Liebe ist mehr als ein Glücksspiel, Mylord

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London, 1818: Lady Tabitha Seaton braucht dringend einen Gatten! Nur verheiratet kann sie der illustren Sterling Society beitreten, in der sich die brillantesten Gelehrten Englands tummeln – ihr größter Wunsch. Aber woher soll Tabitha, die als eigenwilliger Blaustrumpf bei keinem Ball zum Tanz aufgefordert wird, einen Mann nehmen? Das Schicksal bringt sie mit Finn Ransome zusammen. Der adlige Glücksspieler muss ebenfalls dringend heiraten, sonst wird er enterbt. Ist eine Ehe zwischen der belesenen Tabitha und dem verführerischen, lebenshungrigen Draufgänger die Lösung – obwohl Liebe und Leidenschaft ausgeschlossen sind?


  • Erscheinungstag 16.03.2024
  • Bandnummer 401
  • ISBN / Artikelnummer 0871240401
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Eva Leigh

Wenn Eva Leigh nicht an einer ihrer packenden Romances schreibt, in denen sie die Zeit des Regency lebendig werden lässt, widmet sie sich ihren Hobbys: Sie liebt es zu backen, zu viel Zeit im Internet zu verbringen und Musik aus den 80ern zu hören. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt Eva Leigh in Kalifornien.

1. KAPITEL

London, 1818

Ein erfolgreicher Glücksspieler zu sein hieß, das komplexe Zusammenspiel von Risiko, Kalkül und Bauchgefühl zu verstehen und zu seinen Gunsten zu manipulieren. Doch das Risiko, das Finn Ransome vier Monate zuvor eingegangen war, hatte sich nicht für ihn ausgezahlt – im Gegenteil: Es war gewaltig nach hinten losgegangen.

Zugegeben, damals hatte er es für das Richtige gehalten, seinem besten Freund dabei zu helfen, Finns Schwester den Laufpass zu geben. Die bevorstehende Hochzeit hatte Willa und Dom kreuzunglücklich gemacht. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Kieran hatte Finn seinen Freund und seine kleine Schwester daran gehindert, einen, wie er glaubte, kolossalen Fehler zu begehen – doch das Unglück folgte auf dem Fuße. Nicht nur hatte Willa sich vollends von ihnen distanziert – seine Familie hatte ihnen ein drakonisches Ultimatum gestellt, das nun wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte.

Doch im Augenblick konnte Finn keinen weiteren Gedanken an seine missliche Lage verschwenden. Nicht, wenn er seinen Weg durch die heruntergekommene Kneipe in Ratcliff, Londons rauem Arbeiterviertel, unbeschadet überstehen wollte. Gegen diese namenlose Kneipe erschien ihm selbst die wildeste Spielhölle der Stadt geradezu gesittet. Mit drei verbeulten Zinnkrügen voll zweifelhaftem Bier in den Händen steuerte er auf einen Tisch in der Ecke zu. Unterwegs musste er vier Faustkämpfen ausweichen, stieg über zwei am Boden liegende Gestalten hinweg und rettete sich nur knapp vor einem anderen Kneipengast, der wild mit einem Handhaken gestikulierte. Er wand sich geschickt zur Seite, um zu verhindern, dass die rostige Metallspitze einen Riss im edlen Stoff seiner schwarzen Weste hinterließ. Dummerweise brachte die plötzliche Bewegung einen seiner Krüge zum Überschwappen, und Bier ergoss sich über den Kopf eines sitzenden Gastes.

Der düster dreinblickende Mann erhob sich und baute sich drohend vor ihm auf. Er überragte Finn, der selbst nicht gerade von kleiner Statur war, um einiges. Bier tropfte aus dem sandfarbenen Haar des Mannes, und er strich sich die durchnässten Strähnen aus der Stirn, um Finn mit einem finsteren Blick zu durchbohren.

„Meine aufrichtige Entschuldigung“, sagte Finn mit aller Ruhe, die er angesichts des ungeschlachten, nach Bier miefenden und offensichtlich aufgebrachten Giganten aufbringen konnte. „Ein gänzlich unbeabsichtigtes Missgeschick. Darf ich Ihnen zur Wiedergutmachung ein Bier spendieren?“

„Geschwollenes Gerede und eine hübsche Visage schützen dich nicht vor Prügeln“, grollte der Koloss und fuchtelte Finn wie zum Beweis mit den klobigen Fäusten vor der Nase herum.

„Wie wär’s mit einer Wette?“, fragte Finn gelassen. „Oder sind Sie kein Freund des Glücksspiels?“

Sein Gegenüber runzelte verwirrt die Stirn. „Ich ...“

„Aber natürlich sind Sie das“, fuhr Finn unbeirrt fort. „Sie sehen mir aus wie ein Mann, der sich von Lady Fortuna nicht einschüchtern lässt – ganz im Gegenteil. Ein kühner Geselle wie Sie begrüßt die Herausforderung.“

Der blonde Hüne sah an sich herab und befingerte einen losen Knopf, der an einem Faden von seiner Jacke herabbaumelte. „Schätze schon.“

„Eine Wette also“, sagte Finn, ohne sich seine Furcht auch nur im Geringsten anmerken zu lassen. „Wenn Sie gewinnen, wovon ich fest überzeugt bin, dürfen Sie mich nach Herzenslust windelweich prügeln. Doch wenn ich gewinne, dann vergessen wir mein kleines Malheur und gehen als Freunde auseinander. Jemand mit Ihrem Scharfsinn hat gegen so eine kleine Wette doch sicher nichts einzuwenden.“

„Ich …“

„Hervorragend.“ Finn nickte zu einem Gast hinüber, der allein und über seinen Krug gebeugt an einem der klapprigen Tische saß und mit rot geränderten Augen vor sich hinstarrte. „Sehen Sie den Mann dort drüben? Ich wette, dass er in den nächsten fünfzehn Sekunden bewusstlos zu Boden geht.“

„Hatchet Taylor trinkt hier jeden untern Tisch.“ Der Koloss grinste. „Der geht nirgendwo hin.“

„Dann sind wir uns einig.“ Finn stellte einen seiner Krüge auf einem benachbarten Tisch ab – zweifelsohne würde einer der dort sitzenden Männer ihn sich unter den Nagel reißen, doch das Opfer war es ihm wert – und streckte die Hand aus.

Einen Moment lang starrte sein Gegenüber ihn an. Dann spuckte er sich in die Handfläche und hielt sie Finn auffordernd hin.

Mit einem unterdrückten Seufzer tat Finn es ihm gleich und schüttelte dem großen Kerl die Hand. Wenigstens hatte er ein Taschentuch in der Jackentasche, von dem er unverzüglich Gebrauch machte, als sein Kontrahent sich dem Mann namens Hatchet Taylor zuwandte.

Alle Umstehenden, die die Konfrontation gebannt verfolgt hatten, schlossen indessen Nebenwetten ab. Die Stammgäste der Taverne schienen sich einig: Nicht nur würde Finn verlieren, der blonde Riese würde ihn zudem mit einem einzigen Schlag ins Gesicht außer Gefecht setzen.

Finn zog seine Taschenuhr hervor. In weiser Voraussicht trug er ein sehr schlichtes Modell bei sich, um nicht die Aufmerksamkeit aller Taschendiebe zwischen hier und Soho auf sich zu ziehen. „Fünfzehn Sekunden ab jetzt.“

Er, der hünenhafte Mann und ein halbes Dutzend Schaulustige beobachteten gespannt, wie Taylor seinen Krug bis auf den letzten Tropfen leerte. Fünf Sekunden verstrichen. Taylor schwankte ein wenig, hielt sich jedoch aufrecht. Nun waren schon zehn Sekunden vergangen.

Selbst über den Kneipenlärm hinweg vernahm Finn, wie sein Kontrahent, zweifelsohne in Erwartung einer zünftigen Schlägerei, die Knöchel knacken ließ. Finn verschaffte ihm nicht die Genugtuung, sich sein Unbehagen anmerken zu lassen, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf Taylor.

Dieser erhob sich mit einem Ruck. Schwankte … fing sich jedoch wieder.

Noch drei Sekunden. Zwei. Eine.

Taylor kippte hintenüber und ging gemeinsam mit seinem Stuhl zu Boden. Einen Moment lang herrschte Stille unter den Umstehenden, bis diejenigen, die auf Finn gesetzt hatten, in lauten Jubel ausbrachen. Die Verlierer murrten, während Geld den Besitzer wechselte.

Nur schlechte Gewinner brüsteten sich mit ihrem Sieg. Finn bedachte den Hünen lediglich mit einem höflichen Nicken und schickte sich an, den Weg zu seinem Tisch fortzusetzen. Doch er hatte mit dem Unmut seines Gegners gerechnet und ließ seine verbliebenen zwei Krüge absichtlich fallen, als die Hand des riesigen Mannes sich fest um seine Schulter schloss. Als der Hüne ihn zu sich herumdrehte, schlug Finn zu.

