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Unverhofftes Wiedersehen im Winterwunderland: Auf einer Skipiste im fernen Japan stößt Anwältin Thea ausgerechnet mit ihrem Jugendfreund, dem Tech-Milliardär Zayne Wood, zusammen. Bittersüße Erinnerungen an ihren einzigen Kuss durchfluten sie, sofort fühlt sie sich wieder zu Zayne hingezogen. Kann das Fest der Liebe, das sie wegen eines Schneesturms überraschend in einer romantischen Berghütte verbringen müssen, sie wieder zusammenbringen – diesmal für immer? Oder sind ihre Wünsche an die Zukunft einfach zu verschieden?


  • Erscheinungstag 10.12.2024
  • Bandnummer 252024
  • ISBN / Artikelnummer 0800240025
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

PROLOG

Thea warf einen Blick auf ihre Uhr und beschleunigte ihre Schritte.

Sie wollte nicht zu spät kommen. Vor allem, weil ihre Familie nach dem Grund fragen würde und sie ihnen auf keinen Fall gestehen wollte, dass sie an einem Sonntagmorgen im Büro gewesen war … wieder mal!

Sie kannte ihre Mutter, ihren Vater und ihre beiden Schwestern. Sienna, die älter war als sie, und Eliza, das Nesthäkchen. Und alle machten sich Sorgen, weil sie in ihren Augen viel zu hart arbeitete.

Warum konnte niemand akzeptieren, dass sie so hart arbeiten wollte? Oder besser musste, weil die Aussicht auf eine Partnerschaft verlockend nah war. Entschlossen biss sie die Zähne zusammen. Sie würde ihr Ziel erreichen und, sobald sie Partnerin war, die nächste Sprosse erklimmen und die nächste und immer höher auf der persönlich gesteckten Erfolgsleiter klettern.

Sie näherte sich dem Pub mit Themseblick in Chiswick, ihrem traditionellen Ort für Familientreffen, wo sie zum Sonntags-Lunch verabredet waren. Normalerweise trafen sie sich dort nur zu besonderen Anlässen, doch heute Morgen hatte ihre Mutter überraschend angerufen und ein spontanes Essen vorgeschlagen.

Beim Eintritt verspürte Thea ein willkommenes Gefühl von Vertrautheit.

Traditionen waren den Kendalls wichtig. Sie schweißten zusammen, und Thea fragte sich, ob es noch zu früh war, das Thema Weihnachten anzusprechen. Nicht, dass eine besondere Planung nötig gewesen wäre. Das gemeinsame Weihnachtsfest war die am höchsten geschätzte Kendall-Tradition überhaupt.

Sie erspähte ihre Familie und winkte allen mit breitem Lächeln zu.

„Einen guten Morgen im Büro gehabt?“, begrüßte Eliza sie mit süffisantem Lächeln.

„Kein Kommentar“, gab Thea im selben Ton zurück, warf allen eine Kusshand zu und setzte sich.

„Schön, dass du jetzt hier bist, dann lasst uns gleich bestellen“, schlug ihre Mutter vor, was Thea mit einem überraschten Blick quittierte.

Normalerweise war Lila Kendall froh, sich mit ihrer Familie auszutauschen, was die Auswahl an Speisen und Getränken betraf. Selbst beim Mittagessen am Sonntag diskutierten sie normalerweise darüber, welchen Braten sie nehmen sollten, ob auch mal ein vegetarisches Gericht infrage käme und ein Glas Wein oder ein Erfrischungsgetränk besser dazu wäre.

Das alles war heute offenkundig kein Thema.

In Rekordzeit saß die Familie vor dem bestellten Essen, und Thea konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Mutter allen neugierigen und fragenden Blicken auswich, außer dass sie ab und zu ihren ungewöhnlich stillen Gatten ansah.

