Nachtschicht für zwei

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Diese Kurven … Als Jasmine sich zum Medizinregal reckt, ist es um Dr. Devlin geschehen. Nach dem Drama mit seiner Ex wollte er Kolleginnen zwar meiden, doch die neue Schwester ist süß, sinnlich, unkompliziert … und unterstellt ihm plötzlich etwas Ungeheuerliches.


  • Erscheinungstag 26.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718275
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Konzentrier dich auf die Arbeit.

Jed sagte es sich fast wie ein Mantra auf, während er am Strand entlanglief. Er joggte täglich – oder strengte sich zumindest an, so oft wie möglich und so weit es irgendwie arbeitstechnisch ging, joggend in den Tag zu starten. Für ihn war das Bewegung und Entspannung zugleich. Und es half ihm, sich zu sammeln und den Kopf frei zu bekommen.

Konzentrier dich auf die Arbeit, wiederholte er. Er musste es einfach tun, konnte nicht anders, nachdem er die letzten zwei Jahre durch die Hölle gegangen war.

Jed blickte über die Bucht. Es war diesig an diesem Morgen, hinten am Horizont war die Skyline von Melbourne nicht zu erkennen. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er richtig gehandelt hatte, als er den Job am Peninsula Hospital annahm. Oder ob er sich nicht doch für eine größere, renommiertere Klinik in der City hätte entscheiden sollen.

Er mochte ja gerade vor allem Großstadtkrankenhäuser. Und nachdem er in Sydney an einer großen Uniklinik gearbeitet und dort seinen Facharzt gemacht hatte, war er auch eigentlich davon ausgegangen, als er sich auf die Stellen in Melbourne bewarb, dass er wieder in der City landen würde. Doch sein Vorstellungsgespräch am Peninsula Hospital, das konkreter als gedacht verlief, hatte ihn umdenken lassen.

Okay, das Peninsula war keine Uniklinik, aber jede Menge zu tun gab es dort natürlich auch. Immerhin fungierte es als zentrales Trauma-Zentrum und verfügte über eine Frühchen- und Neugeborenen-Intensivstation. Und Jed hatte auch das Arbeitsklima am Peninsula gefallen, ebenso die Nähe zum Strand.

Obwohl dies vielleicht letztlich nicht ausschlaggebend gewesen war. Ganz im Vertrauen hatte man ihm nämlich noch gesteckt, dass einer der Oberärzte in Pension gehen und die entsprechende Position in nicht allzu ferner Zukunft frei werden würde. Da Jed, mal abgesehen von seinen privaten Katastrophen, immer darauf hingearbeitet hatte, Leiter einer Notaufnahme zu werden, war dies die perfekte Karrierechance für ihn. Als er vor sechs Monaten bei seinem alten Arbeitgeber kündigte, hatte man zwar noch versucht, ihn mit einem neuen Angebot zu halten. Für ihn war jedoch klar gewesen, dass er fortgehen würde und neu anfangen musste.

Neuer Ort, neue Gesichter, neue Regeln.

Und jetzt?

Neu in der Stadt, vermisste Jed nicht nur Sydney und die Klinik, an der er seinen Facharzt gemacht und gearbeitet hatte, sondern auch seine Familie und seine Freunde. Gestern hatte Luke, sein jüngster Neffe, Geburtstag gehabt. Aber wieder einmal hatte Jed es nicht geschafft hinzufahren. Wieder einmal verpasste er ein Familientreffen. Früher war er wenigstens am freien Wochenende vorbeigekommen, wenn er es während der Woche nicht geschafft hatte.

Ein Geburtstagsanruf bei einem Einjährigen konnte da nicht wirklich mithalten.

Weiter wegzuziehen, war aber wohl dennoch die richtige Entscheidung gewesen.

Auch wenn Jed immer noch seine Zweifel hatte, sich fragte, ob er nicht überreagierte und nicht einfach in Sydney hätte bleiben und darauf hoffen sollen, es würde sich schon noch geben, wenn alles geklärt wäre.

Was für ein Chaos!

Jed blieb stehen, um kurz zu verschnaufen und Luft zu holen.

So oft hatte er sich schon gefragt, ob er das Ganze nicht hätte anders angehen können. Ob er irgendetwas hätte sagen können, was bestimmt einiges verändert hätte. Oder ob er etwas getan hatte, was missverstanden worden war – aber noch immer hatte er keine Antworten.