Er verpasste dem Mann einen anständigen rechten Haken. Der Kopf des Riesen flog zur Seite und seine Lider flatterten. Der Schock stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Der Mann machte einen Schritt nach vorn, fiel auf die Knie und sackte schließlich auf dem klebrigen, mit Pfützen übersäten Boden zusammen. Kurz darauf begann er, laut und rumpelnd zu schnarchen.

Die Schaulustigen blickten ungläubig zwischen Finn und dem bewusstlosen Mann hin und her, als wollten sie ihren Augen nicht recht trauen.

Finn glättete seinen Mantel, rückte sein Halstuch zurecht und setzte den Weg zu seinem Tisch ohne weitere Zwischenfälle fort.

Sein Bruder Kieran und ihr bester Freund Dominic Kilburn warfen ihm fragende Blicke zu.

„Wo ist unser Bier?“, fragte Kieran und beäugte Finns leere Hände.

„Wenn euch nach Erfrischungen ist“, entgegnete Finn und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, „besorgt sie euch selbst.“

Dom verdrehte die Augen. „Selbst den Alkohol muss man euch feinen Pinkeln hinterhertragen.“

Wie so oft in diesem Teil der Stadt trat Doms Ostlondoner Akzent stärker zum Vorschein als üblich. Zwar hatte Doms Vater, nachdem er sein Vermögen mit der Verpachtung von Lagerhäusern am Hafen gemacht hatte, auf Sprechunterricht für seine Kinder bestanden, doch wann immer Dom ins Arbeiterviertel zurückkehrte, verfiel er schnell in alte Gewohnheiten.

„Ich hole die verdammten Drinks.“ Dom erhob sich und ragte über dem Tisch auf wie ein edel gekleideter Monolith, ehe er sich in Richtung Tresen davonmachte.

Als er verschwunden war, wandte Finn sich Kieran zu. Sein Bruder trug das zufriedene Lächeln eines Mannes im Gesicht, der sich wahrhaftig auf seine bevorstehende Hochzeit freute. Zumindest vermutete Finn, dass Kierans irritierend gute Laune daher rührte, hatte er selbst doch keinen blassen Schimmer, was eine glückliche Beziehung ausmachte. Seine Eltern hatten es ihm weiß Gott nicht vorgelebt.

„Mir kommt gleich mein Hammelbraten wieder hoch, wenn du weiter so verzückt vor dich hin strahlst“, murmelte Finn.

„Celeste und ich haben letzte Nacht wieder eine von Longbridges Partys besucht“, sagte sein Bruder fröhlich. „Selbstverständlich in Verkleidung, solange wir noch nicht verheiratet sind.“

„Und dann seid ihr nach Hause gekommen und ich musste euer nicht enden wollendes Gestöhne ertragen.“ Obwohl er von Natur aus ein Nachtmensch war und vergangene Nacht nur eine Stunde zu Hause verbracht hatte, war es ihm zu viel geworden und er sah sich gezwungen, in einer nahe gelegenen Gaststätte Schutz zu suchen.

Kieran schenkte ihm ein freches Grinsen, das Finn bei Weitem nicht zum ersten Mal sah. Ebenso reuelos hatte sein Bruder dreingeblickt, als er mit schlüpfrigen Illustrationen unter der Matratze erwischt worden war. „Das Ultimatum unserer Familie sieht vor, dass wir anständige junge Damen ehelichen. Dass meine Zukünftige mich zu ganzen Gedichtbänden zu inspirieren vermag, ist ein Glücksfall.“

„Um den Schlaf gebracht zu werden dagegen ein Ärgernis“, sagte Finn, fügte jedoch widerstrebend hinzu: „Aber ich gönne dir natürlich dein Glück.“

Finn machte sich keine Hoffnungen, jemanden zu finden, der ihn ebenso glücklich machen würde. Dafür müsste schon ein Wunder geschehen, und die waren bekanntlich eine Seltenheit.

Drei Krüge landeten unsanft vor ihnen auf dem Tisch, und Dom ließ sich ebenso unelegant auf seinen Stuhl plumpsen. Finn nippte zögerlich an seinem Bier und hoffte inständig, dass jegliche Verunreinigungen den Herstellungsprozess dieses suspekten Gebräus nicht überlebt hatten. In den meisten Londoner Tavernen, Pubs und Bierstuben fühlte er sich wohl – seien es exklusive Lokale in Mayfair oder schäbige Kneipen in Whitechapel –, doch diese namenlose Absteige in Ratcliff brachte ihn zugegebenermaßen an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit.

Als Kieran ein Treffen angeordnet hatte, um ihre missliche Lage zu besprechen, hatte Dom auf dieser Kaschemme bestanden, die offenbar nur wenige Häuserblöcke von dem Mietshaus entfernt lag, in dem er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Womöglich hatte er gehofft, dass die vertraute Umgebung das unliebsame Gespräch erträglicher machen würde. Und da Dom die Wesensart eines jähzornigen Bären besaß, hatten Finn und Kieran sich ihrem Schicksal anstandslos ergeben.

Doch nun, da Finn seinen Freund über den Rand seines Humpens hinweg studierte, schien dieser sich nicht sonderlich wohlzufühlen. Tatsächlich war es Kieran, der von ihnen dreien am gelassensten wirkte.

Dennoch sagte dieser: „Ihr zwei vermasselt die Sache gründlich.“

„Halt dein loses Maul“, erwiderte Dom gereizt.

Finn hob beschwichtigend die Hände. „Euer Geplänkel in allen Ehren, aber ich wüsste gern, warum du uns hierher beordert hast.“

„In vier Monaten wird Celeste mich zum glücklichsten Mann der Welt machen.“

Dom entwich ein leises Grummeln – er musste sich noch immer mit dem Gedanken anfreunden, dass ein Lebemann wie Kieran seine Schwester heiraten würde, doch bisher hatte er seinem Freund noch keine Abreibung verpasst.

„Euch hingegen“, fuhr Kieran mit gerunzelter Stirn fort, „bleiben nur noch acht Monate, um respektable Gemahlinnen zu finden. Das Ultimatum unserer Familien ist nur dann erfüllt, wenn wir alle heiraten. Sonst erhält keiner von uns einen roten Heller.“

„Dessen sind wir uns nur allzu bewusst“, sagte Finn missmutig. Er selbst war dank seines Glücksspiels nicht auf das Geld seiner Familie angewiesen, doch er konnte Kieran und Dom nicht guten Gewissens um ihr Erbe bringen. Sein Bruder besaß kein eigenes Einkommen, und Dom war in Armut aufgewachsen. Finn könnte es niemals über sich bringen, die beiden zur Mittellosigkeit zu verdammen.

„Und trotzdem habt ihr bisher keinen Finger gerührt“, entgegnete Kieran bissig. „Du warst es, der unserer Schwester den Laufpass gegeben hat, noch dazu am Tag der Hochzeit.“

„Und ihr beide habt mir dabei geholfen“, fauchte Dom.

„Zu unserer Verteidigung“, antwortete Finn, „wir waren überzeugt, in Willas Interesse zu handeln.“ Er beäugte das fragwürdige Bier und fragte sich, ob er noch einen Schluck riskieren sollte.

„Das war ich auch“, grummelte Dom.

Finn dachte an jenen verhängnisvollen Tag im Frühling zurück. Er hatte tatsächlich geglaubt, Dom vor der Trauung zur Flucht zu verhelfen würde allen Beteiligten erhebliches Leid ersparen. Wenngleich ihre Liebe zueinander unverkennbar war, so waren Dom und Willa im Vorfeld der Hochzeit doch kreuzunglücklich gewesen. Ihre ständigen Streitereien hatten zu reichlich Tränen und Spannungen geführt, doch Willa war von Natur aus zu starrköpfig, um die Verlobung zu lösen. Finns Eltern waren seit jeher in einer kalten, lieblosen Ehe gefangen, und um ihrer kleinen Schwester dasselbe Schicksal zu ersparen, hatten die Brüder Dom ermöglicht, in letzter Minute aus der Kirche zu fliehen.

Eine Klage wegen Bruchs des Eheversprechens war ihm zum Glück erspart geblieben. Offiziell war es Willa, die Dom wegen unehrenhaften Betragens den Laufpass gegeben hatte – eine Notlüge, die Dom in Kauf nahm, um ihr einen größeren Skandal zu ersparen. Willa selbst war kurz darauf auf den Kontinent geflohen.

Finn war kein großer Freund des Briefeschreibens – seine Aufsätze aus Schulzeiten lieferten den unumstößlichen Beweis, dass er mit dem geschriebenen Wort auf Kriegsfuß stand –, doch all seine Briefe an Willa waren ohne Antwort geblieben. Offenbar würde sie ihren Brüdern ihre Tat nicht so schnell verzeihen. Finn erinnerte sich noch lebhaft daran, wie er die kleine Willa bei ihren allerersten Schritten an der Hand hielt oder ihr eine Räuberleiter machte, damit sie die Keksdose im obersten Regal des Vorratsschrankes plündern konnte.