Thea gönnte sich noch einen Soßennachschlag und beschloss spontan, ein fröhliches Gesprächsthema anzuschneiden. „Alles ausgesprochen lecker. Das lässt mich unwillkürlich an unser Weihnachtsessen denken, auch wenn erst Oktober ist.“ Sie seufzte voller Sehnsucht bei den Gedanken an den traditionellen Festtags-Truthahn mit allen Beilagen, die man sich nur wünschen konnte, und daran, wie sie nach dem üppigen Festmahl in ihren Weihnachtspyjamas auf den Sofas lümmelten und sich gemeinsam Weihnachtsfilme ansahen.

„Eigentlich …“ Ihre Mutter verstummte, und Thea konnte sich eines Gefühls drohenden Unheils nicht erwehren. „Wir möchten euch etwas sagen“, fuhr Lila fort und schaute hilfesuchend ihren Mann an, der beharrlich schwieg. „Wir wollen dieses Weihnachten etwas anderes unternehmen.“

Am Tisch herrschte verwirrtes Schweigen, bis Eliza zusammenfasste, was sie alle dachten. „W… was soll das heißen?“

„Wie deine Mutter bereits sagte, haben wir beschlossen, in diesem Jahr zu Weihnachten etwas zu verändern“, antwortete jetzt ihr Vater. „Wir werden eine einmonatige Kreuzfahrt machen.“ Seine Frau und er tauschten ein kleines Lächeln, das ihre Erleichterung darüber ausdrückte, ihr Geheimnis endlich preisgegeben zu haben.

Thea kämpfte noch damit, die Bedeutung der absurden Ankündigung zu begreifen, und verspürte zugleich den kindlichen Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Um sie herum herrschte Grabesstille. Ihre Schwestern waren offenkundig ebenso schockiert wie sie.

Es war Sienna, die ihren Stuhl abrupt nach hinten schob, fast so, als ob sie vom Tatort fliehen wollte. „Ich hätte wissen müssen, dass hinter diesem spontanen Mittagessen ein Hintergedanke steckt!“

Thea konnte sich nicht vorstellen, wie irgendjemand das hätte vorhersagen können, und schnaubte leise.

Ihre Mutter holte tief Luft. „Dieses Jahr ist unser vierzigster Hochzeitstag.“ Ihre Stimme klang beinahe flehend. „Wir wollten einfach mal etwas nur für uns tun … ich meine, ihr seid längst erwachsen, euch geht es allen gut, und ihr habt euren eigenen Freundeskreis. Ich dachte, ihr seid vielleicht sogar froh, Weihnachten einmal anders gestalten zu können.“

Thea hatte null Ahnung, warum ihre Mutter so etwas denken sollte. Es ging um Weihnachten! Sie las ein ähnliches Gefühl von Unglauben und Verwirrung in den Gesichtern ihrer Schwestern. Weihnachten bedeutete für sie drei, nach Hause zu kommen. Ihr Zusammensein bot ihnen Trost, Gewissheit und Glück … das mussten ihre Eltern doch wissen.

„Als Nächstes versuchen sie wahrscheinlich, uns schonend beizubringen, dass sie ihr Haus verkauft haben“, prophezeite sie düster. Sie wusste, dass das ebenso albern wie unfair war, konnte aber nichts dagegen tun. Sie fühlte sich einfach betrogen. Sie liebte die traditionelle Kendall-Weihnacht und hatte geglaubt, ihren Eltern ginge es ebenso.

Ihr Vater wechselte einen Blick mit seiner Frau. „Warum sollten wir so was tun?“

Sienna beugte sich vor. „Nun, warum solltet ihr das tun?“

Es war eine Frage, die Theas Empörung widerspiegelte, sie aber unverhofft seltsam anrührte und innehalten ließ. Ihre Eltern waren die tollsten Menschen, die sie kannte, besonders ihre Mutter, für die ihre Familie immer an erster Stelle stand.

Als bei Eliza im Alter von sechs Jahren akute myeloische Leukämie diagnostiziert wurde, hatte diese schockierende Diagnose massive Auswirkungen auf sie alle gehabt. Thea konnte bis heute die Angst und den Schrecken spüren, denen sich ihr elfjähriges Ich damals ausgeliefert gefühlt hatte.

