Loderndes Verlangen nach dem verrufenen Earl

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Die hübsche Lady Harriet Fitzroy führt ein Leben als oft übersehenes Mauerblümchen. Ihr einziger Trost ist die tiefe Freundschaft zu Jasper, dem attraktiven Earl of Beaufort, der sie treu unterstützt. Dabei ist er selbst in einer schwierigen Lage: Er muss ein kleines Mädchen aufziehen, die Tochter einer Kurtisane! In Adelskreisen kochen die Gerüchte um Jaspers skandalumwitterte Vergangenheit über, und auch Harriet gerät in Verruf. Denn gegen alle guten Sitten entsteht in vertrauten Stunden ein unbezwingbares, loderndes Verlangen zwischen Harriet und dem Earl, das gänzlich unerfüllbar scheint …


  • Erscheinungstag 10.12.2024
  • Bandnummer 416
  • ISBN / Artikelnummer 0814240416
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

PROLOG

26. April 1813

Sehr verehrte Lords, Ladys und Gentlemen des ton!

Nun, da eine weitere Londoner Saison ihren Anfang nimmt, wird es Zeit, sich gut zu merken, was man hinter vorgehaltener Hand in den Ballsälen tuschelt und was dort an Gerüchten wabert und an niederträchtigem Gerede im Umlauf ist, denn auch diesmal küren wir wieder unseren Schandfleck des Jahres.

Reichen Sie also Ihre Wahlvorschläge vor dem letzten großen Empfang der Saison bei der Times in der Fleet Street in London ein.

Den Namen der Gewinnerin oder des Gewinners dieser schändlichsten aller Auszeichnungen des ton geben wir dann wie gewohnt am Morgen nach dem abschließenden Ball bekannt.

Gastgeber des besagten Ereignisses sind dieses Jahr der Duke und die Duchess of Avondale. Pikanterweise war es ihr Sohn, Lord Frederick Fitzroy, der unseren Ehrenpreis im vergangenen Jahr gewann, nachdem er mit Lady Dorothea Claremont, der ältesten Tochter des Duke und der Duchess of Warminster, ehedem Erzrivalen seiner Eltern, nach Gretna Green durchgebrannt war. Und zwar während Lady Dorotheas Verlobungsball – Verlobung mit einem anderen Mann, versteht sich!

Ob die laufende Saison diesen Eklat zu übertreffen vermag? Wir hoffen es jedenfalls!

Bei allen Skandalen stets die Ihren,

die Redaktion Gesellschaftsnachrichten der Times

1. KAPITEL

Berkeley Square,

Mai 1813

„Es ist so befriedigend, etwas für andere zu tun, findet ihr nicht?“

Lady Harriet Fitzroys Mutter, die Duchess of Avondale, hielt ihre Strickarbeit in die Höhe, als handele sich um einen Gegenstand von bewunderungswürdiger Schönheit und nicht um ein löchriges, unförmiges Desaster. „Was für eine fabelhafte Idee! Ich bin wirklich froh, dass Dr. Cribbs den Vorschlag gemacht hat. Es ist der perfekte Zeitvertreib, um unsere Gedanken vom Ball der Königin morgen Abend abzulenken.“

Einem Ball, vor dem Harriet sich insgeheim fürchtete, weil sie nicht mehr tanzen konnte, doch das behielt sie für sich. Während sich die anderen Debütantinnen von jungen Gentlemen über das Parkett wirbeln ließen, würde sie am Rande sitzen und so tun, als mache es ihr absolut nichts aus. Und alles nur wegen eines verwegenen Galopps über die Felder, über die sie schon ihr ganzes Leben lang geritten war.

„Drei Mädchen auf einmal in die Gesellschaft einzuführen ist wahrhaft nervenaufreibend.“ Ihre Mutter versuchte, sich den Anschein von Erschöpfung zu geben, doch bereits einen Moment später strahlte sie vor Vergnügen über die verlockende Aussicht. Es gab nichts, was sie mehr genoss als die turbulente Londoner Saison, die Harriets wegen zweimal hatte ausfallen müssen. Doch dieses Jahr würde der komplette Fitzroy-Clan sie begleiten und ihren Anspruch auf den Rang der Nestorin der glanzvollen Elite untermauern. Niemand wusste sich so einmalig in Szene zu setzen wie die Duchess of Avondale, und niemand veranstaltete so unvergessliche Bälle wie sie. Harriets Mutter funkelte, wo immer sie auftrat, und gab ihren Gästen das Gefühl, dass sie das Glück hatten, an einem einzigartigen Amüsement teilzunehmen. „Und nun, da die Vorbereitungen getroffen sind, ist ein Nachmittag mit ein paar Freundinnen genau das, was mir die nötige Erholung für morgen gewährt.“

Ein paar Freundinnen! Zwischen dem, was ihre Mutter und Harriet unter ein paar verstanden, lagen Welten. „Nur du kannst Sockenstricken in ein gesellschaftliches Ereignis verwandeln, Mama.“

Nichts brachte die Damen des ton so wirkungsvoll zusammen wie ein guter Zweck, und wenn es darum ging, dem Ruf zu den Waffen zu folgen, marschierte ihre Mutter begeistert voran. Überall im Salon standen Körbe mit Wolle, die die teuren Kurzwarenläden in der Bond Street gerade erst geliefert hatten, und auf dem Büfett warteten fast doppelt so viele Gedecke wie sonst auf die Gäste, während das bedauernswerte Küchenpersonal in dem Bemühen, den Nachmittagstee für, wie es aussah, eine komplette Armee vorzubereiten, herumrannte wie eine Schar kopfloser Hühner. Harriet kam zu dem Schluss, dass zwanzig Gäste eine eher konservative Schätzung waren, und sah ihre Mutter fragend an. „Wäre es nicht einfacher gewesen, das Geld, das du für diese Zusammenkunft ausgegeben hast, an das Hospital zu spenden?“