Doch nun war der Kontakt abgebrochen. Und das bereits seit Monaten.

„Schuldzuweisungen bringen uns wohl kaum weiter“, sagte er zu seinen Mitstreitern. „Keiner von uns kann die Zeit zurückdrehen, uns bleibt also nichts anderes übrig, als nach vorn zu blicken.“

„Und über die eigene Nasenspitze hinaus“, mahnte Kieran. „Bisher habt ihr euch keinen Deut um potenzielle Heiratskandidatinnen bemüht. Ich sag’s ja nur ungern, aber Trinkgelage, Kneipenschlägereien und Kartenspiele haben mit Brautwerbung wenig gemein.“

Dom schwieg, weshalb Finn erneut das Wort ergriff. „Ich habe keine Zeit, in Ballsälen umherzustolzieren und Quadrillen mit ängstlichen Debütantinnen zu tanzen.“

„Wie recht du hast“, sagte Kieran trocken. „Die Tage zu verschlafen und Nacht für Nacht die Spielhöllen der Stadt unsicher zu machen hat selbstverständlich Vorrang. Hier steht schließlich lediglich unsere Zukunft auf dem Spiel.“

„Sagt der Mann, der sein Bett bis vor Kurzem mit Schauspielerinnen teilte und es kulturelle Bereicherung nannte“, entgegnete Finn.

„Eine von ihnen war Dramatikerin“, gab Kieran zurück. „Und wie du weißt, übe ich mich selbst in der romantischen Dichtkunst. Glaub mir, unser Austausch war rege und höchst inspirierend.“

Dom schlug mit der Hand auf den Tisch und Finn und Kieran zuckten zusammen. „Habt ihr euch genug Sticheleien an den Kopf geworfen? Ich will mich bald auf den Heimweg machen.“

Finn und sein Bruder wechselten einen besorgten Blick. Dom hatte zwar nie ein sonniges Gemüt besessen, doch er hatte es stets genossen, mit den Ransome-Brüdern durch die Kneipen von London zu streifen. Seit jenem verhängnisvollen Tag im Juni war er jedoch zunehmend in sich gekehrt und schien die Gesellschaft anderer nur noch mit Mühe zu ertragen.

„Wir können die Angelegenheit nicht weiter auf die lange Bank schieben“, sagte Kieran nachdrücklich. „Wir alle tragen die Schuld an unserer Situation, und wir alle müssen unseren Teil zur Lösung des Problems beitragen.“

Dom blickte finster drein, widersprach ihm jedoch nicht. Finn für seinen Teil fuhr mit dem Finger über seinen von Kondenswasser beschlagenen Humpen und malte Muster auf die schmutzstarrende Tischplatte.

„Habt ihr denn zumindest passende Kandidatinnen im Sinn?“, hakte Kieran nach. Ihr betretenes Schweigen war Antwort genug. „Nicht einmal darum habt ihr euch bemüht?“

„Nun ja, nicht direkt“, gab Finn zu. „Ich feile noch an meiner Strategie.“

„Für einen Mann, der sich stattliche Summen beim Glücksspiel verdient“, sagte Kieran gedehnt, „machst du einen erstaunlich planlosen Eindruck auf mich.“

„Diese Dinge brauchen nun mal Zeit.“

„Die bleibt uns aber nicht“, kam die Antwort seines Bruders.

Kieran hatte sich in der Vergangenheit stets für Finn eingesetzt, wenn ihre Eltern ihn einmal mehr mit unverhohlener Geringschätzung behandelten. Nun, da sein Bruder ihn enttäuscht ansah, wollte Finn am liebsten im Erdboden versinken. So hatte er sich stets gefühlt, wenn sein Vater ihn aufgrund seiner miserablen schulischen Leistungen zur Schnecke machte.

Wie sollte er sich seinem Bruder erklären, wenn er doch selbst nicht wusste, weshalb er seine Brautsuche so beharrlich auf die lange Bank schob? Neunundzwanzig Jahre lang hatte er ein freies, unbeschwertes Leben geführt. Anders als Kieran, der sich – vor seiner Verlobung mit Celeste – mit zahlreichen Geliebten vergnügt hatte, war Finn allein geblieben. Und wenn er doch einmal sein Bett mit jemandem teilte, dann stets in der Gewissheit, dass das Arrangement nicht von langer Dauer sein würde. So vermied er unnötige Komplikationen.

Wenn er Risiko und Belohnung abwägte, kam er zu einem Schluss: Der einsame Weg war weitaus einfacher zu bewältigen. Verspürte er körperliche Bedürfnisse, dann suchte er sich eine Bettgenossin für eine Nacht und kehrte danach zu seinem gewohnten Leben zurück – allein.

„Mir schwebt eine Frau für Dom vor“, sagte er abrupt.

Kierans Brauen wanderten in die Höhe, und sein Freund beäugte ihn misstrauisch.

„Wir sind hier nicht auf dem Viehmarkt, wo ich den erstbesten Hammel kaufe, den du mir aufschwatzt“, sagte Dom und verengte die Augen zu Schlitzen.

„Ich würde eine Lady nie mit Vieh vergleichen“, erwiderte Finn. „Und die Bekanntschaft der betreffenden Dame habe ich rein zufällig gemacht.“

Kieran verdrehte die Augen. „Von unglücklichen Metaphern einmal abgesehen … wer ist die Auserwählte?“

„Miss Tabitha Seaton.“

Kieran verschluckte sich an seinem Bier und prustete es quer über den Tisch, was bei dessen schmutzigem Erscheinungsbild jedoch kaum ins Gewicht fiel. „Das blaustrümpfige Mauerblümchen?“

„Ganz recht.“ Finn hatte Miss Seatons Bekanntschaft vor ein paar Monaten auf einem Ball gemacht. Es war eine kurze, aber denkwürdige Begegnung gewesen. Er erinnerte sich lebhaft an mahagonifarbenes Haar, ein markantes Kinn, hohe Wangenknochen und blitzende blaugraue Augen. Wenige Worte, begleitet von einem erschreckend durchdringenden Blick, hatten mehr als deutlich gemacht, dass sie für einen Mann seines zweifelhaften Rufs wenig Geduld übrig hatte. Sie hatte den Ballsaal auf der Suche nach einer Bibliothek verlassen – zweifellos zog sie die Gesellschaft von Büchern der seinen vor.

„Du hast sie schon einmal für Dom vorgeschlagen“, sagte Kieran verdattert, „aber ich hielt es für einen Witz.“

„Klingt ja höchst vielversprechend“, bemerkte Dom voller Ironie.

„Erstens“, sagte Finn und hob einen Finger, „ist sie Viscount Parslows jüngste Tochter. Dein Vater zöge es vor, dass du eine Frau aus dem Adel heiratest, ein Kriterium, dass Miss Seaton erfüllt.“

Dom verschränkte die Arme vor der massiven Brust, widersprach ihm jedoch nicht. Es war purer Zufall gewesen – wenn auch letztlich nicht, wie sie damals glaubten, ein Glücksfall –, dass Dom, ein Mann von bürgerlicher Herkunft, sich in Willa, die Tochter eines Earls, verliebte und sie seine Liebe erwiderte.

Das würde ihm kein zweites Mal passieren, was Finn zu seinem nächsten Argument brachte.

„Zweitens“, fuhr er fort und hob einen weiteren Finger, „ist Miss Seaton sechsundzwanzig Jahre alt.“

„Und noch unverheiratet“, sagte Kieran mit einem verstehenden Nicken.

„Aufgrund ihrer blaustrümpfigen Neigungen“, fügte Finn hinzu, „ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass jemand anders um ihre Hand anhält. Und auf Bällen hält sie sich lieber abseits des Geschehens – ein Mauerblümchen, wie es im Buche steht.“

„Sie würde mich nicht auslachen, wenn ich ihr den Hof machte“, sagte Dom mit wenig Begeisterung. „Nicht gerade ein guter Grund, ihren Vater um ein privates Gespräch zu ersuchen. Ich kenne die Frau nicht einmal – warum sollte sie sich an mich fesseln wollen und ich mich an sie? Wir scheinen nichts gemein zu haben.“

„Was mich zu meinem dritten Punkt bringt.“ Finn hob noch einen Finger. „Du und Willa hattet unwahrscheinlich viel gemein. Womöglich zu viel. Ihr wart wie zwei Vulkane, die sich um ein harmonisches Miteinander bemühen. Anfangs mag es noch aufregend sein, aber auf Dauer kann es nicht gut gehen.“

„Da spricht dein reicher Erfahrungsschatz“, spottete Kieran.

Mit der noch immer erhobenen Hand machte Finn eine rüde Geste, die sein Bruder sogleich erwiderte. Unbeirrt fuhr er fort: „Miss Seaton ist das genaue Gegenteil von Willa. Sie verbringt ihre Zeit lieber mit Büchern als mit anderen Menschen, und ist eher kühl als leidenschaftlich. Gib ihr eine eigene Bibliothek, und sie wird dich bereitwillig deiner selbst überlassen. Es besteht nicht die geringste Gefahr emotionaler Verstrickungen, geschweige denn verletzter Gefühle.“

Letzteres Argument schien Dom am ehesten zu überzeugen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter seiner muskelbepackten Last bedrohlich ächzte, und legte nachdenklich den Kopf zur Seite.