Doch es war in erster Linie ihre Mutter, deren Leben sich von dem Moment an dramatisch verändert hatte. Sie gab, ohne zu zögern, ihre Karrierepläne und sämtliche Ambitionen auf und war fortan rund um die Uhr für ihre jüngste Tochter da.

Obwohl bei Eliza nach Jahren eine Remission eintrat, kehrte die Leukämie im Teenageralter zurück, und selbst dazwischen traten immer wieder unterschiedliche Krankheitssymptome auf. Doch dank ihrer Eltern waren die Kendalls trotz allem eine glückliche, fest miteinander verbundene Familie, die an einem Strang zog. Und sie liebten es, Zeit miteinander zu verbringen, besonders zu Weihnachten.

Erneut verspürte Thea tiefe Bewunderung für ihre Mutter. Und zugleich, wie immer, auch das Gefühl ihrer eigenen Unzulänglichkeit, da sie wusste, dass sie niemals so sein könnte: aufopferungsvoll und stark wie ein Fels, ohne auch nur eine Spur Groll zu zeigen.

Allein deshalb wollte sie selbst nie das Risiko der Mutterschaft eingehen.

Einen Moment lang erfasste sie eine tiefe Traurigkeit, obwohl Thea wusste, dass ihre Entscheidung richtig war. Man konnte nicht alles haben. Davon abgesehen war ihre Karriere auch zu wichtig, zumal sie bereits so viel in sie investiert hatte.

Aber ihre Mutter war nicht wie sie und wusste sehr wohl, wie besonders Weihnachten für ihre drei Töchter war. Und trotzdem …

Thea blinzelte, als ihr bewusst wurde, dass sie vor lauter Selbstmitleid einen Teil des Gesprächs verpasst hatte. Offensichtlich ging es gerade darum, wie erleichtert ihre Mutter über Elizas vollständige Genesung war und es kaum fassen konnte, dass sie sich diesbezüglich endlich entspannen durfte.

„Glaub es nur“, sagte Eliza gerade liebevoll. „Euer Traumschiff-Törn wird bestimmt fantastisch. Mir geht es gut, und ich … wir alle freuen uns für Dad und dich.“

„Wirklich?“ Lila schaute fragend in die Runde.

Thea hörte die Mischung aus Unglauben und Hoffnung, und schließlich fiel auch bei ihr der Groschen. Ihre Eltern waren endlich frei von Ängsten und Sorgen und wollten allein zu zweit vierzig Jahre Ehe feiern.

Sie nickte und wusste, dass auch ihre Schwestern verstanden hatten, als Sienna sagte: „Natürlich müsst ihr euch das gönnen.“

Eliza zählte sogar noch etliche Gründe auf, warum diese Kreuzfahrt eine fantastische Idee sei, und wandte sich dann Thea mit einem Blick zu, dessen Botschaft nicht zu verkennen war.

„Ihr müsst unbedingt diesen Trip unternehmen“, sagte sie darum bestimmt und zwang sich zu einem Lächeln.

„Okay, damit wäre das geklärt“, entschied Eliza ungewohnt energisch. „Sienna, Thea … los, lasst uns eine Runde Getränke zum Anstoßen holen.“

Sobald sie außer Sichtweite ihrer Eltern waren, lotste Eliza sie zu einem freien Tisch und befahl ihnen, sich zu setzen. Beim Gedanken, wie sich ihre kleine Schwester momentan fühlen musste, quoll Theas Herz vor Liebe und Sorge fast über.

„Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie.

Nahezu gleichzeitig streckten Sienna und sie ihre Hände Eliza entgegen. Thea war klar, dass Sienna dem gleichen Beschützerinstinkt gefolgt war, den auch sie verspürte. Offenkundig bedurfte es mehr als einer Entwarnung von Seiten der Ärzte, um das aufzulösen.

