Mustang Creek - Glück ist mein Geschenk für dich

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Mace Carson hält sich nicht für einen Helden. Damals auf dem College, als er Kelly Wright aus einer brenzlichen Situation rettete, war er in Wirklichkeit einfach nur ein wütender Cowboy, der zufällig auf der richtigen Seite stand. Inzwischen ist Mace erfolgreicher Winzer und plötzlich sieht er sich Kelly erneut gegenüber. Doch diesemal scheint es für ihn genau das Falsche zu sein, auf ihrer Seite zu stehen. Kelly ist nur geschäftlich in Wyoming und alles was sie will ist sein Weingut …

"Linda Lael Miller erschafft lebhafte Charaktere und Geschichten, die Sie niemals vergessen werden!" Debbie Macomber

"Eine wunderbare zeitgenössische Western-Trilogie voller Romantik!”
Publishers Weekly

"Linda Lael Miller ist eine der besten amerikanischen Autorinnen dieses Genres." Romantic Times Book Review


  • Erscheinungstag 05.03.2018
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767181
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leser,

willkommen zurück in Mustang Creek, Wyoming, der Heimat heißer Cowboys und kluger schöner Frauen, die sie lieben.

»Mustang Creek – Glück ist mein Geschenk für dich« erzählt die Geschichte von Mace, dem jüngsten der drei Carson-Brüder. Einst Cowboy, jetzt Winzer, dreht sich für ihn alles darum, sein erfolgreiches Weingut zu neuen Höhen zu führen. Obwohl er kein Interesse daran hat, es an die Managerin Kelly Wright – die Frau, die er einst aus einer brenzligen Situation gerettet hat – zu verkaufen, interessiert er sich doch mehr als nur ein bisschen für sie.

Mace mag zwar der Held sein, den Kelly nie vergessen hat, aber sie ist fest entschlossen, Privates nicht mit Geschäftlichem zu vermischen. Sie ist nach Mustang Creek zurückgekehrt, um ihm ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann, und sie hat vor, ihren Willen zu bekommen. Als jedoch ihr Angreifer von damals wieder auftaucht, um sich an ihr zu rächen, stellt Kelly fest, dass sie möglicherweise in Mace’ Armen am sichersten aufgehoben ist.

Falls Sie die vorangegangenen zwei Bücher dieser Trilogie, »Mustang Creek – Sehnsucht ist mein Wort für dich« und »Mustang Creek – Liebe ist mein Gefühl für dich«, gelesen haben, werden Sie viele der Figuren wiedererkennen. Ich hoffe, es bereitet Ihnen Freude, diesen Menschen erneut zu begegnen.

Das Leben auf einer Ranch ist mir zutiefst vertraut. Ich lebe auf meinem eigenen bescheidenen Anwesen namens Triple L, zusammen mit vielen Tieren: fünf Pferden, zwei Hunden und zwei Katzen. Und das sind nur die offiziellen Bewohner – wir teilen uns das Land außerdem noch mit wilden Truthähnen, Hirschen und manchmal Elchen, und ich würde nicht anders leben wollen.

Die Liebe zu Tieren zeigt sich auch in meinen Geschichten, und ich lasse keine Gelegenheit aus, mich für unsere treuen Freunde einzusetzen, die keine eigene Stimme und keine Wahl haben. Also unterstützen Sie bitte das Tierheim in Ihrer Nähe, und lassen Sie Ihre Haustiere kastrieren und sterilisieren. Und falls Sie sich einsam fühlen – warum nicht einem Vierbeiner ein Zuhause schenken, der nur darauf wartet, Sie dankbar zu lieben?

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und nun viel Spaß mit der Geschichte.

Alles Gute,
Linda Lael Miller

1. Kapitel

Alles geschah innerhalb von Sekunden.

Und jede einzelne Sekunde fühlte sich an wie ein ganzes Jahr.

Mace Carson fuhr hinter dem unbekannten Wagen her, seit er vor einigen Minuten die Stadtgrenze Mustang Creeks hinter sich gelassen hatte. Plötzlich geriet das andere Auto auf der regennassen Straße ins Schleudern und drehte sich einmal um die eigene Achse. Diese Zeitlupendrehung, seltsam anmutig und zugleich potenziell tödlich, war erschreckend anzusehen.

Mace hielt am Seitenstreifen und tastete fluchend nach seinem Handy, während er hilflos mit ansah, wie das andere Fahrzeug langsam auf den Abhang an der gegenüberliegenden Straßenseite zuschlitterte, wo es keine Leitplanken gab. Dort ging es fast fünfzehn Meter steil hinunter, so schätzte er, und weder Bäume noch Felsbrocken würden den Fall bremsen.

Mal abgesehen davon, dass auch das nicht unbedingt ideal gewesen wäre.

Mit einem weiteren Fluch auf den Lippen sprang er aus seinem Pick-up und rannte los, um irgendwie zu helfen und ohne auf den prasselnden Regen zu achten, das Telefon in der Hand, den Daumen schon auf der Notruftaste.

Inzwischen kam der andere Wagen am Rand des Abhangs zum Stehen, und zwar in einem heiklen Winkel, halb noch auf der Straße, halb schon nicht mehr, mit der Beifahrerseite zum Abgrund. Der zentimetertiefe, rutschige Matsch bot kaum Halt.

Mace war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, doch in diesen Sekunden schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er war jetzt nah genug herangekommen, um das blasse, erschrockene Gesicht der Fahrerin zu erkennen, die sich von innen gegen die Tür stemmte, als hoffe sie, irgendwie durch das Blech nach draußen auf sicheren Boden gelangen zu können.

»Nicht bewegen!« Er wusste nicht, ob er die Worte tatsächlich rief oder bloß mit den Lippen formte. Er ließ das Telefon fallen, denn er würde beide Hände brauchen, um sie zu befreien, bevor der Schlamm nachgab und sie samt Wagen den Abhang hinunterrutschte.

Er sah sie nicken. Dann erstarren.

Er packte den Türgriff, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu lösen, und merkte sofort, dass die Türen noch verriegelt waren.

»Schalten Sie auf ›Parken‹«, forderte er die Frau auf, im Stillen dankbar, dass die Airbags nicht aufgegangen waren. Der Mechanismus war empfindlich; in manchen Autos, besonders neueren, brauchte es dazu nicht einmal einen Aufprall. Selbst ein abrupter Richtungswechsel konnte sie auslösen. »Und dann öffnen Sie den Sicherheitsgurt. Schön langsam – bloß keine plötzlichen Bewegungen.«

Wieder nickte sie. Entweder schrie er wirklich, oder sie las die Worte von seinen Lippen ab, denn sie kam seiner Aufforderung tatsächlich nach. Erleichtert hörte er, wie sich die Schlösser entriegelten.

Im selben Moment rutschte der Wagen ein paar Zentimeter weiter den Abhang hinab.

Mace stemmte die Füße in den Boden und zog an der Tür. Die Schwerkraft arbeitete gegen ihn, aber er hatte in seinem Leben genug Heuballen gewuchtet, und das hatte ihn körperlich stark gemacht.

Die Tür ging einen Spaltbreit auf.

»Rauskommen müssen Sie allein«, erklärte er der Frau, die so heftig zitterte, dass sie mit den Zähnen klapperte. Seine Stimme klang seltsam ruhig, wenn man die Umstände bedachte, zumindest für ihn selbst. »Aus offenkundigen Gründen kann ich diese Tür nicht lange genug loslassen, um Ihnen meine Hand anzubieten.«

Sie zwängte sich durch den engen Türspalt und landete auf Händen und Knien vor seinen Füßen.

Als er nur einen Herzschlag später den Türgriff losließ, fiel die Tür zu, und die Erschütterung reichte aus, um den Pick-up in Bewegung zu setzen. Noch während er der Frau aufhalf, rutschte der Wagen den Abhang hinab, kippte auf die Seite und überschlug sich wieder und wieder, wobei er immer mehr Schwung aufnahm und schließlich weit unten krachend auf dem Dach liegen blieb, mitten im Fluss.

Mace hielt die am ganzen Körper bebende Fremde noch immer mit beiden Armen umfangen und schloss kurz die Augen bei der Vorstellung, was hätte passieren können. Wer immer diese Lady sein mochte, sie hatte ziemliches Glück gehabt.

Er selbst fühlte sich ein wenig zittrig, erholte sich jedoch rasch. Er musste sich auf das konzentrieren, was jetzt notwendig war. Äußerlich schien die Frau unverletzt zu sein, aber sie könnte unter Schock stehen oder sich den Kopf gestoßen und eine Gehirnerschütterung zugezogen haben. Möglicherweise hatte sie irgendwelche inneren Verletzungen davongetragen.

Da er wie jedes Ranch-Kind mit wilden Tobereien aufgewachsen war und auch Rodeos geritten hatte, wusste er, dass man manche Verletzungen, anders als Prellungen oder Platzwunden, nicht sehen konnte. Zumindest nicht sofort.

Sein Verantwortungsgefühl erwachte von Neuem, und er atmete tief durch, während er seine Gedanken ordnete.

Immerhin stand die Lady noch auf den Beinen, und ihr Blick schien einigermaßen klar zu sein. Mace schaute den Abhang hinunter.

Ein wenig hatte er damit gerechnet, dass der Wagen beim Aufprall explodieren würde, trotz des Regens, aber er lag bloß da, dermaßen von Schlamm bedeckt, dass die Farbe – typisches Mietwagen-Beige, wenn er sich richtig erinnerte – nicht mehr zu erkennen war. Mit seinen vier sich langsam drehenden Rädern erinnerte ihn der Wagen an eine Schildkröte, die auf dem Rücken lag und vergeblich wieder auf die Beine zu kommen versuchte.