Zusammen mit ein paar altruistischen Kollegen hatte Dr. Cribbs, der berühmte Arzt aus der Harley Street, der bei Harriets Heilung Wunder bewirkt hatte, vor ein paar Jahren ein Armenspital in Covent Garden gegründet. Das Krankenhaus bot den zahllosen bedürftigen Kindern der Hauptstadt medizinische Versorgung. Der Zuspruch war groß, und Harriet engagierte sich, seit Dr. Cribbs sie nach ihrer Rückkehr in die Stadt vor einem Monat gebeten hatte, bestimmte Patienten auf ihrem Heilungsweg zu ermutigen, wie er es bei ihr getan hatte. Da sie für immer in der Schuld des gütigen Arztes stand, hatte sie seiner Bitte entsprochen, und inzwischen war das Spital praktisch ihr zweites Zuhause. Zum Teil, weil die Wohltätigkeitsarbeit ihrem Leben wieder Sinn gab, aber auch, weil sie aus erster Hand wusste, wie verheerend sich ein schwerer Unfall auf Körper und Geist eines Betroffenen auswirken konnte.

„Sicher wäre es einfacher gewesen, das Geld zu spenden – aber wo bliebe dabei der Spaß?“ Und das musste Harriet ihren Eltern lassen, sie hatten bereits eine riesige Summe für die Klinik gespendet, freilich ohne irgendein Aufhebens darum zu machen. Ihr Vater pflegte seine Philanthropie nicht auszustellen und sie außerhalb der eigenen vier Wände nicht einmal zu erwähnen.

„Außerdem schlagen wir auf die Art zwei Fliegen mit einer Klappe, Liebes.“ Ihre Mutter nahm Harriet ihre Frage nicht übel. „Denn so haben wir die beste Gelegenheit, uns unauffällig auf den neuesten Stand zu bringen, was den aktuellen Klatsch und Tratsch angeht, und gleichzeitig etwas für die Bedürftigen zu tun.“ Wieder betrachtete sie ihre Strickarbeit und schien von ihrer eigenen Gerissenheit wie auch ihrer Nächstenliebe über die Maßen angetan. „Schließlich geht es nicht an, dass ich morgen ahnungslos im Palast auftauche, wenn alle Welt von mir erwartet, dass ich immer über alles informiert bin.“

Harriet verdrehte die Augen gen Himmel, dann warf sie ihrer Zwillingsschwester Annie und ihrer Schwägerin Dorothea einen Blick zu. Die beiden kämpften mit Nadeln und Garn, und es kostete sie sichtlich Mühe, die Kunst des Sockenstrickens zu meistern. Dagegen bewegten sich die Finger von Harriets Cousine Kitty mit bewundernswerter Schnelligkeit. Kitty war die Expertin, die ihnen allen in den vergangenen vier Tagen das Stricken beigebracht hatte, damit sie für die spontan einberufene Teegesellschaft der Duchess gewappnet waren.

„Gott bewahre, dass du deinen Titel als Orakel allen Skandals verlierst.“ Harriet streckte das versehrte Bein aus und bewegte den Fuß. Es schwächte die Muskulatur, wenn sie das Bein zu lange schonte, und bestätigte nur Dr. Cribbs’ Lieblingsmantra, demzufolge man schwache Gliedmaßen fordern musste, damit sie nicht verkümmerten. Darum hatte sie das rechte Bein im vergangenen Jahr so hart trainiert, dass es nun wieder halb so belastbar war wie vor dem Unfall – wobei sie akzeptieren musste, dass sich das verflixte unansehnliche Hinken mit keinem noch so umfangreichen Übungsprogramm beseitigen ließ. Aber so war es nun einmal, und sie würde nicht länger darüber nachdenken. Humpeln war besser als gar nicht gehen zu können oder schlimmer noch, nicht mehr am Leben zu sein, wie es bei ihr fast der Fall gewesen wäre. Allein deshalb hatte sie allen Grund zur Dankbarkeit.

Ihre Mutter schien die Bemerkung als Kompliment aufzufassen und grinste unbußfertig. „Eine Frau ist nichts ohne ihren Ruf.“

„Euer Gnaden.“ Der Butler steckte den Kopf durch den Türspalt. „Die Countess of Boreham ist vorgefahren.“

Annie verzog das Gesicht und schoss ihrer Mutter einen finsteren Blick zu. „Du hast Lady Boreham eingeladen? Das kann nicht dein Ernst sein!“ Aus Solidarität machte auch Harriet eine finstere Miene. „Zumal nachdem ihr grässlicher Sohn meiner Schwester gestern einen Blumenstrauß geschickt hat! Als würde Harriet auch nur in Erwägung ziehen, diesen abstoßenden Menschen als Verehrer zu akzeptieren.“ Die Zwillinge erschauderten übertrieben.

„So gut ich euch verstehe, aber ich musste seine Mutter einladen, meine Lieben. Sie hält sich für eine meiner ältesten Freundinnen.“ Die Duchess zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Mama, sie ist so dumm wie ein Brot und versucht ständig, eine von uns dazu zu überreden, ihren schrecklichen Sohn zu heiraten!“ Annie war aufgebracht, und Harriet konnte es ihr nicht verübeln. Die Borehams waren schlimmer als die Todesstrafe, aber wenigstens hatte Lord Boreham begriffen, dass er nicht in Annies Liga spielte. Bei ihr jedoch glaubte der eingebildete Laffe, dass sie sich, weil kein anderer Gentleman sie wegen ihres lahmen Beins wollte, mit ihm zufriedengeben würde. Die Vermessenheit des Mannes brachte Harriet zur Weißglut, obwohl sie in ihrem tiefsten Inneren befürchtete, dass er vielleicht recht hatte.

