Love & Hope Edition Band 4

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

3 ROMANE von JILL LYNN

KEINEN TAG MEHR OHNE DICH

Cate trifft eine längst fällige Entscheidung: Ihre dreijährige Tochter Ruby soll ihren Vater Luc kennenlernen. Dem attraktiven Rancher zu vergeben, fällt Cate leicht – und ihn erneut zu lieben auch! Doch da passiert etwas, das Cates neu gewonnenes Vertrauen in Luc erschüttert …

VERTRAU MIR, LIEBLING!

Gage hat jede Hoffnung auf Liebe und Familie aufgegeben – doch plötzlich soll er Vater sein! Als er sich zusammen mit der wunderschönen Nanny Emma um Baby Hudson kümmert, keimt eine starke Sehnsucht in ihm auf. Doch dann erfährt er etwas über Emma, das für ihn eine Katastrophe bedeutet …

MEINE HOFFNUNG TRÄGT MICH

Ohne Erklärung hat er sie verlassen. Jetzt ist er zurück: Jace Hawke, der Rodeoreiter, der Mackenzie heute wie damals ins Gefühlschaos stürzt. Mackenzie kann ihren Groll nicht ignorieren – aber noch weniger die starke Anziehungskraft! Doch wenn der Sommer vorüber ist, wird Jace wieder weggehen …


  • Erscheinungstag 18.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 8120250004
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Jill Lynn

1. KAPITEL

Mit energischen Schritten erklomm Lucas Wilder die Stufen zur Lodge. Es war Ende Juli, und der Sommerwind strich heiß und trocken über seine sonnenverbrannten Arme.

Die knappe Textnachricht seiner Schwester, dass jemand in der Lodge auf ihn wartete, war nicht wirklich hilfreich gewesen. Aber da er sie auf dem Handy nicht erreichte, konnte er leider nicht nachfragen. Handelte es sich um einen Angestellten? Wahrscheinlich, denn die Gäste der vergangenen Woche waren bereits abgereist und die neuen würden erst morgen eintrudeln.

Luc betrat die gemütliche Lobby der Lodge, in der die Gäste der Ranch sich nach einem Tag voller Aktivitäten entspannen konnten, und spähte suchend in den dämmrigen Raum, um herauszufinden, wer nach seiner Anwesenheit verlangt hatte.

„Lucas?“

Die weibliche Stimme traf ihn wie ein Tritt in die Kniekehlen. Auf Beinen, die sich nur mühsam davon überzeugen ließen, nicht zu zittern wie die eines neugeborenen Kälbchens, drehte er sich zu seiner Besucherin um.

Catherine Malory saß in einem Klubsessel neben dem Fenster. Sonnenlicht fiel über ihre Schulter und brachte ihr dickes schokoladenbraunes Haar zum Glänzen. Sie sah einen Hauch älter aus als bei ihrer letzten Begegnung und wirkte besorgt, doch die zarten Linien um ihre Augen und Lippen unterstrichen ihre Schönheit nur noch.

Sofort flammte die alte Anziehungskraft wieder auf. Cates Anblick war wie Sauerstoff für eine Glut, von der Luc sicher gewesen war, sie längst erstickt zu haben.

Was machte sie hier? Es war Jahre her, seit er Denver und ihre Beziehung hinter sich gelassen hatte, und doch war es ihm nie ganz gelungen, Cate aus seinen Gedanken zu verbannen. Aber er kümmerte sich jede Woche um rund vierzig Gäste und eine ganze Reihe von Angestellten, da sollte er ja wohl ein einziges Gespräch mit der Frau, die er einst geliebt hatte, verkraften.

„Vier Jahre.“ Seine Stimme brach, die Tonlage bewegte sich irgendwo zwischen verletztem Teenager und verwundetem Tier. Oh, Mann! Bislang klappte das mit dem Verkraften ja vorzüglich.

Zwischen Cates schmalen Augenbrauen bildete sich eine Furche. „Ich weiß, wie lange es her ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Luc. Vier Jahre und vier Monate.“ Sie hatte schon immer Wert auf Präzision gelegt.

Er starrte sie einfach nur an. Erst nach wer weiß wie langer Zeit gegenseitiger Musterung fand er seine Sprache wieder. „Was willst du hier?“

„Ich …“ Sie verkrampfte die Hände in ihrem Schoß. „Ich muss etwas mit dir besprechen.“

Ah. Das fühlte sich nach sicherem Boden an. Offenbar brauchte sie irgendwas. Hilfe könnte er ihr bieten. Liebe? Nein, Ma’am. Das hatten sie schon mal probiert. Zugegeben, damals war er noch etwas unreif gewesen, aber er hatte sie geliebt. Nur dass sie ihm das nicht geglaubt hatte …

„Was brauchst du?“ Selbst nach all dieser Zeit und der Art, wie sie sich getrennt hatten, würde er sie nicht abweisen. Doch nachdem sie gesagt hatte, was sie brauchte, würde sie hoffentlich schnell wieder gehen. Luc weigerte sich entschieden, noch einmal in eine solche emotionale Achterbahn einzusteigen. Seit Cate hatte er kaum mehr gedatet. Es war einfacher, sich auf den Job zu konzentrieren. Er führte die Gästeranch zusammen mit seinen Schwestern und hatte ein gutes Leben. Er kam bestens allein zurecht. Die Arbeit mochte ein einsamer Begleiter sein, aber sie ließ ihn nicht so zerschmettert zurück, wie Cate es getan hatte.

„Du solltest dich besser hinsetzen.“ Sie klang niedergeschlagen.

„So schlimm also?“ Sie verströmte Traurigkeit, vielleicht sogar ein wenig Angst, und plötzlich raste sein Puls vor Neugier. „Komm mit“, forderte er sie auf.

Sie erhob sich, und er führte sie einen Flur entlang zu seinem Büro, wo sie sich ungestörter unterhalten konnten als in der Lobby, durch die jederzeit einer der Angestellten kommen konnte.

Cate folgte ihm mit zögernden Schritten, als ob er sie zu ihrer eigenen Hinrichtung führte, statt in ein ruhiges, gemütliches Arbeitszimmer. Luc bedeutete ihr, sich auf das dunkle Sofa in der Ecke zu setzen.

Sie ließ sich in die Polster sinken. Ihre Augen waren glasig, als stünde sie unter Schock. Da er keine körperliche Nähe riskieren wollte, unterdrückte Luc den Impuls, neben ihr Platz zu nehmen, und lehnte sich stattdessen rücklings gegen seinen Schreibtisch.

In ihrer marineblauen Bluse, den weißen Caprihosen und hellbraunen Sandalen sah sie gut aus – wunderschön sogar, was er aber auf keinen Fall zugeben würde –, doch irgendwas stimmte definitiv nicht. Luc war beinahe sicher, dass ihre kastanienbraunen Augen feucht schimmerten.

Ihr Schweigen machte ihn fast wahnsinnig. „Raus damit, was immer es ist!“ Wie schlimm konnte es sein? Seine Gedanken überschlugen sich vor möglichen Antworten. Ihre Eltern waren immer ziemlich streng mit ihr gewesen. Könnte es etwas mit ihnen sein? Aber was hätte das mit ihm zu tun?

Noch einmal holte sie tief und angespannt Luft. „Meine Tochter muss operiert werden.“ Kurz presste sie eine Hand vor den Mund, als wollte sie ihren Redefluss eindämmen. „So wollte ich das eigentlich nicht zu Sprache bringen“, fügte sie dann hinzu.

„Du … hast eine Tochter?“ Diese Information schmerzte wie eine Stichwunde. Natürlich war Luc davon ausgegangen, dass Cate nach ihm andere Beziehungen hatte, auch wenn ihm selbst dergleichen nie gelungen war. Dennoch fühlte es sich für ihn, selbst nach all der Zeit, immer noch so an, als ob sie zu ihm gehörte.

Doch das tat sie nicht. Unwillkürlich schaute er auf ihre linke Hand, doch sie trug keinen Ehering.

Luc atmete tief durch. Ihre Vergangenheit, die Entscheidungen, die sie seit damals getroffen hatte, ging ihn nichts an. Sie hatte eine kranke Tochter. Das war die Tatsache, mit der er sich jetzt auseinandersetzen würde. Alles andere konnte warten, bis sie wieder weg war.

„Brauchst du Geld?“ Wo war der Vater? Warum wandte sie sich nicht an ihn, um Unterstützung zu finden?

„Nein. Ich brauche – dich.“

Offenbar entging ihm hier irgendwas Entscheidendes. Cate hatte ihn schon sehr lange nicht mehr gebraucht. Das alles ergab keinen Sinn.

