. Sehr imposant, dieser Titel, und ich freue mich für dich. Gedulde dich noch ein bisschen, gleich komme ich mit Mama zurück …“

Langsam wandte sie sich ab. Verließ sie ihn nur widerstrebend? In der Tür zögerte sie und drehte sich um.

Wollte sie erneut erwähnen, sie müssten Freunde bleiben? Mit einer gewissen Distanz …?

Und dann verstand Quinton, warum er sich so gut an sie erinnerte. Weil sie als Einzige der Frauen, die er kannte, eine erlauchte aristokratische Würde ausstrahlte, aber allen Menschen charmant und freundlich begegnete – Angehörigen der Oberschicht und Dienstboten. Sogar Hunden, die ihre Puppen entwendet hatten …

„War dir unsere Freundschaft wirklich wichtig?“, fragte er spontan.

„Falls du immer noch daran zweifelst, schlag dir’s endgültig aus dem Kopf!“, mahnte sie lächelnd.

So wie in der frühen Jugend könnte sie mich unterstützen … Damals hatte sie erklärt, wie er sich in Adelskreisen verhalten müsse, und ihm Manieren beigebracht. Das hatte auch die Schwester seiner Mutter getan. Susannas Anleitungen hatten jedoch viel netter geklungen.

Jetzt war sie eine respektable Witwe, mit einem Kind und angesehenen Eltern. Bestimmt würde sie ihm einen gehobenen Status in der Hautevolee verschaffen, der ihn schützen müsste, wenn er sich in einer fragwürdigen Gesellschaftsklasse bewegte.

An der Universität hatte ihn der Makel seiner Herkunft nicht gestört. Dort war er stolz auf die Kenntnisse gewesen, die er sich angeeignet hatte. Als Earl wollte er verhindern, dass die Fakten seiner Vergangenheit ans Licht kamen – die Kindheit bei einer Mutter, die nur einen Schritt vom Bordell entfernt gewesen war, und bei seiner Tante. Jahrelang war er angewiesen worden, die Zimmer der Frauen zu reinigen, die für sie gearbeitet hatten …

„Selbstverständlich mochte ich dich.“ Susanna kehrt zu ihm zurück und ergriff seine rechte Hand. „Aber ich wollte mit niemandem korrespondieren.“

„Auch nicht mit deinem Verlobten?“

„Nein. Weder vor noch nach der Heirat pflegten wir längere Kontakte. Ich glaube, eine Ehe stellt zwischenmenschliche Beziehungen auf eine sehr harte Probe.“

„Dieser Prüfung wurde ich noch nicht unterzogen.“ Quinton hob ihre Fingerspitzen. „Doch ich würde die Herausforderung annehmen.“

„Sicher wärst du ein wunderbarer Ehemann“, flüsterte sie, und er las geteilte Erinnerungen in ihrem Blick.

„Wenn du das glaubst – würdest du eine Heirat erwägen?“

Dass er die Worte ausgesprochen hatte, verblüffte ihn. Der Gedanke nicht, der ihm schon vor diesem Besuch durch den Sinn gegangen war – den er sofort verworfen hatte.

So verständnisvoll und feinfühlig war sie stets gewesen …

Sie schwieg, und es fiel ihm wieder ein, wie ihre Eltern nach den sonntäglichen Gottesdiensten in die Kutsche gestiegen waren, wie Susanna und ihre zwei Schwestern sich auf die Bank gegenüber gezwängt hatten. Er war in die andere Richtung gefahren, im Wagen seines Onkels. Der hatte ihn fast nie in sein Haus mitgenommen. Nach einer gewissen Strecke hatte Quinton aussteigen müssen.

Forschend schaute Susanna ihn an, sagte noch immer nichts.

„Willst du mich heiraten?“, fragte er leise.

