Liebespfand für den Ritter ihres Herzens

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England im Jahr 1221: Ungläubig blickt Lady Gwenllian auf das lilafarbene Band in ihren zarten Händen. Ein Ritter, sein Gesicht verborgen hinter dem eisernen Helm, hat es ihr zu Beginn des Turniers zugesteckt. Sie kennt dieses Stück Stoff genau: Damals hat sie es Ralph de Kinnerton als Pfand ihrer ewig währenden Zuneigung überreicht. Ihre Liebe zerbrach, weil Gwen sich weigerte, mit ihm bei Nacht und Nebel die Burg zu verlassen. Doch nie hat sie Ralphs Küsse vergessen. Und nie ihre Tränen, als sie von seinem Tod erfuhr! Sie muss herausfinden, wer der Ritter ist – und traut ihren Augen nicht, als er den Helm abnimmt …


  • Erscheinungstag 06.08.2024
  • Bandnummer 407
  • ISBN / Artikelnummer 0814240407
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

England im Jahre 1221, vor den Mauern von Schloss Pulverbatch, Shrewsbury

Als Ralphs Blick auf die schöne Frau fiel, welche mit einem hauchzarten Schleier über ihrem flachsblonden Haar unter den Zuschauern saß, begann sein Puls zu rasen. Denn er erkannte sie wieder, als hätten sie sich erst gestern getrennt.

Sie zu sehen, erschütterte ihn bis ins Mark, und das bevorstehende Turnier war ihm plötzlich kaum noch wichtig. Da er merkte, wie er erbleichte, war er heilfroh, dass sein Gesicht vom Visier seines eisernen Helmes verdeckt war. Um Selbstbeherrschung bemüht zwinkerte er und schloss für Sekunden die Augen. Ja, diese Frau war ihm wie keine andere vertraut.

Unversehens zog sich ihm die Kehle zusammen, und er schluckte. So ist sie also hier, dachte er voll Bitterkeit, Lady Gwenllian ferch Hywel of Clwyd. Ralph war einst mit ihr verlobt gewesen, die Liaison aber hatte keinen guten Ausgang genommen. Denn am Ende hatte Gwenllian ihm das Herz gebrochen.

In seiner Jugend hatte er sich ihr mit Leib und Seele ergeben, schließlich aber einsehen müssen, dass er einem Trugschluss aufgesessen war. Seither waren sechs Jahre ins Land gegangen.

Lieber Gott, seufzte er unhörbar, ich hoffte, das alles hinter mir gelassen zu haben. Tatsächlich war es fast einer Gnade gleichgekommen, als er vor zwei Jahren für eine Weile sein Gedächtnis verloren hatte, nachdem er aus dem Hinterhalt attackiert und fast umgebracht worden war. Das war in Aquitanien nahe dem Dörfchen St-Jean-de-Côle geschehen, wo die Angreifer ihn irrtümlich für tot liegengelassen hatten. Am Ende eines langen Genesungsprozesses aber war die raue Wirklichkeit wieder über ihn hergefallen, und der unerträgliche Schmerz um seinen toten Vater und den verlorenen Familienbesitz hatte ihn aufs Neue gepackt. Der Verlust der geliebten Frau aber hatte alldem die Krone aufgesetzt, war doch sein uneingeschränktes Vertrauen in sie schwer enttäuscht worden.

„Ist alles in Ordnung mit Euch?“ Sir Thomas Lovent, der an diesem Tag als Ralphs Junker fungierte, warf seinem Freund aus den Tiefen seiner Kapuze einen besorgten Blick zu, während er ihm sein Schild und das stumpfe Schwert reichte, welches bei einem Übungsturnier zum Einsatz kam.

„Mir geht es gut“, behauptete der Angesprochene, worauf Tom zweifelnd die Brauen hob, sich aber jeden Kommentars enthielt.

Beide gehörten zum Gefolge Sir William Geraints, Lord von Clancey, welches gegen die Ritter eines anderen Lords zu einem Schaukampf antrat. Während Ralph beobachtete, wie alle sich bereitmachten, wurde er sich der Schwere seines Helmes bewusst, welcher hart auf die Narben drückte, welche er damals in Aquitanien davongetragen hatte. Dort war ihm die rechte Seite seines Gesichts arg zerhauen worden, sodass er noch immer an den Folgen trug. Lange hatte es gedauert, bis er sich von dem erlittenen Blutverlust erholt hatte, und es war ein Segen, dass er wenigstens seinen linken Arm uneingeschränkt gebrauchen konnte. Denn der rechte versagte ihm weitgehend den Dienst.

Auf Ralphs Bitte hin lockerte sein Freund die Bänder, welche ihm das Kettenhemd am Hals zusammenhielten. Da atmete er auf, war ihm doch bei Gwenllians Anblick die Brust eng geworden.

„Ist es besser so?“, fragte Tom.

„Ja, jetzt ist alles gut“, gab Ralph nicht ganz wahrheitsmäßig zurück.

Seit er sich in der Nähe Kinnerton Castles befand, wo er aufgewachsen war, ging es ihm alles andere als gut. Und setzte es ihm schon zu, dass seine alte Heimat ihm verwehrt war, tat die Anwesenheit seiner ehemaligen Verlobten ein Weiteres dazu, ihm die Seele zu beschweren. Im Grunde hatte er gehofft, ihr nach jener schicksalsträchtigen Nacht vor Schloss Kinnerton nie wieder begegnen zu müssen.

„Hütet Euch vor de Fevre, der seine Streiche gern von unten nach oben führt“, mahnte sein Freund.

„Wir führen nur einen Schaukampf, Tom“, wehrte sein Freund den Rat ab.

„Was nicht heißen darf, auf den Sieg zu pfeifen“, versetzte Tom. „Am besten nutzt Ihr die verbleibende Zeit, um Eure Gegner zu beobachten und ihre Schwächen einzuschätzen.“

Erst als Ralph sich dazu herabließ, sich durch die Helmschlitze prüfend umzusehen, fiel ihm auf, dass die Ritter in ständiger Bewegung waren. „Ich frage mich, warum sie dauernd hin- und herlaufen“, sagte er. „Auf was zum Teufel sind sie aus?“

„Dreimal dürft Ihr raten“, grinste Tom. „Natürlich versuchen sie, sich der Gunst eines Edelfräuleins zu versichern. Wie oft kommt man den schönen Ladys des königlichen Hofes schon so nahe?“

Und in der Tat: Immer wieder schlenderten einzelne Recken zur Zuschauertribüne hinüber, wo eine nach der anderen hübschen Jungfer ihrem Favoriten unter allgemeinem Jubel ein Tüchlein oder ein buntes Band überreichte.

Ohne weiter zu überlegen, machte auch Ralph sich dorthin auf den Weg.