»Heilige Scheiße«, flüsterte er.

Die Frau sah ihn an, regendurchnässt und noch immer blass, allerdings mit einem amüsierten Zug um die Mundwinkel. »Das können Sie wirklich zweimal sagen«, meinte sie. »Aber tun Sie’s trotzdem nicht.«

Er lachte kurz und rau darüber. Sie zitterte, und er war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht doch zusammenklappen würde, sobald er sie losließ. Aber sie besaß Mumm, daran bestand kein Zweifel. Angesichts dessen, was sie gerade durchgemacht hatte, hätte er auch heftiges Schluchzen, eine gute alte Ohnmacht oder Würgen nicht für eine übertriebene Reaktion gehalten.

»Sind Sie verletzt?« Er wünschte, er hätte diese naheliegende Frage schon etwas eher gestellt, statt sie nur zu denken.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haare, die in tropfenden Strähnen nicht ganz bis auf ihre Schultern reichten, waren irgendwie blond. Ihre Augen, noch immer vor Schreck geweitet, waren von einem erstaunlichen Grün, mit goldenen Sprenkeln. »Mir fehlt nichts«, versicherte sie ihm, wobei sie die Stimme heben musste, wegen des unablässig prasselnden Regens. »Dank Ihnen.«

»Haben Sie Schmerzen?«, erkundigte sich Mace, noch nicht ganz überzeugt.

»Ein paar Prellungen«, antwortete sie, »aber nichts Ernstes. Es fühlt sich auch nichts taub an. Ich bin nur ein bisschen geschockt – das war ja echt knapp.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie weitersprach. »Wenn Sie nicht da gewesen wären …« Sie verstummte, schüttelte erneut den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Tja, ich war aber da«, sagte er sanft. »Wir werden Sie untersuchen lassen, nur um sicherzugehen.«

Sie antwortete mit einem Durcheinander aus Worten und halben Sätzen. »Der Wagen … der war gemietet … ich weiß nicht, ob ich eine Zusatzversicherung abgeschlossen habe.«

»Darum kümmern wir uns später. Jetzt fahren wir erst mal ins Krankenhaus.«

»Ich glaube wirklich nicht, dass ich verletzt bin …«

Mit der einen Hand hielt er weiterhin ihren Arm fest, während er sich bückte, um mit der anderen Hand sein Telefon aufzuheben. Es sah ein bisschen ramponiert aus, obwohl es wahrscheinlich noch ganz gut funktionierte. »Falls es Ihnen recht ist«, sagte er leichthin, »würde ich das gern aus dem Mund eines Mediziners hören.«

Sie seufzte.

»Außerdem wird es durch den Regen nicht besser«, fügte er hinzu und führte sie behutsam zu seinem Pick-up. Es wäre schneller gegangen, wenn er sie einfach hochgehoben und getragen hätte. Doch sollte sie tatsächlich verletzt sein, wäre es wiederum auch nicht gut, sie wie einen Futtersack umherzuwerfen.

Sie erreichten den Pick-up, und er öffnete die Beifahrertür. Aber bevor er ihr hineinhelfen konnte, stieg sie aus eigener Kraft auf das Trittbrett und schwang sich auf den Sitz. Als Mace ihr Gesicht betrachtete, hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen.

»Wenn ich der Ansicht wäre, dass es Sinn hätte, mit Ihnen zu streiten«, erklärte sie mit der Andeutung eines Lächelns, »dann würde ich wiederholen, was ich schon die ganze Zeit sage. Ich brauche keinen Arzt. Außerdem haben Sie schon genug für mich getan.«

»Sie haben zumindest teilweise recht«, räumte Mace ein. »Mit mir zu streiten hätte wenig Sinn. Im Übrigen tue ich nur, was jeder unter diesen Umständen getan hätte. Tja, und ob Sie zum Arzt sollten oder nicht, darüber könnte man debattieren.«

»Im Ernst. Ich bin mir absolut sicher, dass ich bloß ein heißes Bad brauche, ein paar Aspirin und etwas Schlaf. Wenn Sie mich also einfach vor meinem Hotel absetzen würden …«

»Na klar doch«, erwiderte Mace freundlich. »Das mache ich – nachdem der Arzt Sie untersucht und es für okay befunden hat.«

»Mir fehlt nichts.« Sie war hartnäckig, um nicht zu sagen stur, aber diesmal hatte sie einen ebenbürtigen Gegner gefunden. Er war mindestens genauso stur.

Mace warf die Wagentür zu, ohne etwas darauf zu erwidern. Vielleicht hatte sie recht und ihr fehlte wirklich nichts. Er hatte jedoch nicht die Absicht, ein Risiko einzugehen, und allmählich war er es leid, hier im strömenden Regen herumzudiskutieren.

Kaum saß er hinter dem Lenkrad, im Schutz des Wagens, ließ der Regen nach.

Natürlich.

Die Frau hielt ihre Arme um den Oberkörper geschlungen, bibberte und starrte trübsinnig durch die regennasse Frontscheibe.

Mace stellte die Heizung hoch und war froh, dass er den Motor hatte laufen lassen. Er sah die Frau an und versuchte ein Lächeln, das ihm misslang. »Bei mir sind Sie sicher, falls es das ist, worüber Sie sich Sorgen machen. Ich bin vielleicht ein Fremder, aber auch einer von den Guten.«

Sie musterte ihn neugierig. »Sie sind kein Fremder.«

Ah, dann hatte er also recht gehabt. Dies war nicht ihre erste Begegnung.

Nur konnte er sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wo sie sich schon einmal über den Weg gelaufen waren. Das war eigenartig, denn selbst nass, schmutzig und geschockter, als sie vermutlich glaubte, war sie nicht der Typ Frau, den man leicht wieder vergaß.

»Bin ich nicht?«, fragte er und schaute in den Rückspiegel, bevor er drehte und zurück Richtung Mustang Creek fuhr.

Seufzend lehnte sie den Kopf gegen das Seitenfenster und erwiderte beinah wehmütig: »Erinnern Sie sich nicht?«

»Ich weiß, dass wir uns schon einmal begegnet sind«, antwortete er. »Aber mehr im Augenblick auch nicht.«

Es entstand eine längere, einsame Pause. Dann ein weiterer Seufzer. »Vielleicht können wir uns ein andermal über alte Zeiten austauschen«, sagte sie schließlich und schien in sich hineinzuschrumpfen. »Ich bin schrecklich müde.«

Normalerweise mochte er es nicht, solche Dinge aufzuschieben, doch verzichtete er darauf, sich nach weiteren Einzelheiten zu erkundigen. Zumindest vorläufig.

»Schlafen Sie bloß nicht ein«, warnte er sie.

»Warum nicht?«, fragte sie mit einem weiteren Seufzer und einem kleinen Gähnen. »Ich habe einen langen, harten Tag hinter mir.«

»Weil Sie sich möglicherweise den Kopf gestoßen haben.«

Sie öffnete den Mund, anscheinend um zu protestieren, aber dann schien sie es sich anders zu überlegen. Vielleicht war sie auch einfach nur zu müde für eine Diskussion.

»Danke«, sagte sie. »Für alles.«

Mace nickte nur kurz und hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Mehrere Minuten vergingen, bis er das Schweigen beendete. »Was ist eigentlich passiert?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete sie schläfrig. »Ich fuhr ganz normal und hielt Ausschau nach der Einfahrt zum Hotel, als das Auto plötzlich ins Rutschen geriet. Aquaplaning. Oder vielleicht ist ein Reifen geplatzt oder so.«

»Sie sind zu schnell gefahren«, bemerkte er trocken.

Sie runzelte die Stirn: »Wollen Sie mich jetzt auch noch über Sicherheit im Straßenverkehr belehren? Das brauche ich jetzt nämlich wirklich nicht.«

Er grinste. »Unbekannte Straße, heftiger Regen …«

»Ich hatte es eilig.«

»Weswegen?«

»Weil ich in mein Hotel wollte. Wie ich bereits erwähnte, habe ich einen langen Tag hinter mir.«

Mustang Creek kam in Sicht; das kleine Krankenhaus lag auf der anderen Seite der Stadt, noch etwa zehn Minuten entfernt. Eine Polizeieskorte wäre jetzt nicht schlecht, dachte er.

»Noch ein paar Sekunden, und Sie hätten Ihr Leben hinter sich gehabt.«

»Na danke noch mal.« Diesmal klang es ein wenig brüsk, was Mace beruhigend fand. »Allein wär ich da wohl nicht drauf gekommen – dass ich bei dem Unfall hätte sterben können, meine ich.«

Sorg dafür, dass sie weiterredet. Und wenn sie verärgert ist, auch gut. Dann schläft sie wenigstens nicht ein.

Plötzlich setzte sie sich kerzengerade auf und fing an, mit ihren Händen herumzutasten. »Meine Handtasche. Die ist noch im Auto«, stellte sie entsetzt fest.

Mace hatte es schon immer verblüfft, wie abhängig Frauen von ihren Handtaschen waren, als handele es sich bei diesen Dingern um ein Teil ihrer Anatomie, statt um eine offensichtliche Last. Noch etwas, auf das man aufpassen musste. »Die verschwindet ja nicht«, bemerkte er vorsichtig.