2. KAPITEL

Ihr Herz flatterte. Plötzlich sah sie Quinton in einem anderen Licht. Seine dunklen Augen wirkten so distanziert wie damals, aber er war tatsächlich größer als in ihrer Erinnerung. Und der Anblick des Muskelspiels unter dem Ärmel seines Jacketts, während er das Schiebefenster hochgeschoben hatte … Da waren ihre Knie weich geworden.

Und jetzt musste sie in einen seltsamen Tagtraum geraten, der anscheinend ihr Gehör beeinträchtigte. „Pardon, Quinton, was hast du gesagt?“

„Willst du mich heiraten?“

Noch immer umfasste sie seine Hand. Vielleicht etwas zu fest. Eine große, raue und trotzdem irgendwie sanfte Hand.

Susanna starrte die vereinten Finger an. „Habe ich mich vielleicht unangemessen verhalten, Quinton?“, fragte sie, ließ ihn los und entfernte sich um einige Schritte.

„Nein.“

Keinesfalls hatte sie den Eindruck zu erwecken versucht, sie wäre an einer zweiten Ehe interessiert. „In der Kindheit waren wir befreundet, dann verloren wir uns aus den Augen. Und obwohl du mir immer noch viel bedeutest – von niemandem möchte ich umworben werden. Ein weiterer Grund, warum ich gesellschaftliche Ereignisse meide. Man darf nicht glauben, ich würde die wahre Liebe suchen.“

Nie wieder, hätte sie beinahe emphatisch hinzugefügt.

Doch da lachte er. „Was das betrifft, sind wir einer Meinung. Nichtsdestoweniger solltest du meinen Antrag überdenken, mag er dir auch überhastet erscheinen. Indes sehe ich keinen Grund, eine vernünftige Entscheidung hinauszuzögern.“

„Wie du weißt, war ich schon einmal verheiratet. Diese Ehe verlief nicht so, wie ich es erwartet hatte – sie war sogar das Gegenteil aller meiner Hoffnungen.“

„Natürlich hat Walton dir seine Liebe versichert?“

„O ja. Und ich bildete mir ein, ich würde diese Gefühle erwidern. Eine alberne Illusion … Immerhin bescherte sie mir meinen geliebten Sohn. Und mittlerweile finde ich meinen Witwenstand wesentlich angenehmer als die Ehe.“

„Da wir beide die Liebe ablehnen, möchte ich einen anderen Aspekt erwähnen. Du wärst eine ausgezeichnete Countess.“

„Countess?“, wiederholte sie verstört, dann schüttelte sie den Kopf. „Deine Ehefrau …“

„Nun, ich stelle mir vielmehr eine private Partnerschaft vor – eine Art Heiratspakt.“

Susanna blinzelte verständnislos. „Zwischen dir und mir?“

„Ja. Regelmäßig erscheinen wir gemeinsam in der Öffentlichkeit. Die Leute sollen glauben, wir würden eine richtige Ehe führen. Daran wird kaum jemand zweifeln, weil wir seit unserer Kindheit befreundet sind. Also wird man vermuten, inzwischen hätten wir unsere Liebe entdeckt. In meinem Haus würde ich dir eine uneingeschränkte Privatsphäre garantieren. Dort kannst du nach Herzenslust schalten und walten, alles neu gestalten, Einladungen verschicken, was auch immer. Geld spielt keine Rolle. Währenddessen würde ich weiterhin als Arzt arbeiten und für Menschen sorgen, die ansonsten keine Chance auf eine gute Behandlung hätten.“

„Und was wird aus uns beiden?“ Ihre Augen verengten sich. „Wenn wir alle Leute von unserer echten Ehe überzeugen, glauben wir womöglich bald selber daran. Das wäre – furchtbar!“

Quinton schien ihre Bedenken sogar zu verstehen. Die Stirn gerunzelt, musterte er sie. Bevor er antworten konnte, rannte ihr kleiner Sohn ins Zimmer und hielt den Lumpenball hoch, der jetzt noch zerfetzter aussah.

