Mein Duke und Herzensdieb

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Er hält sie für eine Diebin? Wie unverschämt – und aufregend! Eigentlich wollte Miss Margaret nur die wertvollen Bücher in der Bibliothek von Lucien Ambrose, Duke of Merleton, bewundern. Doch die funkensprühende Hitze in seinem Blick weckt in ihr ganz neue, verruchte Gefühle. Was, wenn sie tatsächlich in die Rolle der verführerischen Diebin schlüpft, die in der Gegend ihr Unwesen treibt? Dann hätte sie einen Vorwand, dieses herrliche Kribbeln weiter zu erforschen, das die Nähe des Dukes in ihr auslöst. Natürlich wird sie dabei vorsichtig vorgehen – denn was wäre das für eine Diebin, die sich selbst das Herz stehlen lässt?


  • Erscheinungstag 29.06.2024
  • Bandnummer 163
  • ISBN / Artikelnummer 0840240163
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Vivienne Lorret

Bestsellerautorin Vivienne Lorret liebt Liebesromane, ihren pinkfarbenen Laptop, ihren Ehemann und ihre beiden Teenagersöhne (nicht zwingend in genau dieser Reihenfolge …). Sie beherrscht die Kunst, unzählige Tassen Tee in Wörter zu verwandeln, und hat sich mittlerweile mit zahlreichen wunderbaren Regency-Romances in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben.

„Doch sagt mir die Wahrheit, und ich will Euch umso mehr lieben …“

Thomas Malory

1. KAPITEL

Ein unausgegorener Plan

Margaret Stredwick lag seitlich ausgestreckt unter dem langfingrigen Schatten einer Trauerweide und betrachtete ihre Reisegefährtinnen mit freundlichem Argwohn.

Irgendetwas führten sie im Schilde, dessen war sie sich sicher.

Ein unbeteiligter Beobachter wäre wohl kaum auf den Gedanken gekommen, dass die beiden älteren Damen auch nur ein Wässerchen trüben konnten. Die Parrish-Schwestern waren wohlgelitten in ihren Kreisen – Maeve für ihre ernste und kultivierte Erscheinung und Myrtle für ihren hinreißenden und überschwänglichen Charme. Und da sie zu alledem auch die heiß und innig geliebten Tanten von Megs Schwägerin waren, der Marchioness of Hullworth, hatten sie auch Megs Herz im Sturm erobert.

Dennoch waren sie ganz schlimme Kupplerinnen, das konnte man nicht anders sagen.

So war Meg natürlich nicht entgangen, dass dieses angeblich so spontane Picknick sie geradewegs in den pittoresken Park geführt hatte, der das Anwesen des ruhig und zurückgezogen lebenden Duke of Merleton umgab.

Des unverheirateten Duke of Merleton.

Auffallend war auch, dass die beiden in den fünf Stunden, die seit ihrer Abreise aus Wiltshire vergangen waren, ungewohnt wenig zu ihrem Lieblingsthema zu sagen gehabt hatten, welches da wäre Die fünfhunderttausend Methoden, für Meg einen Gatten zu ergattern. Mittlerweile müssten sie eigentlich platzen von allem, was zu sagen sie sich verkniffen hatten.

„Welch glücklicher Zufall, dass der Kutscher die falsche Abbiegung genommen und uns geradewegs hierher geführt hat“, gab Meg sich arglos.

Die Tanten wechselten einen eindeutig schuldbewussten Blick.

Meg drehte einen Grashalm zwischen den Fingern und ließ sich nicht beirren. „Wer hätte gedacht, dass der Verwalter uns sogar erlauben würde, hier zu picknicken, nachdem er sich zwanzig Minuten darüber beschwert hatte, wie sehr es ihn von seiner Arbeit abhalte, Touristen herumführen zu müssen. Aber ihr wart wirklich überzeugend.“

Maeve, die ältere der Schwestern, saß in vornehmer Anmut auf einem flachen Sarsenstein und strich mit der Hand über ihr eisengraues Haar, das es niemals wagen würde, ihrer stets tadellosen Frisur zu entkommen. „So schwer war das gar nicht. Mit den Jahren haben wir gelernt, dass es genau drei Vorgehensweisen gibt, einen Mann zu überzeugen: für ihn zu kochen, ihm Komplimente zu machen oder mit ihm zu kokettieren.“

„Oder alle drei Ks zugleich“, setzte Myrtle mit einem Lächeln nach, während sie einen grünen Apfel am Ärmel ihres lavendelfarbenen Kleides blankrieb und eine warme Brise ihr silbernes Haar aufwirbelte wie Löwenzahnflaum. „Nachdem das Angebot, unseren Proviant mit ihm zu teilen, nicht verfing, musste ich mir notgedrungen etwas anderes ausdenken und tat, als würde ich stolpern, damit er mich auffangen konnte. Und es lag doch nahe, ihm bei der Gelegenheit zu sagen, wie wunderbar stark er sei.“

Meg lachte. „Du hast ihn ein prächtiges Mannsbild genannt! Das war wirklich dreist.“

„Allerdings.“ Maeve spitzte die Lippen und schnippte einen Krümel vom fein bestickten Rock. „Etwas mehr Diskretion würde dir wirklich gut zu Gesicht stehen, Schwester.“

„In unserem Alter? Ich bitte dich, so ein Unsinn. Wo wären wir denn, wenn wir uns stets vornehm zurückgehalten hätten? Ganz sicher nirgends, wo sich einem ein so vielversprechender Ausblick böte.“ Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll von ihrer Schwester zu dem steil aufragenden Türmchen der auf dem Anwesen gelegenen Kapelle.

Vielversprechender Ausblick, dass sie nicht lachte. Wahrscheinlich sahen sie Meg schon mit dem Duke vor den Altar treten. Dabei war sie dem Mann noch kein einziges Mal begegnet. Und wenn es nach ihr ginge, würde sie das auch nie tun.

Die Zukunft hielt keine feierliche Trauung für sie bereit, keinen Mann, der am Altar auf sie wartete. Damit war es vorbei, seit Daniel Prescott – dem sie sich einst seelenverwandt glaubte – einfach eine andere geheiratet hatte.

Die Erinnerung versetzte ihr einen scharfen Stich in der Brust und sie seufzte, wenn auch mehr aus Überdruss, dass sie ihre Gedanken einmal mehr zu ihm hatte zurückkehren lassen. Schließlich wollte man sich von einem gebrochenen Herzen ja nicht die ganze Reise verderben lassen.

Resolut stand sie auf, schüttelte ihren gestreiften Rock aus und trat mit einem Rest Brot in der Hand an den Ufersaum, riss es in kleine Stücke und warf die Krumen einem Schwanenpaar zu, das anmutig die langen Hälse beugte und zwischen den Seerosenblättern ins Wasser tauchte. „Wenn wir den nächsten Gasthof vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen, sollten wir uns langsam auf den Weg machen.“

Ihr kleiner Abstecher hatte sie schon den halben Tag gekostet, und Meg konnte es kaum erwarten, England mit all seinen Erinnerungen hinter sich zu lassen und endlich auf den Kontinent zu gelangen, den sie diesen Sommer erkunden wollten.

Die Reise sollte ihr letzter Auftritt als Debütantin sein, der krönende Abschluss, bevor sie sich mit einem Leben als alte Jungfer abfand. Mit der Rückkehr nach Wiltshire und ins Haus ihres Bruders würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen, in dem sie Brandons und Ellies Kindern die liebevolle und manchmal wohl auch etwas lästige Tante sein wollte.

„Oh! Aber jetzt können wir noch nicht aufbrechen“, warf Myrtle gereizt ein und ließ den halb gegessenen Apfel in den Schoß sinken. „Wir haben doch noch längst nicht … alles gesehen.“

Alles – oder jemand ganz bestimmten? dachte Meg trocken und blies sich eine auf Abwege geratene dunkle Locke aus der Stirn.

„Ich glaube die Ländereien können sich wirklich mit denen deines Bruders messen“, sprang Maeve ihr in ihrer gewohnt sachlichen Art zur Seite.

Nun, da könnte sie sogar recht haben. Meg hatte noch nie Gärten gesehen, die es mit denen von Crossmoor Abbey hätten aufnehmen können. Und als die Tanten ganz aus dem Häuschen geraten waren bei der Aussicht auf einen echten Wehrturm, hatte sie sich auf eine militärische Anlage aus dem Mittelalter gefasst gemacht, eine hinter hohen Mauern verborgene Burgruine. Kurzum nichts, was bei ihr auf großes Interesse gestoßen wäre.