„Als wir uns trennten, wusste ich es noch nicht. Als ich herausfand, dass ich schwanger war, warst du schon über einen Monat weg, und dann habe ich darauf gewartet, dass du dich meldest, dass du versuchst, die Sache mit uns wieder in Ordnung zu bringen. Aber du hast dich nie wieder gemeldet.“

Luc konnte den bitteren Groll, der in ihm aufstieg, nicht unterdrücken. „Du hast es mir ausdrücklich verboten.“ Was sie ihm damals gesagt hatte … Wie sie es sagte …. Das würde er nie vergessen.

„Das ist mir bewusst.“

Jetzt erst sickerte der Rest ihrer Aussage in sein Hirn.

„Als wir uns trennten, wusste ich es noch nicht …“

„Cate.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, während Schock und Ungläubigkeit in ihm rangen. „Was sagst du da?“

Noch bevor sie antwortete, las er die Wahrheit in ihren seelenvollen, tränenglitzernden Augen.

„Ich sage, es tut mir leid, dass ich es dir nicht früher erzählt habe. Und dass sie deine Tochter ist.“

Catherine Malory dachte, sie wüsste, was Demut ist, doch so tief wie in diesem Moment war sie noch nie gesunken. Wer platzte schon unvermittelt in das Leben eines Mannes, den man belogen und vor dem man jahrelang ein Kind versteckt hatte, und posaunte dann einfach raus, dass er Vater war?

Luc würde sie hassen. Und sie verdiente es nicht besser. Anfangs hatte sie sich im Recht gefühlt, Ruby ganz für sich zu behalten. Wenn man bedachte, wie die Trennung von Luc verlaufen war – und nach den Erfahrungen einer Kindheit, in der sie zwischen zwei selbstsüchtigen Elternteilen hin- und hergerissen wurde. Bis heute war Cate außerstande, das Gefühl ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit abzuschütteln – als wäre es eine Krankheit, die sich bis in ihre Knochen gefressen hatte.

Sie hatte versucht, Ruby an erste Stelle zu setzen. Sie zu beschützen. Aber das würde Luc niemals verstehen.

Er stieß sich vom Schreibtisch ab; ein schlanker Riese in einem erdbraunen Wilder-Ranch-T-Shirt, verwaschenen Jeans und Cowboystiefeln. „Ich habe eine Tochter? Du sagst, sie ist mein Kind?“

In seinen Worten schwang ein Elend mit, das in ihrer eigenen Brust widerhallte. Was hatte sie bloß getan? „Ja. Es tut mir so leid. Ich weiß, dass eine Entschuldigung nicht ausreicht. Ich …“

„Wo?“, fiel Luc ihr ins Wort und strich sich durch sein dunkles Haar, das allerdings viel zu kurz geschnitten war, um durcheinander zu geraten. „Wo ist sie?“

„Hier.“

Sein Kopf zuckte zurück, als hätte man ihm einen Kinnhaken versetzt.

„Als wir ankamen, war deine Schwester Emma gerade auf dem Weg zu den Ställen. Ich erinnerte mich aus deinen Erzählungen an sie, auch wenn sie natürlich nicht wusste, wer ich bin. Als ich ihr sagte, dass ich mit dir reden muss, bot sie an, Ruby die Pferde zu zeigen. Ich habe versucht abzulehnen, aber Ruby war ganz wild darauf, mit ihr zu gehen.“

Außerdem war Cate auf der Fahrt hierher klar geworden, dass dieses Gespräch ohne Rubys Anwesenheit deutlich leichter sein würde. Vorher hatte sie gar nicht daran gedacht – und hätte ohnehin nicht gewusst, was sie in der Zeit mit Ruby anstellen sollte. Sie hatte keine Familie, die einspringen könnte. Eine Freundin wäre bereit gewesen, auf die Kleine aufzupassen, aber Cate mochte es nicht, von ihrer Tochter getrennt zu sein. Vor allem wegen der Herzkrankheit des Mädchens.

„Emma kann prima mit Kindern umgehen.“ Lucs Adamsapfel bewegte sich auf und ab. „Ru… Ruby ist in guten Händen.“

Cate hatte Mühe, ihre aufwallenden Emotionen unter Kontrolle zu halten, als sie den Namen ihrer Tochter erstmals aus Lucs Mund hörte.

„Warum bist du nach all den Jahren ausgerechnet heute gekommen? Was hat sich geändert? Und wie …?“ Luc atmete tief ein. Cate konnte sich vorstellen, wie schnell sein Herz gerade hämmerte, weil ihr eigenes sich anfühlte, als würde es gleich explodieren. Der Blick seiner grünbraunen Augen brannte sich förmlich in ihre Haut. „Woher weiß ich, dass sie von mir ist?“

Mit dieser Frage hatte sie gerechnet. Trotzdem tat sie weh. Ruby war Ende November zur Welt gekommen – acht Monate, nachdem Luc aus Denver abgehauen war. „Erst dachte ich, mein Unwohlsein läge am Stress nach unserer Trennung. Ich brauchte eine Weile, um den wahren Grund herauszufinden. Und da warst du längst weg.“

Zweifelnd schaute er sie an.

„Ruby wurde mit einem Vorhofseptumdefekt geboren.“

Unwillkürlich legte Luc eine Hand auf seine Brust, dorthin, wo, wie Cate wusste, seine eigene OP-Narbe war. „Genau wie ich.“

„Und um auf deine Frage nach dem Zeitpunkt zurückzukommen – ich bin ausgerechnet jetzt hier, will sie nun operiert werden muss, um das Loch im Herzen zu schließen. Und ich könnte … Sollte ihr irgendwas passieren, und du wüsstest nicht mal, dass es sie überhaupt gibt …“ Das hätte Cate sich niemals verziehen. Schon jetzt konnte sie sich nicht verzeihen, dass sie Luc für die ersten drei Jahre und acht Monate von Rubys Leben ferngehalten hatte.

Der Gedanke an Rubys bevorstehende Operation und die Vorstellung, ihrer kostbaren Tochter könnte etwas passieren, brachten die vertraute Angst mit sich, und Tränen verschleierten ihren Blick. „Mir wurde klar, dass du sie vor dem Eingriff kennenlernen musst.“

Der Wunsch, Luc endlich von Ruby zu erzählen, war im letzten Jahr immer stärker und drängender geworden. Ob es zum Teil auch daran lag, dass sie in dieser Zeit zu einem Glauben gefunden hatte, den sie als sehr kräftigend empfand?

Als versuche er, aus einem Albtraum zu erwachen, rieb Luc mit beiden Händen über sein Gesicht.

„Wir können einen Vaterschaftstest machen lassen“, sagte sie. „Dein Name steht aber schon auf ihrer Geburtsurkunde.“

Seufzend ließ er die Arme sinken. „Wenn du schon so weit gegangen bist …“, seine Stimme klang rau wie Sandpapier. Müde. Erschöpft. „Warum hast du es mir nicht direkt erzählt?“

Das war genau die Frage, von der sie nicht wusste, wie sie sie beantworten sollte. „Ich wollte meine Tochter nicht teilen!“, klang nicht unbedingt wie die Reaktion einer reifen, erwachsenen Person.

Luc wusste von ihrer Kindheit und der Scheidung ihrer Eltern, aber würde er auch verstehen, wie sehr und wie nachhaltig deren Verhalten ihr zugesetzt hatte?

„Ach, egal“, fuhr er fort, und sein scharfer Ton ließ sie vor Schuldgefühlen erschaudern. „Für Entschuldigungen ist es ohnehin zu spät. Außerdem spielt nichts, was du sagen könntest, jetzt, in diesem Moment, eine Rolle.“

„In Ordnung.“ Ergeben hob Cate die Hände. Sie würde alles tun, was er wollte.

Luc ließ sich aufs andere Ende des Sofas sinken. „Braucht sie eine Operation am offenen Herzen?“

„Nein. Sie schließen das Loch minimalinvasiv über einen Katheter.“

Erleichtert ließ er die Schultern sinken. Schon jetzt, obwohl er kaum etwas über Ruby wusste und noch nicht einmal völlig sicher sein konnte, dass er der Vater war, fühlte er mit dem kleinen Mädchen. Und er wollte nicht, dass sie dasselbe Trauma durchmachen musste wie er als Kind.

„Hast du meiner Schwester vorhin erzählt, wer ihr seid?“

„Nein. Ich glaube, sie hielt mich für einen potenziellen Gast oder dachte, dass ich mich um einen Job bewerben will.“ Cate hatte sich absichtlich ausweichend verhalten.