Eliza nickte. „Mir geht es gut, nur … ich kann es immer noch nicht wirklich glauben.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Aber wir müssen sie gehen lassen“, sagte sie dann bestimmt. „Sie haben sich jahrelang Sorgen um mich gemacht und es mehr als verdient, einmal nur an sich selbst zu denken.“

Thea nickte und wusste, dass sie damit absolut recht hatte.

Auch Sienna nickte, allerdings eher zögerlich. „Ich weiß ja, dass ich längst erwachsen bin. Aber ist es wirklich falsch, an Weihnachten immer noch gern nach Hause zurückzukehren, um Zeit mit der Familie zu verbringen?“

„Dito …“, murmelte Thea.

„Das geht uns doch allen so“, meinte Eliza. „Doch dieses Jahr läuft es nun mal anders.“

Thea seufzte, während ihr verschiedene Szenarien durch den Kopf gingen. Sollten sie drei trotzdem in ihrem Elternhaus zusammenkommen? Oder sich zum Weihnachtsessen in einem Restaurant treffen? Vielleicht könnten sie irgendwo ein Hotel buchen? Jede Idee fühlte sich falsch an.

„Was werden wir stattdessen tun?“, stellte sie in den Raum und registrierte erstaunt, wie Elizas Augen aufleuchteten.

„Wir könnten doch auch was ganz anderes machen“, schlug ihre kleine Schwester vor. „Lasst uns einen Pakt … einen Weihnachtspakt schließen!“

„Einen Pakt?“, echote Sienna stirnrunzelnd. „Das haben wir seit unserer Teenagerzeit nicht mehr getan.“

Thea lachte und war erleichtert, eine Erinnerung zu haben, auf die sie zurückgreifen konnte. „Und unser Pakt, die Fenster offen zu lassen, damit wir rein und raus schleichen können, hat ja auch nicht wirklich funktioniert, oder? Wollt ihr die Narbe noch mal sehen, die das beweist?“ Sie schob den Ärmel ihres Pullovers hoch und tippte auf die kleine Narbe an ihrem Ellenbogen.

Eliza grinste, ließ sich aber nicht ablenken. „Lasst uns ein eigenes Abenteuer erleben! Wir sollten alle unsere Komfortzone verlassen und über Weihnachten verreisen.“

„Allein?“, würgte Sienna hervor. „Sogar du?“

„Ja, was ist mit dir?“, wollte jetzt auch Thea wissen und schluckte trocken, als sie sah, wie Eliza das Kinn störrisch vorreckte. Prompt war ihr Mitgefühl geweckt.

Wie musste es sich anfühlen, immer nur geschont, verhätschelt und beschützt zu werden? In Elizas Alter hatte sie selbst bereits die Uni abgeschlossen und die ersten Stufen ihrer Karriereleiter erklommen.

„Besonders ich!“, beharrte Eliza dann auch noch. „Unser Weihnachtspakt sieht vor, dass jeder von uns vierzehn Tage verreist, über die Festtage. Immer zwei von uns werden das Reiseziel der dritten festlegen und den Koffer für sie packen, den sie erst am Zielort öffnen darf. Und wo es hingeht, erfährt jede erst am Flughafen.“

Thea schüttelte den Kopf und suchte Siennas Blick, sicher, dass ihr diese Idee ebenso absurd erschien. Weihnachten allein! Davon abgesehen konnte sie sich unmöglich einen zweiwöchigen Urlaub von ihrer Arbeit leisten. Und …

„Gar keine so schlechte Idee“, kam es überraschenderweise von Sienna.

„Was? Das kann unmöglich euer Ernst sein!“, schnaubte Thea.

„Mir gefällt die Idee, dass wir uns selbst herausfordern“, sagte Sienna.

„Es könnte wirklich großartig werden.“ Eliza lächelte hoffnungsvoll.

Und das gab den Ausschlag. Thea verstand, dass ihre kleine Schwester ihre jungen Flügel ausbreiten wollte, und schluckte ihren Protest herunter.