Mit großen Augen und geröteten Wangen starrte sie ihn an. »Mein ganzes Leben befindet sich in dieser Handtasche!«, schrie sie. »Außerdem ist es eine Michael Kors!«

Eine Handtasche mit Namen, dachte er, war jedoch nicht so blöd, das laut auszusprechen. Sie wachzuhalten war eine Sache; das hieß aber nicht, dass ihr deswegen eine Ader im Hirn platzen sollte.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie sie zurückbekommen.«

»Und wenn sie im Wasser versinkt? Mein Telefon, meine Brieftasche … haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel eine Designer-Handtasche kostet? Und was ist mit meinem Laptop? Meiner Kleidung?«

»Das könnte durchaus passieren«, gab Mace ihr gelassen recht. »Wenn man mal die Gesetze der Schwerkraft berücksichtigt.«

»Wie können Sie so ruhig sein?« Jetzt war sie wirklich wütend und beantwortete sich die Frage gleich selbst. »Ich werde Ihnen sagen, weshalb Sie ruhig bleiben können. Es ist nicht Ihre Handtasche!«

»Da haben Sie mich aber erwischt«, gab er zu, nicht ohne Mitgefühl. »Zufällig besitze ich keine. Tja, und besäße ich eine, würde ich das schön für mich behalten.«

Das Rot ihrer Wangen nahm zu, aber sie kicherte. »Die Sache ist ernst.«

Mace schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am«, sagte er, während er den Wagen durch die vertrauten Straßen seiner Heimatstadt lenkte. »Autounfälle sind ernst. Gehirnerschütterungen und Milzrisse sind ernst. Aber eine Handtasche namens Michael, die in einem Fluss gelandet ist? Nö.«

»Ich sollte die Mietwagenfirma anrufen«, sagte sie ohne Überleitung.

Mace zog sein Handy aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte es ihr. »Machen Sie nur, wenn Sie sich dadurch besser fühlen.«

Sie nahm das Telefon und schaute perplex auf das Display. »Ich kenne die Nummer nicht. Der Vertrag liegt im Handschuhfach, und das steht wahrscheinlich unter Wasser.«

»Sie haben reichlich Zeit, sich mit denen in Verbindung zu setzen«, sagte Mace. Inzwischen waren sie fast durch Mustang Creek hindurchgefahren; jeden Moment würde die Abzweigung zum Krankenhaus kommen. »Es wäre aber vielleicht keine schlechte Idee, Ihre Familie anzurufen.« Als sie nicht gleich antwortete, zählte er auf: »Ihre Familie? Ehemann? Freund?«

Sie stieß frustriert den Atem aus. »Meine Eltern machen eine Kreuzfahrt zwischen den griechischen Inseln.« Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass sie ihn ansah. Er verlangsamte das Tempo, um abzubiegen. »Und ich habe weder einen Ehemann noch einen Freund, nur zu Ihrer Information.« Einige Sekunden vergingen. »Und Sie?«

Er lachte und bog in die Zufahrt zum Krankenhaus ein. »Ob ich einen Ehemann oder Freund habe?«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, der jedoch einem wackligen Grinsen wich, bevor sie den Parkplatz vor der Notaufnahme erreichten. »Das war ein Scherz.«

»Ich hab doch gelacht, oder?« Mace parkte, stellte den Motor aus und ging um den Wagen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Diesmal ließ sie es zu, und kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, schwankte sie und legte die Hand an die Stirn.

Mace legte den Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. Wieder überlegte er, ob er sie nicht lieber tragen sollte, und wieder verwarf er die Idee als zu riskant.

»Mir ist nur ein bisschen schwindelig«, murmelte sie, während sie die gut beleuchtete Anmeldung betraten. »Keine große Sache.«

Ellie Simmons saß hinter dem Tresen, und sie stand sofort auf. Sie und Mace waren zusammen zur Schule gegangen.

»Ich habe weder Ausweis noch Krankenversicherungskarte bei mir«, erklärte die Frau, und erst in diesem Moment begriff Mace, dass er ihren Namen gar nicht kannte.

»Sie hatte einen Unfall«, berichtete er Ellie, froh über die nette, kompetente Art seiner Bekannten. »Auf der Südseite der Stadt.«

Ellie kam hinter dem Empfangstresen hervor und besorgte einen Rollstuhl. Behutsam drängte sie die Patientin, sich hineinzusetzen. »Was ist mit dir, Mace?«, erkundigte sie sich. »Hast du dich verletzt?«

Mace fuhr sich durch die nassen Haare. Durchweicht, wie er und seine Begleiterin waren, hätten sie auch Schiffbrüchige sein können – hätte es im Umkreis von tausend Meilen einen Ozean gegeben. »Ich kam nur zufällig vorbei«, sagte er.

»Ich bin versichert«, kam es von der Frau im Rollstuhl.

»Zu den Formalitäten kommen wir später«, erklärte Ellie, die den Neuankömmling schon Richtung Untersuchungszimmer schob, während sie sich hinunterbeugte und fragte: »Wie heißen Sie, Schätzchen?«

Die Frau im Rollstuhl zögerte lange genug, dass Mace und Ellie einen Blick tauschten. Ellie hob fragend eine Braue.

Mace zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

»Kelly«, sagte die Frau schließlich, und es klang erleichtert. »Kelly Wright.«

»Nun, Kelly Wright«, verkündete Ellie, während sie mit ihr im Untersuchungsraum verschwand, »Sie haben Glück. Dr. Draper hat heute Abend Dienst, und sie ist die Beste.«

Mace schaute ihnen hinterher und unterdrückte das Bedürfnis, ihnen einfach zu folgen, eine Menge Fragen zu stellen und dafür zu sorgen, dass Sheila Draper auch die richtigen Tests durchführte.

Was immer die richtigen Tests sein mochten.

Da Miss Wright nach wie vor sein Handy hatte, ging er zum Münzfernsprecher, einem echten Relikt aus einer vergangenen Zeit. Mace wühlte in den Hosentaschen nach Münzen und rief seinen Freund Spence Hogan an, seines Zeichens Polizeichef von Mustang Creek.

Spence brauchte eine Weile, bis er sich meldete, und als er es endlich tat, geschah das auf die übliche barsche Art. »Hey, Mace. Was läuft?«

Mace schilderte es ihm in aller Ausführlichkeit.

»Sam Helgeson hat es vor fünf Minuten gemeldet«, sagte Spence. »Ich habe schon einen Streifenwagen und einen Abschleppwagen hingeschickt.« Dann fragte er: »Mit dir alles okay, Kumpel?«

»Mir geht’s gut«, antwortete Mace. Wo hatte er das nur schon mal gehört?

»Bist du dir sicher? Du hörst dich ganz schön nervös an, wenn du mich fragst.«

Mace seufzte. »Ja, das bin ich auch.«

»Bleib einen Moment dran«, bat Spence ihn. »Deputy Brenner meldet sich gerade über Funk. Er ist am Unfallort eingetroffen.«

Mace wartete. Er hörte an Spence’ Ende einen Wortwechsel, konnte jedoch nicht verstehen, was gesagt wurde. Außerdem war er viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, was da im Untersuchungsraum mit Kelly Wright vor sich ging. Gleichzeitig kramte er in seiner Erinnerung – die, was Frauen betraf, sehr zuverlässig arbeitete – nach irgendeiner Verbindung.

Und fand keine.

Er hatte in seinem Leben bestimmt ein halbes Dutzend Kellys gekannt, war mit einigen zur Schule gegangen, hatte andere während der Rodeotour ausgeführt, aber der Name Wright sagte ihm nichts.

Spence meldete sich wieder. »Du sagtest, da sei nur eine Frau im Wagen gewesen, als der den Abhang hinunterrutschte, oder? Keine weiteren Passagiere?«

»Nur sie«, bestätigte Mace. »Doc Draper untersucht sie gerade.«

Spence atmete hörbar aus.

»Was?«, drängte Mace, besorgt von Spence’ Zögern.

»Laut meinem Deputy«, berichtete der Polizeichef, »waren er und der Abschleppwagenfahrer dabei, persönliche Sachen aus dem Wagen zu bergen, als sie Benzin rochen. Sie rannten schnell den Abhang hinauf mit den paar Sachen, die sie noch einsammeln konnten, und dann ging der Wagen erst in Flammen auf und flog schließlich in die Luft. Die Feuerwehr ist unterwegs, um dafür zu sorgen, dass sich das Feuer nicht ausbreitet. Dem Himmel sei Dank für diesen Regen.«

Mace kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. »Meine Güte«, flüsterte er und sah das Feuer vor sich, als wäre er dabei gewesen. Er dachte daran, dass er nach dem Treffen mit dem Typen, der seine Website betreute, beinah auf ein Bier in seiner Lieblingsbar vorbeigeschaut hätte. Dort wäre er sicher eine Weile hängen geblieben, hätte mit Freunden und Nachbarn geplaudert, womöglich die eine oder andere Partie Billard gespielt. Wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass Harry, die langjährige Köchin und Haushälterin der Familie, an diesem Abend ihre legendären Hamburger zubereiten wollte, und falls er geglaubt hätte, dass seine beiden älteren Brüder Slater und Drake ihm etwas übrig lassen würden …

Wenn.

Diese Miss Wright wäre höchstwahrscheinlich in ihrem Wagen gefangen gewesen, unfähig, die Fahrertür zu öffnen auf dem steilen Abhang. Sie wäre zusammen mit dem Wagen abgestürzt, und wenn sie wie durch ein Wunder die Überschläge, ohne sich das Genick zu brechen, überstanden hätte, wäre sie verbrannt.

Er stieß einen leisen Fluch aus.

»Macht dich wohl zum Helden«, bemerkte Spence trocken.

»Ich war bloß zufällig da, das ist alles«, sagte Mace. »Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Du hättest das Gleiche getan, wenn du dort gewesen wärst, genau wie so ziemlich jeder hier.«

»Wie so ziemlich jeder hier«, bestätigte Spence mit leichter Betonung auf dem mittleren Wort.