Finn hatte sich diese Trumpfkarte bewusst bis zum Schluss aufgespart, wohl wissend, dass sie Doms Interesse wecken würde. Die Trennung von Willa hatte Dom das Herz gebrochen, und Finn hatte seinen Kummer aus nächster Nähe miterlebt. Eine reine Vernunftehe schien ihm der beste Weg, seinen Freund vor weiteren seelischen Qualen zu bewahren.

„Du weißt erstaunlich gut über dieses Mauerblümchen Bescheid“, bemerkte Dom.

Finn strich mit der Hand über das Revers seines Mantels. „Ich habe ein paar diskrete Nachforschungen angestellt und meine Schlüsse daraus gezogen. Ich mag ein Einfaltspinsel sein“, fuhr er fort, „aber manche Dinge liegen selbst für mich klar auf der Hand.“

Sein Bruder öffnete den Mund, als wolle er einen Einwand äußern, schloss ihn jedoch sogleich wieder.

„Warum hältst du nicht um ihre Hand an?“, fragte Dom.

Mit dieser Frage hatte Finn bereits gerechnet. „Von uns beiden bist du der Gebildete. Du magst die Statur eines Ochsen haben, aber du hast in Oxford akademische Preise gewonnen. Ich hingegen gewinne höchstens am Pharo-Tisch und habe mich zeit meines Lebens nicht in die Gelehrtenwelt verirrt. Wohl kaum Eigenschaften, die Miss Seaton an einem potenziellen Gemahl zu schätzen weiß.“

„‚Der Narr hält sich für weise, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist‘“, zitierte Dom.

„Das Zitat ist mir nur deshalb ein Begriff, weil ich eine Aufführung von Wie es euch gefällt im Theater besucht habe“, konterte Finn, „und das nur, um die Schauspielerin von Rosalind in Breeches zu sehen. Du hingegen hast das Stück tatsächlich gelesen, aus weitaus weniger unanständigen Gründen.“

Dom atmete hörbar aus. „Ich kann ja schlecht vor Miss Seatons Elternhaus auftauchen, an die Tür hämmern und nach ihr und ihrer Aussteuer verlangen.“

„Natürlich nicht. Es gibt schließlich Regeln.“ Finn bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, doch innerlich jubelte er. Solange sie mit Dom und Miss Seaton beschäftigt waren, konnte er seine eigene Brautsuche weiterhin aufschieben. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Welche Frau wollte sich schon auf einen Mann mit all seinen Schwächen einlassen? Wann immer er daran dachte, würde er am liebsten die Flucht ergreifen. „Ich werde in Erfahrung bringen, auf welcher bevorstehenden Veranstaltung sie anzutreffen sein wird, und dich dort mit ihr bekannt machen.“

„Nachdem du auf dem Ball des Duke of Greyland einen so positiven Eindruck auf sie gemacht hast“, sagte Kieran trocken, „wird sie mit Sicherheit hocherfreut sein, dich wiederzusehen.“

„So schlimm war es nun auch wieder nicht“, murmelte Finn.

Kieran lachte leise. „Bruderherz, ich war drauf und dran, ein Dienstmädchen herbeizurufen, um deine Überreste vom Boden aufzuwischen.“

„Dagegen wird Dom ihr geradezu wie ein Prinz erscheinen“, entgegnete Finn.

„Ich sehe schon, ich habe allen Grund zur Zuversicht“, spöttelte Dom.

„Habt ihr etwa vergessen, womit ich Nacht für Nacht mein Geld verdiene?“, fragte Finn. Damit brachte er Kieran und Dom zum Schweigen und fuhr fort: „Ganz genau. Ich weiß, wann eine Strategie Aussicht auf Erfolg hat. Vertraut mir – die Lösung für Doms Problem liegt zum Greifen nahe, und mein Plan wird einwandfrei aufgehen.“

Er legte möglichst viel Zuversicht in seine Stimme. In Fragen des Glücks zählte nicht nur eine sorgfältige Einschätzung der Ausgangssituation, sondern oft auch blanker Wagemut.

Miss Tabitha Seaton würde eine hervorragende Gemahlin für Dom abgeben. Es würde eine gehörige Portion Finesse erfordern, die beiden miteinander zu verkuppeln, doch Finn würde diese Aufgabe mit derselben Zielstrebigkeit erledigen, die er auch am Spieltisch an den Tag legte. Wenn es um Strategie und Gerissenheit ging, war er immer erfolgreich – was man von Herzensangelegenheiten nicht behaupten konnte.

2. KAPITEL

Angesichts der vielen neugierigen, wenn nicht gar schockierten Blicke, die Tabitha Seaton auf sich zog, konnte man meinen, dass die bloße Anwesenheit einer Frau vor dem White’s Club dem Anblick einer Tigerin gleichkam, die auf der Vortreppe lag und jeden zu verschlingen drohte, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen.

Welch eine alberne Vorstellung. Zum einen war Tabitha zwar Allesfresserin, aber nicht kannibalistisch veranlagt. Zumindest noch nicht. Ob der vielen vorwurfsvollen Blicke, die man ihr in den vergangenen Minuten zugeworfen hatte, zog sie jedoch stark in Erwägung, mindestens einen der vorübergehenden Gentlemen zu verspeisen. Es würde ihnen deutlich zu verstehen geben, dass ihr Anliegen von äußerster Wichtigkeit war, und dass sie sich nicht von der Stelle bewegen würde.

„Ich glaube nicht, dass er so bald wieder herauskommt, Miss“, sagte Olive besorgt.

„Ich habe ihn vor zwei Stunden hineingehen sehen“, antwortete Tabitha ihrem Dienstmädchen. „Wie lange kann es schon dauern, eine Zeitung zu lesen und ein Glas Brandy zu trinken?“

Dass Männer dies in ihren Herrenclubs taten, wusste sie aus beiläufigen Bemerkungen ihres Vaters und Bruders. Eigene Erfahrung auf diesem Gebiet besaß sie selbstverständlich nicht. Sie war sich nur allzu bewusst, dass Frauen im White’s nicht willkommen waren. Doch um Sir William Marcroft bei sich zu Hause anzutreffen, war es heute bereits zu spät, weshalb sie gezwungen war, ihm zu seinem Club zu folgen und ihn vor der Tür abzupassen. Den Baronet über ihre Anwesenheit informieren zu lassen, würde unter diesen Umständen als unschicklich gelten.

Wenn sie bei ihrer heutigen Mission erfolgreich sein wollte, musste sie sich Sir William von ihrer besten Seite präsentieren. Doch ihn an einem öffentlichen Ort anzusprechen steigerte ihre Chancen, ihn tatsächlich in ein Gespräch zu verwickeln. Denn schließlich würde ein Gentleman einer Dame nicht vor aller Augen die kalte Schulter zeigen. Oder etwa doch?

Obgleich sie weitreichende Kenntnisse in zahlreichen Fachbereichen besaß, waren die Feinheiten der besseren Gesellschaft ihr oftmals ein Rätsel. Ihre Saison vor acht Jahren war ganz und gar unspektakulär verlaufen, und sie hatte sich von Anfang an in der Rolle des Mauerblümchens wiedergefunden. Sie hatte sich nicht viel daraus gemacht, denn damals hatte sie geglaubt, ihr Glück bereits außerhalb der Welt des ton gefunden zu haben … bis ihre Hoffnung eines verhängnisvollen Abends zerplatzt war wie eine Seifenblase.

Sie bemühte sich, keine Miene zu verziehen und die Erinnerung an jenen schrecklichen Tag zu verdrängen. Tabitha war für ihre Unvernunft bestraft worden und hatte ihre schmerzhafte Lektion gelernt.

„Oh, Miss“, riss Olive sie aus ihren Gedanken, „ich glaube, da kommt der Baronet.“

Die schwarzgrau melierte Mähne des Mannes, der soeben aus dem Club trat, war unverwechselbar, und Tabitha straffte die Schultern. Nun war der falsche Moment für Zweifel, auch wenn sie beharrlich nach ihren Knöcheln schnappten und versuchten, sie in die Knie zu zwingen.

„Guten Tag, Sir William“, grüßte sie den Baronet, der die wenigen Stufen zum Gehsteig hinuntereilte.

Er machte vor ihr halt und fixierte sie mit einem fragenden Blick unter markanten weißen Augenbrauen. „Kenne ich Sie, Miss …?“

„Seaton. Miss Tabitha Seaton. Wir sind uns noch nicht persönlich begegnet, aber Sie kennen meinen Vater, Viscount Parslow.“

„Ihrem Vater würde es kaum gefallen, dass seine Tochter vor White’s herumlungert wie ein einfaches Ladenmädchen.“

Ihre Wangen begannen zu glühen, doch sie ließ sich nicht beirren. „Die Bereicherung des Verstandes hat zuweilen Vorrang vor guten Umgangsformen.“ Ehe er sie zurechtweisen konnte, fuhr sie fort: „Ich bin eine große Bewunderin von Ihnen und der Sterling Society.“

Sir Williams Brauen hoben sich.