„Schau mal, Mama, mein Ball ist kaputt! Kann ich einen anderen haben? Einen richtigen?“

„Darüber reden wir später.“

Susanna presste die Lippen zusammen. Natürlich durfte sie nichts von ihrem knappen Haushaltsgeld für Spielzeug ausgeben. Ihr Vater brauchte jeden Penny für die Renovierungen. Und die Gouvernante Celeste hatte sich bereit erklärt, ohne Bezahlung zu arbeiten, ebenso wie fast das gesamte Personal. Falls Papa das Herrschaftshaus in London verkaufte, würde der Erlös nur befristet für den Lebensunterhalt der Familie reichen – vermutlich nicht einmal, bis der kleine Junge erwachsen war. Ihre Mutter erwog, das Piano zu veräußern, um einen Hauslehrer für den Enkel zu bezahlen. Doch im Lauf der Zeit würden sie kaum neue Dienstboten finden, die umsonst arbeiten würden, so wie die jetzigen unter dem Dach dieses Anwesens auf dem Land – unter dem undichten Dach.

„Geh jetzt zu deiner Großmama, Christopher, ich komme gleich nach“, versprach sie und tätschelte liebevoll seine Schulter.

„Ja, Mama.“ Er gab ihr den zerfledderten Ball und lief zur Tür hinaus, während sie versuchte, die Stofffetzen wieder in Form zu bringen.

Was würde geschehen, wenn Christopher lesen lernen wollte? Hoffentlich hatte er nicht ihre mangelnden Talente geerbt … Celeste, eine Französin, konnte ihn nicht unterrichten – sie selbst war leider außerstande, Englisch zu lesen.

Natürlich erkannte sie, welch ein Segen es für ihre Familie wäre, wenn sie Quinton heiratete. Mit seinem Geld und seinem Status würde er Christopher später zu irgendeiner guten Position verhelfen. Sogar, wenn der Junge die Unzulänglichkeiten seiner Mutter geerbt hatte. Er war schon sechs Jahre alt. Bisher hatten Susanna und ihre Eltern seine Ausbildung hinausgeschoben. Papa konnte sich keinen Hauslehrer für seinen Enkel leisten.

Dass sie nicht zu lesen vermochte, durfte Quinton nicht herausfinden. Sonst würde er seinen Heiratsantrag womöglich zurückziehen. In ihrer Kindheit und frühen Jugend hatten zwei verschiedene Gouvernanten erfolglos versucht, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Ihren beiden Schwestern waren diese Künste nur so zugeflogen …

Wenn sie ein zweites Mal heiratete, würde ihr Gemahl die Leseunfähigkeit zweifellos bemerken. Deshalb hatte Walton sie gnadenlos verhöhnt. Das wollte sie nicht noch einmal durchmachen.

Sie war ehrlich zu ihm und zunächst sicher gewesen, er hätte ihre Schreib- und Leseschwäche akzeptiert. Stattdessen hatte er sie bei jeder noch so geringfügigen Meinungsverschiedenheit eine „dumme Gans“ genannt, die man nicht ernst nehmen dürfe. Nur ihre äußere Erscheinung hatte er zu schätzen gewusst und bei ihrer Schwangerschaft geklagt, nun sei ihr einziger Vorzug entschwunden.

Prüfend schaute sie in Quintons Augen. Sollte sie ihm vertrauen? Erst seit Kurzem gehörte er zur Oberschicht. Sie dachte an die Geschichten, die er von den Londoner Straßen erzählt hatte. Und wie erstaunt war sie bei der Erkenntnis gewesen, sie würde ihn über aristokratische Gepflogenheiten informieren müssen … Sie hatte geglaubt, in dieser Rangordnung würde er sich bestens auskennen.