„Ich sehe wohl nicht recht?“, rief Tom ihm übermütig nach. „Macht Ihr denn alles nach?“ Sein Freund aber drehte sich nicht mehr um, sondern ging mit langen Schritten auf den überdachten Bereich zu, der dem Gefolge des königlichen Schirmherrn vorbehalten war. Dieser, der junge King Henry, befand sich auf einer Rundreise durch sein Herrschaftsgebiet.

Während der allgemeine Lärm in Ralphs Ohren zu einem dröhnenden Trommelwirbel anschwoll, dachte er daran, welche Rätsel das purpurne Band an seinem Handgelenk ihm während seiner Genesung aufgegeben hatte. Erst nach Monaten war ihm die Erinnerung wiedergekommen, wer es ihm dereinst verehrt hatte.

Unversehens wurde ihm heiß vor Zorn und er ertrug das verblichene Andenken nicht länger auf der Haut. Und während er Schwert und Schild zu Boden warf, die Fausthandschuhe auszog und mit zitternden Fingern das Band aufknüpfte, wünschte er aus tiefstem Herzen, im selben Zuge die Erinnerung an seine Verlobte für immer loszuwerden.

Anders als die übrigen Ritter nahm Ralph seinen Helm nicht ab, obwohl man ihm das als Unhöflichkeit hätte auslegen können. Zum einen aber wollte er Gwenllian ferch Hywel in dem Glauben lassen, er sei in Aquitanien ums Leben gekommen. Und zum anderen hatte er sich unter dem Namen seines Freundes Sir Thomas Lovent bei dem Turnier angemeldet und musste sich vorsehen, nicht verraten zu werden. Ralph brauchte den Silberschatz, der auf den Sieg ausgesetzt war, wie das Brot zum Leben. Galt es doch, die hohe Steuer abzuzahlen, welche King John, Henrys Vater, nach dem Ableben des alten Barons von Kinnerton auf den Stammsitz erhoben hatte. Bis Ralph die exorbitante Summe aufbrachte, lag die Hand der Krone auf seinem Besitz, sodass er, der einzige Sohn Walter de Kinnertons, sein Erbe nicht antreten konnte.

Nein, der Ritter wollte wirklich nicht, dass Gwenllian etwas von seinen Nöten erfuhr. Er fand, diese gingen sie nicht das Geringste an, zumal er eine freundliche Anteilnahme ihrerseits ohnehin für ausgeschlossen hielt. Dass sie für sein Schicksal fürderhin kein Interesse mehr aufbrachte, hatte sie ihm vollkommen klargemacht, als sie sich zuletzt begegnet waren. Mehr Beweise ihrer Gleichgültigkeit hätte er nicht ertragen, zumal er sie nach all den Jahren verheiratet wähnte.

Ihm war nichts weiter wichtig, als diejenigen, welche ihm Unrecht angetan hatten, zur Verantwortung zu ziehen und Gerechtigkeit zu erlangen. Vor allem sein Cousin Stephen le Gros hatte ihm übel mitgespielt, und Ralph malte sich oft aus, wie er sein Eigentum von ihm zurückforderte.

Jetzt nahm er seinen Mut zusammen, trat an das Podest heran, auf dem Gwenllian saß, und hielt ihr das feine Band hin, welches sie ihm einst geschenkt hatte. Erst als dieses schon vor ihren Augen baumelte, hob sie den Blick, und Ralph stockte vor Bestürzung der Atem. Denn war die junge Frau nach all den Jahren auch ebenso lieblich anzuschauen wie früher, muteten ihre blauen Augen doch erschreckend leer an. Auf den Ritter wirkte sie so geistesabwesend, als befände ihre Seele sich in einer anderen Welt.

Tief betroffen verhielt er in seiner Geste, als sich langsam, ganz langsam etwas Leben in ihre Miene stahl. Und während ihre Wangen sich röteten und ihre Brauen sich fragend zusammenzogen, hob sie wie fassungslos die Hand und streckte sie nach dem alten Andenken aus. Bei dem Versuch, das Band aus Ralphs Fingern zu lösen, streifte sie seine Hand, wobei ihn ein längst vergessenes Gefühl durchfuhr.

So nah stand er vor ihr, dass er die kleine Narbe über ihrem rechten Augen wiedererkannte, die Gwen, wie er sie früher genannt, einst bei einem gemeinsamen riskanten Schwimmmanöver davongetragen hatte. Da begann sein Herz vor Schmerz schneller zu pochen, war doch das Versprechen, das sie sich gegeben hatten, damals noch ungebrochen gewesen.

Später aber, nach dem Betrug seines Cousins an ihm, der ihm den Besitz entrissen hatte, war es zur Stunde der Wahrheit gekommen. Ralph hatte fliehen müssen, um sein Leben zu retten, Gwen sich aber geweigert, mit ihm zu gehen. Ich muss Ehre und Pflichterfüllung über meine Gefühle stellen, hatte sie behauptet. Ihr seid verarmt, da der nächste Baron von Kinnerton ein anderer sein wird. Deshalb muss ich unsere Verbindung aufkündigen.

Bei der Erinnerung daran wandte der Ritter sich schaudernd ab, war er doch entschlossen, seine Vergangenheit mit Gwenllian für immer hinter sich zu lassen. Nun er ihr das Unterpfand ihrer Liebe zurückerstattet hatte, war nichts mehr von Bedeutung für ihn, als dem Turnier seine Zukunft abzutrotzen.

So bin ich es nun, der Ehre und Pflichterfüllung voranzustellen hat, dachte er mit bitterem Spott. Die Lady aber muss ich vollends vergessen, ist doch das Band, das zwischen uns bestand, längst zerschnitten.

Gwen starrte wie gebannt auf das purpurne Band, dem Zeugen einer glücklicheren Zeit, und seufzte unhörbar in sich hinein. Und während sie sanft mit dem Finger über die Oberfläche strich, dachte sie daran, wie sie die Wolle eigenhändig gefärbt hatte, um den Farbton zu erzielen, den der Himmel in der stillen Abendstunde zeigte, zu der sie sich heimlich mit Ralph de Kinnerton zu treffen pflegte.

Wie lange mag es her sein, dass ich es ihm gab? fragte sie sich wehmütig. Sind sechs, sieben oder gar mehr Jahre verstrichen? Ach damals …

Oh Ralph, ich liebte Euch so sehr …

Damals hatte sie ihm nicht zur Last fallen wollen und darauf bestanden, dass er sich allein in Sicherheit brachte, ohne dabei zu ahnen, dass er jahrelang in der Fremde verschollen bleiben würde.

Denn Ralphs verschlagener älterer Cousin hatte Gwenllian geschworen, ihr auf allen Wegen folgen zu wollen. Er wäre nicht einmal davor zurückgeschreckt, seinen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen, um die junge Frau selbst zu beanspruchen. Da war sie – zu Tode erschrocken – zunächst auf Kinnerton Castle geblieben, nach ein paar Tagen aber heimlich entwichen, als Stephen le Gros nicht mehr mit ihrer Flucht gerechnet hatte. Ich danke Gott, dass ich entkam! dachte sie und erbebte. Nie hätte ich den Schurken in meiner Nähe ertragen können.