„Ihre gemeinschaftlich verfasste Monografie über die Pädagogik der alten Sumerer im Kontext zeitgenössischer Bildung war höchst erbauliche Lektüre“, fügte sie hinzu. Noch erbaulicher wäre sie gewesen, hätte sie Überlegungen über die schulische Bildung von Mädchen sowie von Kindern außerhalb exklusiver Privatschulen enthalten, doch diese Gedanken würde sie für sich behalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

Sir Williams skeptische Miene wich einem Ausdruck widerwilligen Respekts. Dennoch beäugte er sichtlich ungeduldig die Kutsche, die soeben vorgefahren war. Ein Lakai sprang vom Kutschbock und öffnete dem Baronet die Tür.

„So geehrt ich mich auch fühle, Miss Seaton“, sagte Sir William mit einem weiteren Seitenblick auf das Gefährt, „ich werde im Hauptquartier der Sterling Society erwartet …“

„Aus diesem Grund bin ich hier, Sir William.“ Sie hätte es vorgezogen, besagtes Hauptquartier direkt aufzusuchen, doch nur Mitglieder der Sterling Society wussten, wo es sich befand. Es war gemeinhin bekannt, dass die Gesellschaft als beratende Instanz für Mitglieder des Parlaments und andere einflussreiche Persönlichkeiten fungierte. Wenn ihr Aufenthaltsort allgemein bekannt wäre, würde sie zweifellos von der Öffentlichkeit überschwemmt werden. Einzelne würden darauf bestehen, dass die Organisation ihre individuellen Interessen vertrat, und somit ihren eigentlichen Zweck untergraben: sich einzig und allein von rationalem Denken leiten zu lassen.

Sicher war es nicht gerade rational, den Leiter der Sterling Society am helllichten Tag vor seinem Herrenclub zu überfallen. Doch solange Tabitha die Ruhe bewahrte und sich nicht zu Gefühlsausbrüchen hinreißen ließ, hatte sie Aussicht auf Erfolg.

Sie tat einen beruhigenden Atemzug. „Ich möchte der Sterling Society beitreten.“

Er lachte auf, doch sein Lachen verebbte, als sie ihn einfach nur ansah. „Das ist Ihr Ernst?“

„Ich bin mehr als qualifiziert“, sagte sie und besann sich auf die Rede, die sie bereits seit einem Monat für eben diesen Zweck vorbereitet hatte. „Ich habe die antiken Gelehrten gelesen, darunter Platon, Sokrates, Aristoteles und Pyrrhon von Elis – selbstverständlich auf Griechisch. Dazu Cicero, Plotin und Lukrez, um nur einige zu nennen, auf Latein. Ich habe die Essais von Montaigne und die Meditationes von Descartes übersetzt und einen Index der Werke Pascals angelegt. Und natürlich habe ich alle Bücher und Abhandlungen gelesen, die die Sterling Society je herausgebracht hat.“

Sie hatte zudem Maitreyi, Ghosha, Hypatia von Alexandria, Anne Conway, Mary Wollstonecraft und andere gelehrte Frauen studiert, doch sie bezweifelte, dass ihr dies bei ihrem Anliegen zum Vorteil gereichen würde – befasste sich die Sterling Society doch vornehmlich mit den Werken westlicher Männer.

„Sie hatten eine radikale Gouvernante?“, fragte Sir William alarmiert.

„Miss Elgrave hat mir lediglich Zeichnen und Französisch beigebracht“, entgegnete Tabitha. „Alles Weitere habe ich mir anhand der Lehrbücher meines Bruders erarbeitet. Lawrence besuchte Eton und Oxford“, fügte sie hinzu. „Der Besuch solch renommierter Institutionen war mir nicht vergönnt, doch ich habe mir ein vergleichbares Wissen angeeignet.“

Sie erwähnte nicht, dass sie zudem vom Hauslehrer ihres jüngeren Bruders unterrichtet worden war. Zu groß war die Gefahr, in persönliches Fahrwasser zu geraten, und ihre Beziehung zu Mr. Charles Stokely ging niemanden etwas an, schon gar nicht Sir William. Tatsächlich hatte sie nur ihren engsten Freunden davon erzählt, und selbst ihnen hatte sie die schmachvollsten Einzelheiten verschwiegen. Die Angelegenheit neu aufzurollen, versprach nichts als Demütigung und Scham.

Sie hatte gehofft, Sir William mit ihrem Selbststudium zu beeindrucken, doch er schien noch immer nicht überzeugt. Was musste sie tun, um dem Baronet zu beweisen, dass ihr Beitritt eine Bereicherung für die Sterling Society wäre?

„Ich habe eine Abhandlung über den Beitrag von Frauen zur Entwicklung der klassischen Philosophie veröffentlicht“, fuhr sie fort. „Mehrere herausragende Persönlichkeiten auf dem Gebiet haben sie sehr gelobt.“ Sie verschwieg ihm, dass sie den Aufsatz unter dem Namen „T. Holly“ veröffentlicht hatte – einer Kombination aus ihrer ersten Initiale und ihrem zweiten Vornamen.

Sir William musterte sie weiterhin, als spräche sie einen besonders obskuren gallischen Dialekt.

„Falls Sie befürchten, dass ich lediglich beabsichtige, die Lorbeeren meiner illustren Kollegen in der Society einzuheimsen“, fuhr sie fort und kramte in ihrer Tasche, bis sie fündig wurde, „kann ich mit vielen Ideen aufwarten, die ich kaum erwarten kann, mit der Gruppe zu teilen. Dieses Notizbuch enthält Theorien, Thesen und Forschungsnotizen, die ich allein in den letzten sechs Monaten verfasst habe.“

Sie schwenkte den ledergebundenen Band, der vor Niederschriften, Zeitungsausschnitten, Skizzen, Diagrammen und anderen relevanten Dokumenten geradezu überquoll. In diesem Notizbuch steckte ein halbes Jahr gewissenhafter Arbeit, und es erfüllte sie mit Stolz, es nun ausgerechnet Sir William Marcroft präsentieren zu dürfen.

Schließlich bewunderte sie ihn, und die gesamte Sterling Society. Ihre Weltanschauung mochte etwas einseitig sein, doch es gab in ganz England keine andere Institution, die sich im selben Maße der Förderung des Intellekts verschrieben hatte. Ihre wissenschaftlichen Publikationen hatten Tabitha seit frühester Jugend begleitet und in der Überzeugung bestärkt, dass auch sie einst ihr Leben damit verbringen könnte, die Menschheit um neue Erkenntnisse zu bereichern.

Mit verlegenem Stolz präsentierte sie dem Oberhaupt der Sterling Society die Früchte ihrer Arbeit, die sie in einem schlichten Büchlein zusammengetragen hatte.

Er machte eine abweisende Geste, als hielte sie stattdessen die Stickarbeit eines Kindes in den Händen. Tabithas Herz sank.

„Frauen sind in der Sterling Society nicht zugelassen“, sagte er. „Was Sie wüssten, wenn Sie tatsächlich eine so große Bewunderin wären, wie Sie vorgeben zu sein. Es sei denn“, fügte er schmallippig hinzu, „Sie halten sich für eine Ausnahme.“

Das war in der Tat ihre Hoffnung gewesen – eine Hoffnung, die drauf und dran war, sich zu zerschlagen wie zerbrechliches Porzellan.

„Vielleicht waren sie bisher nicht zugelassen“, sagte sie und zwang sich zu einem – wie sie hoffte – gelassenen und freundlichen Lächeln.

Ein glatzköpfiger Gentleman erklomm die Stufen zu White’s und warf Sir William einen fragenden Blick zu. Der Anblick des Gelehrten, der sich am Eingang zu den heiligen Hallen männlicher Exklusivität mit einer jungen Frau unterhielt, schien ihn sichtlich zu konsternieren. Der Baronet nickte dem Mann knapp zu, ehe er sie mit einem höchst ungehaltenen Blick bedachte.

„Die Sterling Society ist eine achtbare Institution, Miss Seaton“, sagte er und hob belehrend den Zeigefinger. „Frauen in unsere Reihen aufzunehmen entspräche nicht der guten Sitte, und eine unverheiratete Frau ist völlig undenkbar.“

„Unverheiratet“, wiederholte Tabitha nachdenklich. Dieses Wort und seine Implikationen machten sie hellhörig. „Was, wenn eine Frau mit meinen Qualifikationen einen Ehemann hätte?“

„Nun …“ Sir Williams Blick schweifte zu seiner wartenden Kutsche. „Es wäre nicht ausgeschlossen. Aber das wäre eine zwingende Voraussetzung, um einen Beitritt überhaupt in Betracht zu ziehen.“

„Ich verstehe.“

„Nun bin ich aber wirklich spät dran. Wenn Sie mich also entschuldigen würden, Miss Seaton.“ Der Baronet verbeugte sich knapp, ehe er hastig in seine Kutsche stieg und sie allein auf dem Gehsteig zurückließ.