„Oh … aber wie soll ich das bezahlen?“, fiel es Eliza verspätet ein, und sie versuchte tapfer, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Thea und Sienna wechselten einen schnellen Blick und nickten einander in stummem Einverständnis zu. Sie beide verdienten mehr als genug, um diese verrückte Idee zu realisieren. „Wir übernehmen das“, versprachen sie in schönstem Einklang.

„Aber das ist nicht fair!“ Elizas Frustration war nicht zu übersehen.

„Keine Widerrede, deine Idee ist fantastisch und muss auf jeden Fall in die Tat umgesetzt werden“, entschied Thea, für sich selbst überraschend.

Eliza zögerte, dann lächelte sie breit und nickte leicht, was mehr ausdrückte, als Worte es vermochten.

„Mir gefällt besonders, dass wir jeweils zu zweit für eine von uns entscheiden können“, sagte Thea, was keine Lüge war, weil sie der Gedanke wirklich reizte. Zumal Sienna und sie so dafür sorgen konnten, dass ihre Schwester an einen sicheren Ort reiste. Tatsächlich hatte sie bereits eine Idee.

„Also machen wir das wirklich?“, fragte Eliza eifrig.

Sienna lachte. „Wir rocken das, oder, Thea?“

Die nickte und lachte auch, in der Hoffnung, dass es nicht zu aufgesetzt klang. Zumindest bedeutete der Pakt nicht, dass sie versprechen musste, überhaupt nicht zu arbeiten. Hoffentlich würden ihre Schwestern irgendwas in Europa aussuchen, sodass sie im Notfall für ein heimliches Business-Treffen nach London fliegen könnte.

„Also dann … auf unseren Weihnachtspakt!“, rief Sienna.

„Auf unseren Weihnachtspakt!“, stimmten Thea und Eliza wie aus einem Mund zu.

1. KAPITEL

Thea öffnete die Augen, blinzelte, und ihr Traum löste sich in der unbekannten Umgebung auf. Das Bild eines riesigen Weihnachtsbaums verblasste, ebenso der anheimelnde Duft von Tannengrün … und die Vision ihrer Mutter, die lächelnd von der Leiter herabblickte, nachdem sie den Weihnachtsstern zu ihrer Zufriedenheit positioniert hatte.

Theas vom Schlaf umnebeltes Gehirn versuchte herauszufinden, wo um alles in der Welt sie war. Die Decke hatte die falsche Farbe und lag viel zu weit über ihr. Die Matratze, auf der sie lag, war fester als gewohnt, weshalb sie nicht in ihrem Kingsize-Bett in ihrer Londoner Wohnung sein konnte.

Dann dämmerte es ihr langsam, und die Erinnerung setzte ein. Sie lag auf einem Futon, der auf Tatami-Matten ausgebreitet war, und war in einem Ryokan, einem Hotel, in einem von Japans Skigebieten.

Und wer war schuld daran? Der vertrackte Weihnachtspakt!

Ihre Schwestern hatten sich gegen Europa entschieden und sie nach Japan expediert, das zwölf Flugstunden von London entfernt lag, sodass heimliche Arbeitstreffen keine Option waren. Ihre einzige Chance, aus der Ferne zu agieren, bestand darin, per Videokonferenz an Besprechungen teilzunehmen. Etwas, von dem sie wusste, dass es ihre Schwestern nicht überraschen würde.

Um Eliza und Sienna nicht zu sehr zu enttäuschen, stellte sie sicher, dass sie einen Teil des Tages damit verbrachte, etwas „Urlaubsähnliches“ zu unternehmen. Und bisher – eine Woche nach Beginn ihres Abenteuers – genoss sie diese Erfahrung stärker als erwartet.

Trotzdem konnte sie es sich nicht leisten, gar nicht zu arbeiten.