Wieder seufzte er. „Das ist gut. Zumindest im Moment. Weiß Ruby, wer ich bin?“

„Neuerdings stellt sie Fragen, und ich bemühe mich, sie angemessen zu beantworten. Sie weiß, dass es dich gibt, aber nicht, dass wir hier sind, um dich zu treffen.“

Diesmal fühlte sie seinen Blick so glühend auf sich, dass es sie nicht überrascht hätte, wenn Rauch aufgestiegen wäre. „Weil du dachtest, dass ich sie vielleicht nicht sehen will? Falls sie tatsächlich meine Tochter sein sollte, würde ich sie niemals im Stich lassen. Das müsstest du eigentlich wissen, Cate.“

Autsch. Diese Wahrheit tat weh, ebenso wie das Wort „falls“. Doch sie konnte es ihm nicht verübeln. Warum sollte er ihr glauben, nur, weil Ruby an demselben Herzfehler litt wie er als Kind? Sie hatte sich während der vergangenen viereinhalb Jahre nicht unbedingt als vertrauenswürdig erwiesen.

„Brauchst du etwas Zeit? Wir können wiederkommen. Und in ein paar Tagen weiterreden.“ Wäre jemand mit derart schwerwiegenden Neuigkeiten in ihr Leben spaziert, läge Cate jetzt zu einer Pfütze reduziert am Boden. Aber nicht Luc. Wie konnte er so ruhig bleiben? Warum wütete er nicht gegen sie?

„Ich glaube nicht, dass mehr Zeit meinen Schock lindern kann. Ich will Ruby sehen.“

Deshalb war Cate hergekommen. Trotzdem revoltierte jetzt ihr Magen. „Bist du sicher, dass du nicht doch etwas mehr Zeit brauchst, um das Ganze zu verarbeiten?“

Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, hob nur eine Braue.

„In Ordnung.“ Als ob es reichte, das laut auszusprechen. Cate konnte sich eine Million Mal einreden, dass alles in Ordnung war, aber es stand zu befürchten, dass ihre Gefühle da niemals mitziehen würden. „Dann lass uns gehen.“

Das Geräusch von Lucs Stiefeln auf dem Boden dröhnte wie eine Totenglocke in Cates Gewissen. Panische Gebete schossen ihr durch den Kopf, während sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie hatte für Luc und Ruby gebetet, seit ihr die Unvermeidbarkeit dieses Treffens bewusst geworden war, und konnte nur hoffen, dass sie mit ihrem Egoismus nicht das Leben der beiden ruiniert hatte. Sie sehnte sich nach Heilung. Für jeden von ihnen.

Vermutlich sollte Luc sich etwas Zeit lassen, um die Neuigkeit sacken zu lassen, so, wie Cate es vorgeschlagen hatte. Aber warum warten, wo doch im Moment ohnehin gar nichts irgendeinen Sinn ergab? Wenn er Cate und Ruby jetzt wieder abfahren ließ, sah er sie vielleicht nie wieder. Schon jetzt wirkte Cate so nervös und zappelig, dass er fürchtete, beide zu verlieren, wenn er jetzt nicht handelte. Und falls Ruby wirklich seine Tochter war, wollte Luc sie unbedingt kennenlernen.

Konnte es wirklich sein, dass er Vater war? Das war unfassbar. Wie konnte sich sein Dasein bloß binnen Minuten dermaßen wandeln?

Gerade, als sie die Treppe der Lodge hinuntergingen, kam Emma mit einem kleinen Mädchen, das Ruby sein musste, aus dem Stall. Luc nutzte die Gelegenheit, das Kind aus der Distanz zu betrachten. Ein winziges Dingelchen – kein Wunder, schließlich wäre Ruby, wenn Cate die Wahrheit sagte, erst drei Jahre und acht Monate alt. Sie trug knallrosa Shorts zu einem farbenfrohen T-Shirt und gestikulierte lebhaft. Was immer sie gerade sagte, brachte Emma zum Lachen.

Sobald die Kleine Cate entdeckt hatte, rannte sie auf sie zu, Emma dicht auf den Fersen.

Rein intuitiv hatte Luc gewusst, dass Ruby ein schönes Kind war – wie hätte es anders sein sollen, mit einer Mutter wie Cate? Aber nun zwang ihr Anblick ihn fast in die Knie. Ihr seidiges braunes Haar war etwas heller als das ihrer Mom. Näher an seinem. Luc hatte eine dumpfe Ahnung, dass Ruby, wenn er ein altes Foto rauskramte und sie damit verglich, eine frappierende Ähnlichkeit mit seiner Zwillingsschwester Mackenzie im selben Alter aufweisen würde.

Ruby schlang die Arme um Cates Beine. Emma blieb vor den beiden stehen. „Ihr kleines Mädchen ist ein echter Sonnenschein“, sagte sie. „Wir hatten eine super Zeit zusammen. Danke, dass wir zusammen abhängen durften.“ Sie strich ihre Haare zurück. „Kommst du mich bald wieder besuchen?“, fragte sie Ruby, die begeistert nickte.

Nachdem Cate sich bei Emma bedankt hatte, machte die sich auf den Rückweg zum Stall, wobei ihre hellbraunen Locken in der kräftigen Brise wirbelten. Lucs kleine Schwester leitete den Mini-Klub auf der Ranch. Sie war eine echte Kinderflüsterin und wurde von den Kleinen verehrt wie ein Rockstar.

„Mommy, können wir ein Pferdchen haben?“

Cates Lachen klang angespannt. „Wir dürfen in unserer Wohnung nicht mal Hunde halten, Süße. Erst recht keine Pferde.“

Ruby schaute hoch und nahm Luc zum ersten Mal wahr. „Hey“, sagte sie. Große braune Augen – exakt wie Cates – musterten ihn neugierig.

Ein ganzer Schwall von Emotionen schnürte ihm die Kehle zu, doch er schaffte es zu antworten. „Hey.“

„Ich heiße Ruby. Wie heißt du? Wohnst du hier? Hast du ein Pferdchen?“

Unwillkürlich musste er lächeln. „Ich bin Luc.“ Er schaute zu Cate, und sie schüttelte auf seine stumme Frage hin den Kopf. Offenbar kannte Ruby den Namen ihres Vaters nicht und konnte daher auch keine Verbindung zu ihm herstellen. Was im Moment vermutlich auch besser so war. „Und ja, ich wohne hier, und ich habe ein Pferd.“ Oder hätte er „Pferdchen“ sagen sollen?

Er sank vor dem Mädchen auf die Knie, zum einen, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein, zum anderen, weil seine Beine zu versagen drohten. Das Blut pulsierte in einem Rhythmus durch seine Adern, der „mein“ flüsterte. Als ob es auch ohne Test oder Beweise wüsste, dass Ruby seine Tochter war.

Warum er Cate glaubte, vermochte Luc nicht zu sagen. Natürlich schien der Herzfehler eine offensichtliche Verbindung darzustellen. Dennoch sollte er vorsichtig sein, bevor er sicher wusste, dass er Rubys Vater war.

Doch selbst mit diesem logischen Gedanken im Hinterkopf schmerzte sein ganzer Körper vor Verlangen, die Arme nach diesem kleinen Wesen auszustrecken, es zu umarmen und binnen Sekunden alles über sie in Erfahrung zu bringen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Die Vorstellung, dass Ruby sein Kind war, dass er, wenn Cate die Wahrheit sagte, bereits so viel verpasst hatte, ließ jeden einzelnen seiner Muskeln verkrampfen.

„Möchtest du vielleicht auf einem der Pferde reiten?“, fragte er. Auf einem Pferd war alles besser. Außerdem hätte er dort die Chance, Ruby ein bisschen kennenzulernen.

Ihre schokoladenbraunen Augen leuchteten vor Aufregung, und sie nickte heftig. Diese Kleine hatte definitiv einen Sinn für Abenteuer. Das musste Cate zum Wahnsinn treiben. Der Gedanke wärmte sein Herz.

„Luc …“

„Ihr passiert nichts“, versicherte er und richtete sich wieder auf.

Cate verschränkte die Arme vor der Brust und zog missbilligend die dunklen Brauen zusammen, was ihre Schönheit nur noch mehr betonte. Mit der körperlichen Anziehung zu Cate hatte Luc nie ein Problem gehabt. Nur in der Abteilung „erwachsen werden und miteinander klarkommen“ waren sie auf unüberwindbare Schwierigkeiten gestoßen.

Einen Augenblick wartete er ab, um zu sehen, ob Cate weitere Proteste vorbrachte. Da kein Gegenargument mehr kam und Cate nur ergeben die Schultern sinken ließ, verbuchte Luc das Ganze als moralischen Sieg. Dass er fast vier Jahre von Rubys Leben verpasst hatte, verlieh ihm momentan definitiv die Oberhand.