Das Treiben vor White’s wurde immer geschäftiger. Statt sich noch länger den schockierten und empörten Blicken der ein- und ausgehenden Herren auszusetzen, machte sie sich mit Olive im Schlepptau Richtung Westen auf. Tabithas Schritte waren schleppend, obwohl sie sich auf dem Weg zu einem ihrer Lieblingsorte in London befand. Die Benezra-Bibliothek beherbergte eine der umfangreichsten Büchersammlungen zu einer schwindelerregenden Vielfalt an Fachbereichen und stand Mitgliedern aller Geschlechter, Hautfarben, Altersgruppen und Gesellschaftsschichten offen. Und dennoch war sie heute wenig erpicht auf einen Besuch, denn sie würde sich und ihren Freunden eingestehen müssen, dass sie trotz all ihrer Bemühungen versagt hatte.

Von St. James nach Kensington, wo sich die Benezra befand, waren es mehrere Kilometer, doch Tabitha zog es vor, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Beim Spazierengehen fiel ihr das Nachdenken leichter, was zur Folge hatte, dass ihre Beine muskulöser waren, als es sich für Damen ihres Standes geziemte. Sie störte sich jedoch nicht an ihren kräftigen Waden, denn schließlich waren sie ein Zeugnis ihrer intensiven geistigen Betätigung.

Doch erwies sich jeder Schritt als Mühsal, denn die unselige Unterredung mit Sir William wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Mit hängenden Schultern erreichte sie den Portikus der Bibliothek. Es war, als hätte sie ihr Herz die gesamte fünf Kilometer lange Strecke in einem eisernen Käfig hinter sich her geschleift.

Sie erklomm die Stufen, stieß die schwere Eingangstür auf und betrat das Foyer. Bei der Benezra handelte es sich um einen ehemaligen Privatwohnsitz, dessen Innenwände entfernt worden waren, um Platz für die zahlreichen Bücherregale zu schaffen. Die Last des darüberliegenden Stockwerks wurde stattdessen von Säulen getragen. Auf ihrem Weg zur Ausleihtheke grüßte sie alle Anwesenden mit einem wortlosen Nicken. „Guten Tag“, begrüßte sie auch Chima Okafor, den leitenden Bibliothekar, der sie erwartungsvoll ansah. „Sind die anderen schon da?“

„Sie warten im Studiensaal.“ Seine Muttersprache, Igbo, verlieh Chimas Worten einen melodiösen Klang. Er musterte sie aufmerksam, doch sie hoffte, dass ihre getrübte Stimmung sich nicht allzu auffällig in ihrer Miene widerspiegelte. „Gehen wir zu ihnen?“

Sie nickte, und Chima bedeutete Mr. Pagett, seinen Platz hinter der Theke einzunehmen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Studiensaal, der versteckt im hinteren Teil des Gebäudes lag. Tabithas Dienstmädchen setzte sich mit einem reich illustrierten Buch über die Himmelskörper an einen der Tische, wie sie es meist tat, wenn ihre Herrin die Bibliothek aufsuchte. Besonders die Sternenbilder hatten es Olive angetan.

Im Studiensaal wurde sie von drei weiteren erwartungsvollen Gesichtern empfangen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr Herz in schwere Ketten gelegt.

„Du ziehst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, sagte Diana Goldstein und sah Tabitha prüfend an. „Findest du nicht auch, Iris?“, wandte sie sich an ihre sommersprossige Sitznachbarin.

„Ich habe schon Gewitterwolken gesehen, die weniger trüb aussahen, Liebste“, pflichtete Iris Kemble ihr bei, ergriff Dianas Hand und drückte sie.

In den Augen der Gesellschaft waren Iris, eine ehemalige Gouvernante, und Diana, eine Witwe, die im Optikergeschäft ihrer Familie arbeitete, lediglich gute Freundinnen, die gemeinsam in einem behaglichen Haus in Bloomsbury lebten. Doch hier, im Kreis ihrer Vertrauten, mussten sie ihre romantischen Gefühle füreinander nicht verstecken.

„Einen solchen Sturm würde ich weiträumig umschiffen“, fügte Arjun Singh mit einem ernsten Nicken hinzu. Arjun war pensionierter Matrose und sprach als solcher mit großem Sachverstand über sämtliche nautische Themen. Er und Chima warteten, bis Tabitha Platz genommen hatte, ehe sie sich ebenfalls setzten.

Tabitha schilderte ihren Freunden das unerfreuliche Gespräch mit Sir William in möglichst wenigen Worten. Je länger sie sprach, desto mehr ließen ihre Freunde die Köpfe hängen, bis sie mit belegter Stimme sagte: „Er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich als unverheiratete Frau keine Chance habe, in die Sterling Society aufgenommen zu werden.“

„Aber …“ Diana wirkte sowohl ratlos als auch verärgert, was angesichts ihres sonst so ausgeglichenen Gemüts verriet, wie aufgewühlt sie war. „Deine Forschungsnotizen, und all deine wundervollen Ideen …“

„Genauso gut hätte ich ihm ein Kinderlied vorsingen können. Sir William war unnachgiebig.“

Bedrücktes Schweigen erfüllte den Raum und sie konnte dem Drang, das Gesicht in den Händen zu vergraben, nur mit Mühe widerstehen.

„Die Sterling Society wird sich bald mit hochrangigen Mitgliedern des Parlaments über das neue Bildungsgesetz beraten“, sagte Chima resigniert. „Das über die Förderung von Schulen in wachsenden städtischen Regionen entscheiden wird.“

Tabitha hatte gehofft, der Organisation beizutreten, um an besagtem Gesetzesentwurf mitzuwirken. Die Abstimmung würde in drei Monaten stattfinden – ihr blieb also nicht mehr viel Zeit, um ihr Ziel zu erreichen. Aber sie musste es versuchen.

Sie hatte es versucht … und war gescheitert.

„Es tut mir so furchtbar leid.“ Sie schluckte schwer. „Ich habe euch alle enttäuscht.“

Die anderen protestierten, dass sie nichts dergleichen getan hatte, doch sie konnte die Wahrheit nicht leugnen. Sie hatte sich vorgenommen, als erste Frau in die Gelehrtengesellschaft aufgenommen zu werden, um sich in der Diskussion um das außerordentlich wichtige Bildungsgesetz Gehör zu verschaffen. Hatte sie erst ihren Platz in der Sterling Society gefunden, konnte sie anderen Menschen den Weg in die einflussreiche Institution ebnen. Menschen wie Diana, Iris, Arjun und Chima. Da die Mitglieder der Sterling Society allesamt weiße, wohlhabende, christliche Männer waren, repräsentierte sie nur einen kleinen Teil der Gesellschaft, und doch trafen diese Männer Entscheidungen, die sich auf das Leben vieler Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen auswirkten. Als Tochter eines Viscounts hatte Tabitha von all ihren Freunden noch am ehesten die Chance, in die Sterling Society aufgenommen zu werden.

Als Mitglied könnte sie den anderen Gelehrten vor Augen führen, wie wichtig es war, unterschiedliche Perspektiven in ihre Debatten miteinzubeziehen – insbesondere, da die Abstimmung über das so wichtige Bildungsgesetz so kurz bevorstand. Doch Sir William hatte diese Hoffnung gründlich zunichtegemacht.

„Er würde den Beitritt einer Frau also in Betracht ziehen, wenn sie verheiratet wäre?“, fragte Arjun grübelnd.

„Wir beide kommen da nicht infrage“, sagte Iris mit einem schiefen Lächeln.

Vier Augenpaare richteten sich auf Tabitha.

Sie sah erschrocken auf und ihr schwante Böses. „Meine Saison liegt acht Jahre zurück und verlief derart katastrophal, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn man Schmähschriften über mich verfasst hätte.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Chima mit einem gutmütigen Funkeln in den Augen. „Eine so charmante, intelligente junge Frau konnte sich vor Verehrern sicher kaum retten.“

„Ich fürchte, in den Hallen der Benezra gelten andere Maßstäbe als im ton“, antwortete sie grimmig. „Und groß gewachsene Frauen mit einer Vorliebe für philosophische Debatten stehen bedauerlicherweise ganz unten auf der Liste der begehrenswerten Heiratskandidatinnen.“

Im Laufe ihrer Saison hatte man sie kein einziges Mal zum Tanzen aufgefordert. Sie war nie sonderlich erpicht darauf gewesen, zu dieser Welt dazuzugehören, weshalb es ihr zwar einen Stich versetzt, sie aber nicht todunglücklich gemacht hatte.