„Ich weiß, Annie, aber zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass sie Expertin im Handarbeiten ist. Deshalb konnte ich sie nicht ausschließen. Ihre Stickbilder sind erlesen, und ich wage zu behaupten, dass das Gleiche für ihre Socken gilt.“ Es war sinnlos, mit der Duchess über ihre verschrobene Logik zu streiten, denn sie folgte ihren eigenen Gesetzen. „Außerdem konnte ich uns die Anwesenheit ihres Sohns ersparen, indem ich schon in der Einladung schrieb, dass es eine Zusammenkunft ganz ohne Gentlemen wird.“ Die Duchess wedelte mit der Hand und schenkte ihnen ein selbstzufriedenes Lächeln, demzufolge sie ihr alle dankbar sein durften für diese Gnade. „Gern geschehen, Mädchen.“

„Was stimmt denn nicht mit ihrem Sohn?“ Kitty war auf dem Lande aufgewachsen und neu in der Stadt. Sie kannte praktisch noch niemanden in der Gesellschaft.

Was stimmt mit ihm wäre die passendere Frage.“ Dorothea senkte die Stimme für den Fall, dass sie außerhalb des Salons zu hören war. „Hinter seinem Rücken wird er Lord Boredom, also Lord Langweilig, genannt.“

„Deshalb lass dich auf einer Gesellschaft bloß nicht von ihm ansprechen“, setzte Annie mit einem für alle hörbaren Flüstern hinzu. „Sonst stirbst du vor Langeweile, ehe es dir gelingt, ihm zu entrinnen. Will sagen, wenn du nicht vorher in seiner Spucke ertrinkst.“ Harriets Zwillingsschwester tat so, als weiche sie den Spucketröpfchen des wenig inspirierenden Gentleman aus. „Er macht jetzt schon seit so vielen Jahren Jagd auf eine Braut, dass man es nicht mehr komisch finden kann. Aber er ist so von sich eingenommen, dass ihm gar nicht auffällt, weshalb er keine Frau findet. Wenn er dich ins Auge fasst, wird er dir auftischen, dass du glücklich sein kannst, ihn zu ergattern, und nichts unversucht lassen, dich für sich zu gewinnen. Was ihre Konversation angeht, ist seine Mutter aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er, aber wenigstens spuckt sie nicht.“

Aus der Eingangshalle war Lady Borehams Stimme zu hören, und Harriet stand auf. „Mein Stichwort zu gehen.“ Sie zuckte zusammen, als ihr rechtes Bein sich über die Bewegung beschwerte, ging jedoch darüber hinweg und zwang es, hinter dem linken in Tritt zu fallen. „Sosehr ich es schätzen würde, Lord Langweiligs romantische Ader mit seiner langweiligen Mutter zu erörtern – ich muss in einer halben Stunde in der Klinik sein. Dr. Cribbs hat einen neuen Patienten, und er will, dass ich mit ihm arbeite.“

„Sehr praktisch.“ Ihre Mutter war immer noch pikiert, dass Harriet dem Hospital den Vorzug vor ihrer Strickparty gab. „Aber wenn es sein muss, muss es natürlich sein.“

„Wie wahr.“ Keine zehn Pferde hätten Harriet halten können. Abgesehen von der geistlosen Lady Boreham würden auch ihre Nachbarn anwesend sein – die frömmelnde, stets missbilligend dreinblickende Duchess of Warminster und ihre lästige Tochter Lady Felicity Claremont.

Die Claremonts hatten immer auf die Fitzroys herabgeblickt, nun jedoch, da Harriets Bruder Freddie mit der ältesten Tochter des Duke und der Duchess of Warminster verheiratet war, mussten sie wenigstens so tun, als kämen sie gut miteinander aus. „Selbst wenn ich nicht gehen wollte, schulde ich es Dr. Cribbs, zu helfen, wo immer ich kann. Schließlich hat er mir das Leben gerettet.“ Dagegen konnte selbst ihre Mutter nichts einwenden.

Außerdem hatte Harriet nicht die geringste Lust, sich eine der bevormundenden Tiraden der sittsamen Felicity oder ihrer voreingenommenen Mutter anzuhören. Deren Ansicht nach verlangte es die Schicklichkeit, dass Harriet bei ihrer Hilfe für das gemeine Volk gebührenden Abstand einhielt und anrüchige Gegenden wie Covent Garden mied. Die Duchess of Warminster jedenfalls hätte ihren Töchtern niemals gestattet, ihren kostbaren Ruf und ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu riskieren, indem sie solch untergeordnete Aufgaben ausführten, selbst in Begleitung einer Anstandsdame. Und das, obwohl Dorothea Fitzroy, geborene Claremont, ihre eigene Reputation in Schutt und Asche gelegt hatte, als sie auf dem letzten Ball der vergangenen Saison einfach verschwunden und mit Harriets Bruder durchgebrannt war! Ein haarsträubender Fall von Doppelmoral, den die Duchess of Warminster nach Kräften ignorierte.

Als habe sie ihre Gedanken gelesen und wisse genau, weshalb Harriet sich weigerte, eine ohne Weiteres zu verlegende Verabredung zu verlegen, schoss ihre Zwillingsschwester ihr einen flehentlichen Blick zu. „Bitte, nimm mich mit!“ Theatralisch ließ sie sich auf die Knie fallen wie zum Gebet, rutschte vorwärts und krallte die Finger in Harriets Rocksäume. „Wir sind Schwestern! Zwillinge! Bitte, lass mich nicht hier zurück und zwing mich, mir eine weitere Predigt von Dorotheas Mutter anzuhören!“

„Nun, vielleicht …“

„Auf keinen Fall!“ Die Duchess musterte Annie finster. „Harriet hat eine Ausrede, egal wie fadenscheinig sie sein mag.“ Sie fixierte ihre Tochter einen Moment lang mit schmalen Augen, denn die Duchess of Avondale ließ sich nicht hinters Licht führen. „Du nicht. Und wenn du nicht aufhörst, dich zu beschweren, junge Dame, kannst du sicher sein, dass ich Lord Boredom wissen lasse, wie enttäuscht du warst, dass er dich nicht ebenfalls mit Blumen bedacht hat, und darauf bestehe, dass er sich als Entschädigung auf deiner Tanzkarte einschreibt.“

Harriet winkte fröhlich lachend zum Abschied und schlüpfte genau in dem Moment aus der Dienertür, da Lady Boreham den Salon betrat und die missbilligende Stimme der Duchess of Warminster aus der Eingangshalle zu hören war.