Erst als sie dann über die Zugbrücke gefahren waren – man glaubte es kaum, aber es gab tatsächlich eine voll funktionsfähige Zugbrücke – und kurz darauf das zinnenbewehrte Torhaus passiert hatten, fand Meg sich auf einmal von der Begeisterung der Tanten angesteckt.

Wobei Caliburn Keep keine mittelalterliche Burg war, sondern ein Palast von solcher Pracht, dass der Anblick ihr den Atem verschlug.

Wie ein Märchenschloss kam es ihr vor, mit gotischen Spitzbögen und bleigefassten Fenstern, die wie Tausende kleiner Spiegel schimmerten und funkelten. Inmitten einer Kulisse aus Farnen und Gräsern, träg ins Wasser hängenden Wedeln der Trauerweiden und den in leuchtenden Farben blühenden Blumen und Bäumen war es, als würde man ein Gemälde betreten.

„Es ist ganz schön hier“, räumte sie widerstrebend ein und sah den Schwänen dabei zu, wie sie auf den kleinen, von goldgelben Binsen flankierten Wasserfall zuschwammen.

„Dann wäre das ja geklärt“, sagte Myrtle erleichtert. „Und ich bin mir sicher, allzu lang dürfte es auch nicht mehr dauern.“

Da richtete Meg den Blick wieder auf die Tanten und sah gerade noch, wie die ältere die jüngere mit dem Ellenbogen anstieß. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen. „Was dürfte nicht mehr allzu lange dauern?“

„Ich glaube, Myrtle meinte, es dürfte nicht allzu lang brauchen, die Haushälterin zu einer Hausführung zu überreden.“

„Und warum bitte sollten wir uns das Haus ansehen wollen? Es sei denn, ihr heckt schon wieder etwas aus.“

Die ältere der beiden Parrish-Schwestern gab sich entrüstet. „Also, ich weiß wirklich nicht, was du uns damit unterstellen willst.“

„Ach nein? Wie war das noch gleich, als ihr eure Taschentücher dem Baron zu Füßen habt fallen lassen und dann hinter mir in Deckung gegangen seid? Oder mich mitten auf dem Marktplatz rein zufällig vor diesen Viscount geschubst habt?“

„Ich bleibe dabei, dass ich bloß eine Wespe auf deinem Rücken verscheuchen wollte“, sagte Maeve, hielt den Blick allerdings auf die schmal zulaufenden Manschetten ihrer Trompetenärmel geheftet und machte sich an einem der kleinen Silberknöpfe zu schaffen.

„Und außerdem“, mischte Myrtle sich ein, „ist es ja nicht so, als würden wir es auf eine zufällige Begegnung mit dem Duke anlegen. Oder uns einbilden, Euer Gnaden brauche nur einen Blick auf dich zu werfen in deinem aparten blauen Kleid und würde sich sofort Hals über Kopf in dich verlieben. Oder dass die Leidenschaft ihn gar so übermannte, er nach deiner Hand griffe und vor dir auf die Knie …“

Sie verstummte, als Meg schnaubend die Hände in die Hüften stemmte. Hatte sie es doch gewusst, dass der Kutscher sich nicht einfach so verfahren hatte! Die Tanten hatten es mit Vorsatz geplant.

„Ich mache eure Träume nur ungern zunichte, aber der Verwalter meinte doch vorhin, der Duke sei überhaupt nicht da.“

„Er sagte, der Duke sei nicht zugegen“, korrigierte Maeve sie. „Was nichts anderes heißt, als dass er nicht zu sprechen ist. Von einem Mann, der sich so selten in Gesellschaft zeigt, habe ich ehrlich gesagt auch nichts anderes erwartet.“

„Ein Einsiedler, na prima“, murmelte Meg und stellte sich Merleton bleich und vierschrötig vor, mit einem Bart so lang, dass er über den Boden schleifte.

„Aber das tut doch überhaupt nichts zur Sache“, fuhr Maeve fort. „Schließlich sind wir ja nicht seinetwegen gekommen.“

„Ach nein?“, war gleichzeitig von Meg und Myrtle zu hören – wenn auch im Tonfall je etwas verschieden.

Die ältere Miss Parrish schüttelte den Kopf und setzte dabei eine Gelehrtenmiene auf. „Wir sind wegen der Rezepte hier. Der sagenumwobenen Rezepte. Einzig und allein deswegen. So ist es doch, Schwester, oder etwa nicht?“

„Davon hast du überhaupt nichts …“

„Oh, Myrtle, du wirst mit dem Alter auch immer vergesslicher. Wir haben doch erst gestern von der berühmten Legende gesprochen“, rief Maeve ihr mit einem schmalen Lächeln in Erinnerung.

„Aber natürlich, diese Rezepte!“

Meg betrachtete die beiden und kaufte ihnen kein einziges Wort ab.

Doch davon ließ Maeve sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Sicher hast du schon mal von der berühmten Sammlung gehört, Liebes“, wandte sie sich an Meg. „Sie reicht zurück bis an den Hof von König Artus. Die Seiten mit Gold und Silber illuminiert, der Einband mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Die Rezepte galten einst als Gotteswerk, dem kein Mensch auf Erden widerstehen konnte. Ihnen wohnt die Macht inne, jenen, die von ihnen kosten, bestimmte Eigenschaften zu verleihen. Sich tapfer zu bewähren wie ein Ritter in der Schlacht, um nur ein Beispiel zu nennen, oder die unverbrüchliche Liebe einer holden Maid …“

Vage meinte Meg sich zu erinnern, und während sie weiter Maeves Ausführungen lauschte, die mit großen Gesten die gesamte Anlage einschlossen, geriet ihre Überzeugung, die Tanten könnten es nur auf eine Begegnung mit dem Duke abgesehen haben, ins Wanken.

Denn wenn es eins gab, das den beiden noch wichtiger war, als jede junge Dame ihrer Bekanntschaft bestmöglich unter die Haube gebracht zu sehen, dann die Jagd nach dem einen, perfekten Rezept …

Wobei sie keinerlei Skrupel an den Tag legten.

Megs Schwägerin Ellie hatte ihr anvertraut, dass die Tanten seit Jahren die Küchen der besten Häuser unsicher machten und sich sämtliche kulinarische Geheimnisse unter den Nagel rissen, derer sie habhaft werden konnten, um für den großen Tag der Hochzeit ihrer Nichte gewappnet zu sein. Und das mit Erfolg, denn nachdem Ellie und Brandon vergangenes Jahr geheiratet hatten, schwärmte man noch Wochen später in den höchsten Tönen von all den erlesenen Speisen und dem guten Geschmack der Parrish-Schwestern, die auf einmal zu kulinarischer Berühmtheit gelangt waren.

So groß war ihr Erfolg, dass der gesamte ton sich darum riss, dieses Frühjahr eine Einladung zur gleichfalls von den Tanten bestellten Tauffeier des kleinen Johnathon zu erhalten, dem jüngsten Familienzuwachs der Stredwicks. Ungeahnte Köstlichkeiten wurden aufgetragen und es sei zugegangen wie im Schlaraffenland, wusste man später zu berichten, und auch auf den Gesellschaftsseiten fanden die findigen Schwestern Erwähnung.

„… und dieses sagenhafte Buch war es, das der Familie überhaupt erst Titel und Ländereien eingebracht hat“, schloss Maeve.

Meg schien es auf einmal durchaus plausibel, dass sie diesen Abstecher wirklich nur wegen eines Rezepts gemacht hatten. Vielleicht tat sie den Tanten ja Unrecht, ihnen Kuppelei zu unterstellen.

Doch kaum war ihr dieser versöhnliche Gedanke gekommen, schien Myrtle sich nicht länger bremsen zu können und klatschte vor Aufregung in die Hände.

„Oh, Schwester! Wir brauchen diese Rezepte unbedingt fürs nächste Hoch…“ Sie verstummte jäh und räusperte sich umständlich. „Wenn wir wieder ein Essen für die Damen ausrichten.“

Aha! Hätte sich da doch fast jemand verplappert.

Wahrscheinlich konnten sie es kaum erwarten, sich bei der nächsten Feier noch einmal selbst zu übertreffen. Der späte Ruhm schien ihnen ganz schön zu Kopf gestiegen.

Aber Meg sah überhaupt nicht ein, warum sie dafür ein Opfer bringen sollte.

„Ich werde euren Duke nicht heiraten“, verkündete sie, die Arme vor der Brust verschränkt, und wippte gereizt mit der leinenen Schuhspitze im Gras.