Mace ließ das unkommentiert. Jede Stadt hatte ihre Windbeutel, und Mustang Creek bildete da keine Ausnahme. Aber darum ging es nicht. Was zählte, war die Tatsache, dass diese Wright-Lady nicht in dem Wagen diesen Abhang hinuntergestürzt war. Sie war heil davongekommen, musste vielleicht ein bisschen geflickt werden, aber sie war am Leben.

Ein Schauder überlief Mace und erinnerte ihn daran, dass seine Kleidung vollkommen durchnässt war und klamm und kalt an ihm klebte. Er hatte Hunger, war hundemüde und verdammt dankbar, dass das oft launische Schicksal Kelly Wright nicht allzu übel mitgespielt hatte.

»Mace?«, fragte Spence. »Bist du noch dran?«

»Ja, ich bin da«, antwortete er.

»Ich nehme an, viel mehr kannst du heute Abend nicht mehr tun. Ist also wohl das Beste, wenn du nach Hause fährst.«

»Sobald ich weiß, dass Kelly nichts fehlt, mache ich genau das. Wahrscheinlich braucht sie jemanden, der sie zum Hotel fährt. Dort wohnt sie nämlich.«

»Na schön«, meinte Spence diplomatisch. »Ich nehme allerdings an, die Dame wird zur Beobachtung dortbleiben, und die Tests, die man mit ihr durchführen will, können Stunden dauern. Willst du wirklich die ganze Zeit im Wartezimmer sitzen?«

Mace seufzte. »Sie kommt nicht von hier. Irgendjemand sollte wenigstens so lange warten, bis feststeht, ob sie über Nacht hierbleiben muss oder ob sie gehen darf.«

»Gut«, sagte Spence. »Wir werden hier tun, was wir können.«

Mace nickte, bis ihm klar wurde, dass sein Freund das nicht sehen konnte. »Ihr Name ist Kelly Wright, und der Wagen war gemietet, aber sie wusste den Namen der Mietwagenfirma nicht mehr. Mehr kann ich dir im Augenblick nicht sagen.«

»Keine Sorge«, erwiderte Spence. »Mustang Creek PD vollbringt auf geheimnisvolle Weise Wunder. Richte Miss Wright aus, sie möge mich anrufen, sobald ihr danach ist, ja? Es wird einiges an Papierkram anfallen.«

»Mach ich«, versprach Mace, ehe sie sich voneinander verabschiedeten.

Mace lief auf und ab, als ein junges Paar mit ängstlichen Gesichtern durch den Haupteingang hereinstürmte. Der Mann trug ein wimmerndes, in eine Decke gewickeltes Kleinkind auf dem Arm.

Sofort tauchte Ellie auf und begrüßte die Neuankömmlinge mit einem breiten, beruhigenden Lächeln. Sie gab der Frau ein Klemmbrett und führte das Trio in ein anderes Behandlungszimmer.

Als sie in den Empfangsbereich zurückkehrte, gab sie Mace sein Handy zurück. »Kelly bat mich, dir das zu geben.«

»Danke. Gibt es schon Ergebnisse?«

»Noch nicht«, antwortete Ellie unverbindlich. »Möchtest du Kaffee?«

»Nein danke.« Er war ohnehin schon aufgedreht genug, auch ohne einen Koffeinkick.

»Wie läuft dein Abend?«, erkundigte er sich. Eigentlich war er nicht allzu gesprächig, aber das Wartezimmer machte ihn verrückt.

»Besser als deiner, würde ich denken.« Ellie lächelte verständnisvoll und saß schon wieder auf ihrem Platz hinter dem Anmeldetresen. »Bis jetzt war nicht viel los. Was natürlich gut ist.«

Mace merkte, dass ihm der Gesprächsstoff ausging. Er setzte sich auf einen orangenfarbenen Plastikstuhl, schlug eine alte Ausgabe von Field & Stream auf, las einen Absatz über Forellenfischen in Montana und gab es auf.

Eine weitere Stunde verging, in der eine ältere Frau mit Atemproblemen hereingebracht wurde und das junge Paar mit einem Rezept aus dem Behandlungszimmer kam. Das Kind schlief nun, den Kopf auf der Schulter des Mannes. Mace nickte ihm freundlich zu, und der Mann nickte zurück.

Kurz darauf kam Sheila Draper aus dem Behandlungszimmer, entdeckte Mace und ging lächelnd auf ihn zu. Sie war eine gut aussehende Rothaarige, mit einer Figur, die ihre blaue Krankenhauskluft aufregend ausfüllte.

»Hey, Doc«, sagte Mace. Sheila war auf einer Nachbarranch aufgewachsen und die beiden Familien seit langer Zeit befreundet.

»Selber hey.« Sheila trug einen Tablet-Computer, sah aber nicht hinein. In ihren hellgrünen Augen lag ein Funkeln. »Du kannst dich entspannen, Sir Galahad«, sagte sie. »Kelly ist nicht ernstlich verletzt, nur ein bisschen durchgerüttelt und dehydriert. Ich behalte sie über Nacht hier, zur Beobachtung und zur Flüssigkeitszufuhr.«

Etwas in Mace entkrampfte sich, und er atmete tief durch. Und noch während die Frage in seinem Kopf entstand, staunte er darüber, dass er sie stellen musste. Er hatte doch für Kelly getan, was er konnte und wusste sie in guten Händen, hatte es von dem Moment an gewusst, als er sie hereingebracht hatte.

Trotzdem fragte er: »Kann ich sie sehen?«

Sheila schüttelte bedauernd den Kopf und berührte seinen Arm. »Nicht mehr heute Abend, Mace. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und sie ist schon auf dem Weg nach oben. Vermutlich schläft sie schon, bevor sie in ihrem Zimmer angekommen ist.« Im Grunde verstand es sich von selbst – Kelly brauchte Schlaf, keinen Besuch.

Er nickte und seufzte.

Dann bedankte er sich bei Sheila, verabschiedete sich von Ellie und machte sich auf den Heimweg.

Mace Carson erinnerte sich also nicht an sie. Zumindest nur sehr vage.

Das war ja fürs Erste in Ordnung, fand Kelly, schon ein wenig benommen von dem Beruhigungsmittel, das man ihr gerade verabreicht hatte. Sie dagegen erinnerte sich umso besser.

Wegen der grellen Beleuchtung über ihr und wegen eines leichten Schwindelgefühls schloss sie die Augen, während sie auf einer Bahre erst in einen Fahrstuhl und dann einen langen Gang entlanggeschoben wurde. In Gedanken kehrte sie in ein anderes Krankenhaus zurück, an einem anderen Abend, vor über zehn Jahren.

Bei der Erinnerung daran hätte sie sich am liebsten in die Embryonalstellung zusammengekrümmt, doch die Medikamente und die Infusionsnadel in ihrem Arm machten solche Bewegungen unmöglich. Es hätte auch zu viel Anstrengung gekostet.

Eine andere Erinnerung flutete ihren Verstand und wirkte beruhigend. Auch damals war Mace bei ihr gewesen. Er hatte sie ins Krankenhaus begleitet und ihre Hand gehalten. Er hatte ihr gut zugeredet, dass sie jetzt in Sicherheit sei und niemand ihr etwas antun würde. Er hatte ihr versprochen, da zu sein, wenn die Polizei käme, um sie zu befragen. Und er hatte sein Wort gehalten, als sie am nächsten Morgen entlassen wurde. Er hatte sie zum Polizeirevier gefahren und neben ihr gesessen, während zwei Detectives von der Spezialeinheit für Sexualverbrechen, der Special Victims Unit, kurz SVU, sie über die Ereignisse der vorangegangenen Nacht befragten, in der sie auf dem Weg zu ihrer Studentenunterkunft angegriffen und beinah vergewaltigt worden war.

Mace, der am gleichen College in Kalifornien studierte, hatte das Handgemenge gehört, den Mann von Kelly heruntergezerrt und bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten.

Aber wie hatte Mace das alles vergessen können? Vielleicht war es eine Gewohnheit für ihn, Leute zu retten. Geschah das so häufig, dass er sich an die einzelnen Ereignisse schon gar nicht mehr erinnern konnte?

Bei der Vorstellung musste sie lachen.

Morgen oder möglicherweise erst übermorgen würde sie ihn wiedersehen. Falls ihm dann immer noch nicht eingefallen war, woher er sie kannte, würde sie seine Erinnerung eben ein wenig auffrischen. Oberste Priorität hatte das allerdings nicht.

Eigentlich war sie nach Mustang Creek gekommen, um mit diesem Mann Geschäfte zu machen, und nicht, um ihre lange zurückliegende – und sehr kurze – Bekanntschaft zu erneuern. Great Grapes International, das Unternehmen, für das sie arbeitete, strebte mit Mountain Winery eine Partnerschaft an, wie es sie bereits erfolgreich mit anderen Weinproduzenten eingegangen war.

Mit großen, dachte Kelly. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte der Unternehmensvorstand keinerlei Zweifel daran, dass alles genau nach ihren Vorstellungen laufen würde; deren Selbstvertrauen grenzte ihrer Ansicht nach schon an Arroganz. Sie wusste über Mace Carson als Mensch nicht viel, nach einer dramatischen Begegnung damals und kurzen Treffen während der Gerichtsverhandlung gegen den Angreifer. Aber ihre Online-Recherche vor Kurzem hatte doch einige Lücken schließen können.

Es war höchst unwahrscheinlich, dass Carson sich von dem Geld, das GGI ihm anbieten würde, beeindrucken ließ, da die Carsons zu den reichsten Familien Wyomings gehörten. Mace’ Firma schien eine Herzensangelegenheit zu sein, nicht bloß eine Einkommensquelle. Das Weingut war schuldenfrei, und der Reingewinn kam verschiedenen wohltätigen Zwecken zugute.