An der Ecke St. Martin’s Lane und Long Acre gab es einen Stau, und den erhobenen Stimmen und der Anzahl der stehenden Kutschen vor und hinter ihm nach zu urteilen, würde das auch noch eine geraume Zeit so bleiben. Jasper Winfield, Earl of Beaufort, nahm an, dass er schneller da sein würde, wenn er den kurzen Weg nach Covent Garden zu Fuß ging, anstatt in seiner Kutsche sitzen zu bleiben und noch mehr Zeit mit Warten zu vertrödeln. Nach zwei Tagen auf der Straße hatte er den Anblick der beengten Kutschenwände satt und erst recht das pausenlose Sitzen. Nicht zum ersten Mal bedauerte er, dass er den Vorhaltungen seiner Mutter über die Gefahren des Alleinreisens Gehör geschenkt und die verdammte Familienchaise genommen hatte, anstatt wie gewöhnlich zu reiten. Doch da es ihm wieder einmal nicht gelungen war, das Verhältnis zu seinem Vater zu verbessern, obwohl er es einen ganzen Monat lang versucht hatte, war er eingeknickt und hatte die viel langsamere Kutsche des Duke genommen, nur um seine Ruhe zu haben.

Ein ganzer verlorener Monat. Sein längster Besuch seit sieben Jahren und eine sinnlose Vergeudung von Zeit. Es spielte keine Rolle, dass der Besitz ohne seine immer umfangreichere finanzielle Unterstützung schon vor Jahren bankrott gewesen wäre. Sein kränkelnder, unverändert bissiger Vater würde ihm niemals verzeihen, dass er das altehrwürdige Adelsgeschlecht der Battlesbridges in Misskredit gebracht hatte. Wieso es schändlicher sein sollte, einen Herrenclub zu führen und Geld damit zu verdienen, als im Schuldgefängnis zu landen, leuchtete Jasper nicht ein, doch der Reprobates’ Club erregte, je erfolgreicher er wurde, umso mehr den Ärger des Duke. Eine Ironie angesichts der Tatsache, dass sein Vater ohne den Club wahrscheinlich nichts mehr zu essen, dafür aber ein sehr undichtes Dach über seinem alten Dickschädel gehabt hätte.

Doch obwohl Jasper sich ständig auf die Zunge gebissen und sich so diplomatisch verhalten hatte wie noch nie, war er in dem Gefühl abgereist, noch mehr in Misskredit geraten zu sein als zuvor. Die Kluft zwischen ihm und seinem Vater war in den zwei zusätzlichen Wochen, die seine Mutter ihn zu bleiben angefleht hatte, nur breiter geworden. Wobei er aufgrund seiner bitteren Erfahrungen ohnehin davon ausgegangen war, dass seine Bemühungen zwecklos sein würden.

Wie immer, hätte er auf seinen Verstand hören und früher nach Hause fahren sollen. Die Zurückweisung seiner zahlreichen Angebote, bei der Verwaltung des Besitzes zu helfen, hätte er sich jedenfalls ersparen können und ebenso die sattsam bekannte Schmährede, der zufolge Jaspers einzige Möglichkeit, das Land der Battlebridges in die Hände zu bekommen, darin bestand, es dem Duke aus den totenstarren Fingern zu reißen.

Jasper schüttelte den Kopf. Als brauche er Geld! Er schwamm darin, und das verdankte er seiner Gerissenheit, seinem geschäftlichen Spürsinn und einer Menge harter Arbeit. Doch für den Duke würde er immer ein nichtsnutziger Verschwender sein, der in Oxford gescheitert war und eine schändliche Spielhölle betrieb, in der er ungestraft sündigen konnte. Es spielte keine Rolle, dass The Reprobates’ ein solides, einwandfreies Unternehmen war, das Respekt verdiente und in dem er tagtäglich wenigstens acht Stunden konzentriert arbeitete, und dass sein undankbarer Vater, hätte Jasper die Universität nicht verlassen und das Geschäft gegründet, längst unter einer Brücke leben würde.

Ärgerlicher noch auf die hartnäckige Kurzsichtigkeit seines Vaters als auf die stehende Kutsche, schob Jasper das Fenster herunter, als ein mürrisch vor sich hin murmelnder Pastetenhändler vorbeikam. „Was ist passiert?“

„Das Fuhrwerk eines Bierbrauers hat Ladung verloren, und jetzt liegen überall zertrümmerte Fässer auf der Straße.“

Die Antwort bestätigte Jaspers schlimmste Befürchtungen. Wenn er nicht zu Fuß ging, saß er für wer weiß wie lange fest, also stieß er den Schlag auf und stieg aus.

„Sobald Sie wenden können“, wies er den Kutscher an, „bringen Sie mein Gepäck zu meinem Haus.“ Er selbst musste nach Covent Garden, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war im Club. Dann würde er sich umgehend auf den Heimweg zu seinem hübschen neuen Domizil am Russell Square machen und das heiße Bad nehmen, auf das er sich schon seit Stunden freute.

„Und sagen Sie meiner Haushälterin Bescheid, dass ich bald da bin. Ich gehe zu Fuß.“

Der Kutscher nickte erleichtert, ihn loszuwerden, und war schon einen Moment später darauf konzentriert, das Gefährt möglichst zügig aus dem Chaos herauszumanövrieren. Jasper konnte es dem Mann nicht verübeln. Nach seinem quälenden, schwierigen verlängerten Aufenthalt in seinem Elternhaus sehnte auch er sich nach der geordneten, friedlichen Atmosphäre seines Zuhauses.