„Aber davon kann doch gar keine Rede sein, Liebes. Ihr seid einander ja noch nicht mal vorgestellt worden“, wischte Maeve ihren Einwand beiseite. „Und nichts läge uns ferner, als dich in die Arme eines Fremden zu treiben, und sei er dabei noch so gut gestellt und vermögend.“

„Ach ja? Und wie war mit diesem spanischen Vizconde kürzlich im Regent’s Park? Ich erinnere mich noch recht gut, ihm bei unserem Nachmittagsspaziergang förmlich in die Arme getrieben worden zu sein!“

Myrtle sah sie mit großen Augen an und hob die runden Schultern. „Vielleicht wieder eine Wespe?“

Jetzt gaben sie sich auch noch arglos!

Aber Meg fiel nicht darauf herein. Wenn dieser kleine Umweg also einzig den Rezepten galt, sollten die beiden es ihr auch beweisen.

„Also gut“, sagte sie. „Wenn ihr wegen eines Rezepts hier seid, aber Caliburn Keep für Besucher geschlossen ist, wie stellt ihr euch das vor? Die Köchin wird wohl kaum mit diesem Buch an die Tür kommen, wenn ihr nur freundlich genug fragt.“

Die Schwestern sahen einander an und lächelten.

„Das klingt mir fast nach einer Herausforderung“, sagte Myrtle, und ihre blauen Augen blitzten, als sie das abgeknabberte Apfelgehäuse ins Wasser warf und sich tatendurstig die Hände rieb.

„So habe ich es auch verstanden“, pflichtete Maeve ihr bei und hob die schmalen Brauen. „Und ich denke, Miss Stredwick, vor unserer Abfahrt werden wir uns nicht nur Zutritt zum Haus verschafft haben, sondern auch das Rezept aller Rezepte unser Eigen nennen.“

Meg schluckte. Die beiden schienen zum Äußersten entschlossen. Und sie fragte sich, ob sie die alten Damen wohl unterschätzt hatte.

2. KAPITEL

Viele Köche verderben den Brei

Lange Gräser streiften raschelnd ihre Röcke, als sie über einen schmalen Fußweg, unter duftenden, von Vogelgesang erfüllten Bäumen hindurch in den formal angelegten Garten gelangten, dessen Herzstück ein leise plätschernder Brunnen war.

Meg war wie verzaubert, auch wenn ihr Caliburn Keep vor diesem friedlichen Idyll noch eindrucksvoller schien als aus der Ferne.

Hoch ragte die fest gemauerte Fassade vor ihnen auf, als wäre sie in alten Zeiten der Erde entwachsen. Im hellen Stein ein dunkles Holztor, groß genug, um eine Kutsche durchzulassen, etwas höher die spitzen Bögen der bleigefassten Fenster, in deren rautenförmigen Scheiben sich blauer Himmel und weiße Wolken spiegelten wie in einem Kaleidoskop.

Sie war sich nicht sicher, ob stimmte, was die Tanten erzählt hatten, und die Anfänge des Herzogtums sich wirklich bis in die Zeiten der legendären Artussage zurückverfolgen ließen, oder ob es die sagenumwitterten Rezepte überhaupt gab. Doch an einem Ort wie diesem, das musste sie zugeben, konnten einem Fantasie und Wirklichkeit schon mal durcheinandergeraten.

Und ganz gegen ihren Willen war nun auch ihre Neugier geweckt.

Leider erhielt sie auch schnell wieder einen Dämpfer, denn sie kamen kaum weiter als bis zur Tür mit dem drachenköpfigen Klopfer, bevor der Butler ihnen mit stoischer Miene beschied, das Schloss sei nicht zu besichtigen. Bevor die lästigen Besucher noch einen Einwand erheben konnte, wollte er ihnen die Tür auch schon wieder vor der Nase zumachen.

Doch er hatte die Rechnung ohne Maeve gemacht, die sich so leicht nicht abspeisen ließ.

„Werter Herr, verzeihen Sie mir die Frage, Sie sind nicht zufällig mit Mr. Cooke verwandt, dem berühmten Schauspieler?“

Er hielt inne, neigte verwundert den Kopf, ob nun, weil ihn das noch nie jemand gefragt hatte oder weil er noch überlegte, ob er es als Affront auffassen sollte oder nicht, hatte sich aber schnell wieder im Griff und erwiderte: „Bedaure, Madam, nicht dass ich wüsste.“

„Ich möchte nicht zudringlich erscheinen“, fuhr Maeve unbeirrt fort, „aber eben, als das Licht so warm auf Ihr Gesicht fiel, war mir wirklich, als hätte ich den Schwarm meiner Jugend vor mir. Sie müssen wissen, Richard III. habe ich mir dereinst sicher ein Dutzend Mal angesehen und ihn während der Vorstellungen angeschmachtet wie ein liebeskrankes Kalb.“

Die Tür öffnete sich etwas weiter.

„An das Stück erinnere ich mich. Mag sein, dass ich als junger Bursche selbst die ein oder andere Aufführung besucht habe. Aber das ist lange her.“ Doch wie er da stand, in seiner adretten Livree, schien er gleich um eine Haupteslänge gewachsen und zog seine Weste straff.

„Dann sieht man Ihnen Ihr Alter gar nicht an“, meinte Maeve und senkte den Blick, als schäme sie sich ihrer Kühnheit.

Und kam es Meg nur so vor, oder klang Maeves Stimme auf einmal ganz atemlos hingehaucht? Solche Spielchen kannte sie bislang nur von Myrtle, die bei jedem Besuch im Park mit den Nüsschenverkäufern schäkern musste. Doch diese verborgene Seite an Maeve zu entdecken, war eine Offenbarung. Dieses raffinierte Biest!

Der Butler räusperte sich und ein rosiger Hauch stand ihm auf den Wangen. „Nun, eine Besichtigung des Rittersaals dürfte sich für die Damen wohl einrichten lassen.“

Und schon waren sie im Haus.

Während er die Tür hinter ihnen schloss, nickte Maeve ihr verstohlen zu, als wolle sie sagen: So macht man das, meine Liebe.

Meg biss sich auf die Wange, um nicht zu lachen.

Die Kunst der drei Ks – Kochkunst, Komplimente und Koketterie –, mit denen sich jeder Gentleman herumbekommen ließe, war allerdings an sie verschwendet.

Das war nicht immer so gewesen, denn auch sie hatte einst von einer Saison voller Partys, rauschenden Bällen und Romanzen geträumt, von Gentlemen, die ihre Aufwartung machten, sie einluden auf ein Eis bei Gunter’s oder eine nachmittägliche Ausfahrt im Park. Alle hätten sich um einen Tanz mit ihr gerissen, ihre Tanzkarte wäre immer gut gefüllt gewesen und Daniel Prescott dabei so eifersüchtig geworden, dass er auf der Stelle um ihre Hand angehalten hätte. Ja, sie hatte sich sogar ausgemalt, wie sie sich erst ein wenig zieren und Bedenkzeit erbitten würde, ehe sie seinen Antrag mit leuchtenden Augen annahm.

Leider hatte das alles recht wenig mit der Wirklichkeit zu tun gehabt.

Obwohl sie eine gestandene Frau von zweiundzwanzig Jahren war, ließ ihr rundes Gesicht sie jünger wirken und Männer behandelten sie oft, als wäre sie noch ein dummes Schulmädchen. Selbst Daniel hatte einmal zu ihr gemeint, dass …

Nein. Sie gebot sich Einhalt, ehe sie auch nur einen weiteren Gedanken an ihn verschwenden konnte.

Sinn und Zweck dieser Reise war doch gerade, ihn sich so gründlich aus dem Kopf zu schlagen, wie man es auch mit einer Spinne zu machen versuchte, die gerade, als man zu Bett gehen wollte, in eine unerreichbare Ecke gehuscht war. Und da Meg nicht zu jenen gehören wollte, die sich bang zitternd die Bettdecke über den Kopf zogen, sagte sie sich immer, dass sie groß und stark war und eine Spinne ihr nichts tun könne. Genauso wenig wie ein gebrochenes Herz ihr etwas anhaben konnte.

Oder vielleicht doch?

Sie erschauerte. Womöglich war das kein guter Vergleich. Denn jetzt wollte ihr die Vorstellung nicht mehr aus dem Kopf, in einen seidenen Kokon eingesponnen zu werden und darauf zu warten, als Mitternachtssnack von einer flinken, haarigen Spinne verspeist zu werden.

So viel also dazu, sich das aus dem Kopf zu schlagen.

Um sich nicht vollends in diesen Abgründen zu verlieren, blinzelte sie einmal kräftig und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf den Butler.

Mr. Gudgeon, so sein Name, begann ihnen von der Geschichte der alten Ritterburg zu erzählen und führte sie dabei durch einen Bogengang in den großen Saal. An den Wänden hingen Tapisserien, Ritterrüstungen standen Spalier. Meg bemerkte, wie theatralisch er auf einmal die Stimme hob, so als stünde er tatsächlich auf einer Bühne und wolle auch noch das Publikum oben auf der Galerie erreichen.