Jahre später war die Kunde von Ralphs Tod zu ihr gedrungen, die ihr schier das Herz brach. Doch hatte sie sich ihren Kummer nicht anmerken lassen dürfen, während sein Dahinscheiden in fremden Landen sich ihr wie ein Mühlstein auf die Seele legte. Nur edelste Motive hatten sie dazu bewogen, ihren Liebsten wegzuschicken, indem sie nach bestem Wissen und Gewissen handelte. Am Ende aber stand sie vor den Trümmern ihrer Träume, welche sich um ein gemeinsames Leben mit dem jungen Ritter gerankt hatten.

Ihre Erinnerung an den hoch aufgeschossenen empfindsamen Knaben, der schnell ihr bester Freund wurde, war so frisch wie am ersten Tag. Niemandem hatte sie so vorbehaltlos vertraut wie ihm und dem Tag, da er sie zu seiner Braut erheben würde, mit Freude entgegengesehen.

Vor allem Ralphs Warmherzigkeit hatte sie für ihn eingenommen. Denn ihm, Sohn eines Feudalherrn in den Welsh Marches, dem Grenzland zwischen England und Wales, war zum Kummer seines Vaters mehr am Wohlergehen des einfachen Volkes gelegen als an politischer Machtausübung.

Diesen Charakterzug des Jünglings hatte sein älterer Cousin Stephen, welcher unlautere Ziele verfolgte, genutzt, um Ralph der Lächerlichkeit preiszugeben, wo immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Nach und nach untergrub er das Ansehen des jungen Mannes und trieb einen Keil zwischen Vater und Sohn, bis auch die eigenen Garnisonstruppen auf Kinnerton, dazu etliche mächtige Nachbarn, dem Heranwachsenden nur noch mit Geringschätzung begegneten.

Schon damals hatte Gwen unter Stephens hartnäckigen Gunstbezeugungen zu leiden gehabt, der unablässig seine Absicht beteuerte, sie einmal als Braut heimzuführen. Deshalb wunderte sie sich im Nachhinein, das Unheil nicht vorausgesehen zu haben, welches ihr den Liebsten schließlich entriss. Hätte sie Ralph rechtzeitig gewarnt, wäre er womöglich besser auf das Kommende vorbereitet gewesen.

Immerhin hatte selbst Stephen es nicht kommen sehen, dass King John aufgrund anhaltender Streitigkeiten mit Lord Walter de Kinnerton, Ralphs Vater, diesem ein Gerichtsverfahren wegen Hochverrats anhängen und seinen gesamten Besitz beschlagnahmen würde. Genau das aber geschah. Damit nicht genug, wurde dem alten Baron auch die Vormundschaft, die er über Gwenllian ausübte, zu Gunsten der Krone aberkannt, welche auf diesem Wege die Verfügungsgewalt über das Vermögen der jungen Frau erlangte. Als die royalen Anschuldigungen später wieder verworfen wurden, was niemand hatte erwarten können, war Ralphs Vater bereits vor Gram verstorben. Und weil niemand greifbar war, die Interessen der Familie zu vertreten, konnten die Ratgeber des Königs unwidersprochen eine überhöhte Ablösesumme festlegen, die für die Wiedererlangung des Besitzes zu entrichten war.

Für Gwenllian aber, die Ralph tot glaubte, verlor die Vergangenheit, die ihr das Glück genommen hatte, jede Bedeutung. Tag und Nacht trug sie tiefe Trauer um ihren Liebsten, die ihr das Leben vergällte, bis sie jetzt nach langer Zeit dem Ort wieder nahe kam, der mit ihren Erinnerungen verknüpft war.

Wie die anderen Ladys im königlichen Gefolge auch hatte sie dem Ruf folgen müssen, den jungen König zu begleiten. Dabei war sie keinesfalls zufällig ausgewählt worden, sondern auf Drängen ihrer walisischen Verwandtschaft, die seit Langem eine Klärung ihrer Stellung forderte.

Am meisten fürchtete die junge Frau, Stephen le Gros bei diesem Turnier zu begegnen, stand doch zu erwarten, dass er hier war, um die hohe Gewinnsumme an sich zu bringen und Kinnerton damit freizukaufen. Beim alleinigen Gedanken, ihm werde womöglich dazu die Vormundschaft über sie zufallen, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Denn dann konnte er sie zur Heirat zwingen.

Immerhin hatte Gwen wie in weiser Voraussicht die spärlichen Einkünfte, welche die Krone ihr zum Ausgleich für die Ausbeutung ihres Vermögens als Zuwendung zukommen ließ, Jahr um Jahr beiseitegelegt. So hatte sie sich mit ihren Ersparnissen noch vor ihrem Eintreffen auf Pulverbatch Castle eines Platzes in einem Kloster versichern können, wo kein Mann jemals seine Hand auf ihren Leib legen durfte. Denn sollte Stephen die Vormundschaft über sie erwirken, wollte sie als Nonne auf ihr Erbe verzichten, um einer Verbindung mit ihm zu entgehen. Niemand war ihr so zuwider wie er.

Durch einen Tränenschleier hindurch betrachtete sie das purpurne Band und schloss die Augen, indem sie es an ihre Lippen drückte. Nie hatte sie es sich verziehen, Ralph die wahren Gründe für ihre Entscheidung verheimlicht zu haben, war es doch inzwischen zu spät dazu. Nichts war ihr von ihm geblieben als das verblichene Stück Stoff, das der Fremde ihr gegeben hatte. Wie es in dessen Hände gelangt war, wusste sie nicht.

Als Gwenllian sich endlich zwang, die Augen wieder aufzuschlagen, wurde auf dem Kampfplatz gerade das Turnier eröffnet.

„Mir scheint, Ihr seid nicht ganz bei der Sache“, flüsterte Brida O’Conaill ihr lächelnd zu. Die junge Zofe, die ihrer Herrin längst zur Freundin geworden war, verlor kein Wort darüber, dass ein fremder Ritter ihr ein Unterpfand gegeben hatte.

„Ich bin die Aufmerksamkeit in Person“, versetzte Gwen nicht ganz wahrheitsgemäß, „nur ein wenig überrascht.“

„Glaubt mir, es freut mich, wenn Euch endlich etwas aus Eurer Lethargie reißt. Allerdings verhaltet Ihr Euch auffällig, sodass die Leute schon hierherschauen.“ Damit zog sie ein Leinentüchlein unter ihrem wollenen Überwurf hervor und reichte es ihrer Freundin. „Bitte trocknet Eure Tränen, meine Liebe.“

„Seid bedankt.“

„Wer war dieser Mann?“, fragte Brida leise und voller Neugier.

Erst auf ihre Frage hin nahm Gwen den Unbekannten, der offenbar zum Gefolge Lord de Clanceys gehörte, genauer in Augenschein. Wie er wissen konnte, dass ausgerechnet sie das Band zurückzuerhalten hatte, war ihr schleierhaft.