Alle drei machten sich auf den Weg zur Koppel, und Luc führte sie zu Buster, einem der kleineren Palomino Quarter Horses. Er hatte ein ruhiges, friedliches Temperament und war im Handumdrehen gesattelt und startklar. Luc hob Ruby hoch, vergewisserte sich, dass sie bequem saß, und zeigte ihr, wo sie sich festhalten sollte. Ihr Gesicht strahlte vor Entzücken über die Farbe von Busters Fell, die sie an Karamell-Popcorn erinnerte, wie sie sofort verriet.

„Ich gehe mit dir und führe Buster die ganze Zeit. Sag mir einfach Bescheid, wenn du anhalten oder absteigen willst.“

„Ich darf nicht allein reiten?“

Abenteuerlustiges kleines Ding. „Nicht, bevor du ein bisschen mehr Erfahrung gesammelt hast. Wir werden mit einem Pony anfangen müssen, und …“

Cates geweitete Augen, die alle denkbaren Warnsignale und Zornesblitze übermittelten, brachten ihn zum Schweigen und zügelten seine Begeisterung. Wahrscheinlich war er etwas übers Ziel hinausgeschossen.

„In zehn Minuten sind wir wieder da“, sagte er zu Cate, deren entrüsteter Aufschrei ob der Tatsache, dass ihre Begleitung nicht erwünscht war, ihm ein halb unterdrücktes Grinsen entlockte.

Sie hatte Ruby mehr als drei Jahre für sich allein gehabt. Da verdiente Luc wohl ein paar Minuten mit ihr außer Reichweite von Cates habichtäugiger Wachsamkeit.

2. KAPITEL

Sechs qualvolle Tage später lief Luc nervös vor dem Kamin im kleinen Wohnzimmer seiner Blockhütte hin und her. Sein Freund Gage Frasier hockte auf der Armlehne eines Sessels und löcherte Luc mit Fragen, die klangen, als stellte sie ein Anwalt. Was passte, denn Gage hatte vor seinem Leben als Rancher früher tatsächlich als Anwalt gearbeitet …

„Hast du schon was vom Vaterschaftstest gehört?“

„Nein.“ Luc ließ sich aufs Sofa neben dem Sessel fallen.

Seit dem vergangenen Samstag hatte er Ruby und Cate nicht mehr gesehen, da es ihm am sinnvollsten erschien, abzuwarten, bis er sicher wusste, dass die Kleine seine Tochter war. Obwohl Cate keinerlei Zweifel an seiner Vaterschaft zu hegen schien, hatte sie seinem Vorschlag zugestimmt, Ruby erst dann etwas zu sagen, wenn das Testergebnis da war.

Doch das Warten war ungefähr so angenehm gewesen wie ein gebrochener Zeh.

Während der kurzen Zeit, die er am Samstag mit Ruby verbracht hatte, während sie auf Buster ritt, war er rasch zu dem Schluss gekommen, dass seine mögliche Tochter umwerfend charmant war, lebhaft und unterhaltsam, und vor Energie nur so strotzte.

So schnell hatte Luc sich bislang nur ein einziges Mal in ein weibliches Wesen verliebt – und zwar in die Frau, die vor Wut Feuer spuckte, als er Ruby statt nach den vereinbarten zehn erst nach zwanzig Minuten zur Koppel zurückbrachte.

Luc hatte keine Probleme, sich einzugestehen, dass er Cates Unmut in vollen Zügen genoss. Sein Schuldgefühl-Level bezüglich ihrer Gedanken und Gefühle tendierte momentan gegen null. Ihrer hingegen sollte gerade durch die Decke schießen.

„Wie ist das kleine Mädchen denn?“

„Ruby ist …“ Wie sollte er es eingrenzen? „Süß. Sie redet ununterbrochen. Die Art Mädchen, die sich mit einer Fliege anfreunden würde.“ Das wusste er, weil sie tatsächlich mit der Fliege geredet hatte, die einen Teil der Strecke auf Busters Sattelhorn mitgeritten war. Auch mit Luc hatte Ruby sich sofort angefreundet und die ganze Zeit fröhlich geplappert. So erfuhr er, dass sie eine beste Freundin in der Kita hatte und dass ihre Mom ihr nur eine halbe Stunde pro Tag „Lektronik“ erlaubte, obwohl ein paar andere Kinder ganz lange mit ihren Tablets spielen durften.

Das hatte ihm ein Lächeln entlockt, und er gab Cate im Stillen recht.

Die Information, dass ihre Mom ihr jeden Abend „ganz viele“ Bücher vorlas, hatte hingegen eine unbehagliche Welle des Mitgefühls ausgelöst, als Luc sich ausmalte, wie Cate alles alleine wuppte. Ruby, Rubys Herzkrankheit, die Arbeit, Rechnungen. Wie schaffte sie das nur? So, wie er ihre Eltern kennengelernt hatte, dürften die sich nicht gerade darum gerissen haben, ihrer schwangeren Tochter beizuspringen. Doch hastig hatte er jeglichen Anflug von Sorge verdrängt.

Er würde kein Mitleid mit ihr haben. Nicht, nachdem sie eigenmächtig entschieden hatte, ihm Ruby vorzuenthalten.

Gleich Montag früh hatte Luc hier in der Stadt den DNA-Test machen lassen. Sie hatten seine Probe eingeschickt, und Cate und Ruby waren zu der Teststelle in Denver gefahren. Jetzt war Freitag, es ging auf fünf Uhr zu, und der Gedanke, womöglich das Wochenende überstehen zu müssen, ohne das Ergebnis zu kennen, war ihm unerträglich. So vieles schien in der Luft zu hängen. Und obendrein hatte Cate ihm auch noch den Termin für Rubys Eingriff mitgeteilt. Heute in einer Woche.

„Cate hat nicht begründet, warum sie dir nie von Ruby erzählt hat, oder?“, fragte Gage.

„Nein. Aber ich habe sie auch nicht wirklich zu Wort kommen lassen. Welche Rolle spielt das jetzt noch? Was passiert ist, ist passiert.“ Die letzten beiden Bemerkungen waren gelogen. Selbstverständlich wollte Luc wissen, was Cate sich dabei gedacht hatte. Gleichzeitig war er so verletzt und wütend, dass er nicht glaubte, eine Erklärung ihrerseits könnte helfen.

„Luc.“ Sein Freund klang besorgt, aber Luc merkte, dass es ihm zunehmend schwerfiel, über sich, Cate und Ruby zu sprechen. Probleme, für die es keine klaren Lösungen gab, waren nicht unbedingt sein Lieblingsthema. „Luc, dein Telefon.“ Gage deutete auf den Couchtisch. „Es hat gerade gebrummt.“

Hastig griff Luc danach und öffnete die neue E-Mail. Erleichtert stellte er fest, dass sie das Testresultat enthielt. Er klickte auf den Anhang, um den Bericht zu lesen, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Nur mit Mühe entzifferte er das fettgeschriebene Ergebnis.

Das Handy glitt ihm aus der Hand und fiel aufs Sofa.

„Ich bin ein Dad.“

Wie nach einem Huftritt in die Brustgegend wich die Luft aus seiner Lunge. Wortlos starrten Luc und Gage einander an.

Unfähig, noch länger sitzen zu bleiben, sprang Luc auf und ging mit schnellen Schritten zum hinteren Fenster, das aufs offene Ranchland hinausging. Die grasbewachsenen Hügel erschienen ihm plötzlich in einem neuen Licht. Noch gestern war es das Land gewesen, dass Luc und seine Schwestern geerbt hatten, als ihre Eltern wegen Moms angeschlagener Gesundheit in wärmere Gefilde gezogen waren. Heute gab es eine neue Generation. Ein kleines Mädchen mit seidigem Haar, unermüdlichem Mundwerk und hinreißenden braunen Augen. Ein kleines Mädchen, das zu ihm gehörte. Seine kleine Tochter.

„Ich muss sie sehen.“ Er stürmte in die Küche und durchwühlte die Krimskrams-Schublade nach seinen Schlüsseln.

Gage folgte ihm. „Solltest du damit nicht etwas warten? Bis du wieder ruhiger bist?“

Wo war bloß dieser verflixte Schlüssel? „Ich glaube nicht, dass es in absehbarer Zeit dazu kommt.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Gage schob ihn zur Seite und fand nach einer kurzen, sehr viel methodischeren Suche den Schlüsselbund. „Soll ich mitkommen?“

Luc wusste die Unterstützung seines Freundes zu schätzen, aber er brauchte jetzt Zeit, um den Kopf zumindest einigermaßen klarzukriegen. Vielleicht würde die Fahrt ja dabei helfen, auch wenn er sich das im Moment nicht so recht vorstellen konnte. „Nein. Aber danke.“ Er ging zum Eingang und machte sich daran, seine Stiefel anzuziehen.