Er sah der Kutsche hinterher und nahm sich einen Augenblick Zeit, um die Lage zu sondieren. Dann setzte er sich in Bewegung und erwog, einen Umweg zu nehmen, falls auch Fußgänger auf dem direkten Weg nicht durchkamen. Er war höchstens zehn Meter gegangen, als hinter ihm eine Frau seinen Namen rief. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um.

„Jasper?“ Er hatte das Wappen der Avondales nicht bemerkt, als er an der Kutsche vorbeigegangen war, und der Anblick der jüngeren Schwester seines besten Freundes, die ihn aus dem offenen Fenster anlächelte, traf ihn unvorbereitet. Eine größere Überraschung jedoch war, dass ihm das Lächeln, das er in all den Jahren nie bemerkt hatte, plötzlich den Atem verschlug.

2. KAPITEL

„Harriet? Lieber Himmel!“ Er hatte sie mehr als zwei Jahre nicht mehr gesehen. Seit dem Osterfest, kurz bevor der Unfall passiert war. „Was treibst du denn hier?“ Für gewöhnlich sah man Frauen von Stand in der schillernden Gegend um Covent Garden nur, wenn sie die abendlichen Theatervorstellungen besuchten, und dann auch nur in Begleitung eines Bataillons von Anstandsdamen und nicht zusammen mit einer einzelnen Zofe wie der, die pflichtbewusst neben ihr saß.

„Das Gleiche wollte ich dich fragen, doch da er nur einen Steinwurf entfernt liegt, nehme ich an, du bist auf dem Weg zu deinem skandalösen Herrenclub.“ Jasper konnte sich nicht erinnern, je eine ernst zu nehmende Unterhaltung mit Harriet geführt zu haben, und angesichts der Tatsache, dass sie ihn früher immer angeblinzelt hatte wie ein scheues Reh, waren ihre direkte Frage und ihr selbstbewusster, fester Blick eine Überraschung für ihn.

„Richtig geraten.“ Er stellte fest, dass es ihn zum offenen Fenster ihrer Kutsche zog. Und dass er auf einmal gefesselt war von ihrer auffälligen Veränderung und gerne noch blieb. „Ich muss einen ganzen Monat Buchhaltung nachholen. Aber was bringt dich in diese Gegend?“

„Ich leiste wohltätige Arbeit im Krankenhaus.“

„Dem Armenhospital in der King Street?“

„Genau diesem.“ Harriet strahlte, und das Lächeln verwandelte ihre Züge von hübsch in schön. Wie war das möglich? „Es liegt nur einen Steinwurf von den täglichen Ausschweifungen deines Etablissement entfernt, das ich allen Geboten der Schicklichkeit zufolge nicht interessant finden dürfte, es aber tue. Der Reprobates’ Club macht seinem schockierenden Namen alle Ehre.“

Das war in der Tat das Geheimnis seiner großen Popularität. Wo Brooks’ gediegen, White’s traditionsbewusst und Verworfenheit allein den Spielhöllen vorbehalten war, füllte Jaspers Club die Lücke dazwischen. The Reprobates’ war eher frech und frivol als verkommen; ein Ort, an dem man Spaß haben, dem Glücksspiel frönen und nicht wie sonst überall auf tadellose Umgangsformen achten musste. Im Reprobates’ konnten die reichen Gäste in genau der luxuriösen Umgebung, an die sie gewöhnt waren, ein wenig harmlosen Dampf ablassen.

„Dr. Cribbs ist ein Heiliger. Einer, der fromm zwischen uns Sündern lebt und uns alle mit seiner Güte beschämt.“ Jasper entschuldigte sich bei niemandem dafür, dass er den Club besaß, ebenso wenig wie für dessen unerhörten Ruf. Warum auch, wo das Etablissement ihn und so viele andere vor Armut bewahrt hatte?

In Harriets Zügen malte sich Zuneigung für den Arzt, als sie bestätigend nickte. „Dr. Cribbs ist ein Genie. Die Wunder, die er bei diesen Kindern bewirkt, sind atemberaubend.“

Und da sie gerade von Wundern sprach …

„Wie geht es dir … dieser Tage?“ Unwillkürlich flog sein Blick zu ihren Beinen, und er zuckte zusammen. Ob er überhaupt hätte fragen sollen? Von ihrem Bruder Freddie war er während der langen Genesungszeit, die sie auf dem Landsitz der Familie verbracht hatte, über ihre Fortschritte auf dem Laufenden gehalten worden, daher wusste er, dass Lady Harriet Fitzroy nicht mehr die war, als die er sie vorher gekannt hatte. Kaum eine Überraschung nach dem entsetzlichen Reitunfall, bei dem sie sich nicht nur das Handgelenk und zwei Rippen gebrochen, sondern auch ein lahmes Bein davongetragen hatte. Durch den Rippenbruch war ihre Lunge verletzt worden, sie hatte sich eine Infektion zugezogen und wochenlang in Lebensgefahr geschwebt. Zweimal waren ihr die Sterbesakramente gespendet worden, doch sie hatte überlebt. Es war in der Tat ein Wunder, dass sie überhaupt in dieser Kutsche saß. Aber da war sie, zurück in der Stadt, auf eigene Faust unterwegs, zu einer wohltätigen Arbeit sogar – keine geringe Leistung, wenn man die Anstrengungen in Betracht zog, die sie hatte auf sich nehmen müssen.

„Mir geht es sehr gut, danke der Nachfrage.“ Sie lächelte, ohne das Thema zu vertiefen, zögerte offenbar, selbst mit ihm, einem alten Freund der Familie, über ihren Kampf zu sprechen. „Es ist Ewigkeiten her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht wahr, Jasper?“ Ein Themenwechsel, der an Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig ließ, und er ging bereitwillig darauf ein. Seiner Überzeugung nach war Stolz alles, selbst wenn er vor dem Fall kam. Nicht nur wahrte Stolz das Gesicht. Er hielt einen auch unter allen Umständen am Laufen. Verlieh einem die Entschlossenheit, seine Ziele allen Widrigkeiten zum Trotz zu erreichen. Stolz stählte einem das Rückgrat. Zwang einen, aufzustehen und zu kämpfen, auch wenn man sich lieber in einer Ecke zusammengerollt und geschlagen gegeben hätte.