Da beschloss sie, den Mann so bald als möglich aufzusuchen, um herauszufinden, was er über Ralphs Schicksal zu berichten hatte. Und Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf, er könne ihr ein wenig Beruhigung über die Umstände verschaffen, die zu ihres Liebsten Tod geführt hatten.

„Ich habe keine Ahnung“, flüsterte sie zurück, „werde es aber herauszufinden versuchen.“

2. KAPITEL

„Hütet am besten Eure Zunge“, stöhnte Ralph, indem er verdrossen seine Waffen in eine Ecke des engen, wenn auch komfortablen Zeltes warf, das er sich mit Sir Thomas Lovent teilte.

Der Kampf, den er gerade eben ausgefochten hatte, war für ihn alles andere als zufriedenstellend verlaufen, was an Gwenllian lag, die ihm nicht aus dem Kopf gegangen war. Bei allen Teufeln! schimpfte er in sich hinein. Vor King Henry und seinem Gefolge habe ich mich regelrecht zum Narren gemacht.

„Von mir hört Ihr kein Wort“, versetzte sein Freund und begann, dem Ritter sein Kettenhemd abzunehmen. Als dieser auch den Helm absetzte, rührte er dabei an seine vernarbte Gesichtshälfte und zuckte zusammen. „Zumal Ihr Schmerzen leidet“, fügte Tom mitfühlend hinzu, indem er ein Stück Leinenstoff in ein Schüsselchen mit Rosenwasser tauchte und ihm das Läppchen reichte.

Dankbar griff Ralph danach und kühlte sein Gesicht, brannte ihm doch der eigene Schweiß auf der riesigen Narbe, die sich von seiner Stirn über die Wange bis hinunter in den Nacken zog. Sogar nach zwei Jahren noch war die Haut, die sich über der Verletzung gebildet hatte, überaus empfindlich. Man hätte denken können, er sei Opfer eines wilden Tieres geworden, doch verdankte er sie einem Menschen, der ihn ohne Skrupel zerfleischt hatte. Zudem war bei dem Versuch, den Angreifer abzuwehren, auch sein rechter Arm samt der Hand zu Schaden gekommen.

Es war eine herbe Lektion gewesen, die er hatten lernen müssen, doch kam sie just zur rechten Zeit. Denn er begriff, dass er seine bisherige Friedfertigkeit über Bord werfen musste, wollte er ohne den Schutz seines Titels in der Fremde überleben. Also hatte er verbissen geübt, mit der linken Hand zu kämpfen, bis er damit fast noch besser zurechtkam als vorher mit der rechten.

Nach wie vor aber gab es Tage, an denen die straff gespannte Narbenhaut auf seinem Gesicht so empfindlich war, als habe die Wunde sich erst kürzlich geschlossen. Das mochte er aber nicht zugeben. „Ach, es ist weiter nichts“, brummte er unwillig. „Lady Isabels Salbe wird es schon richten.“

Lady Isabel de Clancey, die Ralph als Adela Meunier kennenlernte, hatte damals wahre Wunder an ihm vollbracht. Denn sie hatte ihn, nachdem er bewusstlos und halb verblutet in den Wäldern nahe der Burg zu St-Jean-de-Côle gefunden worden war, im Verbund mit einer alten Heilerin wieder zusammengeflickt. Mit feinen Stichen hatte sie seine Wunden genäht, ihn liebevoll umsorgt und ihm neuen Lebensmut gegeben, indem sie ihm unermüdlich gut zuredete. Später dann war sie, durch eine Erbschaft reich und unabhängig geworden, nach England zu ihrer Mutter heimgekehrt.

Ralph aber war nicht allein durch Isabels Fürsorge mental und physisch gesundet, bis er am Ende sein Schicksal angenommen hatte. Auch in ihrem Gatten William Geraint, Lord de Clancey, hatte er einen Gönner, ja, einen Ziehvater gefunden.

„Also, was war los, Ralph?“, erkundigte Tom sich so beiläufig wie möglich.

„Waren wir nicht übereingekommen, das Thema fallenzulassen?“

„Wie Ihr wohl wisst, gibt es da jemanden, der von Euch das eine oder andere Wort erwarten dürfte.“ Tom spielte auf William Geraint an.

„Das ist mir klar.“

„Bestimmt entging Euch nicht, dass Hugh de Villiers, Lord Tallany, ebenfalls zusah?“

Sein Freund stöhnte auf, denn auch Sir Hugh hatte ihn auf allen Wegen unterstützt, seit er in England war. In dem Glauben, seine beiden Mentoren gründlich enttäuscht zu haben, ließ er den Kopf hängen.

„Ihr müsst Euch mehr anstrengen, wollt Ihr nicht disqualifiziert werden, mein Bester“, mahnte Tom. „Man könnte meinen, Ihr seid noch nicht so weit.“

„Nur die Ruhe, ich werde mich noch steigern“, entgegnete Ralph, der froh war, dass die beiden Hauptturniere noch ausstanden.

Und er glaubte, was er sagte. Denn er wusste, dass sein Misserfolg nicht auf mangelnde Kampfkraft zurückzuführen war, sondern Gwenllians Anblick ihn völlig durcheinandergebracht hatte.

Ihr das purpurne Band vor den Augen des versammelten Hofstaats zurückzugeben, war natürlich taktlos gewesen. Doch weil es für den Schmerz stand, den die junge Frau ihm zugefügt hatte, hatte er es keinen Augenblick länger auf seiner Haut ertragen. Anschließend eine derart glanzlose Vorstellung abzuliefern, war natürlich mehr als peinlich. Es ist nun einmal nicht zu ändern, dachte er ergrimmt. Nie wieder will ich an die Treulose auch nur einen weiteren Gedanken verschwenden. Was vorbei ist, ist vorbei.

Damit trat er hinter einen schmalen Paravent, zog sich nackt aus und begann sich gründlich zu waschen.

Auch Tom legte seinen Kapuzenumhang ab und fuhr sich sinnend mit der Hand durchs Haar. „Hoffentlich denkt Ihr daran, dass Ihr meinen Ruf beschädigt und nicht den Euren.“

„Wie sollte ich das vergessen?“

Im Grunde sahen sie sich nicht einmal ähnlich. Größe und Statur aber stimmten mehr oder weniger überein, sodass man Ralph kaum entlarven würde, solange er seine Rüstung trug.

Vorerst durfte niemand erfahren, dass er noch am Leben war, stand doch zu erwarten, dass auch seine Feinde hier waren. Vor allem Stephen konnte ihm gefährlich werden, der den jungen König sicher zu drängen gedachte, ihn zum Baron von Kinnerton auszurufen. Allerdings ließ auch King Henry, seinem Vater gleich, bisher nicht die geringste Lust erkennen, die royale Verfügungsgewalt über den Besitz fahrenzulassen.

So blieb vorerst alles offen. Ralph aber war fest entschlossen, auf seinem Geburtsrecht zu bestehen, und wenn er auf Leben und Tod darum kämpfen musste.