Maeve ließ die Wimpern flattern. „Wie aufregend. Und wenn man bedenkt, dass all die tapferen Knappen abbestellt waren, dieses eine Buch zu verteidigen …“

„Es ist mehr als nur ein Buch, Madam“, sagte er mit stolzgeschwellter Brust. „Es ist eine wahre Schatzgrube an Rezepten, die König Artus und sämtliche Ritter der Tafelrunde in Saft und Kraft hielten. Und es wird bis heute auf eben jenem Stein verwahrt, aus dem er einst sein Schwert Excalibur zog.“

„Gütiger Himmel! Haben Sie denn keine Angst vor Dieben?“

Er ließ ein sonores Lachen hören. „Sollen die es ruhig versuchen! Beides ist besser verwahrt als die Kronjuwelen. Und die Schatzkammer der Familie besser gesichert als der Tower von London.“

Von Myrtle kam ein enttäuschter Seufzer, und Meg fragte sich, was die Schwestern sich nach diesem herben Rückschlag einfallen ließen.

Sie waren mittlerweile bei den Rüstungen der Renaissance angelangt – einer Epoche, die Meg insgeheim auch die Ära der Schamkapsel nannte – und ihr Blick ruhte gerade auf einem auffallend prächtigen Exemplar, als Myrtle sich mit einer Frage an den Butler wandte, bei der sie sich wie ertappt fühlte.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Sir, aber unser Schützling meinte eben, ob es wohl die Möglichkeit gäbe, sich, bevor wir unsere Reise fortsetzen, ein wenig frisch zu machen?“ Es schien sie kein bisschen zu kümmern, dass Megs Wangen sich so rot färbten wie das Drachenbanner an der Wand.

Mr. Gudgeon zögerte zunächst. Doch als im Weiteren klar wurde, dass Maeve mit ihm zurückbleiben würde, zeigte er sich sehr anstellig und wies ihnen den Weg.

Mit sicherem Gespür fand Myrtle durch das Labyrinth aus Treppen und Korridoren den Weg zu Wirtschaftsräumen und Küche, die sich wie eine große, feuchtwarme Höhle vor ihnen auftat.

Die Köchin kehrte ihnen den Rücken zu und hatte alle Hände damit zu tun, das am Bratspieß sich drehende Geflügel zu beaufsichtigen, Pasteten in den halbmondförmig gemauerten Ofen zu schieben und in zwei auf dem Herd stehenden Kupfertöpfen zu rühren. Dabei rief sie über die Schulter Anweisungen an ein emsiges Heer von Küchenhilfen und ging so völlig in ihrer Arbeit auf, dass sie Myrtle nicht bemerkte, die lautlos zur Tür hereinschlüpfte.

Meg hielt derweil draußen Wache und lauschte mit einem Lächeln auf den Lippen der kulinarischen Betriebsamkeit. Das gesellige Geplauder und Geklapper von Töpfen und Pfannen, das dumpfe Klopfen des Hackbeils auf dem Holztisch oder der helle Klang des Schneebesens in kupfernen Rührschüsseln hatten ihr schon immer ein Gefühl der Geborgenheit gegeben.

Vielleicht, weil es sie an zu Hause erinnerte. Nicht an Crossmoor Abbey, sondern an das kleine Cottage, in dem sie wohnten, als ihre Mutter und ihr Vater noch am Leben waren.

„Hier entlang“, flüsterte Myrtle, die unbemerkt wieder an ihrer Seite aufgetaucht war und sie nun energisch den Korridor hinabzog. „Kein einziges Rezept zu sehen. Die müssen alle ordentlich weggeräumt sein.“

Meg wollte gerade vorschlagen, dann doch einfach in den Rittersaal zurückzukehren, als Myrtle sie vor sich her in eine kleine Kammer schubste, die vom Vorratsraum abging.

Nachdem ihre Augen sich an das dämmerige Licht gewöhnt hatten, sah sie auf einem Wandbord ein paar Einmachgläser stehen, eine mehlbestäubte Schürze von einem Haken an der Tür hängen und ein schmales Schreibpult, das dicht in die Ecke gezwängt stand, darüber eine gerahmte Kreuzstichstickerei mit den Worten des französischen Kochs und Patissiers Marie-Antoine Carême: „Der schönen Künste sind fünf an der Zahl – Malerei, Musik, Dichtung, Architektur und Skulptur, zu Letzterer man auch die Konditorenkunst zu rechnen hat.“

Alles deutete darauf hin, dass sie ins Allerheiligste vorgedrungen waren, das Büro der Köchin. Meg staunte nicht schlecht. „Woher wusstest du, dass …“

Aber Myrtle legte den Finger an die Lippen und bedeutete ihr, still zu sein, während draußen zwei plappernde Küchenmädchen vorbeigingen. Also hielt Meg den Mund, auch wenn sie sich vorkam wie in einem Mantel-und-Degen-Stück und die ungeahnten Talente der älteren Dame doch einige Fragen aufwarfen.

Die hatte bereits mit ihrer Suche begonnen, und sie ging rasch und routiniert vor. Mit einer Hutnadel stocherte sie im Schloss der Schreibtischschublade, hatte sie im Nu aufbekommen und holte eine alte, abgegriffene Kladde heraus. Die Seiten waren vergilbt und wellten sich an den Rändern, auf manchen fanden sich hastig hingeworfene Listen zwischen Fettflecken und Saucenspritzern, andere waren in ordentlicher Schönschrift beschrieben und mit den achtlosen Abdrücken von Teetassen versehen.

Ein Kochbuch!

Sie hielt auf einer Seite inne, die besonders abgegriffen aussah und mit Des Dukes Leibspeise überschrieben war. Ohne zu zögern, holte sie ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihres lavendelfarbenen Rocks, breitete es auf dem Schreibpult aus und griff zur Feder, um es sich rasch zu notieren.

Als sie fertig war und weiterblättern wollte, waren draußen erneut Stimmen zu hören.

„Lass dich bloß nicht von Mrs. Gudgeon erwischen, wie du hier unten rumtrödelst, sonst verdonnert sie dich dazu, die Nachttöpfe zu schrubben. Die hat heute vielleicht wieder eine Laune!“

„Ha, wem sagst du das. Sie hat mich vorhin schon zusammengefaltet, weil ich das Frühstückstablett für Lady Morgan nicht ordentlich gemacht hätte. Bevor ich nicht den Lemon Curd mit Rosmarin gefunden hätte, den Ihre Ladyschaft aufs Brötchen will, bräuchte ich mich gar nicht mehr blicken zu lassen.“

„Ach, nimm’s dir nicht so zu Herzen. Wahrscheinlich ist sie nur wieder sauer auf Mr. Gudgeon. Mal gespannt, was der alte Charmeur diesmal wieder angestellt hat.“

„Damit liegt sie mir dann bestimmt später noch in den Ohren … falls ich meine Stelle dann noch habe.“

„Mach dich nicht verrückt. Wenn im Vorratsraum keins mehr ist, hat Mrs. Philpot bestimmt noch ein Glas in Reserve.“

Meg warf einen besorgten Blick über die Schulter und sah, dass auf dem schmalen Bord tatsächlich ein Glas Lemon Curd mit Rosmarin stand. Myrtle ließ derweil die Kladde wieder in der Schublade verschwinden und wollte sie zuschieben, doch auf halber Strecke verhakte sich etwas und das Holz quietschte gotterbärmlich.

Die Schritte verstummten vor der Tür.

„Warte mal. Hast du das auch gehört?“

Meg hielt den Atem an. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um ihr dann, als eine schmale, von der Küchenarbeit raue Hand, um die Tür herumgriff, umso heftiger zu schlagen. Panik breitete sich in ihr aus.

Man würde sie auf frischer Tat ertappen!

„Die reißt mir den Kopf ab, wenn ich mit leeren Händen zurückkomme. Komm, lass uns noch mal im Vorratsraum schauen, bevor sie mich rausschmeißt.“

Die Finger glitten von der Tür ab, die Schritte entfernten sich. Meg ließ die Schultern sinken, das Rauschen in ihren Ohren ließ nach.

Puh, gerade noch mal gutgegangen.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie bis eben eher das Gefühl gehabt, dass sie und Myrtle sich einfach einen kleinen Spaß erlaubten, der schon keine schweren Folgen nach sich ziehen würde. Zumal wenn man bedachte, wie leicht es Maeve gefallen war, Mr. Gudgeon um den Finger zu wickeln. Mrs. Gudgeon hingegen schien ein anderes Kaliber zu sein, sie schien der sprichwörtliche Hausdrachen zu sein und dürfte wenig Nachsicht walten lassen, wenn man in ihrem Revier herumschnüffelte und dabei auch noch ihren Gatten – den alten Charmeur – zu bezirzen versuchte.