„Als dein Vater krank wurde, wohnte er bei seinem Bruder“, erinnerte sie ihn. „Der Landsitz des alten Earl lag in der Nähe meines Elternhauses. Damals hast du deinen Onkel manchmal besucht – und dich bei mir nach adeligen Leuten erkundigt.“

„Zum Beispiel wollte ich wissen, ob man einen Viscount mit Mr. oder Lord anredet.“

„Sicher hast du mich für neunmalklug und herablassend gehalten.“

„Keineswegs, du hast sehr höflich mit mir gesprochen.“

„Auch jetzt hoffe ich, du wirst mich nicht unhöflich finden“, begann sie zögernd. „Aber ich kann kein Blatt vor den Mund nehmen …“ Nachdem sie sich vergeblich bemüht hatte, den Fetzenball zu reparieren, legte sie ihn wieder auf den Tisch.

„Sag einfach freimütig, was du denkst.“

„Du würdest dir Erben wünschen …“ Ein leichtes Kopfschütteln unterstrich ihre Worte.

„Mit diesem Problem befasse ich mich noch nicht. Begleitest du mich zu meiner Kutsche?“ Quinton nahm an, sie würde seinen Antrag ablehnen, und er wollte ihr weitere Peinlichkeiten ersparen. „Diesmal werden wir den Kontakt nicht verlieren“, prophezeite er, obgleich er mit dem Gegenteil rechnete. Schon jetzt beanspruchten mehr Menschen seine Zeit, als er es je für möglich gehalten hätte.

Natürlich hatte er auch nie erwartet, den Titel eines Earl zu erben. Von der Familie seines Vaters hatte er nichts gewusst, bis er etwa zehn Jahre alt gewesen war. Damals hatte er herausgefunden, sein Vater, der jüngere Sohn eines Earl, würde sich zusammen mit Quintons älterem Cousin regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit betrinken.

Der Großvater, der alte Earl, hatte seine Enkel Quinton und dessen jüngeren Halbbruder Eldon nicht akzeptiert, wegen der unpassenden Schwiegertochter.

Dann war der Titel an seinen älteren Sohn übergegangen, Quintons chronisch kranken Onkel, der das reizbare Temperament des alten Mannes geerbt und seinen Sohn wegen dessen Trunksucht zu hassen begonnen hatte.

Quinton war von seinem Großvater als Enkel anerkannt worden, der jüngere Eldon nicht. Nach eindringlicher Befragung hatte die Mutter verkündet, Eldons Vater sei der Mann, der ihr damals am besten gefallen habe.

Das alles wollte Quinton hinter sich zurücklassen. Dabei würde ihm die Ehe mit Susanna helfen. Aber er verstand ihre Weigerung, verneigte sich und trat einen Schritt zurück.

„Geh nicht!“, bat sie erneut und unterbrach sich. „Ach, wenn ich bloß wüsste …“

Was sie bedrückte, glaubte er zu erraten. „Vorher könntest du alle Verträge überprüfen, falls dich das beunruhigt. Um Geld müsstest du dich nie wieder kümmern.“

„Die finanziellen Aspekte meine ich nicht, sondern die Dinge, die man normalerweise nicht vertraglich regelt. Würden wir – zusammenleben?“ Ein rosiger Hauch färbte ihre Wangen.

Prompt sorgte er sich um die Kontrolle seines Körpers. „Du würdest selbstverständlich dein eigenes Schlafzimmer bewohnen. Mit einer Tür, die du nicht zu versperren braucht. Nie würde ich diesen Raum ohne deine Einladung betreten.“

„Was du zur Kenntnis nehmen solltest …“ Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt sie seinem Blick stand. „Das wird nicht geschehen.“

„Und was du beachten musst – ich habe mir etwas geschworen. An die Liebe glaube ich nicht. Zu meiner Ehe werden keine Intimitäten gehören, Leidenschaften müssen gezügelt werden. Weil sie Menschen und Schicksale zerstören.“

„In meiner Ehe spielten Intimitäten keine große Rolle.“ Susanna atmete tief durch. „Offenkundig würde diese Heirat mir mehr Vorteile einbringen als dir.“