Zunächst aber wollte er unter dem Namen seines Freundes die Gewinnsumme erstreiten, wozu Will Geraint, der eingeweiht war, seine Zustimmung signalisiert hatte. Es war ein hehres Ziel, das der junge Ritter sich gesetzt hatte. Denn nach kräftezehrenden Gefechten Rücken an Rücken, die am ersten Tag ausgeführt wurden, standen am zweiten Tag melées à pied et cheval an, Kämpfe, die teils zu Fuß und teils auf dem Pferderücken ausgetragen wurden. Erst wenn das Preisgeld Ralph sicher war, durfte er sich zu erkennen geben und nach Entrichten der über Kinnerton verhängten Steuer darauf dringen, sein Familienschloss samt allen Ländereien sowie seinen Titel zurückzuerhalten. Inzwischen galt es, um keinen Preis den Argwohn seines Cousins zu wecken, um keine Gegenmaßnahmen von seiner Seite herauszufordern. Denn dieser, so verschlagen wie doppelzüngig, war ein Meister im Verdrehen von Wahrheiten. Es war unbedingt erforderlich, dass er ebenso ahnungslos blieb wie die mächtigen Männer, die hinter ihm standen.

„Die Frau war’s, die Euch aus der Fassung brachte, stimmt’s?“, fragte Tom leichthin.

Ruckartig hob Ralph den Kopf. „Was wollt Ihr andeuten?“

„Nun, ich meine die Frau, der Ihr etwas zustecktet“, präzisierte sein Freund, indem er stirnrunzelnd die Arme vor der Brust faltete. „Sie muss Euch viel bedeuten, wenn Ihr ihretwegen aufs Spiel setzt, für was Ihr so hart gearbeitet habt.“

Entnervt schritt Ralph zu der Reisetruhe, die ihnen als Tisch diente, und schenkte sich einen Becher Bier ein, dass es zischte. Dieses goss er die Kehle hinunter, ohne auch nur einmal abzusetzen, und stellte das Gefäß mit lautem Knall wieder ab.

„Oh nein!“ Tom hatte begriffen. „Nein, und nochmals nein! Ihr wollt wohl nicht behaupten, dass ausgerechnet die Frau hier auftauchen muss, an der Ihr seit Jahren krankt? Lady Gwenllian ferch Hywel, wenn ich mich recht entsinne. Zum Teufel, Ralph, warum habt Ihr mir kein Sterbenswörtchen verraten?“

„Vergesst sie, mein Freund. Ich hatte einen schwachen Moment, der aber ist vorüber.“

„Ein schwacher Moment, der Euch auf dem Kampfplatz nicht gerade zu großer Form auflaufen ließ.“

„Lasst das Thema ruhen.“

„Habt Ihr denn nicht eine Sekunde lang daran gedacht, was passiert, wenn sie Euch erkennt?“ Mit dramatischer Geste streckte Tom beide Arme aus. „Was, wenn …“

Lauschend hielt er inne, und auch Ralph erstarrte in der Bewegung. Denn draußen waren zwei weibliche Stimmen zu hören, und eine davon kannte er sehr gut.

Jetzt fragte die zweite ins Zelt hinein: „Ich bitte um Verzeihung, Sires, ist dies das Zelt von Sir Thomas Lovent? Meine Herrin, Lady Gwenllian ferch Hywel of Clwyd ersucht um eine kurze Unterredung, falls Ihr erlaubt.“

Tom, der ärgerlich das Gesicht verzog, murrte leise, dass so etwas nicht zu ihrer Abmachung gehöre. Sein Freund aber schob ihn ohne Federlesen hinaus.

„Ah, Lady Gwenllian“, war Tom zu hören, „hübsch wie keine andere. Seid gegrüßt!“

Ralph wagte kaum zu atmen, stand doch das Gelingen seines Plans auf dem Spiel. Am meisten aber setzte es ihm zu, Gwen so nahe zu wissen.

„Ihr irrt, Sir“, kicherte das Mädchen. „Ich bin nicht Lady Gwenllian. Meine Herrin steht dort drüben.“

„Wie dumm von mir“, versetzte Tom. „Befindet man sich zwei Grazien gleichzeitig gegenüber, kommt es vor, dass man sich vertut.“

Drinnen im Zelt griff Ralph sich an den Kopf, hatte er doch selten eine derart törichte Ausrede vernommen. Die Frauen schienen gleichfalls perplex, denn es dauerte eine Weile, bis eine von ihnen sich damenhaft räusperte und weitersprach.

„Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir Thomas. Ich musste Euch einfach aufsuchen, nachdem Ihr mir das Band zurückerstattetet.“

Da begann Ralphs Herz ihm bis zum Hals zu klopfen. Es war lange her, dass er Gwens sanfte melodische Stimme vernommen hatte.

„Ich darf doch davon ausgehen, dass Ihr Ralph de Kinnerton kanntet?“

„Ihr habt ganz recht, Mylady.“

„Und er gab … warum aber gab er Euch das purpurne Band?“

Vor Qual kniff Ralph die Augen zusammen, während sein Herz ihm bis zum Halse schlug, als wollte es ihm aus der Brust springen.

„Nun, ja … er gab es mir eben.“

„Ich verstehe“, hauchte sie.

„Darf ich Euch sonst noch irgendwie zu Diensten sein, Lady Gwenllian?“

„In der Tat. Ich wüsste gern alles, was Ihr mir über ihn sagen könnt.“

„Alles, sagt Ihr?“

„Ja. Alles, was Ihr wisst, wie Ralph …? Ich meine, die Umstände, unter welchen …? Mein Gott, was genau geschah ihm denn?“

Unversehens klang Toms Stimme weicher. „Herrin, ich versichere Euch, dass mein Freund sich stets von Edelmut und Ehre leiten lässt … ließ, meine ich. Ganz, wie Ihr ihn in Erinnerung habt.“

Kurz zögerte Gwen, fuhr dann aber tapfer fort: „Das Problem ist, Sir, dass wir nicht einträchtig voneinander schieden.“

„Ich staune, Mylady! Er sprach stets nur freundlich von Euch.“

Ralph biss gar wohl die Zähne zusammen. Warte nur, Tom, dachte er erbost, dafür sollst du büßen!

„Es tut mir wohl, dies zu hören, Sir Thomas. Denn es fielen Worte zwischen uns, die nie hätten gesagt werden dürfen.“

Ein kaum wahrnehmbares Beben lag in ihrer Stimme, welches Ralph tief berührte, schien ihm doch eine Melancholie darin mitzuschwingen, die nur von Reue herstammen konnte. Unversehens begann er zu ahnen, dass in all dem Durcheinander nach dem Tod seines Vaters und der Annexion Kinnertons durch die Krone womöglich nicht alles dem entsprochen hatte, als was es erschienen war. Allerdings aber war nicht zu leugnen, dass Gwen sich geweigert hatte, ihn bei der Flucht zu begleiten.