Thea stand auf, streckte sich und inspizierte wie jeden Morgen ihr vorübergehendes Refugium voller Wertschätzung für seine Funktionalität und das bewusste Understatement, das in ihren Augen wahre Schönheit demonstrierte. Fünfzehn Minuten später hatte sie ihren Futon zusammengerollt und im Fusuma untergebracht, einem Kleiderschrank mit kunstvoll bemalten Schiebetüren.

Jetzt saß sie im Schneidersitz auf dem Boden mit ihrem Laptop vor sich und widmete sich der gewohnten Morgenroutine: E-Mails checken und sicherstellen, dass sie über alles informiert war, was in der Welt geschah.

Um ihren Aufstieg zu befeuern respektive zu beschleunigen, musste sie mehr zu bieten haben als die klügsten juristischen Köpfe ihrer Branche. Mandanten und Chefs setzten auf Akteure, die sowohl mit juristischem Fachwissen als auch mit sozialem Gespür überzeugten. Also sorgte sie dafür, dass sie in allem stets auf dem neuesten Stand war.

Thea Kendall ist ehrgeizig und will hoch hinaus!

Dazu war sie entschlossen, seit sie die Zulassung zum Jurastudium an der Uni Cambridge in Händen gehalten hatte. Es war das berauschende Gefühl eines Neuanfangs gewesen, verbunden mit dem Auszug aus dem Elternhaus. In der Welt würde sie zukünftig Thea Kendall sein und nicht Siennas jüngere oder Elizas ältere Schwester.

Selbstverständlich wäre sie immer für ihre Familie da und würde bei Bedarf zurückkommen, um zu helfen. Und natürlich würde sie Eliza weiterhin unterstützen, aber gleichzeitig wollte sie auch die ersten Stufen der lang ersehnten Karriereleiter in Angriff nehmen.

Und nicht nur das …

Allein in diesem kühlen, minimalistisch gestalteten Raum, stand ihr plötzlich ein Bild vor Augen: Zayne Wood, der Junge von nebenan. Er war ein Teil ihrer Kindheit, so vertraut wie das riesige, abgeliebte Sofa im Wohnzimmer ihrer Eltern. Er war ihr bester Freund gewesen, mit dem sie auf Bäume kletterte, Höhlen baute und zu Fuß zur Schule ging, bis er ihr das Radfahren beibrachte.

Und der Junge, mit dem sie ihren ersten Kuss geteilt hatte – auf ihre Initiative hin: Ich denke, wir sollten uns küssen, um zu wissen, wie es funktioniert, wenn es irgendwann darauf ankommt.

Und Zaynes Reaktion? Wow … danke! Das hatte er mit breitem Grinsen gesagt.

Thea blinzelte irritiert und verbannte die Erinnerung in ihren Hinterkopf.

Denn im Nachhinein hatte sich die Idee mit dem Kuss als Fehler erwiesen. Er hatte die Lockerheit zwischen ihnen … nein, er hatte einfach alles verändert. Aber wahrscheinlich wäre es in der Pubertät und angesichts ihrer unterschiedlichen Ambitionen ohnehin so gekommen. Wie auch immer, es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzudenken.

Zur selben Zeit, als sie ihre Zulassung für Cambridge bekam, erhielt Zayne seine für das MIT, das Massachusetts Institute of Technology. Fortan gingen sie getrennte Wege. Jetzt war ihr Kinderfreund ein Multimillionär im IT-Bereich und sie selbst auf dem Weg zu einer Partnerschaft in einer der fünf führenden Londoner Anwaltskanzleien.

Thea seufzte, scrollte mechanisch durch ihre E-Mails und stoppte bei einer Nachricht von ihrem Boss.

Hi Thea,

Riika Itawa denkt darüber nach, London als Hauptsitz für ihre Anwaltskanzlei zu etablieren. Sie ist geschäftlich in Tokio und fährt leidenschaftlich gern Ski. Könntest du sie nicht wie zufällig auf der Piste treffen, mit ihr plaudern und versuchen, sie für unseren Standort und damit auch für unsere Kanzlei abzuwerben? Aber nicht vergessen: Die Konkurrenz schläft nicht. Wir sind bis zum 24. Dezember erreichbar. Gib ihr das bitte persönlich weiter. Nähere Details siehe Anhang …

Riika Itawa! Thea versuchte, ihren hämmernden Herzschlag zu kontrollieren.