„Ich wünsche mir eine Gemahlin, die gewissermaßen meinen Adelstitel verwaltet, mir den Haushalt führt und meinen Status in der Hautevolee erhöht. Und möglichst wenige Störungen. Kein Gezänk, keine überflüssigen Änderungen, ein ruhiges, friedvolles Zuhause. Besonders wichtig wäre wechselseitiger Respekt.“

„Ziemlich anspruchsvoll …“

„Ich möchte meinem Titel gerecht werden. Übrigens habe ich viele Freunde in weniger begünstigten Gesellschaftsschichten gefunden. Das sind wahre Freunde. Ebenso wie die reichsten Londoner Aristokraten sollen sie geachtet werden. Und die Eliten müssen mich wertschätzen, trotz meiner ärztlichen Arbeit.“

„Da du kranke Menschen heilen möchtest, dürfte dich niemand kritisieren.“

„Leider fällt es mir sehr schwer, gesellschaftliche Pflichten mit all meinen anderen in Einklang zu bringen. Wegen der zahllosen Besucher, die plötzlich in meine gewohnte Welt eindringen, kann ich meine Patienten nicht mehr ausreichend behandeln. Eine Ehefrau, die mich in der Oberschicht vertritt, würde mir den Status verleihen, den ich als Junggeselle nicht zu erwerben vermag. Wenn ein adeliger Arzt verrufene Stadtteile aufsucht, könnte man ihn verunglimpfen. Sobald ihn daheim eine respektable Gemahlin und eine Familie erwarten, wird man seine edlen Beweggründe eher billigen.“

„Mein Gatte hatte eine Frau daheim. Für eine Weile.“ Kopfschüttelnd verdrehte Susanna die Augen. „Zu meinem tiefsten Bedauern hatte ich dem falschen Mann vertraut, und ich war so wütend auf mich selbst. Nicht nur Walton, auch seine Familie – und sogar meine Eltern hatten mich bitter enttäuscht. Nur der Butler entging meinem Zorn, denn er hatte mich gewarnt. Nun wünsche ich mir für meinen Sohn ein besseres Leben.“

„Verständlich. Dafür will ich sorgen.“

„Ohne jeden Zweifel würden dich viele Frauen für einen idealen Ehemann halten.“

„Auch meinen Vater hätten sicher viele Frauen sehr gern geheiratet. Und wie ich höre, wurde meine Mutter von zahlreichen Männern bewundert. Vielleicht zu viele – keine Grundlage für eine friedliche Existenz. In meinem neuen Haus soll es so ruhig zugehen wie in meinem Junggesellenquartier. Inzwischen bin ich in ein komfortableres Domizil übersiedelt, auf den Landsitz des alten Earl, nahe deinem früheren Elternhaus. Nun werde ich von Gratulanten belagert, die ich gar nicht kannte. Und ich muss weitere Wege zurücklegen, um meine alten Freunde wiederzusehen.“

Sie verschränkte ihre Arme vor der Taille, stützte einen Ellbogen darauf und umfasste ihr Kinn. „Obgleich ich nicht zur Zänkerei neige – wenn wir unter demselben Dach wohnen, wird es irgendwann zu Meinungsverschiedenheiten kommen.“

„Wie ist das mit deinen Eltern?“

Susanna antwortete erst nach einer kurzen Pause. „Während deiner Betreuung meines kranken Vaters hast du im Haus geschlafen, oft neben seinem Bett.“

„Ja, in einer tiefen Stille, die ich an keinem anderen Ort vorfand.“

„Haben meine Schwestern Papa besucht?“

Quinton nickte. „Sehr oft. Sie fürchteten, er hätte es nicht warm genug, oder ein Luftzug würde ihm schaden. Und sie vertraten stets unterschiedliche Standpunkte.“

„Da siehst du, was ich meine. In allen Familien wird gestritten.“

Lachend legte er den Kopf schief. Fesselte der heitere Glanz in seinen Augen ihren Blick? „Das war eine Diskussion, Susanna. Kein Streit.“

Sie kräuselte die Lippen, und er musterte sie abwartend.