Kelly hatte diese Dinge der Führungsetage auseinandergesetzt oder es zumindest versucht. Und es hatte exakt zu nichts geführt.

Scheitern kommt nicht infrage, hatte ihre Chefin Dina sie fröhlich informiert. Wenn GGI ein Motto hätte, würde es »hipp, hipp, hurra« lauten.

Bei dem Gedanken daran stöhnte Kelly innerlich. Sie wusste um die Kraft einer positiven Einstellung, vor allem nach Jahren in von der Firma bezahlten Du-schaffst-das-Kursen. Die Themen reichten von Standard-Motivationsgesprächen und »Vertrauensübungen« (bei denen man sich rückwärts fallen ließ und aufgefangen wurde), bis zum Barfußgehen über glühende Kohlen.

Sie hatte all diese Dinge getan, und ja, es stimmte – die Erfahrung, über glühende Kohlen zu gehen, ließ sie ganz direkt erfahren, was alles möglich war.

Es stimmte aber auch, dass noch so viel positive Einstellung, Furchtlosigkeit oder Beharrlichkeit niemanden ins Wanken brachte, der fest zur Standhaftigkeit entschlossen war. Und Mace Carson, da war sie sich ganz sicher, gehörte in diese Kategorie. Er liebte seine Unabhängigkeit viel zu sehr …

Kellys Aufgabe war ziemlich aussichtslos, das wusste sie, nur hing von diesem Deal zu viel ab, um es nicht wenigstens zu versuchen. Ihr stand eine lebensverändernde Beförderung bevor, mit verlockenden Vergünstigungen wie Gewinnbeteiligung und Aktienoptionen, Zugang zu Firmenjets, arbeiten in Übersee, sechsstellige Bonuszahlungen und mehr als eine Verdopplung ihres bisherigen Gehaltes.

Die Gleichung war einfach: kein Deal, keine Beförderung.

Entweder, sie fing den Mond mit dem Lasso, ein oder sie scheiterte grandios.

Durchgerüttelt und zerschrammt, benommen von Schmerzmitteln und einfach nur müde nach dem Abflauen des Adrenalinstoßes, schloss Kelly die Augen.

Sie konnte sich weiterhin Sorgen machen, oder sie konnte schlafen.

Sie wählte Letzteres.

2. Kapitel

Als Kelly die Augen wieder öffnete, war der Morgen längst da, und heller Sonnenschein hatte den gestrigen Regen vertrieben. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren – sie befand sich in einem Krankenhauszimmer in Mustang Creek, Wyoming. Es gab noch drei andere Betten, alle leer.

Dann überprüfte sie in Gedanken ihren Körper:

milder Kopfschmerz,

ein paar Wehwehchen,

mit anderen Worten: nichts Gravierendes.

Eine Krankenschwester erschien mit einem Frühstückstablett und einem fröhlichen Lächeln. Auf ihrem Namensschild stand »Millie«.

»Wenn ich Sie wäre«, sagte Millie, während sie das Tablett abstellte und den Nachttisch geschickt in Position brachte, »würde ich losgehen und mir ein Lotterielos kaufen. Wenn man mal bedenkt, wie viel Glück Sie gehabt haben.«

Kelly grinste. »Ja, vielleicht mache ich das.«

»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte Millie sich und hob die Metallhaube, sodass ein Teller mit zu weichem Rührei, schlaffem Toast und zwei Streifen transparentem Speck zum Vorschein kamen.

»Schon viel besser«, antwortete Kelly und betrachtete ihr Frühstück mit, wie sie hoffte, nicht allzu offensichtlichem Misstrauen. Vor fünf Sekunden war sie noch hungrig gewesen.

Millie kicherte – anscheinend entging ihr nicht viel. »Erst flicken wir die Leute zusammen, und dann setzen wir ihnen unser Krankenhausessen vor. Schon schräg, oder?«

Kelly lächelte, nahm ein Stück Toast und knabberte an der Ecke herum. Ihre Kopfschmerzen verschwanden allmählich ganz. Die reine Anwesenheit dieser Frau war wohltuend. »Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, wann ich entlassen werde?«

Millie hob den Plastikdeckel vom Kaffeebecher. »Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber die Ärzte machen ihre Morgenvisite, und dann bekommen Sie sicher Ihre Antwort.«

Nach diesen Worten ging sie zur Tür, wo sie beinah mit einem großen dunkelhaarigen Mann in Jeans, einem langärmeligen weißen Hemd und Stiefeln zusammenstieß. Außerdem trug er ein Polizeiabzeichen. Er grüßte Millie freundlich, nahm den Hut ab und ließ sie hinaus, ehe er das Zimmer betrat.

»Miss Wright?«, fragte er.

Kelly nickte und stellte den Kaffeebecher ab.

»Mein Name ist Spence Hogan«, sagte der Mann, »und ich bin der Polizeichef dieses Ortes. Darf ich nähertreten?«

Kelly antwortete nur halb im Scherz: »Auf keinen Fall. Es sei denn, Sie sind hier, um mich wegen Verlassens des Unfallortes zu verhaften.«

Sein Lächeln würde vermutlich jedes Mal ein mittleres Erdbeben auslösen, sobald es auf seinem gebräunten, markanten Gesicht erschien. »Sie haben nichts zu befürchten, Miss Wright«, versicherte er ihr und trat an ihr Bett. »Ich bin nur hier, um Ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen. Das ist alles. Und um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mietwagen ein Totalverlust ist.«

»Das dachte ich mir schon«, sagte Kelly und fragte sich, weshalb er persönlich ins Krankenhaus kam, statt einen Deputy oder sonst wen aus dem Büro zu schicken.

Offenbar ahnte er ihre Gedanken, denn in seine Augen trat ein amüsierter Ausdruck. »Ich habe hier nach einem Freund geschaut, der sich einer Blinddarm-Notoperation unterziehen musste. Da wollte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, sozusagen, und schnell bei Ihnen reinschauen.«

»Oh«, machte Kelly.

Er nahm ein Smartphone aus der Brusttasche seines Hemdes und tippte ein Icon an. »Ich benötige nur ein paar Details über das, was geschehen ist.« Seine Stimme war tief, seine Art lakonisch, was Kelly an Mace erinnerte. Das wiederum fand sie beruhigend und beunruhigend zugleich. Sein Blick war klar und direkt. »Zunächst einmal habe ich Neuigkeiten für Sie. Die Mietwagenfirma ist informiert, und die schicken einen Ersatzwagen aus Jackson. Müsste am späten Nachmittag hier sein.«

»Das ist gut.« Kelly zögerte, sie hatte fast Angst zu fragen. »Meine Sachen, Handtasche, Laptop und Koffer – konnte irgendetwas davon geborgen werden?«

»Handtasche und Laptop haben es geschafft – anscheinend wurden sie aus dem Wagen geschleudert, denn mein Deputy hat sie auf dem Abhang gefunden.« Spence Hogan machte eine Pause und verzog scherzhaft das Gesicht. »Ich fürchte, alles andere ist in Rauch aufgegangen, als der Wagen explodierte.«

Kelly schluckte. »Der Wagen ist explodiert

»Ja«, bestätigte Hogan, jetzt ernst. Wahrscheinlich dachte er daran, dass Kelly leicht in brennende Stückchen hätte gesprengt werden können; sie jedenfalls dachte daran.

»Aber er brannte nicht, als Mace – Mr. Carson – und ich wegfuhren. Außerdem regnete es noch heftig.«

Hogan hob leicht die eine Schulter und senkte sie wieder. »Muss wohl irgendeine verzögerte Reaktion gewesen sein. Kommt vor.«

Kelly erschauderte und spürte, wie sie blass wurde. Einen kurzen Moment glaubte sie sogar, sich übergeben zu müssen.

Der Polizeichef steckte mit besorgter Miene sein Telefon wieder ein. »Wir können uns später über den Unfall unterhalten. Soll ich eine Krankenschwester oder einen Arzt rufen?«

Kelly schluckte erneut und winkte ab. »Ich bin okay.«

Das war sie auch. Dank Mace Carson.

Apropos Déjà-vu.

Sie war nach Mustang Creek gekommen, um Mace wiederzusehen, wenn auch nicht aus persönlichen Gründen. Sie war auf einer wichtigen Mission für GGI, und er war ein Winzer mit einem Gespür für Innovationen. Mit anderen Worten, sie war geschäftlich hier.

Die Gelegenheit, ihm noch einmal für seine Hilfe vor zehn Jahren zu danken, war ein Bonus.

Chief Hogan nahm aus der gleichen Brusttasche, in der sich das Handy befand, eine Visitenkarte und legte sie auf den Nachttisch. »Rufen Sie mich an, wenn Sie sich besser fühlen.«

Kelly, noch immer geschockt von dem Beinahe-Szenario, versprach es. Dann verabschiedete Hogan sich.

Fünf Minuten später kam Dr. Draper herein, eine rotblonde Schönheit mit Müdigkeitsschatten unter den Augen. »Hallo Kelly. Erinnern Sie sich an mich?«

Kelly erwiderte: »Ja. Sie hatten gestern Abend Dienst, als ich in die Notaufnahme gebracht wurde.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »War das ein Test?«

Dr. Draper lachte leise. »Nein, aber hätten Sie Nein gesagt, wäre ich doch besorgt gewesen.« Sie trat ans Bett und prüfte Kellys Puls. »Wie fühlen Sie sich heute? Sehen Sie Dinge doppelt? Haben Sie Schmerzen?«

»Kein Doppelsehen«, erwiderte Kelly, während Dr. Draper die Ohrbügel ihres Stethoskops in Position brachte und die Brust ihrer Patientin abhorchte. »Ich hatte leichte Kopfschmerzen beim Aufwachen, aber die sind jetzt verschwunden.«

Dr. Draper nickte, nahm das Stethoskop aus den Ohren und ließ es vom Hals baumeln wie eine Perlenschnur. »Schwindel?«

»Nein«, antwortete Kelly.