Wenn es ihr tatsächlich gelänge, sie für ihre Kanzlei zu gewinnen, würde das nicht nur ihr internes Ansehen steigern. Ihre Chancen, Partnerin zu werden, würden sich verzehnfachen! Was genau war also jetzt zu tun?

Zuerst sollte sie sich mit der Ski-Piste vertraut machen und sicherstellen, dass sie zumindest mittelschwere Abfahrten bewältigen konnte. Bisher hatte sie sich nur auf die Anfängerhänge gewagt. Statt Frühstück würde es auch ein Energieriegel tun.

Gleich danach musste sie recherchieren und nochmals recherchieren! Und dafür sorgen, dass sie sprachlich geschliffen, kompetent und überzeugend rüberkam.

Als sie eine Stunde später aus dem Skilift stieg, konnte Thea sich eines Unbehagens nicht erwehren, das sie aber konsequent als irrational unterdrückte. Sie hatte in den letzten Tagen die leichteren Pisten zunehmend souveräner gemeistert und jeden Morgen mehrere Übungsläufe absolviert. Dadurch waren sowohl ihr Selbstvertrauen als auch die vor Jahren erlernten Techniken zurückgekehrt, inklusive eines belebenden Adrenalinrauschs, den sie lange vermisst hatte.

Vor einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich zwei Mal im Jahr mit Ian einen Skiurlaub gegönnt. Kurze Trips mit anderen gleichgesinnten Paaren aus ihrer Branche. Dann fielen ihre Mitstreiter nach und nach aus, wurden sesshaft, bekamen Kinder und …

Und nichts. Lektion gelernt. Ian war längst kein Thema mehr, dafür bekam sie endlich ihre Chance, auf die sie so lange gewartet hatte.

So gesehen war es an der Zeit, die schwierigen Hänge und Abfahrten in Angriff zu nehmen, damit sie in ein paar Tagen an der Seite von Riika Itawa diese Pisten mit Leichtigkeit und Anmut bewältigen konnte. Und damit eine Demonstration von Kompetenz und Gespür bieten konnte, die genau das widerspiegelte, was sie im geschäftlichen Bereich zu leisten bereit war.

Während sie durch den Pulverschnee bergab glitt, ließ Thea ihre Gedanken fliegen. Fest stand, dass sie die angestrebte Verbindung nicht allein wegen des zu erwartenden Prestiges für sich gewinnen wollte, sondern auch, weil sie ständig daran interessiert war, Neues kennenzulernen und in möglichst vielen Bereichen inspirierende Erfahrungen zu sammeln. Doch was für sie schwerer wog als ihr unleugbarer Ehrgeiz, war die Tatsache, dass sie ihren Job aufrichtig liebte.

Immer noch in Gedanken bei Riika Itawa registrierte sie für den Bruchteil einer Sekunde zu spät, dass der Skiläufer, der bisher weit vor ihr gewesen war, seine Fahrt verlangsamt hatte und sie beide zusammenstoßen würden, wenn sie nicht rechtzeitig auswich.

Zugleich näherte sich von der Seite eine kleine Gestalt … wie es aussah, ein Kind. Was also tun?

Thea presste die Lippen zusammen. Wenn sie einen Zusammenstoß schon nicht vermeiden konnte, dann lieber mit einem Erwachsenen. Und schon rauschte sie gegen ihn.

Aber offenbar hatte sich ihr Gegenüber ebenfalls auf den Zusammenprall eingestellt, denn bevor sie ganz auf dem Boden landete, fühlte sie sich von einem starken Arm gehalten. In der nächsten Sekunde standen sie dicht voreinander.

„Alles in Ordnung?“ Sie fragten es gleichzeitig.