Aus der Küche drang der dumpfe Schlag des Hackbeils zu ihnen und Meg fuhr sich mit der Hand an die Kehle.

Sie sollten ihr Glück nicht unnötig auf die Probe stellen und lieber zusehen, dass sie wegkamen.

Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Luft rein war, traten Meg und Myrtle den Rückzug an. Doch leider tat sich dabei gleich ein neues Hindernis auf. Der Weg, auf dem sie gekommen waren und der vorhin menschenleer und verlassen gewesen war, fand sich nun bevölkert von wahren Heerscharen von Hausmädchen, die mit Ascheimern und Wäschekörben umhereilten und ihre Flucht vereitelten.

Myrtle machte auf dem Absatz kehrt und eilte eine schmale Treppe hinunter, Meg folgte ihr auf den Fersen. Kurz darauf fanden sie sich in den Tiefen des alten Wehrturms wieder und eilten durch die dunkel verschlungenen, aber glücklicherweise völlig verwaisten Gänge.

Als Myrtle schnell wie der Blitz um die nächste Ecke fegte, fiel ihr das erbeutete Rezept aus der Tasche. Von ihr unbemerkt, schwebte es lautlos zu Boden.

Meg beugte sich so hastig vor, um es aufzufangen, dass ein Luftzug entstand, der es wieder aufflattern und in eine dunkle Ecke verschwinden ließ.

„Tante Myrtle … warte mal“, raunte sie und bückte sich unter den grob behauenen Steinbogen. Aber ihre findige Komplizin war schon so weit voraus, dass sie es nicht hörte, und bald waren ihre trippelnden Schritte ganz verklungen.

Es brauchte noch einen Moment, bis Megs Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie das Rezept auf dem Steinboden entdeckte. Sie wollte sich gerade danach bücken, als sie schnelle, schwere Schritte hinter sich den Gang hinabkommen hörte.

Verflixt! Ihr blieb gerade noch Zeit, den Fuß auf das Papier zu setzen und sich mit dem Rücken ganz dicht an die gewölbte Wand zu drücken, den Atem anzuhalten und zu hoffen, dass der Diener – oder wer immer es war – sie nicht entdeckte.

Ein Mann kam auf sie zu, hochgewachsen und mit weit ausholenden Schritten. Er schien in Gedanken versunken und strich sich achtlos das dunkle Haar aus der Stirn, sodass es etwas zerzaust zur Seite fiel. Vielleicht war es der Hufschmied, denn er trug eine schwere Lederschürze, die seine schmalen Hüften und die breiten Schultern betonte.

Im schwachen Licht ließ sich schlecht sagen, wie alt er war, aber jenseits der dreißig hätte sie ihn schon geschätzt. Sein Gesicht war eckig und markant, die Nase sprang deutlich hervor. Durchaus attraktiv, wenn auch nicht unbedingt schön, dafür waren seine Züge nicht fein genug. Und er trug eine Brille, ganz schlicht aus Messing mit runden Gläsern.

Das alles gab ihr wenig Aufschluss darüber, welche Stellung er im Haushalt bekleidete. Die Lederschürze, die rußverschmierte Krawatte und die aufgerollten Hemdsärmel waren das eine, aber er strahlte dabei eine Autorität aus, als sei er es gewohnt, Arbeiten zu delegieren und Befehle zu geben.

Ganz sicher niemand, mit dem man es sich verscherzen wollte, dachte sie und gab den Gedanken, sich erstmals in der Kunst der drei Ks zu versuchen, sollte er sie doch in ihrem Versteck entdecken, ganz schnell wieder auf.

Als er näher kam, sah sie, dass auch seine Brillengläser mit Ruß verschmiert waren, und sie schöpfte Hoffnung, dass er sie überhaupt nicht sehen würde, wie sie sich dort im Dunkel der Wand verborgen hielt.

Und tatsächlich, er lief einfach an ihr vorbei. Sie seufzte still vor Erleichterung. Das Glück schien ihr weiterhin hold.

Zumindest war es das … bis er plötzlich stehenblieb.

Wie ein Jagdhund, der Witterung aufnahm, hob er den Kopf und schien auf einmal ganz wachsam. Dann drehte er sich um und schaute direkt zu ihrem Versteck.

„Was haben Sie hier unten verloren? Sie wissen, dass der Zutritt zu diesem Teil des Kellers verboten ist.“

Seine Stimme war tief und herrisch, doch er schien es nicht für nötig zu halten, sie zu erheben, weshalb sein Bariton wie ein sonores Brummen klang, das ihr die Ohren kribbeln ließ, bevor es ihr geradewegs in den Bauch fuhr und dort für einigen Aufruhr sorgte. Seltsam. Sie konnte sich diese Reaktion nicht recht erklären, zumal er sie mit dieser strengen, tadelnden Miene ansah, die ihr bei Männern schon immer missfallen hatte.

Allerdings schloss sie daraus, dass der Mann sie für eine Bediente hielt. Im schwachen Kellerlicht und mit seiner verdreckten Brille konnte er ihr gestreiftes Tageskleid, das blaue Spencerjäckchen und die weißen Handschuhe vermutlich nicht erkennen, die sie als das auswiesen, was sie war: eine junge Dame, die in einem fremden Haus herumschnüffelte.

„Ja, Sir“, sagte sie anstellig und ein wenig zerknirscht in der Hoffnung, ihn weiter zu täuschen. „Ich wollte auch gerade wieder nach oben.“

Sie hatte es kaum gesagt, da verzog er plötzlich den Mund. Er kam einen Schritt auf sie zu und riss sich die Brille von der Nase. „Sie gehören nicht zum Gesinde. Wer sind Sie?“

Meg wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Sie machte den Mund auf, aber kein Laut wollte ihr über die Lippen kommen.

Sie holte tief Luft, um noch einmal neu anzusetzen, schmeckte aber stattdessen etwas, das zuvor nicht da gewesen war. Ein Hauch von Ruß und Teer und noch etwas anderes, eine betörende Mischung aus sonnenwarmen Gewürzen und altem Leder. Etwas, das ihre Lungenflügel sich zusammenziehen ließ, als wollten sie diesen Geruch für immer in sich bewahren. Das den Wunsch in ihr weckte, sich leicht vorzuneigen und zu schnuppern.

Aber sie konnte sich nicht rühren. Wie erstarrt stand sie da, mit stockendem Atem, und schaute wie gebannt in diese Augen, die mit so unergründlichem Blick auf ihr ruhten. Braun waren sie, ein tiefes, dunkles Braun mit goldenen Einsprengseln, eine satte und erdige Farbe, die sie an die glattgewaschenen Steine im Bachbett von Crossmoor Abbey erinnerten. Und sie fühlte sich, als wäre ihr Körper mit genau diesen Steinen gefüllt, einer auf den anderen gestapelt, bis sie sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte.

„Ich frage es noch einmal, bevor ich meine Diener rufe. Wer … sind … Sie?“

Seine Diener? Das konnte nicht wahr sein, oder?

„Sie sind der Duke of Merleton?“, fragte sie ungläubig, mit einer Stimme, die seltsam heiser war und ihre Kehle so trocken wie ein drei Tage altes Rosinenbrötchen.

„Wer sollte ich denn sonst sein?“

Er schien vor ihren Augen zu wachsen. Aber sie, eine gestandene Frau von zweiundzwanzig Jahren, die es gar nicht mochte, wenn man sie von oben herab behandelte, fand sich plötzlich aus ihrem seltsamen Bann gerissen.

Auch sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf – womit sie ihm immerhin bis ans Kinn reichte – und erwiderte im selben Ton: „Woher soll ich das wissen? Ihrem Aufzug nach hätten Sie der Hufschmied sein können oder der Kaminkehrer oder irgendein Troll, der in diesen Katakomben sein Unwesen treibt. Natürlich habe ich von Ihnen gehört – Sie sind nicht verheiratet und zeigen sich nur selten in Gesellschaft, was, wie mir jetzt scheint, für alle ein Gewinn ist“, setzte sie halblaut nach und sah ihm dabei zu, wie er versuchte, seine Brillengläser am ebenfalls rußigen Hemdsärmel zu polieren. „Nicht zu vergessen all die fantastischen Geschichten, die sich um die vermeintliche Abstammung Ihrer Familie von König Artus ranken. Vielleicht habe ich Sie mir deshalb als alten Mann mit gebeugten Schultern und langem, weißem Bart vorgestellt.“

Oder als einen kauzigen Kerl, der vielleicht ein paar Leichen im Keller hat.