Es war unglaublich warm für sechs Uhr morgens, unangenehm warm. Zu schwül und zu stickig, und es brauchte schon ein ordentliches Gewitter, um abzukühlen. Doch laut Wetterbericht war erst in der Nacht damit zu rechnen.

„Morgen.“ Jed nickte einem netten alten Herrn zu, der mit seinem Hund spazieren ging. Sie sprachen kurz über das Wetter, dann trank Jed noch einen großen Schluck Wasser, bevor er umdrehte und sich auf den Weg nach Hause machte, um sich für die Arbeit umzuziehen.

Er hätte von vornherein überhaupt nie eine Affäre mit Samantha anfangen sollen.

Obwohl er es kaum hätte kommen sehen können. Er hätte das drohende Desaster nicht vorhersagen können. Obwohl, nein. Er korrigierte sich.

Er hätte überhaupt nie etwas mit einer Kollegin anfangen sollen.

Jed lief wieder schneller, hatte nun endlich einen klaren Kopf. Wusste, worauf er sich konzentrieren musste.

Auf die Arbeit.

2. KAPITEL

„Jasmine?“ Ein freundlicher Empfang war das nicht gerade. Jasmine fuhr beim Klang von Pennys Stimme regelrecht zusammen, blieb stehen und verharrte auf der Stelle.

„Was machst du denn hier?“, wollte ihre Schwester wissen.

„Ich habe ein Vorstellungsgespräch“, antwortete Jasmine, als läge das doch wohl auf der Hand. „Ich war gerade schon beim Sicherheitscheck.“

Sie standen auf dem Verwaltungsflur der Klinik. Jasmine hielt einen Stapel Formulare in der Hand und gab sich wirklich Mühe, passend zum Vorstellungsgespräch intelligent und effizient auszusehen. Wirkte aber eher ein bisschen wie ein aufgescheuchtes Huhn – erst recht, seit Penny sie entdeckt hatte.

Der Sommer hatte sich entschieden, Melbourne einen letzten feucht-schwülen Tag zu schenken, bevor er dem Herbst wich. Und im Gegenzug hatten sich Jasmines lange dunkle Locken – die von ihr extra und mit viel Aufwand und Unmengen von Haargel geglättet worden waren – auf dem Weg vom Parkplatz zur Notfallambulanz bereits wieder gekräuselt. Hatten auch während des Erstgesprächs mit Lisa, der Stationsschwester, nicht aufgehört mit ihrer Kräuseltour.

Und jetzt, während Penny sie so beiläufig und ach so kritisch musterte, wurde Jasmine richtig bewusst, dass ihr feines graues Vorstellungskostüm, trotz hunderter Sit-ups und Kniebeugen per DVD, doch einen Hauch zu eng war.

Penny sah, natürlich, tadellos aus.

Ihr glattes blondes Haar hatte sie elegant zu einem Chignon hochgesteckt. Dazu trug sie eine schicke dunkle Hose und hochhackige Schuhe, die ihre schlanken Beine betonten. Und obwohl es Nachmittag war und Penny als Assistenzärztin in einer oft stressigen Notfallambulanz arbeitete, wirkte ihre weiße Bluse immer noch unglaublich frisch und sauber. Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, sie für Schwestern zu halten.

„Ein Vorstellungsgespräch? Als was denn?“ Penny fixierte sie eindringlich.

„Im Pflegebereich …“, erwiderte Jasmine vorsichtig, „… als Pflegefachkraft. Ich war gerade beim Sicherheitscheck. Wegen der Formblätter, die ich ausfüllen muss.“ Jasmine war sich bewusst, dass sie mit ihrer vagen Antwort vom eigentlichen Problem abzulenken versuchte. Klappte aber nicht – Penny reagierte prompt. Wie immer.