»Dann werde ich Sie entlassen«, erklärte die Ärztin. »Ich rate Ihnen dringend, in etwa einer Woche Ihren Hausarzt aufzusuchen. Sollten jedoch in der Zwischenzeit Symptome auftreten, müssen Sie umgehend einen Arzt konsultieren.«

»Okay«, stimmte Kelly zu. Diese Frau war nicht viel älter als sie. Was hatten Ärzte nur an sich, egal wie alt sie waren, dass erfolgreiche, selbstbewusste Erwachsene sich in ihrer Gegenwart wie Fünfjährige fühlten?

»Kann jemand Sie abholen?«, erkundigte Dr. Draper sich. »Ich sähe es lieber, wenn Sie für ein, zwei Tage nicht selbst fahren würden.« Da Kelly nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Einige der Hotels in der Stadt bieten einen Fahrdienst an. Oder wir rufen Ihnen ein Taxi.«

»Das wird nicht nötig sein«, verkündete eine vertraute Stimme vom Türrahmen her.

Kellys Herz schlug schneller, als sie Mace dort stehen sah, unfassbar gut aussehend in seinem schlichten Baumwollhemd, Jeans und Stiefeln. Sein dunkelblondes Haar war noch feucht von der Dusche, und auf den markanten Wangen spross ein modischer Dreitagebart. Genau wie Chief Hogan hielt er in der einen Hand einen Stetson.

Dr. Draper drehte sich zu ihm um. »Mace Carson«, begrüßte sie ihn in ironischem Ton. »Was für eine Überraschung.«

Er lächelte arglos. »Ich wollte nur helfen, weil ich mir dachte, dass die Lady irgendwie zu ihrem Hotel kommen muss.«

Die Ärztin sah wieder zu Kelly. »Ist Ihnen das recht?«

Prompt errötete Kelly wie ein Teenager. »Ja.«

Dr. Draper nickte. »Na schön. Ich werde Ihre Entlassungspapiere vorbereiten, aber Sie müssen in der Verwaltung vorbeischauen, bevor Sie gehen.«

Mace salutierte der Ärztin, und sie verpasste ihm im Vorbeigehen einen Schulterrempler, der ihn zum Lachen brachte.

Dann herrschte Stille im Zimmer.

Kelly brach sie nach einer Minute. »Ich muss mich anziehen.« Sofort war ihr diese unnötige Feststellung peinlich.

»Ich warte auf der Schwesternstation.« Schon im Weggehen fügte er mit einem belustigten Funkeln in den Augen hinzu: »Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein«, antwortete Kelly eine Spur zu schnell.

Mace grinste. »Andernfalls wäre eine der Krankenschwestern Ihnen sicher gern behilflich.«

»Verschwinden Sie«, blaffte sie ihn mit glühenden Wangen an.

Das Grinsen wurde breiter. »Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind.«

Und dann war er auch schon aus dem Zimmer.

Eine halbe Stunde später, nachdem sie die notwendigen Versicherungsformulare online ausgefüllt hatte, fuhr Kelly in Carsons Pick-up zu ihrem Hotel.

Kelly hatte ihre Handtasche – in der sich ihr Telefon befand – noch immer nicht zurückbekommen, ebenso wenig wie den Laptop. Durch den Verlust des Koffers war die Anzahl der Kleidungsstücke, die sie mit Sorgfalt für die Reise gepackt hatte, auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Nach einem Moment der Trauer über ihren Armani-Hosenanzug, der sie ein Monatsgehalt gekostet hatte, konzentrierte sie sich auf das, was wirklich zählte: Sie war heil und lebendig.

Als Mace wieder sprach, verblüffte er sie. »Sie sind Kelly Allbright, nicht Kelly Wright. Zumindest hießen Sie damals so.« Er sah sie nicht an.

»Sie erinnern sich«, sagte sie leise.

»Ja. Es fiel mir erst wieder ein, als ich heute Morgen in meinen Terminkalender schaute und feststellte, dass meine Sekretärin Sie eingetragen hatte – ohne mir etwas davon zu sagen. Wanda ist Teilzeitkraft und neigt zur Vergesslichkeit. Als ich den Termin entdeckte, habe ich online recherchiert.«

Kelly lächelte ein wenig verträumt. Ihr fehlte nichts, wirklich, doch sie spürte noch sanft die Nachwirkungen der gestrigen Medikamente. »Tut mir leid, ich habe unser Treffen verpasst.«

»Kein Problem. Ich bin ziemlich flexibel.«

»Beeindruckend, für einen Superhelden.«

»Ich bin nur ein einfacher Mann, Kelly. Ich habe getan, was jeder getan hätte, vor zehn Jahren auf dem Campus und gestern Abend.«

Die Erinnerung an die Beinahe-Vergewaltigung vor zehn Jahren lauerte wie ein Rudel Wölfe in ihrem Unterbewusstsein. Sie war nach einem Abendkurs auf dem Weg in das Studentenwohnheim gewesen, als sie plötzlich aus dem Nichts angegriffen worden war. Sie hatte geschrien und sich gewehrt, überzeugt davon, sterben zu müssen. Und dann war auf einmal Mace aufgetaucht.

Er hatte den Angreifer von ihr heruntergezerrt und ihm den Stiefel auf den Hals gesetzt, bis die Polizei eingetroffen war.

Mit einem entsetzten Laut war Kelly rückwärts gekrochen.

»Es ist vorbei«, hatte Mace sie zu beruhigen versucht. »Du bist jetzt in Sicherheit.«

Du bist jetzt in Sicherheit.

»Habe ich mich eigentlich jemals bedankt?«, fragte Kelly, als sie in die Straße einbogen, die zum Hotel führte.

»Ungefähr zehntausend Mal«, antwortete Mace.

»Ich war mir nicht sicher. Ich hatte solche Angst gestern Abend.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Sie sind verschwunden.«

»Ich habe mein Studium beendet«, erklärte Mace. »Bin nach Napa gegangen, um bei meinem Großvater zu arbeiten. Ihm gehört das Weingut hier.«

»Ja, Sie haben mir damals von Ihrer Familie erzählt. Als Sie zur Gerichtsverhandlung nach L. A. kamen.« Dann fragte sie: »Haben Sie sich je gefragt, was aus mir geworden ist?«

Statt zu antworten, zuckte er nur die Schultern.

»Ich war eine Zeit lang verheiratet«, erzählte Kelly ihm, wobei ihr klar war, dass das ein wenig zusammenhanglos klang. »Nach meinem Studium, meine ich. Es hat nicht gehalten.«

»Tut mir leid, das zu hören.« Das Hotel kam in Sicht, weitläufig und elegant.

»Haben Sie geheiratet?«

»Nein«, antwortete Mace.

»Warum nicht?«

»Ich hatte zu viel zu tun.«

»Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar für das, was Sie getan haben, Mace. Beide Male.«

»Ich kenne an die hundert Typen, die das Gleiche getan hätten.«

»Ich nicht«, entgegnete Kelly. »Also nochmals danke.«

Sie erreichten den Säulenvorbau. Mace hielt an, und ein Angestellter kam mit einem Lächeln im Gesicht angelaufen.

»Willkommen«, begrüßte er die beiden.

»Danke«, sagte Kelly, von einem eigenartigen Schwindel erfasst.

»Miss Wright hat reserviert«, erklärte Mace dem jungen Mann.

»Ja, Mr. Carson«, sagte der Hotelbedienstete.

»Mr. Carson?«, wiederholte Mace, milderte den schroffen Ton aber mit einem Lächeln ab. »Krieg dich ein, Jason. Ich kenne dich, seit du Windeln anhattest.«

Jason grinste. »Weiß ich. Aber wir sollen jeden mit ›Sir‹ oder ›Ma’am‹ anreden, egal wer es ist. Das sind die Dienstvorschriften.«

Mace schüttelte den Kopf, als sei er angewidert, doch Kelly bemerkte das Zucken eines Mundwinkels. »Na schön«, sagte er und öffnete die Tür. »Ich verschwinde wieder, sobald die Lady auf ihrem Zimmer ist. Kann ich den Wagen für ein paar Minuten bei dir lassen?«

»Jawohl, Sir«, erklärte Jason. »Ich werde bis zu Ihrer Rückkehr auf Ihr Fahrzeug achtgeben.« Während er sprach, half er Kelly beim Aussteigen.

»Den Rest schaffe ich allein«, sagte sie.

Mace ignorierte es.

Genau wie Jason.

Sie gestattete es Mace, sie ins Hotel zu begleiten.

Am Empfangstresen warteten ihre Handtasche und ihr Laptop auf sie.

»Miss Wright«, begrüßte die Rezeptionistin sie und tippte auf ihrer Computertastatur. »Da sind Sie ja. Wir haben Sie gestern Abend erwartet.«

Kelly griff nach ihrer feuchten, matschbeschmierten Handtasche, kramte darin nach ihrer Brieftasche und entnahm dieser ihre Firmenkreditkarte. »Mir kam etwas dazwischen«, sagte sie.

Seltsamerweise warf die blonde junge Frau im Studentenalter Mace einen fragenden Blick zu, bevor sie die Karte entgegennahm.

»Geben Sie der Lady einfach ein Zimmer«, forderte er die junge Frau auf.

Kelly war verwirrt, stellte jedoch keine Fragen, sondern hielt weiter ihre Karte hin.

Die Rezeptionistin nahm sie schließlich und gab sie ihr dann wieder zurück. »Wie viele Schlüssel hätten Sie gern?«, fragte sie Kelly, gefolgt von einem erneuten Blick zu Mace.