„Mylady, bitte quält Euch nicht.“

„Das tue ich bestimmt nicht, Sir. Ich müsste nur wissen, ob … hat Ralph vielleicht … hat er Euch angewiesen, mir das Band zurückzugeben, bevor er …?“

„In der Tat, Lady Gwenllian, er hat.“

„Und mit welcher Begründung?“

Das war eine verständliche Frage, die aber sogar Ralph selbst nicht hätte beantworten können. Sein Handeln nämlich, das seinen lang verdrängten Gefühlen entsprungen war, blieb ihm in weiten Teilen unbegreiflich. Dabei stand ihm noch vor Augen, wie begeistert Gwen ihm damals beschrieben hatte, mit welcher Sorgfalt sie das kleine wohlüberlegt in Angriff genommene Präsent hergestellt hatte. Zuerst hatte sie die Wolle eingefärbt, diese dann kunstvoll zu einem Band gewebt und am Ende die innig ineinander verschlungenen Initialen beider daraufgestickt. Vielleicht kommt mir ihre Treulosigkeit besonders schlimm vor, weil ich ihr ehrlich glaubte, dachte er. Doch hat es die Liebe, die ich zu empfangen meinte, in Wahrheit wohl niemals gegeben.

Gwens unerwarteter Anblick hatte Ralph bewusstgemacht, wie unpassend es war, noch immer ein Andenken an sie mit sich herumzutragen. Denn er erklärte sich ihre vermeintliche Liebe inzwischen allein mit ihrem Pflichtgefühl seiner Familie gegenüber.

Es sollte mich längst nicht mehr kümmern, dachte er. Aber ich muss wohl immer noch enttäuscht sein, weshalb ich mich unklug verhielt.

„Ich bitte Euch, sprecht, Sir Thomas“, bat Gwen so kleinlaut, dass Ralph es kaum ertrug. Doch hätte er sie auch gern beruhigt, bezwang er sich. Nach allem, was er wusste, verdiente sie keinen Trost und durfte ihm auch nichts mehr bedeuten.

Was will sie hier? fragte er sich eher ratlos als grimmig. Reicht es nicht, dass ich mich ihretwegen fast kompromittiert habe? Nun taucht sie auch noch vor unserem Zelt auf und stellt Fragen, deren Antworten ihr nicht länger zustehen.

Sie aber drang weiter in Tom. „Welche Botschaft war es, die Ralph mir zu übermitteln gedachte? Wollte er mich ein letztes Mal grüßen, weil er mir nichts nachtrug, oder war er böse auf mich?“

Oh ja, ich bin sehr böse auf Euch, dachte er im Stillen. Eher sterbe ich, als Euch zu vergeben. Wahrlich, der Schmerz über den Verrat, den er ertragen musste, als niemand auf Kinnerton zu ihm hielt, saß tief. Und auch diese Frau, die sich plötzlich wieder seiner besann, hatte nicht zu ihm gehalten.

„Ich muss Euch nun freundlichst bitten, zu gehen, Mylady“, hörte er seinen Freund säuseln. „Dieser Bereich ist Soldaten, Rittern und ihren Knappen vorbehalten. Frauen dürfen sich hier nicht aufhalten, sodass es unpassend ist, unsere Konversation fortzuführen.“

„Bitte verratet mir, was er Euch sagte!“ Gwenllian war hartnäckig.

„Ich würde meinen, dies und das.“

„Seid versichert, Sir, dass ich Übung darin habe, unangenehme Neuigkeiten entgegenzunehmen.“

„Ich bitte um Verzeihung, doch gehört es nicht zu meinen Pflichten, unangenehme Botschaften zu überbringen. Ich bin ja nicht der … der Botschafter meines Freundes, Mylady. Und wie gesagt, wir können hier nicht länger beisammenstehen. Am besten wäret Ihr gar nicht erst gekommen.“

„Ihr nehmt mir das Wort aus dem Mund, Sir“, versetzte die Zofe.

„Schön, dass Ihr meiner Meinung seid“, gab Tom trocken zurück. „Ich will gern versprechen, Eurem Wissensdurst an einem passenderen Ort entgegenzukommen, Lady Gwenllian. Nun lebt wohl.“

Darauf blieb es einen Moment lang still, und Ralph hielt den Atem an, bis die Antwort fiel.

„Nun gut. Ich erwarte also, Euch nach der Abendmesse in der Great Hall zu treffen, wo die Mahlzeiten eingenommen werden.“

„Ich will sehen, was ich tun kann, Mylady. Vorausgesetzt, es kommt mir nichts dazwischen.“

„Doch setze ich meine Hoffnung auf Euch, Sir Thomas. Bevor ich gehe, lasst mich eine letzte Frage stellen: Wie konntet Ihr wissen, dass Ihr an die Richtige geratet?“

„Ich verstehe nicht?“

„Woher wusstet Ihr, welcher Frau Ihr das Band zurückgeben müsst?“

„Ach, das meint Ihr … Nun ja … Mein Freund schilderte Euch mir in den leuchtendsten Farben. Deswegen erkannte ich Euch auf Anhieb.“

„Aha. Ich zähle darauf, dass wir uns später sehen, Sir Thomas.“

Als es darauf ruhig blieb, stieß Ralph vorsichtig den Atem wieder aus, den er vor lauter Spannung angehalten hatte. Und nach einer Weile des Abwartens zog er sich die Kapuze über den Kopf und trat ins Freie, wo sein Freund sich wie eine Säule nicht vom Fleck gerührt hatte.

„Ich muss Euch danken, Tom“, sagte Ralph. „Ich stehe für immer in Eurer Schuld.“

„Glaubt mir, eines Tages werde ich sie schon von Euch eintreiben.“

„Das zu hören ist erfreulich.“

„Ich glaube, Ihr habt einen großen Fehler begangen“, murmelte Sir Thomas, indem er mit dem Kinn auf die beiden Frauen wies, deren Silhouetten sich in der Ferne noch schemenhaft vom Himmel abhoben.

„So scheint es.“

„Der Euch noch auf die Füße fallen kann. Was, wenn sie herausfindet, dass Ihr am Leben seid?“

„Das haben wir bereits erörtert.“

„Ihr müsst besser nachdenken, Ralph. Vielleicht ist sie verheiratet, und ihr Gatte hört von Euch.“

Sein Freund verzog unwillig seinen Mund, dann hob er den Kopf.

„Sieh an, Will Geraint ist auf dem Weg hierher. Da kann ich gleich den Tadel für meine schlechte Leistung über mich ergehen lassen.“ Er rieb sich den Unterkiefer, wo ihn die Narbe juckte. Das kann ja heiter werden, dachte er. Wäre es wirklich zu viel verlangt, um ein wenig Glück zu bitten?

Als der Abend herankam, praktizierte Ralph auf freiem Feld immer noch mit eisernem Willen die Kampftechniken, die ihm bei der Präsentation vor King Henry und seinen Markgrafen so schlecht gelungen waren.