„Stimmt. Du hast recht. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, war es im Frühjahr vor zwei Jahren.“ In der Zeit hatte er im Grunde nichts anderes getan, als sein Leben so zu leben, wie es ihm gefiel, während sie mit Klauen und Zähnen darum gekämpft hatte, ihres zurückzubekommen. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er deswegen plötzlich ein schlechtes Gewissen hatte, doch es war so. Vielleicht weil er dazu neigte, sich schuldig zu fühlen. „Ich glaube, das letzte Mal sind wir uns auf Avondale Hall bei der Hausparty deiner Mutter begegnet. Sie hatte halb London eingeladen, wenn ich mich recht erinnere, und darunter die komplette Debütantinnenriege des Jahres 1811.“ Was war bloß los mit ihm? Die Saison 1811 wäre auch ihre gewesen, doch durch den Unfall ein paar Tage später hatten sich alle diesbezüglichen Pläne von einem Moment auf den anderen zerschlagen.

Sie hatte sich auf ihr Debüt gefreut, wie Jasper sich erinnerte, wenn auch verhaltener als ihre lebhafte Zwillingsschwester, die es kaum hatte erwarten können, die Gesellschaft im Sturm zu erobern. Auch in diesem Punkt waren sich die beiden Mädchen nicht ähnlich gewesen, genau wie im Charakter und im Aussehen. Neben Annie, die mit ihrem dunklen Haar und den perfekt proportionierten Zügen als die Hübschere galt, hatte Harriet stets ein wenig blass gewirkt. Bei Annie war von Anfang an klar gewesen, dass sie sich zu einer großen Schönheit entwickeln würde. Dies hatte selbst für Jasper, der die zwölfjährigen Zwillinge bei seinem ersten Besuch bei Freddies Familie kennengelernt hatte, zweifelsfrei festgestanden.

Wohingegen Harriet als achtzehnjährige Debütantin fast noch genauso ungelenk gewesen war wie mit zwölf, sich draußen wohler gefühlt hatte als in Innenräumen und am liebsten in scharfem Galopp über den Landsitz ihres Vaters geprescht war oder sich in den Bergen herumgetrieben hatte, die das Anwesen umgaben. Und glücklich gewesen war, wenn sie mit ihrem Bruder auf Zielscheiben schießen konnte, anstatt mit anderen jungen Damen über weibliche Themen reden zu müssen. Jasper erinnerte sie als ein schmales, hoch aufgeschossenes Mädchen mit unauffälligem dunkelblondem Haar; ein Mädchen, das sich erst noch entwickeln musste.

Ihrem Gesicht und dem Teil ihrer Figur nach zu urteilen, den er durch das Fenster erkennen konnte, war ihr das – mit der Hilfe von Mutter Natur – außerordentlich gut gelungen. Die jugendliche Eckigkeit hatte sich in entzückende weibliche Rundungen verwandelt. Ihr Mund, der immer ein wenig zu groß gewirkt hatte, war nun üppig und voll. Der ehedem scheue, verwunderte Augenausdruck verriet jetzt wache Intelligenz und ein Selbstvertrauen, das vorher nicht da gewesen war und Jasper angesichts ihrer Lage erstaunlich vorkam.

„Die jungen Damen waren ziemlich dreist bei ihrer Verfolgungsjagd auf geeignete Junggesellen, wie ich mich erinnere. Trotz ihres zarten Alters. Mir blieb oft fast der Mund offen stehen angesichts der unverschämten Kühnheit einiger von ihnen.“ Bei der Erinnerung lachte sie in sich hinein. „Und ihre Mütter waren kaum besser.“

„Im Gegenteil, schlimmer. Ohne jeden Zweifel. Die Anstrengungen, die ein paar der Matronen an jenem Wochenende unternahmen, um mich zu ihrem Schwiegersohn zu machen, waren schier unglaublich.“

Harriet warf den Kopf in den Nacken und lachte. Nicht das klimpernde leise Lachen, das er von wohlerzogenen jungen Damen gewöhnt war, sondern echtes, unbefangenes Gelächter. „Was hast du erwartet? Drei unverheiratete, vermögende Titelträger, die vier Tage lang unter demselben Dach mitten im Nirgendwo in der Falle saßen, dürften ein wahr gewordener Traum für sie gewesen sein. Ein Publikum, das nicht entkommen konnte.“

„Es war wie Gänsehüten.“

„Eindeutig.“ Die kurze Anwandlung von Mitgefühl löste sich in einem weiteren herzhaften Lachanfall auf. „Sie haben Freddie, dich und George Claremont nicht eine Minute in Ruhe gelassen.“ Harriet stützte die Arme auf den Fensterrahmen und grinste. Was ihre Augen höchst verführerisch funkeln ließ. „Ich fand das Ganze so erheiternd, dass ich sie womöglich ein ganz klein wenig ermuntert habe, noch aufdringlicher zu sein.“ Sie hielt Zeigefinger und Daumen einen Zoll weit auseinander. „Nun ja, vielleicht ein ganz klein wenig mehr.“

„Du hast sie tatsächlich ermutigt?“ Jasper machte einen nicht sehr überzeugenden Versuch, beleidigt auszusehen. „Ich wusste gar nicht, dass du so gemein sein kannst.“

Vielleicht weil Harriet, genau wie der Rest jener entschlossenen Debütantinnen, so jung gewirkt hatte zu der Zeit. Nicht der Beachtung wert. Unbedarfte Mädchen. Halbe Kinder noch, die ihm lästig waren, weil er wichtigere Dinge im Kopf hatte; Dinge wie Geld verdienen und ein Geschäft aufbauen, während er sich gleichzeitig, jedenfalls nach außen hin, wie einer der Schurken gab, nach denen sein Club benannt war.