Jetzt war Kelly ein wenig genervt. »Einen«, antwortete sie mit Nachdruck.

»Selbstverständlich«, meinte die Rezeptionistin strahlend und überreichte ihr die Magnetkarte. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«

»Danke«, sagte Kelly und merkte, wie wenig dankbar sie sich anhörte.

»Haben Sie Gepäck?«, erkundigte sich die junge Frau.

»Nein«, antwortete Kelly, dem Blick der anderen standhaltend. »Das ist in die Luft geflogen.«

Neben ihr lachte Mace leise.

»Oh«, sagte die Angestellte perplex. Dann hellte sich ihre Miene gleich wieder auf. »Wir haben einige gute Läden direkt hier auf dem Gelände. Kleidung, Make-up, Toilettenartikel, was immer Sie benötigen.«

»Da bin ich aber froh«, erwiderte sie und klang dabei überhaupt nicht froh. Was war denn los mit ihr? Diese arme Frau gab sich doch wirklich Mühe, ihr behilflich zu sein, da gab es gar keinen Grund zur Gereiztheit.

Trotzdem war sie gereizt.

Sie fühlte sich unruhig, fehl am Platz in diesem Hotel, mit diesem Mann.

Was in zweierlei Hinsicht verrückt war. Erstens hatte sie schon überall auf der Welt in guten Hotels gewohnt, und zwar wie selbstverständlich. Und zweitens verstand sie nicht, weshalb Mace Carsons Nähe sie beunruhigte. Sicher, er war attraktiv. Er hatte ihr das Leben gerettet, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal.

Natürlich war sie ihm dankbar.

Was bewegte sie dann so sehr?

Sie wusste es nicht.

Kelly wandte sich vom Empfangstresen ab, die Magnetkarte in der Hand. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche und einer Mahlzeit vom Zimmerservice, aber zuerst musste sie den einen oder anderen der Hotelshops aufsuchen, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie brauchte etwas zum Anziehen und eine neue Grundausstattung zur Körperpflege. Ihr Hosenanzug aus Leinen, in dem sie am Tag zuvor gereist war, war völlig zerknittert und wies an den Knien Flecken auf, weil sie aus dem Wagen und über den matschigen Asphalt gekrochen war, während Mace ihr die Tür aufgehalten hatte.

In diese praktischen Überlegungen vertieft, erschrak sie, als er sanft ihren Ellbogen umfasste.

»Lassen Sie mich wissen, falls Sie etwas brauchen«, sagte er.

»Was ist mit unserem Meeting …«

»Das können wir verschieben. Ich melde mich.«

Und damit drehte er sich um und ging.

Kelly war erleichtert, denn sie musste nachdenken, und das war schwierig in Mace Carsons Gegenwart. Andererseits verspürte sie den Wunsch, ihn zurückzurufen, ja ihm hinterherzulaufen und ihn irgendwie dazu zu bringen, zu bleiben. Sich an ihn zu klammern.

Sich an ihn klammern. Wie eine Ertrinkende oder irgendeine zerbrechliche, bedürftige Kreatur, die Angst hatte, allein zu sein.

Aber zu denen gehörte sie nicht. Sie war klug, kultiviert, erfolgreich. Sie war stark. Dank einer Therapie, einer liebevollen Familie, guten Freunden und viel harter Arbeit hatte sie das Trauma des Überfalls überwunden. Sicher, sie hatte auf dem Weg Fehler gemacht, wie zum Beispiel ihre Heirat mit Alan Wright, neben anderen, weniger tragischen Irrtümern. Aber was soll’s? Jeder vermasselte es mal, oder?

Entschlossen wandte sie sich ab und ging auf den ersten der kleinen, gut sortiert wirkenden Läden zu.

Zwanzig Minuten später war sie in ihrem Zimmer, einer geräumigen Mini-Suite mit Balkon, der eine spektakuläre Aussicht auf die Grand Tetons bot, deren schneebedeckte Gipfel in der Ferne aufragten. Diese Berge stellten eine tröstliche Erinnerung daran dar, dass die Erde ein solider Ort war.

Sie warf die Einkaufstüten aufs Bett, kramte in ihrer durchweichten Handtasche nach ihrem Telefon und schaute aufs Display. Die vertrauten Icons waren da, aber der Akku fast leer.

Mit dem Daumen scrollte sie durch ihre Kontakte, fand den Namen ihrer Chefin und drückte auf »Anrufen«.

Dina meldete sich beim ersten Klingelton. »Kelly? Ach du meine Güte, wo warst du? Ich versuche dich seit gestern Nachmittag zu erreichen – ich habe bestimmt ein Dutzend Nachrichten hinterlassen!«

Kelly holte tief Luft und berichtete Dina so knapp wie möglich die Ereignisse des gestrigen Tages, wobei sie sich mit jedem Wort erschöpfter fühlte.

»Du warst im Krankenhaus?«, unterbrach Dina sie mittendrin. »Und das Auto ist tatsächlich explodiert

»Ja«, bestätigte Kelly seufzend und beendete die Geschichte mit der Erwähnung, dass sie sämtliche ihrer Kleidungsstücke verloren hatte, die am Morgen zuvor noch mit Sorgfalt in ihrer kalifornischen Eigentumswohnung von ihr ausgewählt und eingepackt worden waren. »Jemand hat meinen Laptop gerettet. Ob er noch funktioniert, weiß ich nicht, ich habe es noch nicht ausprobiert. Mein Handy hat auch überlebt, aber der Akku ist fast leer. Wenn das Gespräch abbricht, weißt du, woran es gelegen hat.«

»Möchtest du nach L. A. zurückkommen und neu starten? Wir können einen neuen Termin für dein Meeting mit Mace Carson im nächsten Monat vereinbaren oder wann immer du dich bereit dafür fühlst.«

»Nein, ich bin hier, und mir geht’s gut, ehrlich. Wenn du Laura nur bitten könntest, bei mir vorbeizuschauen, um ein paar Sachen zusammenzusuchen und mir per Express ins Hotel zu schicken, wäre mir sehr geholfen.«

Laura war Kellys Sekretärin und hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Außerdem würde sie wissen, welche Garderobe für eine Geschäftsreise die passende war.

»Bist du dir sicher?« Dina klang skeptisch.

»Ja, bin ich. Ich bin so weit gekommen, und du kennst mich – jetzt will ich es auch zu Ende bringen.«

»Du bist eine echte Kämpferin«, sagte Diana und fügte mit zufriedener Resignation hinzu: »Na schön. Ich werde Laura ausrichten, was sie erledigen soll. Bis dahin lade dein Handy auf, iss was und mach dir keine Sorgen wegen des Laptops. Falls er sich nicht mehr hochfahren lässt, bestell dir einen neuen …«

Genau an diesem Punkt des Gesprächs wurde das Handydisplay dunkel, und das Telefon verstummte.

Kelly legte es auf den Nachttisch, fand das Ladegerät auf dem Grund ihrer Handtasche und stöpselte es ein.

Danach folgte sie ihrer To-do-Liste, die sie bereits gedanklich während des Telefonats mit Dina erstellt hatte.

Duschen.

Eines der beiden dünnen Sommerkleider anziehen, die sie unten gekauft hatte.

Haare bürsten und Zähne putzen.

Beim Zimmerservice Essen bestellen. Etwas Gehaltvolles, gepfiffen auf die Kohlenhydrate und das Fett. Einen Cheeseburger zum Beispiel. Oder ein dickes Steak mit Ofenkartoffel, dazu einen ordentlichen Klacks Sour Creme, Schnittlauch und geriebenen Cheddar.

Dann den Laptop starten und Daumen drücken.

Sollte der elegante Computer ruiniert sein, würde die Firma ihr einen neuen stellen, genau wie Diana versprochen hatte. Nur würde es wertvolle Zeit kosten, ihre Notizen, Kontakte und die verschiedenen Vorlagen für Formulare, Verträge und dergleichen neu zu erstellen.

Eine Stunde später saß Kelly geduscht, angezogen und satt an dem kleinen Schreibtisch vor dem aufgeklappten Laptop und rieb sich die Hände. Ein Gebet murmelnd, drückte sie den Einschaltknopf.

Der Bildschirm wurde sofort hell.

»Ja!«, flüsterte sie und klickte gespannt ein Icon nach dem anderen an.

Es war alles noch da. Ein Cyberwunder.

Das Hoteltelefon klingelte scheppernd, und sie nahm den Hörer ab. »Kelly Wright«, meldete sie sich zerstreut.

Der Anruf kam von der Rezeption. Ihr Ersatz-Leihwagen war eingetroffen und wartete auf dem Parkplatz auf sie. Wollte sie, dass man ihr die Schlüssel aufs Zimmer brachte?

Kelly bedankte sich für den Anruf, bejahte die Frage und widmete sich wieder dem Computer. Sie öffnete ihre Mailbox und schrieb eine kurze E-Mail an Dina, in der sie sie darüber informierte, dass der Laptop bestens funktionierte, zumindest im Augenblick. Dann schickte sie ihrer Sekretärin eine Nachricht, die sofort zurückschrieb, voller OMGs, Emojis und Dem-Himmel-sei-Dank-dass-dir-nichts-passiert-ist-Beteuerungen.

Kelly grinste, als jemand an die Tür klopfte und »Parkservice« rief.

Als Frau aus der Großstadt und Vielreisende ging sie zur Tür, schaute durch den Spion und sah einen jungen Mann in Hoteluniform, der lächelnd die Autoschlüssel hochhielt.

Sie war wieder im Spiel.