„Was willst du jetzt unternehmen? Bezüglich des Sorgerechts?“

„Wie meinst du das? Was kann ich denn da unternehmen?“

„Es beantragen.“

„Keine Ahnung.“ Er konnte nur daran denken, Ruby zu sehen. Für Formalitäten hatte er jetzt keinen Sinn. „Ich bin zwar wütend, aber ich bin nicht sicher, ob das der richtige Weg ist.“

„Du musst dich selbst schützen. Sie hat dir Ruby bereits jahrelang vorenthalten. Wer weiß, vielleicht verschwindet sie sang- und klanglos in ein anderes Bundesland, und du siehst dein Kind nie wieder.“

Mit unnötig heftigen Bewegungen zog Luc seinen zweiten Stiefel an. So etwas würde Cate niemals tun! Oder doch? Derselbe Gedanke war auch ihm schon durch den Kopf gegangen. Als sie und Ruby am Samstag aufgebrochen waren, hatte er sich unwillkürlich gefragt, ob er die beiden wohl jemals wiedersehen würde. Cate hatte ihm zwar ihre Adresse und Telefonnummer hinterlassen, aber ….

Aber wie sollte er ihr vertrauen, nach dem, was sie getan hatte?

„Soll ich mich mal schlaumachen?“, bot Gage an. „Rausfinden, welche Optionen du hast? Ich kenne jemanden, der sich mit solchen Situationen auskennt. Den könnte ich fragen.“

Luc seufzte. „Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt irgendwelche Rechte habe oder ob sie im Alleingang kontrollieren kann, ob ich Ruby sehen darf. Also ja. Erkundige dich bitte.“

„Wird gemacht.“

Luc nahm den Zettel mit Cates Adresse von der Küchentheke. Es mochte nicht sehr rücksichtsvoll von ihm sein, sie in ihrem Zuhause zu überfallen. Andererseits hätte er auch nie damit gerechnet, dass Cate plötzlich vor seiner Haustür stehen würde, mit einer Tochter, von deren Existenz er nichts geahnt hatte.

Da war es nur fair, wenn er es jetzt umgekehrt hielt.

„Mommy, spielst du das Cupcake-Spiel mit mir?“ Erwartungsvoll hielt Ruby das heißgeliebte Spiel hoch, auf dem noch immer der reduzierte Preis aus dem Ramschladen klebte.

Vor Rubys Geburt war Cate noch nie in einem Secondhand-Shop gewesen. Als Heranwachsende hatte es ihr nie an Geld gemangelt. Liebe und Aufmerksamkeit waren dagegen Mangelware gewesen.

Es war nicht so, dass ihr Eltern sie in irgendeiner Weise misshandelt hätten. Sie hatten Cate vielmehr einfach … übersehen. Beide waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf das kleine Mädchen zu achten, das sie im Kielwasser ihres Egoismus zurückließen.

Früher waren ihre Eltern nie einer Meinung gewesen, doch als es um Cates Schwangerschaft ging, herrschte sofort Einigkeit darüber, dass Ruby ihr Leben ruinieren und jede Chance auf Erfolg zunichtemachen würde. Sie verkündeten, dass Cate keinerlei Unterstützung von ihnen erwarten konnte, weder finanziell noch anderweitig, wenn sie das Baby behielt. Wahrscheinlich hatten sie gehofft, ihre Entscheidung durch diese Drohung beeinflussen zu können. Das hatte nicht funktioniert – und seither herrschte mehr oder weniger Funkstille zwischen Cate und ihren Eltern.

Sie hatten recht behalten. Cate musste sich nach der Decke strecken. Sie hatte ihre Ausbildung vorzeitig beendet und jeden Job angenommen, den sie kriegen konnte. Ruby großzuziehen, war das schwierigste Unterfangen ihres Lebens.

Doch ihre Eltern hatten auch meilenweit danebengelegen. Denn der niedliche Knirps, der jetzt so ungeduldig auf und ab hüpfte, dass die Spielfiguren in der Schachtel klapperten, war bei Weitem das Beste, was Cate je zustande gebracht hatte. Ruby war jede Sekunde ihrer Energie und Liebe wert.

„Bitte, Mommy?“

„Na schön, Rubes, ein paar Runden.“ Danach würde sie ihr vor dem Schlafengehen noch etwas vorlesen. Sie brachte die Kleine noch immer früh ins Bett – zum einen, um ihre Nerven zu schonen, zum anderen, weil sie abends oft noch so lange am Rechner saß, bis sie selbst hundemüde ins Bett fiel.

Cate nahm die anthrazitfarbene Brille ab, die sie für die Computerarbeit trug, und legte sie auf den Schreibtisch, der eine Ecke des Wohnraums ihrer winzigen Zweizimmerwohnung einnahm.

Der Bildschirm vor ihr schaltete in den Ruhemodus, aber sie wusste, was hinter dem schwarzen Vorhang lauerte – ein Projekt mit gefährlich schrumpfender Abgabefrist. Sie war nah dran, aber noch fiel das neue Branding für den örtlichen Cupcake-Laden nicht zu ihrer Zufriedenheit aus. Und es musste perfekt sein, weil sie dringend einen Folgeauftrag brauchte. Cate liebte ihren Job als Grafikdesignerin und die Freiheit, die er ihr verlieh. Sie konnte von zu Hause arbeiten und Ruby problemlos zu der kleinen privaten Kindertagesstätte kutschieren, die sie besuchte.

Der Löwenanteil ihrer Aufträge kam von einer Firma in Denver, die sie als Subunternehmerin beschäftigte. Das restliche benötigte Einkommen erwirtschaftete sie über Nebenjobs.

Sie setzten sich aufs Sofa, und Ruby baute das Spiel auf, während Cate ein Gähnen unterdrückte und überlegte, ob sie sich eine Tasse Tee machen sollte. Mehr hatte sie mit ihren vierundzwanzig Jahren an einem Freitagabend nicht vor. Traurig eigentlich. Aber mit zwanzig schwanger zu werden, hatte allen wilden und abenteuerlichen Lebensplänen einen gehörigen Dämpfer verpasst.

Ruby wählte eine blaue Basis und begann, einen Cupcake zu bauen. Sie hielt sich nie an die Vorlagen, sondern kombinierte munter drauf los, je nachdem, welche Kombination ihr gerade besonders einleuchtete.

„Du bist dran, Mommy.“

Cate entschied sich für den gelben Boden und eine Schokoladenschicht aus Plastik, wobei sie sich nicht zum ersten Mal wünschte, dass das Spiel aus echten Zutaten bestünde und sie ihren frisch gebauten Schoko-Cupcake direkt vertilgen könnte …

Schon beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich klopfte es an der Tür, und sie sprang so schnell hoch wie ein Maiskorn in brutzelndem Öl.

Wer konnte das sein? Um diese Zeit? Etwa wieder ihre neugierige Nachbarin? Millie Hintz war eine rüstige, weißhaarige Achtzigjährige, die mit der Zeit immer kleiner zu werden schien. Ihre Besuche waren mitunter etwas nervtötend, weil sie anfangs immer so misstrauisch von der Türschwelle aus ins Apartment spähte, als hoffe sie, Cate mit einem versteckten Berglöwen zu erwischen.

Doch auch wenn Millie es als ihren Job betrachtete, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen, hatte sie ein gutes Herz. Cate war zu dem Schluss gekommen, dass diese Kontrollbesuche mehr mit Einsamkeit zu tun hatten als mit irgendwas anderem. Und wenn jemand verstand, wie sehr einem die Einsamkeit zusetzen konnte, dann sie. Ein paar Worte mit Millie zu wechseln würde sie schon nicht umbringen.

Sie drückte ihr Gesicht ans Guckloch und schrie überrascht auf, als sie auf der anderen Seite der Tür nicht die kleine Nachbarin sah, sondern Luc.

Was machte er hier?

Die ganze Woche über hatte er ihre Gedanken beschäftigt. Hatte sie das Richtige getan, als sie ihm von Ruby erzählte? Sie hoffte es. Anfang der Woche war sie mit Ruby beim DNA-Test gewesen, und sie hatte Luc über Rubys Operationstermin informiert, ansonsten aber nichts von ihm gehört. Was dachte er sich bloß dabei, so unvermittelt vor ihrem Apartment aufzutauchen? Wusste der Mann nicht, wie man ein Telefon benutzte?

Und noch wichtiger, woher wollte er wissen, dass sie zu Hause war? Musste sie ihm öffnen? Ihr Puls stolperte so unregelmäßig, wie ihr Auto über die Schotterstraße gerumpelt war, die zur Wilder-Ranch führte. Zu allem Überfluss trug sie auch noch ihre alten, verblichenen Yogahosen und ein gelbes T-Shirt mit V-Ausschnitt und hatte die Haare im Nacken zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden.

Ein rundum stylisches Gesamtpaket.