Die größten Blessuren wurden ihr von jemandem zugefügt, der genauso ein Außenseiter war wie sie. Tabitha hatte blauäugig angenommen, dass Charles in ihr die ideale Gefährtin sah. Wie sehr sie sich doch getäuscht hatte.

Ein Kloß formte sich in ihrer Kehle, und sie schluckte, um ihn zu vertreiben. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von unliebsamen Gefühlen überwältigen zu lassen. Doch das war das Seltsame an alten Wunden – man konnte noch so fest davon überzeugt sein, dass sie keine Macht über einen besaßen, und doch genügte ein Wort, um von der schlimmsten Erfahrung seines Lebens eingeholt zu werden.

„England ist ein wirklich absurdes Land“, sagte Arjun und erntete bestätigendes Nicken aus der Runde. „Und das Wetter ist schrecklich. Aber meine Frau und meine Kinder fühlen sich hier sehr wohl, und die Gemeinschaft in der Benezra ist mir zugegebenermaßen ans Herz gewachsen.“

Seine Worte zauberten allen ein Lächeln ins Gesicht. Hier, in den Gemäuern der von Leonidas Benezra ins Leben gerufenen Bibliothek, herrschte eine Zusammengehörigkeit und Kameradschaft, die Menschen wie ihnen in der Außenwelt oft verwehrt blieb.

Iris murmelte: „Wie du uns schon oft versichert hast, Tabitha, bist du zu Großem fähig. Wenn jemand einen Weg finden kann, dann du – da sind wir uns alle einig.“

Der Knoten in Tabithas Brust löste sich. Einen nach dem anderen ließ sie den Blick über ihre Freunde schweifen. Diana besaß umfangreiche Fachkenntnisse über jüdische philosophische Texte. Iris befasste sich in ihren Schriften mit dem Ethos der Wissenschaften. Arjun beschäftigte sich eingehend mit Englands imperialen Ambitionen und deren Auswirkungen auf die Regierungsführung, und Chimas Interesse galt den vielfältigen kulturellen und philosophischen Traditionen des Igbo-Volkes.

Sie selbst hatte sich dem Vorhaben verschrieben, eine breitere Vielfalt von Perspektiven in den wissenschaftlichen Kanon Eingang finden zu lassen. Als Tochter eines Viscounts besaß sie Privilegien, die ihren Freunden nicht vergönnt waren. Sie sah es als ihre Pflicht, ihre Stellung zu nutzen, um weniger privilegierten Menschen Gehör zu verschaffen.

Es war klar, was sie tun musste. Sie straffte die Schultern und ignorierte das nervöse Flattern in der Magengegend. Dabei handelte es sich bloß um ein Gefühl, und wann hatten Gefühle ihr je etwas genützt? Sie brachten nichts als Elend. Nein – sie würde sich nicht ihrer Angst unterwerfen, sondern sie hinter Schloss und Riegel sperren und unbeirrt zur Tat schreiten.

„Ich werde etwas tun, was meine Mutter ungemein glücklich machen wird.“ Sie stand auf, und Chima und Arjun erhoben sich ebenfalls. „Ich werde endlich heiraten.“

3. KAPITEL

„Ich habe hier in etwa so viel verloren wie ein reicher Mann mit einem Armenhaus“, murmelte Finn, der mit Dom in einer Ecke des Ballsaals des Earl of Blakemere stand.

Zahlreiche Kronleuchter hingen von der Gewölbedecke und warfen ihr glänzendes Licht auf das Tanzparkett, auf dem sich juwelenbehangene Damen und herausgeputzte Herren tummelten – eben die Sorte anständiger Leute, denen er für gewöhnlich aus dem Weg ging. Die rechtschaffenen Gäste vollführten ein eigentümliches Ballett aus Verbeugungen, Knicksen und höflichem Geplauder. Alles nur schöner Schein, unter dem sich ein Meer an eigennützigen Motiven verbarg.

„Die Drinks im Armenhaus sind deutlich besser.“ Angewidert beäugte Dom sein Glas Punsch. „Was zur Hölle ist da drin?“

„Limonade und Jungfrauentränen.“ Er hätte seinen Abend lieber in einer der zahlreichen Spielhöllen Londons verbracht – dort kannte er die meisten Gäste, und niemand begegnete ihm mit kaum verhohlenem Misstrauen. Glücksspieler wussten um die Unehrlichkeit ihrer Mitmenschen, und diese Gewissheit hatte etwas Befreiendes.

Finn spielte niemals falsch. Das hatte er gar nicht nötig.

Er konnte den Lords und Ladys ihren Argwohn jedoch nicht verübeln. Schließlich hielten er, Kieran und Dom sich für gewöhnlich von gesellschaftlichen Anlässen fern, und wenn sie doch einmal anwesend waren, dann flossen beträchtliche Mengen Alkohol und jeglicher Anstand war schnell vergessen. Auf einem besonders denkwürdigen Ball hatten Finn und Kieran darum gewettet, wie viele Blumen sie aus den Frisuren der anwesenden Damen stehlen konnten. Ein anderes Mal waren Finn und Dom – wenngleich der Whisky die Erinnerung an besagten Abend trübte – auf einem Paar Axminster-Teppichen die Treppen hinuntergerutscht.

Kieran hatte das Glück gehabt, oder vielmehr gewieft dafür gesorgt, dass Celeste Kilburn seinen guten Ruf in den Kreisen des ton wiederhergestellt hatte. Vielleicht hätte Finn die Verlobte seines Bruders darum bitten sollen, denselben Zauber auch für ihn zu wirken. Doch er war zu sehr darauf bedacht gewesen, das Kennenlernen von Dom und Tabitha Seaton in die Wege zu leiten, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Stattdessen hatte er eine Einladung zum Ball des Earl und der Countess of Blakemere ergattert, bei dem hoffentlich auch Miss Seaton zugegen sein würde.

„Ich weiß nicht, wie das Mädel aussieht“, brummte Dom, als hätte er Finns Gedanken gelesen. „Kann nicht nach ihr Ausschau halten.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie bereits hier ist.“ Finn ließ den Blick durch den Saal schweifen, doch keine der Frauen war so ungewöhnlich groß gewachsen wie Miss Seaton, oder teilte ihre Angewohnheit, das Geschehen um sie herum aus einiger Distanz zu beobachten, als wolle sie abschätzen, ob es ihre Zeit und Aufmerksamkeit wert sei.

„Hat der Majordomus Miss Tabitha Seaton angekündigt?“, fragte Finn einen vorbeikommenden Lakaien und tauschte sein leeres Punschglas gegen ein Glas Schaumwein von dessen Tablett. Der Wein erwies sich als erstaunlich edler Tropfen, aber schließlich waren der Earl und die Countess für ihre außerordentliche Gastfreundschaft bekannt.

Dom entledigte sich ebenfalls seines Punschglases und griff sich gleich zwei Gläser Schaumwein, die er in schneller Folge hinunterkippte.

„Ja, Sir“, antwortete der Lakai. „Vor etwa einer halben Stunde. Seit ihrer Ankunft habe ich sie allerdings nicht mehr gesehen.“

Finn legte einen Schilling auf das Tablett. Der Lakai verneigte sich dankend, ehe er die Münze einsteckte und seinen Weg durch die Menschenmenge fortsetzte.

„Anwesend, aber nirgends zu entdecken“, grübelte Finn.

„Im Ruheraum?“, mutmaßte Dom.

„Doch hoffentlich nicht für ganze dreißig Minuten. Nein, sie muss sich irgendwo im Haus aufhalten … aber wo?“

Sein Wissen über Miss Seaton hätte gerade mal einen Fingerhut füllen können. Doch bei ihrer letzten Begegnung hatte sie ein Buch bei sich getragen, was darauf schließen ließ, dass der übliche Zeitvertreib auf Bällen ihr nicht unbedingt zusagte.

„Ich habe eine Ahnung, wo sie sein könnte“, sagte er zu Dom. „Warte hier. Wenn mich nicht alles täuscht, weiß ich, wo ich sie finde. Ich bin gleich zurück.“

„Lass mich hier nicht allein.“ Dom war groß wie ein Zugpferd und breit wie ein Frachtkahn, doch in seiner Stimme lag ein Anflug von Panik.

„Dir wird schon nichts passieren“, beruhigte er seinen Freund.

„Was, wenn ich … tanzen muss?“

„Stell es dir vor wie eine Kneipenschlägerei, mit nur unwesentlich weniger Gewalt.“

Finn klopfte Dom auf die Schulter und ließ ihn stehen. Er schlängelte sich am Rand der Tanzfläche entlang, so wie er sich auch sonst am Rand der respektablen Gesellschaft aufhielt, und trat schließlich hinaus auf den Korridor. Kurz gerieten seine Schritte ins Stocken, als er das Kartenzimmer passierte, doch er warf ihm lediglich einen sehnsüchtigen Blick zu, ehe er seinen Weg fortsetzte. Eine Herausforderung würde er hier ohnehin nicht finden.