Thea schaute kurz an sich herunter und nickte dann. „Alles okay … und selbst?“

„Bestens, aber wir sollten schnellstmöglich von der Piste runter, ehe noch jemand zu Schaden kommt.“

Und schon schwirrten ihr Begriffe wie Schuld, Haftung, Schadenshöhe im Kopf herum. Alles eher unwahrscheinlich, da keiner von ihnen verletzt war, aber man konnte nie wissen. Also nickte sie nur knapp, stieß sich ab und blieb erst am Ende der Piste wieder stehen, während der Fremde schwungvoll neben ihr stoppte und sich von Skimaske und Schutzbrille befreite.

Thea starrte ihn an. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Zayne?“

Er reagierte ebenso geschockt wie sie. „Thea?“

2. KAPITEL

Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war Zayne sprachlos, während sein Gehirn sich bemühte, die Wahrscheinlichkeit dieses Zusammentreffens zu analysieren. Die Chancen waren verschwindend gering, dafür kam ihm ungefragt das Wort Schicksal in den Sinn.

Um Himmels willen, das hätte von seiner Mutter kommen können!

Zayne, du musst endlich aufhören, mit all diesen Frauen herumzuziehen. Du wirst die Richtige schon noch finden. Es wird Schicksal sein, wie bei deinem Vater und mir.

Sein Problem war nur, dass er nicht wusste, ob er überhaupt wollte, was seine Eltern geteilt hatten. Arjun und Samira Wood waren ein echtes Traumpaar gewesen, hatten aber einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Sein Vater starb an einem Herzinfarkt, als Zayne zwanzig Jahre alt und in seinem zweiten Jahr am MIT war. Überwältigt von der Trauer über den schmerzlichen Verlust, brauchte seine Mutter Jahre, um sich von diesem Schicksalsschlag zu erholen. Ihr Ehemann war ihre ganze Welt gewesen.

Zayne wusste nicht, ob es das war, was er sich wünschte: für jemanden derart wichtig und unverzichtbar zu sein. Dazu kam noch die Liebe seiner Eltern zu ihm, ihrem einzigen Kind. Beide hatten so viel für ihn geopfert, rund um die Uhr gearbeitet und jeden Penny gespart, damit sie ihm alles ermöglichen konnten. Hätte sein Vater weniger hart gearbeitet und sich weniger unter Druck gesetzt, seinem Sohn alles Menschenmögliche zukommen zu lassen, wäre er vielleicht nicht so früh verstorben. Oder hätte wenigstens ein stressfreieres Leben führen können.

Diese Fragen und Zweifel quälten Zayne seither und ließen ihn nicht los. Was ihn selbst betraf, gestand er dem Schicksal keine große Rolle zu. Schon gar nicht als Pragmatiker und Technikgenie, das sein Vermögen mit dem Codieren und Programmieren von Formeln und daraus resultierenden Abläufen gemacht hatte.

Wie auch immer: Wer oder was dafür verantwortlich war, dass Thea und er hier auf einer Skipiste in Japan voreinander standen, versuchte er besser nicht zu analysieren.

„Thea? Bist du es wirklich? Von allen Skigebieten und Ländern auf der ganzen Welt …“ Er brach ab und fühlte sich wie durch Zauberhand um fünfzehn Jahre zurückversetzt auf das ausladende, mit Kissen übersäte Sofa im Haus der Kendalls, wo sie sich alte Schwarzweiß-Filme anschauten – Thea, Eliza, Lila Kendall und er. 

Eliza hatte damals über Müdigkeit und Unwohlsein geklagt. Zayne hatte die Sorge im Gesicht ihrer Mutter gesehen und war sich der allgegenwärtigen Angst bewusst gewesen, dass die lebensbedrohliche Krankheit der jüngsten Kendall-Tochter zurückkehren könnte. Als er spontan Humphrey Bogart zitierte, hatte Eliza gekichert, Thea ihn gehänselt und Lila eine Schüssel mit gebuttertem Popcorn für alle zubereitet.

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