„Ihr drei habt euch immer im Billardzimmer eingeschlossen, aus Furcht, in einer kompromittierenden Situation erwischt zu werden. Trotzdem hattet ihr einen schockierenden Ruf, und alle hielten euch für ausgemachte Wüstlinge. Dabei habt ihr gezittert wie Espenlaub und euch an eures Queues festgehalten, als wären es Waffen, weil ihr Angst haben musstet, ruiniert zu werden.“

„Bis sie uns im Billardzimmer entdeckten und es belagerten, deiner boshaften Schwester sei Dank, die ihnen den Schlüssel der Haushälterin gegeben hatte.“

Wieder musste sie lachen, und der Mann in ihm lauschte dem mitreißenden Klang, genoss, wie er seine Nervenendigungen streichelte. „Weil die Beichte angeblich gut für die Seele ist, sollte ich dir vermutlich gestehen, dass Annie nichts damit zu tun hatte.“

„Du warst es!“

„Was soll ich sagen? Lydia Rycart bot mir fünf Shilling für den Schlüssel.“

„Du hast mich und deinen eigenen Bruder verraten und verkauft für lumpige fünf Shilling?“ Jasper stellte fest, dass er diese, ihm bislang unbekannte spitzbübische Seite Harriets mochte. Unter ihrer Schüchternheit war sie immer da gewesen.

„Ich bin sehr dafür, das Leben bei den Rockaufschlägen zu packen, und es wäre dumm, nicht zuzugreifen, wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt.“

„Aber du hast diese Rockaufschläge für fünf armselige Shilling gepackt, Harriet, während ich dir zehn gezahlt hätte, um sie uns vom Leibe zu halten. Mich verfolgen immer noch Albträume von diesem Wochenende.“ Er erschauderte wirkungsvoll, freute sich, als Belustigung in ihren leuchtend blauen Augen zu tanzen begann. „Und natürlich Albträume von Debütantinnen im Allgemeinen.“

„Ich kann nicht behaupten, dass ich das nicht verstehe, denn die meisten haben nichts als Flausen im Kopf, und die übrigen treibt die Geldgier. Sie alle sind hinter den infrage kommenden Gentlemen her wie die Jäger hinter dem Fuchs. Und sie sind zu allem bereit, wenn es darum geht, eine Beute für sich zu beanspruchen.“

Der Vergleich war passend. „Deshalb meidet besagter Fuchs sie bis heute wie die Pest – außer er erhält eine persönliche Einladung der Duchess of Avondale, die seine Anwesenheit auf dem ersten Ball der Saison verlangt und keine seiner vielen Entschuldigungen gelten lässt, weil sie ihre Mädchen in die Gesellschaft einführt. Ihre Mädchen unterstrichen, und zwar jeder einzelne Buchstabe. Darum konnte ich nicht Nein sagen, obwohl ich es wollte. Kein glücklicher Junggeselle sollte an der Saison teilnehmen müssen. Jedenfalls solange er ein glücklicher Junggeselle bleiben will. Wenn ich am Ende in der Ehefalle lande, ist deine Mutter schuld, und es wird sie einen hohen Preis kosten.“

„Ich wette, du findest wie immer Mittel und Wege, der Ehefalle aus dem Weg zu gehen, Jasper. Allein schon dein schockierender Ruf sollte dich ausreichend schützen.“

„Weil er deinen Bruder letztes Jahr auch so gut geschützt hat?“

„Freddie hat sich regelrecht in die Ehefalle hineingestürzt, wie du sehr wohl weißt. Dorothea und er sind abstoßend glücklich.“ Sie verzog das Gesicht, als sei ihr dieses Glück ein Rätsel. „Schlimmer noch, meine Mutter ist seitdem umso entschlossener, den Rest ihrer Brut auch möglichst schnell zu verheiraten. Deshalb ist sie wie besessen, uns debütieren zu lassen, und kann sich nicht erklären, weshalb ich von der Idee bei Weitem nicht so begeistert bin wie sie.“

„Deine Mutter ist eine Romantikerin.“ Es war allgemein bekannt, dass die Duchess den Duke aus Liebe geheiratet hatte. „Eine Romantikerin, die den Heiratsmarkt durch die rosa Brille betrachtet.“

Harriet lachte spöttisch. „Meine Brillengläser sind Gott sei Dank farblos und klar, und ich rechne nicht damit, dass ich in den stickigen Ballsälen von Mayfair einen Seelenverwandten finde. Aber weil Annie sich so auf ihre erste Saison gefreut hat, versuche ich, so zu tun, als freue auch ich mich – ihretwegen. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich ihr die erste Saison verdorben habe.“

„Wie ist es, die Erfahrung nun ein zweites Mal zu machen?“ Jasper hatte das unbestimmte Gefühl, dass es besser war, den Unfall direkt anzusprechen, anstatt darum herumzureden, doch weil Harriet entschlossen schien, das Thema zu vermeiden, tat er sich schwer, die richtigen, taktvollen Worte zu finden.

„Viel besser als beim ersten Mal. Schlimm ist nur, dass meine Mutter sich vorgenommen hat, dass alles noch großartiger und eindrucksvoller sein soll als geplant.“

„Hört sich anstrengend an.“

Harriet wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Es sah witzig aus, und ihm gefiel, dass sie sich nicht über Gebühr ernst nahm. „Ich bin ziemlich erschöpft, aber meine Mutter ist in ihrem Element.“

„So, wie ich deine Mutter kenne, genießt sie jede Sekunde.“ Die Duchess of Avondale war eine gefeierte Gastgeberin und als Gast hochbegehrt. Sie schäumte über vor Lebhaftigkeit, war charmant und unterhaltsam. Jasper konnte sich gut vorstellen, wie sie hinter den Kulissen ihre Pläne entwarf und Ränke schmiedete, schließlich hatte er sie beim ersten Mal aus nächster Nähe dabei erlebt. Alles würde genau so sein, wie sie es wollte. Jeder würde dazu beitragen. Und ausnahmslos alle würden anwesend sein müssen, als Zeugen ihres Triumphs – so wie auch er angefordert worden war mit der ausdrücklichen Anweisung, schamlos mit allen dreien ihrer Mädchen zu flirten und sich in ihre Tanzkarten einzutragen, damit die anderen jungen Männer eifersüchtig wurden. All das war Teil ihres sorgfältig ausgeklügelten Gesamtkonzepts, das sicherstellen sollte, dass die Fitzroy-Mädchen die unbestrittenen Leitsterne der Saison sein würden, auch wenn sie um einiges älter waren, als die Tradition es vorsah.