Er hielt in seinen kreisenden Bewegungen, mit denen er die Brille am Hemdsärmel polierte, inne und schaute blinzelnd auf. „Wollen Sie damit den Stammbaum meiner Familie in Zweifel ziehen? Oder uns Größenwahn unterstellen? Schwachsinn?“

„Seien Sie unbesorgt, so etwas würde ich niemals laut sagen.“

Er zog die dunklen Brauen zusammen. „Da Sie mir keine meiner Fragen beantworten wollen, bleibt mir leider keine andere Wahl, als Sie jetzt hinaus…“

Der Rest ging in einem gemurmelten „Beim Barte des Merlin“ unter, als er sich seine nun vollends verschmierte Brille aufsetzte und sie sich gleich wieder herunterriss.

Meg musste kichern und schlug sich schnell die Hand vor den Mund. Das hätte ihr auch nicht herausrutschen dürfen. Aber diesen grimmigen, anmaßenden Mann an etwas so Einfachem scheitern zu sehen, entbehrte nicht einer gewissen Komik.

Der Duke neigte fragend den Kopf und schien zu lauschen, als wisse er nicht, was dieser Laut bedeuten solle. Vielleicht hatte ja noch niemand gewagt, in seiner Gegenwart zu lachen.

Sie beschloss, Erbarmen zu haben mit dem gerade so verwirrten wie derangierten Duke, zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und streckte die Hand nach seiner Brille aus.

Er gab sie nicht her. „Was haben Sie vor?“

„Wenn Sie gestatten“, sagte sie und ließ nicht locker.

So ging es ein wenig hin und her, es war wirklich albern, nicht nachzugeben, und am Ende wollte er die Brille noch immer nicht hergeben, war ihr bei dem Gezerre aber einen Schritt näher gekommen.

Still und eindringlich waren seine Flusssteinaugen auf sie gerichtet und sein Blick ging ihr durch und durch – ein Gefühl, das sich ihr fest um den Leib legte und ihr die Luft abschnürte.

„Sie erwähnten, dass ich unverheiratet sei“, sagte er in einem vorwurfsvollen Ton, der durch den seltsamen Nebel drang, der sie umfing. „Deshalb sind Sie hier. Sie hoffen, eine gute Partie zu machen.“

Sie schnaubte. „Nein, ganz sicher nicht. Ich habe nicht die Absicht zu heiraten, und zwar aus Gründen, die Sie nichts angehen. Aber sollte ich es mir je anders überlegen, so seien Sie versichert, dass meine Wahl kaum auf Sie fallen würde.“

„Und doch sind Sie hier. Da frage ich mich schon, warum nur?“

Erst da gaben seine langen Finger die Brille frei. Doch selbst dann ging er nicht auf den gesellschaftlich akzeptablen Abstand, sondern verfolgte ihr Tun mit solcher Aufmerksamkeit, als argwöhne er irgendeine Heimtücke in den Falten ihres Taschentuchs verborgen.

Es hätte ihr nichts weiter ausgemacht, wäre er nicht von so stattlicher, düsterer Erscheinung gewesen. Er gab ihr das Gefühl, von ihm in den Schatten gestellt zu werden. Als würde sie, wenn er nur noch einen Schritt auf sie zumachte, in seiner dunklen Gestalt aufgehen.

Dabei wollte er sie wahrscheinlich bloß einschüchtern, bis sie ihm all ihre Geheimnisse preisgab.

„Sie sind wirklich sehr misstrauisch. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich rein zufällig hier sein könnte?“, entgegnete sie und gab sich so blasiert, als befinde sich kein gestohlenes Rezept unter ihrem Schuh.

„Es gibt keine Zufälle“, sagte er. „Menschen treffen bewusste Entscheidungen. Wir sind keine Automaten. Statt mit kleinen Rädchen und Federn sind wir mit einem komplexen System aus Muskeln und Nerven ausgestattet, das uns auf Anweisung unseres Gehirns einen Fuß vor den anderen setzen lässt und uns in Ihrem Fall an Orte führt, an denen wir nichts verloren haben.“

Na, wunderbar. Was war schlimmer als ein verrückter Kauz? Ein verrückter Kauz mit Bildung.

„Ich bin nicht verrückt“, sagte er langsam und deutlich, und sie lief rot an, weil ihr das schon wieder einfach so herausgerutscht war. „Wäre ich es, so würde ich wohl kaum so viel Geduld aufbringen für eine Person, die sich unrechtmäßig Zutritt zu meinem Haus verschafft hat, und das aus Gründen, die es noch herauszufinden gilt. Wäre ich verrückt, werte Dame, hätte ich Sie längst die Treppe hinauf nach draußen geschleift und dann die Tür ganz fest verriegelt.“

Er machte noch einen halben Schritt auf sie zu, und seine Augen waren nun fast schwarz. „Oder vielleicht hätte ich Sie auch auf dem Dachboden eingesperrt, zusammen mit all den anderen.“

Wieder stieg ihr dieser schwer zu fassende Geruch in die Nase. Diesmal schnürte er ihr nicht nur die Luft ab, auch ihre Haut schien sich auf einmal fester um ihren Körper zu schließen, als sei sie ihr zu eng geworden. Es war nicht eigentlich unangenehm, gleichwohl ein wenig beunruhigend.

„Gut“, gab sie schließlich nach und drückte beide Schultern fest gegen die Wand. „Meine Reisebegleiterinnen und ich wollten eigentlich nur die Schlossanlage ansehen. Die übrigens sehr schön ist. Rosa Schwäne und einen Wassergraben sieht man schließlich auch nicht alle Tage. Oder eine Zugbrücke mit Fallgitter. Und da wir schon mal hier waren, wollten wir die Gelegenheit für ein Picknick nutzen, da ist wirklich nichts weiter dabei …“

Sie merkte, wie sie abschweifte, und hörte ihn ungeduldig ausatmen. Ja, sie versuchte sich herauszureden. Und das nicht, weil sie es verwerflich gefunden hätte, ihm einfach das Blaue vom Himmel herunterzulügen. Schließlich sah man sich, wenn man, so wie sie, einen überbehütenden älteren Bruder hatte immer mal wieder zu der einen oder anderen Unwahrheit genötigt. Aber aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer, diesem Mann gegenüber unehrlich zu sein.

Und jetzt juckte auch noch ihre Nase, herrje.

Sie krauste sie, bis der Niesreiz verschwand, und räusperte sich. „Und da wir schon einmal hier waren, wollten meine Begleiterinnen auch das Anwesen gern besichtigen.“

„Es gibt keine Besichtigungen auf Caliburn Keep. Und es wird auch keine geben.“

„Das wurde uns dann auch mitgeteilt, nachdem wir uns erdreistet hatten, an dieses imposante Tor zu klopfen.“

„Seien Sie doch einfach froh, Zugang zu den Gärten bekommen zu haben. Ich habe sie erst kürzlich für Besucher geöffnet – sehr zu meinem Bedauern, muss ich jetzt sagen.“

Wahrscheinlich kam sie in dem Augenblick zu dem Schluss, dass er nicht verrückt war. Er war einfach unhöflich und arrogant. Und plötzlich fiel es ihr auch nicht mehr schwer, ihn anzulügen. Tatsächlich wünschte sie, sie hätten sämtliche Rezepte gestohlen.

„Da meine Begleiterinnen und ich noch einen weiten Weg vor uns haben, erkundigten wir uns bei Ihrem Butler nach der Toilette. Wenn Sie es denn unbedingt wissen müssen.“

Ihre Nase kitzelte schon wieder. Dabei hatte sie noch nicht mal richtig gelogen! Mit einem unwilligen Kopfschütteln zog sie einen ihrer Handschuhe aus und rückte einer besonders hartnäckigen Verschmutzung mit dem Daumennagel zu Leibe. Dabei stellte sie sich vor, nicht seiner Brille, sondern ihm diese Abreibung zuteilwerden zu lassen.

„Die werden Sie hier unten ganz sicher nicht finden.“

„Glauben Sie mir, ich habe selbst gemerkt, dass ich mich verlaufen habe, und wollte gerade umdrehen, als dann Sie des Weges kamen, um mir mit Ihrer Gesellschaft den Tag zu versüßen.“

Als sie mit ihrer Putzaktion fertig war, hob sie den Blick und sah, dass er eine Augenbraue hochgezogen hatte, als erwarte er, dass sie sich für ihre sarkastischen Worte entschuldige. Aber da konnte er lange warten, der eingebildete Kerl.

Mit einem gleichgültigen Achselzucken reichte sie ihm seine Brille. Doch als sie seine rußigen Hände sah, schüttelte sie den Kopf und meinte: „Lassen Sie das lieber mich machen. Sie machen sie bloß wieder schmutzig. Beugen Sie sich mal ein bisschen herunter, Sie sind mir viel zu groß.“

Er zog die Brauen zusammen, bis ihm zwei steile Falten auf der Stirn standen, und neigte den Kopf zu ihr herab.

„Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wer Sie sind.“ Sein Gesicht war dem ihren so nah, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte wie einen warmen Hauch. Ein leiser Schauer durchfuhr sie.

Ihre Blicke trafen sich und da war es wieder … dieses Gefühl, als ob es ihr die Luft abschnüren würde, begleitet von einem seltsamen Ziehen im Bauch, wie wenn ein unsichtbares Seil durch ihren Nabel ginge und hinter ihm jemand stünde, der mit aller Macht daran zog. In Gedanken spann sie das Bild weiter, sah das kräftige Tau sich um sie beide schlingen, ganz fest, bis ihre Körper …

Sie spürte, wie sie auf den Fußballen nach vorne wippte, ließ die Brille, kaum dass sie auf seiner Nase saß, rasch los und sich auf die Fersen zurückfallen.

Dabei war es ihr allerdings nur gelungen, einen Bügel hinter seinem Ohr zu befestigen, weshalb ihm die Brille ganz schief im Gesicht hing, aber sie wagte nicht mehr, noch einmal nachzubessern. Ganz leicht war ihr auf einmal im Kopf und das Herz hämmerte ihr in einem wilden Galopp.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie mit rauer Stimme und legte sich die Hand an den Bauch.

Dabei merkte sie, dass sie ihren Handschuh fallengelassen haben musste. Suchend senkte sie den Blick und ließ ihn kurz auf seinen Unterarmen verweilen, die stark waren und sehnig, von feinem, dunklem Haar überzogen und die Haut von so kräftiger, gesunder Farbe, dass sie sich fragte, ob er viel Zeit draußen zubrachte, die Hemdsärmel aufgerollt wie jetzt oder gleich ganz ohne Hemd …

Wo kam dieser Gedanke jetzt her? Er brachte sie völlig aus dem Konzept. Zumal, wenn sie sich vorstellte, wie er mit freiem Oberkörper in der prallen Sonne stand, ein langes, gleißendes Schwert in den Händen, wie es wohl die Ritter der Tafelrunde geschwungen hatten in alter Zeit oder auch nur in den Mythen und Legenden.

Plötzlich war sie ganz außer Atem. Aber nahm es wunder? Besonders gut konnte die Luft in diesen alten Kellergewölben nicht sein.

Sie hob den Blick wieder und fand den seinen ganz wunderlich auf sich gerichtet, seine Pupillen so groß und dunkel, dass nichts mehr zu sehen war von den goldenen Einsprengseln. Seine Nasenflügel weiteten sich, sie hörte das Scharren seiner Stiefel auf dem steinernen Boden, sah seinen Blick sich auf ihren Mund senken. Und dann streckte er die Hand aus, zögerte den Bruchteil einer Sekunde … bevor Zeigefinger und Daumen ihr Kinn berührten.

Sie hörte sich nach Luft schnappen.

Der Laut durchschnitt die Stille und schien sie beide wieder zur Besinnung zu bringen.

Er ließ sie sofort los und wich einen Schritt zurück, betrachtete so entgeistert seine Hand, als sähe er sie zum ersten Mal.

„Wollten Sie mich …“, sie drückte ihre Hand auf die Knopfreihe ihres Spencerjäckchens, das ihr auf einmal viel zu eng schien, „… gerade küssen?“

Er fuhr zusammen, als habe sie ihm ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, sah sie dann von oben herab über den Rand seiner Brille an und sagte kühl und deutlich: „Natürlich nicht.“

Sie glaubte ihm kein Wort. Und ihr wild pochendes Herz glaubte es ihm auch nicht. „Dann war es also bloß ein Einschüchterungsversuch, oder was?“

„Natürlich nicht.“

„Haben Sie nichts anderes zu sagen als natürlich nicht? Wie wäre es, wenn Sie Ihr Verhalten erklären würden? Oder sich entschuldigen?“

„Ich …“ Wieder schaute er auf seine Hand, dann über die Schulter, den dunklen Gang hinab. Und als er schließlich weitersprach, klang seine Stimme fern und abwesend, als sei er in Gedanken ganz weit weg. „Ich lasse Sie dann jetzt allein. Sie finden sicher selbst hinaus.“

Und bevor sie sich noch einen Reim auf das Ganze machen konnte, hatte er sich schon umgedreht und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Aufmerksamkeit, die eben noch ihr gegolten hatte, schien nun ebenso ausschließlich auf etwas anderes zu zielen.

Typisch Mann eben.

Sie bückte sich nach ihrem heruntergefallenen Handschuh und fischte auch das Rezept unter ihrem Rocksaum hervor. Für den Fall, dass der zerstreute Duke doch noch mal zurückkommen sollte, schob sie das klein zusammengefaltete Blatt mit in den Handschuh und richtete sich wieder auf.

Einen Moment schaute sie ihm noch hinterher, dann atmete sie tief aus und nickte, als habe sie es schon immer gewusst. „Das reinste Irrenhaus hier, gar keine Frage.“

3. KAPITEL

Die Geheimzutat

Lucien Ambrose, siebter Duke of Merleton, verbannte die vorlaute junge Frau wieder aus seinen Gedanken. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit den Ränkespielen heiratswütiger Damen zu befassen, und die Zeit drängte.

Hier ging es immerhin um sein Lebenswerk. Schon jetzt konnte er spüren, wie die Wirkung seines letzten Experiments nachließ. Deshalb konzentrierte er sich ganz darauf, Schrittlänge und Laufgeschwindigkeit darauf auszurichten, sein im alten Vorratskeller eingerichtetes Labor zu erreichen, bevor sein heutiges Versuchsobjekt unwiderruflich dahin wäre.

Seit elf Jahren studierte er das alte Kochbuch seiner Familie, um an die Wahrheit hinter dem Mythos zu gelangen. Und seit elf Jahren hatten all seine Mühen keine Erfolge gezeitigt.

Bis zum heutigen Tag.

Etwas schien anders zu sein an der Probe, die er heute zubereitet hatte. Er hatte sich mal wieder an das Rezept des Glatisant gewagt, eine Fleischpastete, die den Rittern die Eigenschaften des Furcht einflößenden Questentiers zukommen lassen sollte, sie sich stark und männlich fühlen ließe und ihre Sinne schärfte – also genau jene Symptome, die er soeben an sich selbst beobachtet hatte.

Was wiederum hieß, dass doch etwas Wahres an den seit Jahrhunderten in seiner Familie überlieferten Legenden sein könnte.

Mit jedem Schritt, dem er seinem Ziel näher kam, schlug sein Puls schneller in freudiger Erregung. Denn wenn er ehrlich war, hatte er bis zum heutigen Tag nie auch nur ein nennenswertes Ergebnis erzielen können, auch wenn es an Versuchen wahrlich nicht gemangelt hatte.

Er war schon immer ein pragmatischer Mensch gewesen, ganz dem logischen Denken verpflichtet, manch einer mochte sagen, ein Sklave seines Verstandes. Fantasie lag nicht in seiner Natur.

Selbst als Kind war er schon so gewesen. Er konnte sich noch erinnern, wie er als Junge von sechs Jahren mit seiner Mutter im Garten spazieren war und sie ihm einen Regenbogen zeigte, den sie ein Wunder der Schöpfung nannte. Worauf er ihr erklärt hatte, dass es sich um ein optisches Phänomen der Lichtbrechung handele, und ihr das kleine Glasprisma zur Veranschaulichung gezeigt hatte, das er wie einen Schatz in seiner Hosentasche trug. Seine Mutter hatte gelacht, ihn bei den Händen gefasst und im Kreis herumgewirbelt und ihm versichert, dass auch er ein Wunder der Schöpfung sei.

Er hatte nie genau verstanden, was sie damit meinte, denn wie er auf die Welt gekommen war, stand ja zweifelsohne fest – es war eine simple Frage der Fortpflanzung. Damals jedoch, und wohl auch, weil er seine Mutter abgöttisch liebte, hatte er ihre unsinnigen Bemerkungen nicht weiter hinterfragt und als spezifische Eigenheiten ihres Wortschatzes hingenommen, den er, wie eine fremde Sprache auch, nur annähernd verstehen konnte.

Seine Mutter hatte oft von Wundern gesprochen, vom Schicksal und glücklichen Fügungen, sein Vater die alten Rittersagen und Legenden erzählt, also Märchen, mit anderen Worten.

Mit der Zeit hätte Lucien vielleicht manches davon verstanden und hätte es ihnen vielleicht sogar geglaubt, was sie sich da zusammenfantasierten. Aber sie waren gestorben, als er sieben war, und danach hatte sein Großvater ihn aufgezogen.