Obgleich er noch nie in Blakemeres Haus gewesen war, lag die Vermutung nahe, dass der Ort, den er suchte, sich auf diesem Stockwerk befand. Auf seinem Weg fand er sich mit einem Mal hinter zwei jungen Frauen wieder, die die Köpfe zusammensteckten und eifrig miteinander tuschelten.

„Wenn ich es dir doch sage. Lady Georgette hat zweimal mit Mr. Devaney getanzt“, sagte die blonde Frau aufgeregt.

„Nie im Leben“, widersprach ihre Begleiterin. Das diamantbesetzte Krönchen, das ihr braunes Haar schmückte, würde einen stattlichen Wetteinsatz abgeben. „Mr. Devaney ist nur zweitausend im Jahr wert.“

„Und für weniger als viertausend ist Lady Georgette sich zu schade.“

Zu Finns Erstaunen schienen die beiden jungen Damen dasselbe Ziel zu haben wie er und traten vor ihm durch die große Flügeltür. Er folgte ihnen in gebührendem Abstand.

Die beiden blieben abrupt stehen. „Das ist nicht der Ruheraum für Damen“, sagte die Blonde verdutzt.

„Das ist eine Bibliothek“, fügte ihre Freundin naserümpfend hinzu.

In der Tat handelte es sich um eine prächtige Bibliothek – sofern man solchen Orten etwas abgewinnen konnte. Die hohen Regale waren zum Bersten gefüllt, und auf jeder freien Fläche türmten sich weitere Bücher zu hohen Stapeln. Der Earl und die Countess waren ganz offensichtlich Buchliebhaber.

Obgleich er nach diesem Ort gesucht hatte, machte sich Unbehagen in ihm breit. Alles in ihm schrie danach, auf dem Absatz kehrtzumachen und aus dem Raum zu flüchten, doch er blieb, wo er war, und zwang sich, tief durchzuatmen. Es waren schließlich nur Bücher – leblose Gegenstände, die ihm nichts anhaben konnten, so sehr sie ihn auch verunsicherten.

Die jungen Damen hatten ihn mittlerweile bemerkt und warfen ihm neugierige Blicke zu, weshalb er sich den Regalen zuwandte und vorgab, sich für deren Inhalt zu interessieren. „Ah“, überlegte er laut, „eine seltene Erstausgabe von Wilhelm Schnitzels Abhandlung über Entwässerungssysteme.“

Wie erhofft erstickte dies jegliches Interesse der beiden im Keim und sie kehrten ihm den Rücken zu, was ihm mehr als recht war. Seine Aufmerksamkeit galt der einzigen anderen Person im Raum.

Sie war hier.

Gewiss war es der Triumph, der seinen Puls in die Höhe schnellen ließ. Er hatte den richtigen Riecher gehabt und sie aufgespürt – nur deshalb löste ihr Anblick solch freudige Erregung in ihm aus.

Sie stand neben dem Tisch, die Nase in einem Buch vergraben.

„Wer ist das denn?“, fragte die Blonde. Sie und ihre Begleiterin wagten sich weiter in den Raum vor.

„Miss Seaton, wenn ich mich nicht täusche?“, sagte Diamantkrönchen neugierig.

Die Angesprochene blickte erschrocken auf, ganz offensichtlich überrumpelt. „Oh, ich dachte … nun ja. Guten Abend.“

Die beiden jungen Damen traten näher an Miss Seaton heran. Finn, der noch immer vorgab, die Bücher auf den Regalen in Augenschein zu nehmen, kam ebenfalls näher.

Miss Seatons Aufmerksamkeit galt nun ganz den beiden Mädchen, und Finn nutzte die Gelegenheit, sie von Kopf bis Fuß zu mustern, ohne unhöflich zu wirken.

Ihr dunkelbraunes Haar war streng hochgesteckt. Nicht eine einzige lose Strähne rahmte ihr markantes Gesicht – ihm war entfallen, dass ein Grübchen ihr Kinn zierte – und ihre stahlblauen Augen waren sorgenvoll geweitet. Auch an ihren betörenden Mund mit den rosigen, vollen Lippen hatte er sich nicht erinnert.

Wie es sich wohl anfühlen würde, diesen Mund zu küssen? Waren ihre Lippen weich und nachgiebig oder kraftvoll und fordernd?

Was um alles in der Welt? Sie zu küssen ist das Letzte, woran ich denken sollte.

Als könne sie ihm seine Gedanken an der Nasenspitze ablesen, fand ihr scharfsinniger Blick den seinen.

Ein plötzlicher heißer Schauer durchlief ihn.

Ihre Augen weiteten sich. Hatte sie ihn etwa auch gespürt, diesen unerwarteten Schock? Unmöglich. Derartige Momente mochten von Dichtern besungen werden, doch sie passierten nicht im wahren Leben. Und schon gar nicht mit einer Frau, mit der er so wenig gemein hatte wie mit Tabitha Seaton.

„Das muss ja ein höchst unanständiges Buch sein, Miss Seaton“, sagte die Brünette kichernd. „Sieh nur, wie sie es vor uns verstecken will, Harriet.“

Tatsächlich hielt Miss Seaton das Buch dicht vor die Brust, als wolle sie es vor den neugierigen Blicken der beiden verbergen.

Handelte es sich womöglich um einen pikanten Roman der Lady zweifelhafter Moral? Welch ein faszinierender, gänzlich unerwarteter Gedanke.

„Was mag sie da wohl lesen, Flora?“, fragte die Blonde. Sie und ihre Freundin beugten sich vor, um einen Blick auf den Buchrücken zu erhaschen.

„Nichts von Bedeutung“, sagte Miss Seaton. Ihre angenehm heisere Stimme jagte Finn ein Kribbeln über den Rücken. Hastig schloss sie das Buch und schob es hinter sich auf den Tisch, wohl in der Hoffnung, es zwischen all den ähnlichen Einbänden zu verstecken.

Finns Blick war auf das Buch fixiert.

Sie brachte ein wenig Abstand zwischen sich und den Tisch. Offensichtlich wollte sie die beiden Frauen ablenken, was ihr bis zu einem gewissen Grad auch gelang. Harriet und Flora ließen sie nicht aus den Augen.

Sollten die beiden jedoch herausfinden, welches Buch Miss Seaton gelesen hatte, könnte sich dies als verhängnisvoll erweisen. Finn mochte die Welt des ton für gewöhnlich meiden, doch er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass Klatsch und Tratsch eine verheerende Wirkung haben konnten. Wenn Miss Seaton in der Bibliothek des Earls und der Countess beim Lesen eines erotischen Romans erwischt wurde, wäre ihr guter Ruf ruiniert.

Die Ladys näherten sich Miss Seaton wie Wölfe auf der Pirsch.

„War es ein französischer Roman?“, fragte Flora mit schmeichelnder Stimme. „Uns können Sie es doch sagen. Wir verraten es auch niemandem. Nicht wahr, Harriet?“

„Keiner Menschenseele“, sagte ihre Freundin, doch ihre Worte klangen nicht die Spur aufrichtig.

„Sie werden es nicht glauben“, verkündete er und zog die Aufmerksamkeit der drei Damen auf sich.

Er schlenderte auf den Tisch zu und stellte sich wie beiläufig davor. Dann zeigte er auf die Tür, und als die Blicke der Frauen seiner Geste folgten, schnappte er sich das Buch und versteckte es hinter seinem Rücken.

„Ich sah Lady Georgette soeben im Begriff, ein drittes Mal mit Mr. Devaney zu tanzen“, informierte er sie.

Flora und Harriet schnappten nach Luft und sahen einander mit großen Augen an.

„Das müssen wir sehen“, rief Harriet aus.

Die beiden eilten aus der Bibliothek, ohne sich noch einmal umzusehen, und ließen Finn mit Miss Seaton allein.

Kaum waren sie verschwunden, zog Finn das Buch hinter dem Rücken hervor. War es eine Geschichte der Lady zweifelhafter Moral, die Kieran ihm so ausführlich angepriesen hatte? Oder vielleicht ein Buch mit schlüpfrigen Illustrationen? Er hoffte auf Letzteres.

Er lächelte Miss Seaton wissend an, doch sein Lächeln erstarb, als er den Einband genauer betrachtete. Er las den Titel, doch seine übliche Methode, sich das Geschriebene durch den Kontext zu erschließen, versagte. Auch beim zweiten Anlauf hatte er kein Glück. Er versuchte, sich die Silben gedanklich vorzusprechen. Nichts.

Er sah mit gerunzelter Stirn zu ihr auf. Dies war nicht das pikante Geheimnis, das er erwartet hatte.

„Man findet nicht jeden Tag eine Erstausgabe von Hildegard von Bin...

Autor

Eva Leigh
Wenn Eva Leigh nicht an einer ihrer packenden Romances schreibt, in denen sie die Zeit des Regency lebendig werden lässt, widmet sie sich ihren Hobbys: Sie liebt es zu backen, zu viel Zeit im Internet zu verbringen und Musik aus den 80ern zu hören. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt Eva...
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