Frustriert stöhnte sie auf. Die alte Nachbarin wäre ihr jetzt tausendmal lieber gewesen als Luc.

„Ich kann dich durch die Tür hören, Cate.“

Hastig sprang sie zur Seite, als hätte er den Röntgenblick und könnte sie durch die Barriere hindurch sehen.

„Du verstehst es wirklich, einem Mädchen Angst einzujagen.“ Rasch zog Cate ihr Haargummi zurecht und wischte unter ihren Augen entlang, um etwaige verlaufene Mascara zu eliminieren.

„Machst du mir jetzt auf oder unterhalten wir uns weiter durch die Tür hindurch?“

Ruby schob sich neben Cate. „Ist das mein Freund Luc?“

Seit sie auf der Ranch waren, hatte Ruby unaufhörlich über ihren „Freund Luc“ geschnattert.

„Ja, das ist er.“ Mit zitternden Fingern öffnete Cate die beiden Schlösser und drehte den Türknauf.

Luc füllte praktisch den gesamten Türrahmen aus.

Was war es bloß, das ihr immer das Gefühl gab, dass seine Anwesenheit den gesamten Sauerstoff aus einem Raum saugte? So groß war er nun auch wieder nicht!

Er zog eine Braue hoch. „Darf ich reinkommen?“

Wäre es eine legitime Option, mit Nein zu antworten? Doch Ruby drängte sich schon an Cate vorbei, ergriff Lucs Hand und zog ihn über die Schwelle. Er brachte den Geruch der freien Natur mit.

„Komm rein. Ich will dir mein Zimmer zeigen und meine neue Puppe und meine Ponys und meine pinke Lampe. Ich und Mommy spielen gerade ein Spiel. Du kannst mitmachen, wenn du willst.“

Die geradezu abgöttische Verzückung, mit der er Ruby anschaute, reichte aus, um Cates Knie schlottern zu lassen – obwohl er ihr selbst kaum einen Blick gönnte.

Von der Couch her erklang ein verärgertes „Miau“. Prinzessin Prim erhob sich von ihrem bevorzugten Ruheplatz und streckte sich. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Luc und sortierte ihn vom Fleck weg als Eindringling ein.

Braves Kätzchen. Im Stillen versprach Cate ihr ein Leckerli für später.

„Ich dachte, ihr dürft keine Haustiere halten“, sagte Luc.

„Hunde sind nicht erlaubt, aber Prim ist mehr Königin als Haustier. Sie regiert hier, Ruby und ich sind nur ihre ergebenen Dienerinnen.“

Ruby kicherte und zog energisch an Lucs Hand, die sie keine Sekunde losgelassen hatte. Sie führte ihn durchs Wohnzimmer und am Esstisch vorbei. Doch auf der Schwelle zum Kinderzimmer blieb Luc stehen.

„Ist es in Ordnung für dich, wenn sie mir ihr Zimmer zeigt?“

Cate rang sich ein Nicken ab, und die beiden verschwanden im Kinderzimmer. Sie hörte Rubys unaufhörliches Plappern und Lucs tiefe Stimme, wenn er eine Frage stellte oder auf irgendwas antwortete.

Entkräftet ließ sie sich aufs Sofa fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Was hatte sie getan?

Prinzessin Prim kroch auf ihren Schoß und legte fragend den Kopf schräg.

Sanft rieb Cate über das weiche Fell hinter Prims Ohren. „Ich will doch nur nicht, dass sie verletzt wird. Und ich habe Angst, sie zu verlieren“, flüsterte sie bedrückt, und die Katze schnurrte mitfühlend.

Was machten die beiden bloß so lange da drin? Sie setzte Prim auf dem Sofa ab und schlich auf Zehenspitzen zu Rubys Zimmer, nah genug, um alles zu hören, aber nicht nah genug, um gesehen zu werden.

Prim stieß ein verräterisches Miauen aus. Sie war Cate gefolgt und rieb sich nun an ihrem Bein. Sanft schob Cate sie mit dem Fuß weg und legte einen Finger an die Lippen, was die Katze jedoch nur dazu bewog, interessiert zu maunzen und sich zwischen Cates Füßen hindurchzuschlängeln, als würden sie ein Spiel spielen. Wenn das so weiterging, würde Cates Versteck nicht lange geheim bleiben.

Sie könnte sich einfach die Tasse Tee machen, nach der sie sich vorhin gesehnt hatte. Es war kein Lauschen, wenn die Küche rein zufällig fast direkt gegenüber von Rubys Tür lag.

So langsam wie möglich begab sie sich in die winzige Küche. Beim Klang von Lucs dröhnendem Lachen, das sich mit Rubys süßem Kichern vermischte, wurde ihr eng um die Brust. Im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick auf Luc, der auf dem Boden hockte, neben sich Ruby, die den Kopf konzentriert gesenkt hatte, um ihn etwas zu fragen.

Und plötzlich stand Cate nicht mehr in der Küche, sondern in der Tür zum Kinderzimmer. Sowohl Luc als auch Ruby schauten auf, und zwar so, als fühlten sie sich gestört und würden gern den Grund ihrer Anwesenheit wissen.

„Hey, ich …“ wollte mithören, was ihr so redet. „Möchte jemand was zu trinken? Luc? Ich habe dir nicht mal was angeboten.“ Als du unangemeldet vor meiner Tür aufgetaucht bist.

Gut, dass es keiner dieser sarkastischen Gedanken bis über ihre Lippen schaffte.

„Nein danke“, erwiderte Luc, und Ruby schüttelte den Kopf.

Umstandslos abserviert. Auf unheimliche Art fühlte Cate sich an ihre Kindheit erinnert. Das Gefühl legte sich um sie wie eine alte, zerfledderte Decke, die sie schon lange hatte wegwerfen wollen. Und doch war sie da, wann immer sie ihren Schrank öffnete.

Sie erhitzte in ihrer Lieblingstasse Wasser in der Mikrowelle und verbrannte sich beim Prüfen der Temperatur fast den Finger. Dann riss sie einen Beutel mit beruhigender Teemischung auf und streute die befreiten Blätter in ihre Tasse, auch wenn sie nicht glaubte, dass das Gebräu viel an ihrer derzeitigen Gemütslage ändern würde.

Als sie erfuhr, dass sie mir Ruby schwanger war, hatte Cate sich darin bestärkt gefühlt, Luc nicht zu kontaktieren. Er hatte nie versucht, das, was zwischen ihnen schiefgelaufen war, wieder in Ordnung zu bringen, und nie auf die Anschuldigungen reagiert, mit denen sie ihn am Schluss konfrontiert hatte. Ja, sie hatte ihm vorgeworfen, sie betrogen zu haben, nachdem ein Freund ihr den entsprechenden Tipp gegeben hatte. Aber eigentlich hatte sie damals nur gewollt, dass Luc ihr zusicherte, dass er sich nicht mit einer anderen Frau traf, und so bestätigte, was sie ohnehin tief in ihrem Inneren spürte. Und er hatte auch rasch bestritten, etwas dergleichen zu tun. Doch je intensiver sie nachbohrte und auf Details drängte, desto mehr hatte er dichtgemacht.

Sie hatten sich gestritten und einander viele schreckliche Dinge an den Kopf geworfen.

Cate nippte an ihrem Tee, lehnte den Kopf an die Arbeitsplatte und schloss die Augen. Oh, Mann, was waren sie damals jung gewesen. Dickköpfig. Und vollkommen rücksichtslos gegeneinander.

Am Ende hatte sie ihm gesagt, er solle gehen. Und nie wieder versuchen, sie zu kontaktieren.

Merkwürdigerweise war er ihrer Aufforderung gefolgt. Und Cate würde dem Mann, der sich momentan im Nebenzimmer aufhielt, auf keinen Fall gestehen, dass sie darauf gewartet hatte, dass er um sie kämpfte. Dass er sie liebte. Sie hatte ein ruhiges Gespräch mit ihm führen wollen, die Wahrheit herausfinden und ihm zuhören, statt nur Vorwürfe auszutauschen. Doch nach jener Nacht hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört.

Und nach Rubys Geburt und der Diagnose ihres Herzfehlers hatte Cate sich so ausschließlich auf ihre Tochter konzentriert, dass sie Luc aus ihrem Gedächtnis verdrängte – oder es zumindest versuchte.

Sie war für sich zu dem Schluss gekommen, dass es richtig war, Ruby für sich zu behalten. Dass sie ihre Tochter davor bewahrte, zwischen zwei Elternteilen aufzuwachsen, die nicht miteinander auskamen. Schließlich wusste sie nur allzu gut, welche Verletzungen das einem Kind zufügen konnte. Sie hatte sich an ihre Bitterkeit und ihre Angst geklammert und beiden Emotionen die Entscheidungsgewalt überlassen.