„Wo?“, hakte sie nach. „Wo genau hast du dich beworben?“

„In der Notfallambulanz“, erklärte Jasmine, wobei sie sich anstrengte, ruhig zu sprechen. „Das ist ja nun mal mein Fachgebiet.“

„Oh nein!“ Penny schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen.“ Penny strengte sich nicht an, ruhig zu sprechen, und sie redete auch nicht drumherum. „Ein für alle Mal, Jasmine, ich will nichts davon wissen. Du wirst nicht in meiner Abteilung arbeiten.“

„Wo denn dann? Was erwartest du, Penny?“ Jasmine war eigentlich schon vorher klar gewesen, dass Penny so reagieren würde. Darum hatte sie ihrer Schwester erst mal nichts von der Bewerbung erzählen wollen. Und darum hatte sie auch das Vorstellungsgespräch nicht erwähnt, als sie sich letzten Sonntag bei ihrer Mum getroffen hatten, um Pennys neuesten Karriere-Coup mit einem Festmahl zu feiern. „Ich bin Ambulanzschwester, das ist mein Job.“

„Tja, dann geh und mach ihn anderswo. Arbeite in der Klinik, in der du gelernt hast. Denn um nichts in der Welt werde ich es Seite an Seite mit meiner Schwester tun!“

„Ich kann aber doch unmöglich in die City pendeln“, widersprach Jasmine. „Oder erwartest du echt, dass ich Simon, der erst ein Jahr alt ist, jeden Tag eine Stunde hin- und eine Stunde zurückschleppe? Um nur ja nicht meine große Schwester in Verlegenheit zu bringen?“ Schon allein es anzusprechen war absurd, noch absurder war jedoch, dass Jasmine es tatsächlich erst überlegt hatte. Weil sie genau wusste, wie schwierig Penny sein konnte.

„Du kennst die Leute dort“, beharrte Penny.

„Eben.“

„Jasmine, wenn du wegen Lloyd nicht zurückwillst …“

„Lass es, Penny.“ Jasmine schloss kurz die Augen. Sie wollte nicht dorthin zurück, wo alle ihre Vergangenheit kannten. Wo ihr Privatleben eigentlich schon viel zu lange im Blickpunkt gestanden hatte. „Es hat nichts mit Lloyd zu tun. Ich will einfach nur näher an zu Hause sein.“

Das wollte sie wirklich, nachdem es sich mit Lloyd, ihrem baldigen Ex, der nie wirklich weder mit ihr noch mit dem Sohn etwas hatte zu tun haben wollte, ausgehochzeitet hatte. Also hatte Jasmine beschlossen, wieder in den Vorort an der Küste zurückzuziehen, wo ihr Elternhaus war und ihre Schwester in einem schicken Townhouse wohnte. Und noch mal von vorn anzufangen, die Familie in der Nähe zu haben.

Sie wollte mehr Nähe zu ihrer Mum. Zu ihrer Schwester. Und, ja, sie wollte ein bisschen Unterstützung. Doch offensichtlich würde sie von Penny keine bekommen.

Die Karriere ging Penny über alles, stand immer an erster Stelle. Allerdings war es bei ihrer Mutter genauso. Inzwischen hatte sich Louise Masters zwar weitgehend aus dem Berufsleben zurückgezogen, doch in ihrem Küstendorf stand sie immer noch in dem Ruf, eine toughe und clevere Immobilienmaklerin zu sein. Jasmine war diejenige, die eher gern mal träumte. Die so verrückt war, auch mal ihr Herz zu riskieren und auch an ihren freien Tagen ihren Job vergaß – was aber nicht hieß, dass sie ihre Arbeit nicht liebte. Es war nur nicht ihr ganzer Lebensinhalt.

„Wir reden später darüber.“ Pennys blaue Augen – ihre einzig erkennbare Gemeinsamkeit – blitzten vor Ärger. „Und beruf dich ja nicht auf mich, um den Job zu bekommen!“

„Als würde ich das tun!“, empörte sich Jasmine. „Abgesehen davon, haben wir ja nicht mal denselben Familiennamen, Frau Doktor Masters.“

„Ich meine es ernst“, brauste Penny auf. „Nicht mal anmerken lassen darfst du dir, dass du mich kennst. Ich bin wirklich nicht gerade glücklich darüber, Jasmine.“

„Hi, Penny“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme leise hinter ihnen. Penny drehte sich um. Jasmine auch. Und wäre sie nicht gerade so taub, so immun und so resistent gegen alles Männliche gewesen, dann hätte sie vielleicht bemerkt, wie gut aussehend dieser Mann war. Er war sehr groß, und obwohl sein dunkelbraunes Haar kurz geschnitten war, war es etwas zerzaust. Und sein Anzug ein bisschen zerknittert.