Den sechsten Duke of Merleton hatte der Tod seines einzigen Sohnes schwer getroffen. Der Großvater war ein Geschichtenerzähler gewesen, der jede gesellige Runde zu unterhalten wusste und die alten Sagen ebenso sehr liebte wie sein Sohn. Doch nach dessen Tod wurde er bitter und zog sich zurück. Er bläute Lucien ein, dass es dieses Buch sicher zu verwahren gelte, sodass niemand, auch niemand aus der Familie, je wieder einen Blick hineinwerfen könne.

Dann war Lucien aufs Internat geschickt worden und den Schlüssel zur Ahnengruft, in dem das Buch auf seinem Stein lag, hatte der Alte wieder einkassiert.

Lucien hatte sich dem Wunsch seines Großvaters gefügt, auch wenn es nicht leicht war. Das Buch war ihm verboten worden, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, sich mit dessen Inhalt vertraut zu machen. Und er hatte noch so viele Fragen, die nach Antworten verlangten.

Als Lucien dann sein Erbe angetreten und der Schlüssel zurück in seine Hände gelangt war, machte er sich daran, genau das zu finden: Antworten. Beweise.

Ein weniger entschlossener Mann hätte wohl nach ein oder zwei Jahren kontinuierlicher Fehlschläge aufgegeben. Spätestens nach fünf. Aber es lag nun mal in seiner Natur, nichts unversucht zu lassen und jede nur erdenkliche Möglichkeit auszuschöpfen, ehe er sich geschlagen gab.

Und vielleicht hatte es das gebraucht, um ihn zu genau diesem Moment zu führen.

Das Echo seiner Schritte umfing ihn, als er die Gänge des alten Wehrturms aus dem fünften Jahrhundert durchmaß. Die ursprüngliche Burgfestung war im Laufe der Zeit verfallen, ihre Grundmauern immer tiefer gesackt, als wolle die Erde sie sich zurückholen. Im sechzehnten Jahrhundert hatten seine Vorfahren dann einfach auf den Resten des alten das neue Schloss errichtet.

Dadurch waren die alten Gewölbe gleichsam eingefasst und erhalten worden. Die schrägen Wände, das alte Gebälk, die große Halle mit dem offenen Kamin und den ins Gesims gemeißelten Sechsblattzeichen waren noch dieselben wie zu Zeiten, als hier die berühmte Tafelrunde zusammenkam.

Lucien nahm sich eine Fackel aus der Wandhalterung, entzündete sie in den Resten der Glut und warf einen flüchtigen Blick auf eines der kreisrunden, wie mit dem Zirkel geschlagenen Zeichen. Er hatte sich immer gefragt, was Menschen wohl dazu bewegt hatte, solchen Symbolen mehr Macht über ihr Leben einzuräumen, als sie sich selbst zugestanden.

Aber das war eine Frage, der er sich später widmen konnte.

Er wandte sich ab und strebte der getäfelten Tür am Ende der Halle zu, durch die er in einen kurzen und recht beengten Gang in die ehemaligen Wirtschaftsräume gelangte, drehte den Schlüssel im Schloss und duckte sich unter dem verzogenen Türsturz hindurch in sein Refugium und Versuchslabor, den alten Weinkeller.

Der schmale, tonnenförmige Raum wurde nicht mehr genutzt, um Wein, Spirituosen oder sonstige Vorräte zu lagern. Um den Dienstboten und dem Butler die Arbeit zu erleichtern, fanden sich diese Räumlichkeiten mittlerweile alle in dem neueren Gebäudeteil direkt darüber. Die alten Regale waren jedoch geblieben und säumten die gewölbten Steinwände.

Obwohl die Decke so niedrig war, dass er nur in der Mitte des Raums aufrecht stehen konnte, die Luft etwas muffig und abgestanden und nur drei Grad davon entfernt, empfindlich kalt zu sein, liebte er diesen Raum. Es war sein Laboratorium, wo er ganz für sich und ungestört war. Hier konnte er jedem einzelnen Rezept aus dem Buch seine ganze Aufmerksamkeit widmen und sie auf ihre Gültigkeit prüfen.

Er hatte es zu seiner Aufgabe gemacht, jedes davon genau zu durchdringen – und wenn er sein ganzes Leben darauf verwenden musste.

In drei Schritten durchmaß er den Raum und drehte den Docht der Öllampe auf dem alten und verschrammten Holztisch hoch, der ihm als Arbeitsplatz diente. Warmes Licht fiel flackernd auf die feinsäuberlichen Zeilen des in seinem Studienbuch notierten Codes.

Die eigentlichen Rezepte waren aus seinen Notizen nicht ersichtlich. Sie fanden sich nur in dem sicher verwahrten Buch, zu dem nur er den Schlüssel hatte. Stattdessen behalf er sich mit einem eigens entwickelten numerischen Code. Damit ließ sich auch exakt die Abweichung zwischen seinem gestrigen und dem heutigen Versuch berechnen.

„Das Drachenblut“, überlegte er laut und tippte auf die entsprechende Stelle in seinen knappen Anmerkungen.

Er stand wieder auf und holte eine dunkelglasige Flasche aus einem der Regale. Laut Rezept sollten die Innereien in Met mariniert werden, so hatte er es auch bislang immer gehalten. Diesmal jedoch hatte er Metheglin verwendet, sogenanntes Drachenblut, ein mit Gewürzen versetzten Met, der zu Artus’ Zeiten gebräuchlicher gewesen sein dürfte.

Lucien hatte sogar seinen eigenen Honig hergestellt. Um die Bienenstöcke von Caliburn Keep waren genau die Kräuter angebaut, die dem Metheglin seinen leicht medizinischen Geschmack verliehen: Odermennig, Engelwurz, Zitronenmelisse und Mädesüß.

Er zog den Korken heraus und schnupperte. Das sirupartige Gebräu hatte eine scharfe, leicht säuerliche Grundnote, die seine Geschmacksknospen sich zusammenziehen ließen.

Ob das die geheime Zutat war? Die Antwort, nach der er seit dem Tod seiner Eltern suchte?

Er war sich nicht sicher. Und er musste sich zu hundert Prozent sicher sein, sonst wäre es reine Spekulation.

Lucien ging zu den Regalen auf der anderen Seite und musste auf dem Weg dorthin den Kopf einziehen. Hier bewahrte er die fertig gestellten Kostproben zu weiteren Studienzwecken auf. Mit Datum und auf seine Notizen verweisendem Siegel beschriftete Tonbehälter, die sich in Größe und Material glichen wie ein Ei dem anderen, standen akkurat aufgereiht. Es waren ideale Vergleichsbedingungen, er überließ nichts dem Zufall.

Mit dem für den heutigen Versuch vorgesehenen Behälter kehrte er an den Arbeitstisch zurück und nahm den Deckel ab. Vorsichtig hob er die verbleibende Hälfte der Pastete an und hielt das halbmondförmige Stück ans Licht, um die feinen Schichten verschiedener Fleischsorten und Innereien zu bewundern, die Fette und Gewürze. Der Anblick entlockte ihm einen Seufzer der Verwunderung, ein leises Triumphieren.

Oder nein, besser kein Triumph. Noch nicht. Er war niemand, der sich zu voreiligen Schlüssen hinreißen ließ.

Und doch hüpfte ihm das Herz in der Brust, als er sich jenes kurzen Augenblicks im Kellergang erinnerte, da er die Wirkung gespürt hatte.

Etwas war anders gewesen als bei all seinen vorherigen Versuchen. Eine physiologische Veränderung war in ihm vorgegangen.

Ganz deutlich und zweifelsfrei, aber auch etwas ärgerlich, da die Wirkung genau dann eingesetzt hatte, als er dieser orientierungs- und in ihrer Rede gleichermaßen ziellosen jungen Frau gegenüberstand.

Als er den dunklen Korridor hinabging, hatte es sich als Erstes mit einem leichten Prickeln im Nacken bemerkbar gemacht, welches ihn hatte innehalten lassen. Dann hatte er einen ungewohnten Geruch in der feucht-muffigen Luft wahrgenommen und sich nach dessen Quelle umgedreht...

Autor

Vivienne Lorret

Bestsellerautorin Vivienne Lorret liebt Liebesromane, ihren pinkfarbenen Laptop, ihren Ehemann und ihre beiden Teenagersöhne (nicht zwingend in genau dieser Reihenfolge …). Sie beherrscht die Kunst, unzählige Tassen Tee in Wörter zu verwandeln, und hat sich mittlerweile mit zahlreichen wunderbaren Regency-Romances in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben.

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