Bis vor etwas mehr als einem Jahr. Nachdem ein kleines Mädchen aus der Kita und deren Mutter Ruby dazu eingeladen hatten, die Sonntagsschule zu besuchen, war Cate zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kirche gewesen. Dort war sie Gott begegnet, und ein Teil von ihr, der sich stets vergessen gefühlt hatte, erwachte zum Leben.

Im Laufe dieses Jahres hatte ihr Glaube sie langsam, aber sicher davon überzeugt, dass sie Gott bedingungslos vertrauen konnte, selbst wenn sie Luc oder gar sich selbst nicht zu vertrauen vermochte. Dass Ruby den Eingriff am Herzen brauchte, war dann der letzte Anstoß gewesen, Lucas die Wahrheit zu sagen.

Aber sie hatte immer noch Angst.

Sie fürchtete, dass Luc versuchen würde, ihr Ruby wegzunehmen. Dass seine Anwesenheit das sichere Leben zerstören könnte, das sie so sorgfältig für sich und ihre Tochter aufgebaut hatte. Dass sie sich törichterweise wieder zu ihm hingezogen fühlen würde.

Sollte Luc beschließen, ein Teil von Rubys Leben zu werden, würde sie sich weiterhin ganz und gar auf ihre Tochter konzentrieren. Sie würde sich nicht wieder zu Luc hingezogen fühlen. Sie würde auch nicht darüber nachdenken, warum am Schluss alles zwischen ihnen schiefgelaufen war.

Und auf keinen Fall würde sie ein verstörtes kleines Mädchen im Kielwasser ihrer egoistischen Wünsche zurücklassen.

Was zu der wichtigsten Frage führte, die gerade mit grausamer Wucht hinter ihren Schläfen pochte. Musste sie sich überhaupt Gedanken darüber machen, wie es wäre, wenn Luc zu ihrem und Rubys Leben gehörte?

Warum war er heute Abend hergekommen? Um zu sagen, dass er dabei war?

Oder um sich zu verabschieden?

3. KAPITEL

In Cates und Rubys Apartment hing noch ein verführerisches Knoblaucharoma, vermutlich vom Abendessen, das Lucs Magen zum Knurren brachte. Er war so in Eile gewesen, herzukommen und Ruby zu sehen, dass er vollkommen vergessen hatte zu essen – was ihm normalerweise nie passierte.

Er saß auf Rubys leuchtend lilafarbenem Bettüberwurf, während sie ihm ihre farbenfrohe Pony-Herde vorführte. Ihre Puppensammlung hatte er bereits kennengelernt.

Auf dem Weg in Rubys Zimmer hatte er die Wohnung einer kurzen Inspektion unterzogen. Alles in dem winzigen Apartment befand sich an seinem korrekten Platz. Ganz offensichtlich war Cate noch immer dieselbe Ordnungsfanatikerin wie früher, aber die Accessoires und Farben, mit denen sie sich eingerichtet hatte, verliehen dem Ganzen eine angenehme und heimelige Atmosphäre. Dennoch fühlte Luc sich merkwürdig beengt. Er war weite, offene Flächen gewohnt. Rund um das Apartmenthaus gab es kaum Rasen und keinen Spielplatz.

Er verspürte den seltsamen Drang, Ruby auf den Arm zu nehmen, mit ihr von hier zu verschwinden und niemals wiederzukommen.

„Das hier ist mein Lieblingspferdchen.“ Ruby hielt ein weißes Pony mit violetter Mähne hoch.

Manchmal redete sie so schnell, dass Luc Mühe hatte, ihren Worten zu folgen. Überhaupt war er vor allem damit beschäftigt gewesen, ihren Anblick in sich aufzusaugen, alle Details und Nuancen zu registrieren, die sie einzigartig machten und es dabei nicht mit seinem demonstrativen Interesse zu übertreiben. Bislang hatte er herausgefunden, dass sie an ihrem Ohrläppchen zupfte, wenn sie nachdachte, und selten länger als sechzig Sekunden stillsaß.

Na also. Sie brauchte Raum, sich auszutoben, am besten eine ganze Ranch als Hinterhof. Doch das war heute nicht der Grund seines Besuchs. Er war hier, um das Ergebnis des Vaterschaftstests mit Cate zu besprechen – und Ruby dann, gemeinsam mit Cate, zu sagen, dass er ihr Vater war. Darauf sollte er sich jetzt konzentrieren.

„Zeit, ins Bett zu gehen, Rubes.“ Cate stand im Türrahmen, ihre nackten Zehen ragten über die Schwelle.

Luc warf einen Blick auf den kleinen Wecker, der auf Rubys Nachttisch stand, und war überrascht, wie viel Zeit seit seiner Ankunft vergangen war.

Ruby verzog das Gesicht. „Aber …“, jammerte sie, „aber mein Freund Luc ist doch da.“

„Mein Freund Luc.“ Das war so niedlich! Aber wie würde Ruby mit den Veränderungen klarkommen? Luc betete, dass sein kleines Mädchen sich ohne Probleme oder emotionale Tumulte an die neue Situation gewöhnen würde!

„Ich weiß“, erwiderte Cate geduldig. „Aber es ist schon spät, und du brauchst deinen Schlaf. Wir können immer noch eine Geschichte lesen, wenn du jetzt deinen Schlafanzug anziehst und dir die Zähne putzt.“ Doch ihr aufmunternder Ton war an Ruby verschwendet.

Vielmehr braute sich in dem winzigen Wesen ein Orkan der Ablehnung zusammen. Rasch erhob Luc sich vom Bett. „Ich muss noch mit deiner Mom reden“, erklärte er Ruby. „Das erledige ich, während du dich fertigmachst, und dann …“ Er schaute fragend zu Cate. „Dann könnte ich dir vielleicht etwas vorlesen?“

Nach kurzem Zögern nickte Cate und wandte sich zum Gehen.

Luc folgte ihr und schloss die Tür zu Rubys Zimmer hinter sich. In der Mitte des Wohnraums blieb er stehen. Hin- und Herlaufen würde nichts bringen, mit sechs Schritten hätte er die gegenüberliegende Wand erreicht. War die Wohnung noch kleiner geworden, während er sich mit Ruby unterhalten hatte? Vielleicht lag es ja an der Nähe zu Cate, diesmal ohne Tochter als Puffer zwischen ihnen.

„Ich habe das Testresultat erhalten. Per E-Mail. Ruby ist von mir.“ Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals. Zorn und Verwirrung und Traurigkeit peitschten durch ihn hindurch wie ein Windstoß.

Cate wirkte nicht überrascht. Aber es war schließlich auch nicht er gewesen, der ihr vor vier Jahren Betrug vorgeworfen hatte. Vielmehr hatte sie ihn beschuldigt, sie hintergangen zu haben. Als er es abstritt und sie ihm nicht glaubte – das war der schlimmste Moment seines Lebens gewesen.

Luc konnte es nicht ertragen, wenn man ihm nicht vertraute. Das war ihm einmal in der Highschool passiert und dann wieder mit Cate, und er hegte absolut nicht das Bedürfnis, diese Erfahrung zu wiederholen.

„Ich habe meine Mails noch nicht gecheckt, daher habe ich auch noch nichts gesehen“, sagte Cate. „Aber das ist auch nicht nötig. Ich weiß ja, dass Ruby von dir ist.“ Betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. „Aber ich bin froh“, fuhr sie dann fort, „dass du die Antwort hast, die du brauchst.“

„Und was passiert jetzt?“

„Ich weiß nicht.“ Ratlos hob sie die Hände. Sie zitterten leicht, ein stummer Appell an seine mitfühlende Seite. Rasch unterdrückte er den unwillkommenen Impuls. „Ich nehme an, es liegt bei dir, Luc. Wie sehr du involviert sein möchtest. Falls du sie überhaupt sehen willst.“

„Falls?“, wiederholte er hitzig. Machte sie Witze? Kannte sie ihn nicht besser? Doch Cate sah aus, als würde sie sich gleich in einer Flut aus Emotionen auflösen, und das wollte Luc nicht, trotz seiner Empörung. Schon um Rubys willen. Sie mussten nicht im selben Boxring weitermachen, in dem sie damals aufgehört hatten. Also setzte er noch einmal zur Antwort an, diesmal in ruhigerem Ton. „Natürlich will ich sie sehen.“

„Dann sollten wir wohl einen Plan entwerfen. Einen Zeitplan.“

Luc wollte Ruby ganz in seinem Leben haben, nicht nur einen bunt markierten Kalender mit festgelegten Terminen. Aber das war unmöglich. So gern er Ruby aus diesem winzigen Apartment wegbringen würde, er konnte es nicht. Cate würde das niemals zulassen. Das war ihm klar, er war kein Dummkopf.