Unermüdlich führte er Ausfälle mit dem Schwert in jede erdenkliche Richtung durch und ließ es um sich herumwirbeln, während er einen unsichtbaren Gegner umkreiste. Beim nächsten Kampf musste er unbedingt sein Versagen wiedergutmachen, welches durch das plötzliche Erscheinen Gwenllians bewirkt worden war.

Die verdammte Krämerseele! dachte er grimmig. Selbst bei unserem letzten heimlichen Zusammentreffen fiel ihr nichts Besseres ein, als mir ohne Umschweife zu erklären, warum ich allein fliehen sollte. Dabei schien es ihr nicht viel auszumachen, mir den Laufpass zu geben. Es war ihr allein wichtig, Herrin auf Kinnerton zu werden, ganz gleich, wen sie dafür heiraten musste!

Gwen hatte Ralph mit schönen Worten zur Flucht gedrängt, was ihn so tief verletzte, dass er vor Verwirrung und Enttäuschung nachgab und wie ein Feigling weglief. Sie hat mir den Dolch ins Herz gestoßen, dachte er grollend. Jetzt gibt es dort nichts mehr als ein schwarzes Loch.

Bei diesem Gedanken biss er die Zähne aufeinander und ließ sein Schwert durch die Luft sausen in dem Entschluss, ab jetzt allein für die Zukunft zu leben. Und diese konnte ihm nur dann gehören, wenn er seine Ziele im Auge behielt, ohne nach rechts oder links zu blicken.

Endlich kam Tom zu ihm, um ihn zu überreden, das Exerzieren zu beenden. „Lass uns zum Schloss gehen, wo es sicher besonders erlesene Speisen zu kosten gibt. Schließlich ist der König höchstselbst anwesend.“

Ralph aber hielt es für besser, wenn beide sich den Festivitäten fernhielten. „Ich mute Euch da einiges zu, mein Freund“, murmelte er ein wenig verlegen, indem er sein Schwert in die Scheide steckte.

„Das kann man wohl behaupten“, stimmte Tom ihm mit schiefem Lächeln zu, „Doch werde ich es überleben. Wer braucht schon guten Wein, köstliches Essen und fröhliche Gesellschaft?“

„In der Tat, wer fände schon Gefallen an so etwas?“ Ralph nickte ihm dankbar zu. „Sehr verbunden, mein Bester.“

Da grinste sein Freund von einem Ohr zum anderen. „Ich weiß. Für mich gilt dasselbe.“

Doch auch der Vorsatz, sich dem gesellschaftlichen Treiben zu versagen, nützte nicht viel. Denn Lady Gwenllian spürte Sir Thomas aufs Neue auf, und wieder in einem den Männern vorbehaltenen, etwas abgelegenen Bereich. Hier wurden Waffenübungen abgehalten und manch prüfender Blick auf die späteren Kontrahenten geworfen. Denn es konnte einen Kampf entscheidend beeinflussen, wusste man ob der Schwächen des Gegners.

Als Gwen mit ihrer jungen Begleiterin durch das Camp schritt, wandten die Soldaten vor Verblüffung ihre Köpfe. Ralph aber zog sich alarmiert die Kapuze tief ins Gesicht und warnte seinen Freund. „Schaut nicht hin, aber Gwenllian ist auf dem Weg zu Euch.“

Tom stöhnte auf. „Du meine Güte, ist sie von allen guten Geistern verlassen?“

Ralph aber warf heimliche Blicke auf seine ehemalige Liebste, die ihre Schritte so zierlich setzte, und deren Schleier von der Farbe hellen Sandes gerade vom Wind hochgeweht wurde. Sie war wirklich wunderschön. „Haltet Eure Zunge im Zaum. Gemessen an Euch hat sie ihren Grips in der Regel gut beisammen.“

„Was ich von ihrem Verhalten allerdings nicht abzulesen vermag.“

Als Gwenllian, ihre Freundin im Schlepptau, zu Tom trat, senkte Ralph den Kopf fast bis auf seine Brust, und sein Herz begann wie wild zu pochen.

„Ich grüße Euch, Mylady“, sprach sein Freund.

„Seid bedankt, Sir Thomas.“

„Und was verschafft mir diesmal das Vergnügen Eures Besuchs? Sicher habt Ihr bemerkt, dass Ihr wieder in eine Männerdomäne geraten seid.“

„An mir liegt es wohl kaum“, entgegnete sie ein wenig spitz. „Ich träfe Euch lieber auf neutralem Terrain.“

„Tatsächlich?“

„Und ob! Doch suchte ich gestern Abend in der Great Hall vergeblich nach Euch, Sir.“

„Ich bitte um Vergebung, doch musste ich mich um Wichtigeres kümmern. Die Vorstellung, die ich bei der Eröffnungsfeier gab, war äußerst blamabel, sodass ich zu exerzieren hatte. Ich hoffe, Ihr versteht. Und jetzt lebt wohl, denn Lord de Clancey erwartet mich.“

Damit versuchte Tom sich davonzumachen, und Ralph folgte ihm, das Gesicht abgewandt.

„Wartet, Sir, und hört mich zu Ende an!“, rief Gwenllian aus, indem sie vor Verzweiflung die Hände rang. „Ich verstehe ja, wie wichtig dieses Turnier für einen jeden ist, der hier sein Glück zu machen sucht. Doch wart doch Ihr es, der gestern nach mir fragte! Habt Ihr das etwa vergessen?“

„Das muss ich wohl, Mylady, denn ich weiß nichts davon.“

„Ich will auf der Stelle wissen, was Euch zu mir führte!“

„Herrin, ich kann dazu nichts sagen, weil ich …“

„Herrgott, Sir Thomas! Ich fühle mich hier doch auch nicht wohl. Gebt mir Euer Wort, dass Ihr am Abend in der Great Hall auf mich wartet. Wir können das Gespräch kurzhalten, und danach werde ich Euch nicht länger belästigen.“

Hierauf herrschte ein lastendes Schweigen, worauf Tom nachgab. „So sei es, Mylady. Ich werde da sein.“

Und während die leichten Schritte der Ladys nach und nach verklangen, hob Ralph den Blick und schaute ihnen sinnend nach. „Ausgezeichnet, mein Freund“, versetzte er. „Auf diese Weise vermeidet Ihr es also, Gwenllian ferch Hywel zu begegnen. Ich applaudiere!“

In der Great Hall ging es, ganz anders als zu den Zeiten, da Gwen auf Kinnerton gelebt hatte, äußerst geschäftig zu. Damals war Pulverbatch Castle meist unbewohnt gewesen; nun aber hatten die Grafen von Chester und von Hereford es ihrem König für die Festivitäten zur Verfügung gestellt.

Zuallererst hatten fleißige Hände behelfsmäßige Wohnräume für King Henry und sein Gefolge hergerichtet, wobei man die Schlafzimmer der Ladys in den Wehrturm verlegt hatte. Denn dort war ein einzelner Wächter, am Fuß der steinernen Wendeltreppe postiert, in der Lage, waghalsige Ritter abzuwimmeln, welche den Schönen des Hofes ihre unerwünschte Aufwartung zu machen suchten.