Harriet schüttelte entnervt den Kopf. „Seit unserer Rückkehr nach London vor ein paar Wochen leben wir in einem nicht enden wollenden Mahlstrom von Wahnsinn und organisiertem Chaos. Es war eine Erleichterung, dass ich mich für heute Nachmittag entschuldigen konnte – wodurch ich allerdings in ein noch größeres Chaos geraten bin.“ Stirnrunzelnd zeigte sie auf den Stau vor ihrer Kutsche, wo die Gemüter sich hörbar erhitzt hatten. „Ich habe überlegt, ob es schneller geht, wenn ich zu Fuß zum Krankenhaus gehe.“

Er hätte sie gerne gefragt, ob sie es schaffte, einen Weg von fünf Minuten zu bewältigen, tat es aber nicht, um ihren Stolz nicht zu verletzen. Es war anzunehmen, dass sie das Thema nicht angeschnitten hätte, wenn sie nicht dazu in der Lage gewesen wäre. „Da ich meine Kutsche gegen Schusters Rappen eingetauscht habe, wäre es mir ein Vergnügen, dich zu begleiten, zumal wir denselben Weg haben. Das heißt, sofern du nicht fürchtest, deinem Ruf zu schaden, wenn du dich mit einem skandalösen Schurken wie mir sehen lässt.“

Sie tat die Bemerkung mit einem Lachen ab und gestattete ihm, ihr aus der Kutsche zu helfen. Da es ihm angesichts ihrer Verletzung angemessen vorkam, bot er ihr den Arm und gab vor, nicht zu bemerken, wie schwer sie sich darauf stützte, während ihre besorgte Zofe ihnen in kurzem Abstand folgte. Wie es aussah, waren die ersten Schritte schwierig für sie, das Humpeln auffälliger, als er erwartet hatte, doch sie ging darüber hinweg, indem sie lebhaft über ihr Debüt plauderte. Ihm blutete das Herz wegen allem, was sie verloren hatte, und gleichzeitig war es stolzgeschwellt angesichts ihrer Widerstandskraft und Hartnäckigkeit. Die begeisterte Sportlerin, die sie einmal gewesen war, mochte es nicht mehr geben, aber er konnte weder Bitterkeit noch Selbstmitleid bei ihr entdecken.

„Wenn ich dann nie wieder zur Modistin muss, soll es mir recht sein.“ Ihr Gang wurde sicherer, und der Druck ihrer Hand in seiner Ellbogenbeuge ließ nach. Die Anspannung in ihren Zügen war verschwunden, nachdem ihre Muskulatur sich mit der Bewegung angefreundet hatte.

„Man kann nie wissen, ob du nicht doch Gefallen an der Saison findest, wenn sie einmal angefangen hat.“

Sie blinzelte ihn an, als sei er verrückt geworden. „Es ist schwer, Begeisterung zu verspüren, wenn ich meinen Platz unter den Mauerblümchen einnehme.“ In ihren Zügen war Wehmut zu lesen, wenn nicht gar Resignation, und das störte ihn.

Er blieb stehen und tat, als sei er entrüstet über ihre Wortwahl. „Du bist kein Mauerblümchen, Harriet.“ Allein die Vorstellung war ungeheuerlich. „Deine Tanzkarte wird so voll sein, dass mein Name wahrscheinlich keinen Platz mehr darauf findet. Und nur damit du es weißt, ich poche auf unsere lange Bekanntschaft, wenn ich darauf beharre, dass du mir schon jetzt einen Tanz reservierst. Und zwar den ersten Walzer.“ Eine dreiste Forderung, und sie kam ihm über die Lippen, ehe er sie zurückhalten konnte.

„Das ist sehr anständig von dir, selbst wenn du es aus Pflichtgefühl tust, aber ich fürchte, ich werde in aller Form ablehnen müssen.“

„Pflichtgefühl hat nichts damit zu tun.“ Das war die Wahrheit, obwohl er selbst nicht wusste, warum. „Es wäre mir eine Ehre, wenn du mit mir tanzen würdest.“ Eine weitere Wahrheit, von der er kaum glauben konnte, dass er sie geäußert hatte, und so machte er einen Scherz daraus für den Fall, dass sie es merkte. „Die Überlegung, dass dann all deine Bewunderer gelb würden vor Neid, hatte nur einen verschwindend geringen Einfluss auf meine Bitte.“ Diesmal war es an ihm, Zeigefinger und Daumen einen Zoll breit auseinanderzuhalten. „Wie jedermann weiß, schnappt Jasper Winfield sich perfekte Partnerinnen, wo er geht und steht, und bringt seine Rivalen damit auf die Palme.“ 

Diesmal erreichte ihr Lächeln ihre Augen nicht. „Und dennoch muss ich in aller Form ablehnen.“

Die Enttäuschung ereilte ihn mit Macht. „Weil du doch um deinen Ruf fürchtest oder weil du den Walzer schon jemand anderem versprochen hast?“ Wie aus dem Nichts flammte Eifersucht in ihm auf, doch mit einem verschwörerischen Zwinkern schaffte er es, davon abzulenken.

„Weil ich nicht kann, Jasper.“

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