„Was du bedenken solltest …“, begann sie zaudernd. „Die finanzielle Situation meiner Eltern ist nicht die beste.“

„Das werde ich regeln.“

„Und – wärst du gut zu meinem Sohn? Würdest du ihn nicht wie eine Last behandeln?“

Irritiert rang er nach Fassung. „Wenn ich vorhätte, dein Kind oder deine Eltern schlecht zu behandeln, würde ich dich nicht heiraten. Allerdings halte ich deinen Sohn nicht für einen Teil meines Lebens.“

„Warum nicht?“

„Eine Gouvernante kümmert sich um ihn. Solange er sich ordentlich benimmt, werden sich seine und meine Wege nur selten kreuzen. Denn wir beide würden verschiedene Teile des Hauses bewohnen.“

Eine Zeit lang schien sie nachzudenken. „Unter diesen Umständen wäre eine Ehe weniger anstrengend.“

„Ebenso wie du möchte ich Schwierigkeiten vermeiden.“

„Das weiß ich zu schätzen.“

„Und? Wie entscheidest du dich? Heiratest du mich?“

Sie trat zu ihm, ergriff seine Hände. In ihren blauen Augen las er echten Kummer, der ihm die Antwort bereits verriet. „Ich kann es einfach nicht. So gut du es auch meinst … Ich habe bereits eine Ehe hinter mit. Und ich möchte nicht noch eine Partnerschaft eingehen …“

Als sie verstummte, vollendete er den Satz. „Ohne Liebe?“ Nur mühsam rang sich das Wort aus seiner Kehle, und er war einfach außerstande, Emotionen zu heucheln.

In früheren Jahren hatten ihm mehrere Frauen ihre Liebe erklärt. Keiner hatte er geglaubt. Und seine Mutter hatte ihm oft versichert, wie sehr sie ihre Kinder liebe. Daran hatte er schon nach ein paar Wiederholungen gemerkt, sie würde irgendetwas im Schilde führen. Zum Glück hatte ihre Schwester ihn mit solch albernen Schwindeleien verschont, und er war dankbar für ihre Ehrlichkeit.

„Das Wort Liebe dürfte ich nicht aussprechen“, entgegnete Susanna, „weil ich nicht weiß, was es bedeutet. Aber ich denke, eine Partnerschaft erfordert nicht nur Gefühle.“

„Die können problematisch sein.“

„Demnach verstehst du, was in mir vorgeht?“

Quinton entzog ihr seine Hände und wich zurück. „O ja“, bekräftigte er, denn er hatte beobachtet, wie die Liebe alles zerstörte, was sie vereinnahmte. Und er wollte niemals in diesen beklagenswerten Zustand geraten.

Außerdem hatte er festgestellt, welch trügerische Empfindungen auch die körperliche Liebe weckte. Deshalb hatte er sich zum Zölibat entschlossen und gelernt, damit zu leben. Nie wieder würde er solch unsinnigen Begierden erliegen. Wann immer Versuchungen auftauchten, vergrub er sich umso konzentrierter in seiner Arbeit.

Was geschehen mochte, wenn er sich noch einmal lockenden Leidenschaften ergeben würde, wusste er nicht. Und er schuldete es seiner Vernunft, keine weiteren Experimente zu wagen.

„Jedenfalls ist es wundervoll, dich wiederzusehen, Quinton“, beteuerte Susanna. „Weil du mich an glücklichere Zeiten erinnerst. Damals warst du ein galanter Ritter und hast meine Puppe gerettet.“

„Ein Ritter? Nur ein einfacher Ritter? Jetzt bin ich immerhin ein Earl …“ Diesen dummen Scherz bereute er sofort, denn sie lächelte kein bisschen.