An diesem Abend ließ Lady Gwenllian unruhig ihre Augen über die von fröhlich schwatzenden, dem reichlichen Speiseangebot frönenden Menschen erfüllte Halle schweifen. Kurz verweilte ihr Blick beim jungen König, der sichtlich gelangweilt von den Gastgebern flankiert und von seinen Wachen umgeben am Ende des Saales auf dem Ehrenpodest saß. Die Frauen seines Hofstaats hielten sich bescheiden an einem Ecktisch nicht weit von ihm auf, was dem Bankett einen gewissen konventionellen Anstrich gab. Doch auch bei den Lords mit ihren Gefolgen, die als kleine Grüppchen über die Great Hall verstreut saßen, entdeckte sie Sir Thomas Lovent nicht.

„Sir Thomas versprach mir doch, hier zu sein!“, klagte Gwen ihrer Begleiterin und nahm einen Schluck Bier aus ihrem Becher.

„Nur Geduld, liebste Freundin, eine bestimmte Zeit gab er ja nicht an.“ Damit spießte Brida genüsslich einen Fleischbrocken mit ihrem Messer auf, streifte ihn auf ihrem Zinnteller ab und löffelte Sauce darüber.

Hört es denn nie auf, dass man mir Geduld predigt? dachte Gwen im Stillen und runzelte entnervt die Stirn.

Denn ihre Langmut wurde seit Jahren auf eine harte Probe gestellt, wusste sie doch nichts Genaues über Ralphs Ende. An diesem Abend aber war eine Ruhelosigkeit über sie gekommen, die sie nicht von sich kannte. Die Ungeduld, endlich Gewissheit über das Schicksal ihres Liebsten erlangen zu können, versetzte sie in Aufruhr. Sie wollte endlich alles wissen, und bräche ihr auch das Herz entzwei.

Vor allem quälte es sie, ihn damals von sich gewiesen zu haben. Bilde dir nur keine Schwachheiten ein, tönte eine strenge Stimme in ihrem Inneren. Es ist deine Schuld, dass er zu Tode kam. Da verging der Appetit ihr so plötzlich, dass sie ihren Teller voller Abscheu von sich schob.

Warum widerstrebt es Ralphs Freund, mir Bericht zu erstatten? fragte sie sich verzagt. Das scheint mir kein gutes Omen. Sicher hat er mir Fürchterliches zu erzählen. Er kann mir ja kaum in die Augen sehen.

Und es schien ihr wenig zu Sir Thomas Lovents sonstigem Verhalten zu passen, dass er ihr das purpurne Band vor versammeltem Hofstaat übergeben hatte. Mir scheint, er konnte kaum erwarten, es loszuwerden, dachte sie und erschauerte. Ich bin sicher, er verheimlicht mir etwas Schlimmes.

„Sieh einer an! Was habe ich gesagt? Da ist er ja!“ Brida nahm noch einen Bissen und deutete zum Eingang hin. „Was auch Zeit wurde.“

Und da stand er, hochgewachsen, breitschultrig und gutaussehend mit seinem goldblonden Haar und den freundlichen grünen Augen. Kurz neigte er grüßend den Kopf in Gwens Richtung, bevor er sich dem Gefolge des Lords zugesellte, der während des Turniers sein Schirmherr war. Und hinter Sir Thomas trat der eigenartige Mann in den Saal, den sie zuvor schon bei ihm gesehen hatte. Auch jetzt beschattete eine Kapuze seine Gesichtszüge, was ihr zu denken gab. Denn es wirkte, als hüte er sich davor, erkannt zu werden.

Etwas schien ihr mit ihm nicht zu stimmen. Zum einen kam er ihr für einen der Knappen, die meist im Jünglingsalter Dienst taten, zu alt vor. Und zum anderen erinnerte er sie vage an jemanden, den sie aber partout nicht hätte benennen können. Das wunderte sie besonders, ermangelte es ihr doch seit Jahren an Gelegenheiten, neue Bekanntschaften zu schließen.

Ohne sich weiter zu besinnen, erhob sie sich. „Lasst uns gehen“, stieß sie aus. „Ich will es hinter mich bringen.“

„Nein, wartet noch!“, wandte Brida ein. „Besser gebt Ihr ihm Zeit, sich erst einmal seinen Leuten zuzugesellen. Ihr könnt ihn noch früh genug mit Euren Fragen bestürmen.“

In diesem Augenblick fiel Gwenllians Blick auf einen anderen Mann, den sie auf Anhieb wiedererkannte. Da erstarrte sie in ihrer Bewegung, als sei sie zu Stein geworden.

Gott im Himmel, steh mir bei. Es ist Stephen le Gros.

Dieser saß quer gegenüber bei einigen landlosen Rittern, welche ihm seit Jahren auf Kinnerton zu Diensten waren. Und wie die junge Frau es von früher her kannte, starrte er sie auf eine anzügliche Art an, die ihr zuwider war. Denn er taxierte sie so unverhohlen, als ziehe er sie mit seinen Blicken aus, sodass sie sich wie nackt vorkam.

Zwar hatte Gwen erwarten müssen, ihm früher oder später über den Weg zu laufen, doch hier und jetzt erwischte er sie auf falschem Fuße. Seinem lüsternen Blick eines kaltblütigen Jägers hatte sie kaum etwas entgegenzusetzen und fühlte sich preisgegeben wie ein gehetztes Reh.

Oh, wie ich ihn hasse! dachte sie, indem sie wider Willen errötete. Dies war der böse Mann, der ihr Leben zerstört hatte und ihr nachstellte, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Und als sie sich endlich zusammennahm und hoheitsvoll zurückstarrte, kräuselten seine Lippen sich zu einem widerlichen Grinsen. Dann hob er seinen Bierhumpen und prostete ihr zu.

Fast hätte sie sich voller Abscheu abgewendet, gönnte ihm aber die Befriedigung nicht, sie eingeschüchtert zu haben. Dafür schritt sie ohne weiteres Zögern auf Tom zu, was wenig damenhaft und recht unüberlegt wirkte, doch war sie mit ihrer Geduld am Ende. Durch ihre vermeintliche Schuld an Ralphs Tod hatte sie vor Jahren ihren Seelenfrieden verloren, und sie hoffte ihn wiederzufinden, wenn hinter all die quälenden Unklarheiten ein Punkt gesetzt werden konnte.

„Guten Abend, Sir Thomas.“

Der Ritter erhob sich und neigte den Kopf in angedeutetem Handkuss über ihre Hand, die sie ihm hinhielt, wie es Sitte war.

„Mylady“, murmelte er, ohne sie anzusehen. „Lasst uns nach dort hinübergehen, wo es nicht ganz so laut sein dürfte. Sicher seid Ihr damit einverstanden, dass wir unter uns bleiben.“

Autor

Melissa Oliver
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