„Wie wollen wir es ihr sagen?“

Sie schloss kurz die Augen und massierte ihre Schläfen. „Ich habe sie, so gut ich konnte, darauf vorbereitet. Ich habe sie gefragt, ob sie ihren Daddy kennenlernen möchte.“

„Und was hat sie gesagt?“

In diesem Moment kam Ruby hüpfend aus ihrem Zimmer. „Ich putze mir jetzt die Zähne und dann weiß ich, welches Buch mein Freund Luc mir vorlesen soll. Boo-Boo Bär hat es ausgesucht. Aber Mommy, du musst mich trotzdem noch kuscharmen.“

Nach dieser Informationssalve knallte die Badtür zu.

Luc brauchte eine Übersetzung für Dreijährigensprache. „Kuscharmen?“

„Eine Kombination aus Kuscheln und Umarmen.“ Cates Züge wurden weicher, und um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. „Und um deine Frage von eben zu beantworten – was glaubst du wohl? Du hast sie doch getroffen. Für Ruby gilt, je mehr Leute, desto besser. Sie will ihren Dad kennenlernen. Dich.“

„Also sagen wir es ihr gleich heute Abend?“

Die Ungeheuerlichkeit seiner Frage raubte ihm den Atem. Und auch Cate schien Probleme zu haben, ausreichend Luft in ihre Lunge zu bekommen, denn ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller.

„Ja“, murmelte sie und ihre seelenvollen braunen Augen waren voller Kummer und Reue. „Es tut mir wirklich leid, Luc.“

Das wollte er im Moment wirklich nicht hören. Eines Tages würden sie sich mit den Gründen befassen müssen. Eines Tages würde er sich dazu durchringen müssen, ihr zu vergeben. Heute war nicht dieser Tag.

Luc hatte in der vergangenen Woche viel über Ruby und Cate nachgedacht und nach Antworten gesucht, die doch meilenweit entfernt schienen. Und obwohl er wusste, dass sein Glaube ihn schon sehr bald dazu bringen würde, seinen Zorn auf Cate zu überwinden, ging es jetzt in diesem Augenblick nicht darum. Heute ging es allein darum, Ruby die Wahrheit zu sagen.

Als er nicht auf ihre Entschuldigung einging, holte Cate tief Luft, als müsste sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. „Ich muss wissen …“, sie schaute ihn flehend an, „dass du wirklich dazu stehst. Nicht zu mir, ich kann verstehen, dass ich gerade nicht zu deinen Lieblingsmenschen gehöre. Aber zu Ruby. Um ihretwillen muss ich sicher sein, dass du dich nicht einfach aus dem Staub machst, wenn du merkst, dass ein guter Dad zu sein das Schwierigste ist, was es im Leben gibt. Ich muss sicher sein, dass sie auf dich zählen kann.“

Trotz allem, was zwischen ihnen schiefgelaufen war, hatte Cate recht mit ihrer Frage. Es galt, ihre Tochter zu beschützen – ihre gemeinsame Tochter. Ein Hauch von Respekt meldete sich zurück. „Ich mache keine halben Sachen, Cate. Um deine Frage zu beantworten: Ich werde nirgendwohin verschwinden. Ich bin für immer Teil von Rubys Leben.“

Allerdings wusste er immer noch nicht, wie sie es Ruby sagen sollten. Wie konnte man erklären, dass er nichts von ihr gewusst hatte, ohne Cate dabei den schwarzen Peter zuzuschieben? Egal, welche Gefühle er ihr gegenüber hegen mochte, wollte er auf keinen Fall damit anfangen, Rubys Mutter schlecht zu machen. Er würde die Bedürfnisse ihrer Tochter an erste Stelle setzten.

Im Stillen betete er um Weisheit und Führung.

Cate zog die Brauen zusammen. „Was denkst du gerade?“

„Ich bete“, gab er zurück – und bemerkte, dass sein schnippischer Tonfall ziemlich unangemessen war. Rasch bemühte er sich um einen gemäßigteren Ton. „Ich habe keine Ahnung, was wir beide jetzt tun sollten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Also dachte ich, ich frage jemanden, der was davon versteht.“

In ihrer Miene kämpften Verblüffung und Neugier. „Seit wann bist du denn religiös, Lucas Wilder?“

„Seit ich Denver …“ dich „… verlassen habe. Nachdem ich auf die Ranch zurückgekehrt war, war ich …“ am Boden zerstört. „Ich fing an, mit meiner Familie zur Kirche zu gehen, und irgendwas hat klick gemacht. Als ich jünger war, wollte ich nie wirklich eine Beziehung zu Gott, aber seither hat sich etwas verändert. Und ich habe mich auch verändert.“ Zumindest hoffte er das. Während seiner Zeit mit Cate hatte er die Dinge nicht besonders gut gehandhabt und meist die eigenen Befindlichkeiten in den Vordergrund gestellt. Hatte er Cate damals wirklich zu schätzen gewusst? Zweifelhaft.

Der Gedanke, wie unreif er während ihrer Beziehung gewesen war, schmerzte wie ein Huftritt gegen sein Schienbein.

Cate schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln. „Ruby und ich … wir gehen auch zur Kirche. Vor ungefähr einem Jahr habe ich zum Glauben gefunden!“ Ihr Lächeln verschwand. „Das ist auch der Grund, warum du jetzt hier stehst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es sonst gewagt hätte, dich einfach so auf der Ranch zu besuchen!“ Sie schüttelte den Kopf, und der lockere Pferdeschwanz wischte über ihren Rücken.

Sie so lässig zu sehen, kaum geschminkt und ohne die Rüstung ihres schicken Outfits, rief Erinnerungen an ihre jüngeren gemeinsamen Tage in Luc wach. Schon damals war sie schön gewesen, doch jetzt strahlte sie noch etwas anderes aus. Eine Art … Friedfertigkeit? Er war nicht sicher. Aber er mochte diese entspanntere Seite an ihr. Cate sah aus, als wäre sie drauf und dran, sich mit einer Decke aufs Sofa zu kuscheln, um einen Film anzuschauen. Und ein verräterischer Teil von ihm fand, dass er derjenige sein sollte, der sich neben sie kuschelte. Obwohl er immer noch wütend auf sie war, übte sie diese Wirkung auf ihn aus. Was würde da erst passieren, wenn er es tatsächlich fertigbrachte, ihr zu vergeben? Vielleicht war das ja einer der Gründe, warum er sich so dagegen sträubte.

Luc wollte auf keinen Fall noch einmal in die Nähe eines solchen Schmerzes kommen, wie sie ihn einander zugefügt hatten.

Bei all seiner Empörung über Cate in der vergangenen Woche hatte er bequemerweise völlig verdrängt, welche Schuld er selbst daran getragen hatte, wie es zwischen ihnen geendet hatte. Wie er sich damals benommen hatte. Schon vor jenem letzten Streit hatte er oft wegen der geringsten Kleinigkeit einen Streit vom Zaun gebrochen. Sie waren beide noch so jung gewesen, als sie sich in diese Beziehung gestürzt hatten! Luc war sicher gewesen, dass er Cate liebte. Aber mittlerweile fragte er sich, ob er jemals wirklich begriffen hatte, was das Wort Liebe bedeutete.

Seit Cates Rückkehr in sein Leben hatte er sich so sehr darauf fokussiert, wie unrecht es von ihr gewesen war, ihm Ruby vorzuenthalten, dass er keinen Gedanken an seine eigenen selbstsüchtigen Entscheidungen verschwendet hatte.

„Ich war damals ab und zu ein ziemlicher Mistkerl, was?“

Cate besaß die Freundlichkeit, sich eine Erwiderung zu verkneifen, aber er kannte die Antwort. Kein Wunder, dass sie ihm nicht sofort von Ruby erzählt hatte. An ihrer Stelle hätte er sich vielleicht auch nicht bei sich gemeldet.

Cate hatte schon auf viel zu vielen harten, unbequemen Stühlen in Arztzimmern wie diesem hier ausgeharrt, aber heute war etwas anders als sonst. Luc saß auf dem Stuhl neben ihr, so dicht, dass sie die Wärme spürte, die von seinem kraftvollen Körper ausging.

Er verlor nicht die Geduld, während Ruby unermüdlich auf ihm herumkletterte, um all die Energie abzubauen, die sich während der langen, langweiligen Wartezeit aufgestaut hatte. Aber er übte sich ja auch erst seit sechs Tagen in der Elternrolle.

„Dauert es hier normalerweise lange, bis man drankommt?“, erkundigte sich Luc.

„Nein, nicht sehr. Wenn du irgendwas anderes zu erledigen hast, kannst du aber gern gehen.“

Argwöhn...

Autor