„Jetzt will ich Mama endlich holen. Über diese unverhoffte Begegnung wird sie sich genauso freuen wie ich.“

„Warte!“, bat er, zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Zettel, den er Susanna reichte. „Das ist eine Liste der Leute, die dir empfehlen würden, mich zu heiraten.“

Sichtlich verunsichert überflog sie die Namen und nickte. „O Quinton, gegen dich persönlich habe ich nichts. Es ist nur – ich habe mir gelobt, nie mehr zu heiraten.“

„Um die Wahrheit zu gestehen – du solltest dich auch gar nicht als meine Ehefrau betrachten. Ebenso wenig würde ich mich für einen Ehemann halten. Ich bin ein Arzt und ein Earl – das füllt mein Leben zur Genüge aus. Aber die Haushälterin kann unerwünschte Gäste nicht so höflich abweisen wie du und mich keinesfalls zu wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen begleiten.“

„Selbst wenn ich jemanden höflich abweisen würde – es fiele mir sehr schwer.“

„Das weiß ich. So rücksichtsvoll bist du. Heute hast du mich sehr freundlich willkommen geheißen, weil du von Natur aus gütig bist.“ Sie lächelte, und er schaute ihr tief in die Augen. „Wenn ich dir drei Menschen nenne, die für dich wichtig sind und dir dringend raten würden, mich zu heiraten – besinnst du dich dann anders?“

„Vielleicht …“

„Erstens meine ich deinen Vater, zweitens deine Mutter, drittens dich selbst.“

„Bedauerlicherweise bin ich unfähig, den Charakter eines Ehemanns einzuschätzen.“

„Würdest du eine Nacht drüber schlafen? Morgen komme ich zurück, dann will ich deine endgültige Antwort akzeptieren.“

„Vor meiner ersten Hochzeit habe ich monatelang nachgedacht.“

„Susanna …“ Er griff nach ihren Händen. „Wenn du diesmal genauso lange für deinen Entschluss brauchst, würde ich dir beistimmen – es wäre eine schlechte Idee.“

„Also gut“, flüsterte sie und lächelte wieder. „Bis morgen.“

3. KAPITEL

Susanna schaute der stattlichen Kutsche nach. Jetzt musste Quinton nicht mehr als Arzt arbeiten, dessen ungeachtet wollte er kranken Menschen, die der Unterschicht angehörten, weiterhin helfen.

Da er ein Earl war, würde er sicher nicht verstehen, dass sie Einladungen weder zu schreiben noch zu lesen vermochte. Doch er würde ihrem Sohn eine gesicherte Zukunft ermöglichen. Und es würde ihr nicht schwerfallen, ihn auf Bälle oder Partys zu begleiten. Das hatte ihr stets großen Spaß gemacht.

Sie eilte ins Zimmer ihrer Mutter, um einen Sessel herum, für den in diesem Raum eigentlich der Platz fehlte, und atmete den Geruch von Möbelpolitur ein. Lachend galoppierte Christopher umher und spielte, er wäre ein Pferd.

„So ein kluges Kind!“, lobte Mama. „Wie sehr ich den Kleinen liebe!“

Er stürmte zu ihr, und sie umarmte ihn. Sofort befreite er sich grinsend. „Ich liebe Großmama auch. Immer wieder lässt sie mich auf ihrem Bett hüpfen. So gemein wie Celeste ist sie nicht.“

Mahnend hob Susannas Mutter einen Zeigefinger. „Hast du unsere Regel vergessen? Wenn man nichts Nettes über jemanden sagen kann, sollte man schweigen. Und deine Gouvernante ist sehr freundlich zu dir.“

„Aber sie erlaubt mir nicht, auf dem Bett herumzuspringen.“

„Das solltest du auch nicht“, entschied Susanna und gab ihm den ruinierten Lumpenball. „Und red nicht schlecht über Celeste. Geh jetzt, zeig dem Dienstmädchen, was mit deinem Ball passiert ist. Vielleicht findet sich ein anderer für dich.“ 

Autor

Liz Tyner
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