3. Kapitel

Mace war kein Mann, der sich obsessiven Gedanken überließ, dafür hatte er im Allgemeinen viel zu viel zu tun. Doch am Ende des Tages, umgeben von der Landschaft, die er liebte, in das zartpinke Licht der Abenddämmerung getaucht, bekam er Kelly Wright einfach nicht aus dem Kopf.

Er erledigte die Dinge, die er immer erledigte – die Geräte in der Kellerei überprüfen, sein kleines, unaufgeräumtes Büro abschließen (eine oder zwei Stunden später als er sollte), zwischen den langen Reihen der Rebstöcke gehen, die sich über viele Hektar erstreckten, und nach Krankheiten oder Mehltau Ausschau halten. Und dabei tankte er die einzigartige Energie guter Erde und wachsender Pflanzen.

Wahrscheinlich hatte er wieder einmal das Abendessen verpasst, aber das kannte er schon, und Harry, die langjährige Köchin und Haushälterin der Familie, auch. Für gewöhnlich bewahrte sie ihm einen Teller im Kühlschrank auf oder hielt das Essen im Ofen warm, mit Folie zugedeckt, auf der mit schwarzem Edding sein Name geschrieben stand, versehen mit etlichen Ausrufezeichen.

Mace grinste bei dem Gedanken an diese Botschaft, die seinen beiden älteren Brüdern galt. Slater und Drake waren aktive Männer mit normalem Appetit, und da Harrys Gerichte lecker und nahrhaft waren, machten sie sich auf der Suche nach einem spätabendlichen Snack schon mal über die Reste her. Also beschriftete Harry die Folie, um sie von Mace’ Abendessen fernzuhalten. Diese Methode war tatsächlich wirkungsvoll – meistens.

Sowohl Slater als auch Drake waren energische Männer; wie Mace waren sie dazu erzogen worden, ihre Ziele mit Entschlossenheit zu verfolgen. Aber sie waren nicht so dumm, Essen zu stibitzen, das Harry für tabu erklärt hatte.

Er wollte gerade das Weingut verlassen und ins Haus gehen, als sein Handy eine eingehende Textnachricht signalisierte. Er zog das Handy aus der Brusttasche seines Hemdes und las blinzelnd die Nachricht. Er hatte einen Kunden erwartet oder einen seiner Vertreter, vielleicht noch seine Mutter, die ihn, wie sie es manchmal tat, daran erinnerte, dass selbst Weinmogule gelegentlich essen und schlafen mussten.

Mace blieb stehen. Mit beschleunigtem Puls las er die Nachricht, die von Kelly stammte. Der Ton war brüsk, aber auch faszinierend, in persönlicher Hinsicht.

Wenn Sie frei sind, lassen Sie uns doch morgen zusammen zu Mittag essen, hier im Hotel. Ich würde Ihnen gern einen Überblick über das Angebot unseres Unternehmens geben, den weltweiten Vertrieb betreffend. Wenn Sie einverstanden sind, können wir uns morgen Mittag in der Lobby treffen. Ich habe bei Stefano’s reserviert.

Mace war in zahllosen Lunch- und Dinnermeetings gewesen, seit die erste brauchbare Traubenernte zu Wein verarbeitet worden war, und kein einziges dieser Treffen hatte ihn auch nur im Mindesten aus der Fassung gebracht. Jetzt jedoch ging sein Atem flacher, und sein Herz schlug mit doppelter Geschwindigkeit.

Warum?

Er scrollte zurück zum Anfang des Textes und las ihn noch einmal, verblüfft von seiner gemischten Reaktion. Die Botschaft war klar und pointiert formuliert, rein geschäftlich, und das respektierte er; auf dieselbe Weise ging er die Dinge an. Zeit war Geld und so weiter.

Trotzdem berührte ihn diese Nachricht an einem empfindsamen Punkt in seinem Innern, der kühle, professionelle Ton, der ihm das Gefühl vermittelte, ein Fremder zu sein.

Was absolut nachvollziehbar war, denn ob es ihm nun gefiel oder nicht, für Kelly war er ein Fremder, und sie war eine Fremde für ihn.

Er war zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, um helfen zu können, einmal vor zehn Jahren und dann gestern Abend. Beide Male hatte Kelly sich bei ihm bedankt, und damit war die Sache erledigt, was ihn betraf.

Beim ersten Mal hatte es genügt, zu wissen, dass der Angreifer in Haft war und in Anbetracht seines Vorstrafenregisters einer sehr langen Gefängnisstrafe entgegensah.

Damals war Mace mit irgendjemandem zusammen gewesen. Zwischen Mace und ihr war nie etwas gewesen. Er hatte ihre Hand in der Notaufnahme gehalten und war an ihrer Seite, als die Polizei ihre Aussage zu Protokoll nahm. Monate später hatte er vor Gericht ausgesagt. Sie waren Bekannte gewesen, kein Paar, nicht einmal Freunde.

Wenige Wochen nach dem Vorfall schloss er sein Studium ab und fing auf dem Weingut seines Großvaters in Napa Valley an, um die Kunst der Weinherstellung zu lernen. Monatelang arbeitete er unter der Anleitung des alten Mannes achtzehn Stunden am Tag. Dann folgte die schwierige Gründung seines eigenen Unternehmens, nachdem er nach Wyoming auf die Ranch zurückgekehrt war.

Die Wahrheit? Er war viel zu sehr auf seine Arbeit konzentriert gewesen, um an Kelly, an jene Nacht auf dem Campus oder ihre Begegnung vor Gericht zu denken. Nur manchmal wurde seine Erinnerung durch irgendwelche Nachrichten geweckt. Selbst seine damalige Freundin Sarah, die anspruchsloseste Frau, die er kannte, war es schließlich leid gewesen, ständig auf ihn und ein wenig Aufmerksamkeit von ihm zu warten. Sie schickte ihm einen Abschiedsbrief, in dem sie ihm noch ein schönes Leben wünschte. Das hatte ihn verletzt, auch wenn er zu dem Zeitpunkt längst gewusst hatte, dass die Beziehung mit Sarah eigentlich keinen Sinn hatte.

Dass Sarahs damalige Nachricht ihn aufwühlte, war klar. Aber diese hier?

Kelly schlug ein Geschäftsessen vor, mehr nicht. Ein wenig störte er sich an ihrem reservierten Ton, und das war problematisch. Es war eine Sache, besorgt zu sein, weil sie leicht hätte verletzt oder gar getötet werden können, wenn sie nicht rechtzeitig aus diesem Wagen herausgekommen wäre.

Aber er war nicht bloß besorgt gewesen, sondern ihr anschließend nicht mehr von der Seite gewichen.

Selbst jetzt war er sich ihrer hyperbewusst und las Nuancen aus ihrer Nachricht heraus, um Himmels willen! Wie ein besessener Idiot.

Er musste sich zusammenreißen und aufhören, wie ein Stalker zu denken.

Diese Vorstellung war derartig lächerlich, dass er auf seinem Weg zum Haus grinsen musste. Er freute sich auf eine heiße Dusche, ein aufgewärmtes Abendessen und Schlaf. Morgen früh würde er wieder ganz der alte vernünftige Mace sein, der die Dinge nahm, wie sie waren.

Auf der seitlichen Veranda blieb er stehen, im Lichtschein des Flurs, der zur Küche führte. Er nahm sein Handy aus der Tasche und tippte eine Antwort auf Kellys Nachricht, kurz und knapp.

Bis morgen um zwölf Uhr mittags.

Wie versprochen, hatte Laura per Express Kelly einen gepackten Koffer geschickt, der, während sie in dem kleinen, gut besuchten Bistro des Hotels frühstückte, eingetroffen sein musste, denn als sie auf ihr Zimmer zurückkehrte, stand er auf der Kofferablage. Sie öffnete ihn und dankte im Stillen ihrer jugendlichen Assistentin, die genau die richtigen Sachen ausgewählt hatte.

In dem Koffer befanden sich:

Zwei maßgeschneiderte Hosenanzüge sowie zwei Damenunterhemden aus Seide.

Ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid und eine Perlenkette, für den Fall eines Dinnermeetings oder einer unerwarteten Veranstaltung.

Schuhe und Handtaschen zu jedem Outfit.

Laura hatte an alles gedacht, sie besaß einfach ein Talent dafür. Sie hatte außerdem reichlich Spitzen-BHs und Slips eingepackt, drei Jeans, mehrere langärmelige T-Shirts, Socken und Turnschuhe. Ein Baumwollnachthemd war auch dabei, plus ein Badeanzug mit Cover-up.

Zu guter Letzt hatte Laura noch eine Kulturtasche voller Kosmetik- und Toilettenartikel dazugelegt. Normalerweise trug Kelly nur ein Minimum an Make-up auf – Lippenstift, Mascara und eine getönte Feuchtigkeitscreme, vielleicht noch einen Hauch Rouge.

Alles, was sie brauchte, war da.

Sie wählte ihre Garderobe für diesen Tag mit Bedacht aus: den schwarzen Hosenanzug, eines ihrer Lieblingskleidungsstücke, dazu eine kurze taillierte Jacke und ein beiges Trägerhemd mit viel Spitze am Dekolleté, um den Gesamteindruck aufzulockern.

Es war das perfekte Outfit, die weibliche Version des klassischen Business-Anzugs, das zwar ihre Attraktivität unterstrich, gleichzeitig aber kühle Distanziertheit signalisierte: Kommen Sie mir bitte nicht zu nahe.

Na ja, bis auf die Spitze vielleicht.

Würde es Mace die falsche Botschaft übermitteln? Würde er denken, dass sie mehr als einen Händedruck und einen unterschriebenen Vertrag von ihm wollte?

Verführung war jedenfalls definitiv nicht ihr Stil. Sie war ein ernsthafter, engagierter Profi, der nie, niemals Vergnügen mit Beruflichem vermischte.

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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