Vor ein paar Jahren da hätte jemand wie er sie durchaus interessiert. Nur jetzt nicht.

Jetzt wollte sie nur, dass er verschwand, damit sie dieses ach so ganz wichtige Gespräch mit Penny fortsetzen konnte.

„Da unten gibt’s anscheinend gleich viel zu tun“, meinte er zu Penny. „Ich wurde soeben angerufen und gebeten, meine Mittagspause abzubrechen.“

„Ich weiß“, erwiderte Penny knapp. „Ich wurde auch gerade angepiept.“

Irgendwie musste er wohl was von der Spannung mitbekommen haben. Jedenfalls schaute er zwischen Penny und ihr hin und her, und dabei fiel Jasmine auf, dass er grüne Augen hatte und sein Kinn eine Rasur vertragen konnte. Und, ja, obwohl sie so völlig uninteressiert war, verlangten jetzt ein paar plötzlich erwachte Hormone in ihr, sie sollte zumindest würdigen, dass seine tiefe Stimme ihn noch anziehender machte.

„Sorry, störe ich gerade bei etwas?“

„Keineswegs.“ Penny reagierte schnell. „Die Krankenschwester hier wollte nur wissen, wie sie zurück in die Notaufnahme kommt – sie hat dort ein Bewerbungsgespräch.“

„Ach, Sie können es kaum verfehlen.“ Er grinste leicht und nickte in Richtung eines dicken roten Pfeils über ihnen an der Wand. „Einfach nur uns nach!“

„Mrs Phillips?“ Jasmine fuhr herum, als sie ihren Namen hörte, und erkannte die Anmeldungsdame vom Sicherheitscheck, bei der sie gerade gewesen war. „Sie haben Ihren Führerschein liegen lassen.“

Jasmine bedankte sich und wollte schon erwidern, dass sie bald eine geschiedene Mrs Phillips sein würde, verkniff es sich aber. Irgendwie kam es ihr kleinlich vor. Schließlich stand es nicht in ihrem Führerschein – und formal war sie ja noch nicht geschieden. Erst in ein paar Wochen. Dann sollten es auch alle erfahren.

Jasmine konnte den Termin kaum noch abwarten.

Doch jetzt … jetzt musste sie erst einmal schnell Penny und ihrem Kollegen auf dem Weg in die Notaufnahme hinterher.

„Na, nun folgen Sie uns ja tatsächlich.“ Pennys Kollege blieb stehen, um Jasmine die Chance zu geben, sie einzuholen. „Ich bin Jed … Jed Devlin und Assistenzarzt in dem Tollhaus hier, genau wie Penny“, sagte er und lief wieder weiter.

„Jasmine, Jasmine Phillips“, stellte sie sich ebenso formell vor und ging zögernd neben ihnen her.

„Ja, und wann also fangen Sie …“, begann Jed, woraufhin Penny neben ihnen laut und vernehmlich schnaubte. Sie war wütend. Jasmine konnte es an ihren Schritten hören. Konnte die Spannung spüren, die jedes Mal aufkam, wenn sie beide zusammen waren. „Wann fangen Sie bei uns an?“, beendete Jed seinen Satz

„Noch hab ich die Stelle nicht“, antwortete Jasmine.

„Klingt aber schon mal aussichtsreich, wenn man Sie zum Check-up nach oben geschickt hat.“

„Zum Sicherheitscheck müssen routinemäßig alle“, warf Penny schroff ein.

Einige Minuten liefen sie zu dritt wortlos nebeneinander her.

„So, da wären wir!“, brach Jed schließlich das Schweigen. „Sehen Sie das große rote Schild mit der Aufschrift ‚Ambulanz und Notaufnahme‘?“

„Wie könnte ich das übersehen?“, griff Jasmine mit einem kleinen Lächeln seine kleine Neckerei von vorhin auf, während sie alle drei durch die Schwingtüren in die Notaufnahme gingen. „Und danke auch.“

„Keine Ursache. Viel Glück.“ Jed nickte ihr zu.

Penny wünschte ihr, natürlich, nicht alles Gute. Sie stöckelte auf ihren High Heels davon. Und Jasmine stand da und stieß frustriert die Luft aus. Sie musste doch verrückt sein, sich das hier anzutun!

Es würde nie funktionieren.

Irritiert bemerkte sie, dass Jed auch noch da war. „Kenne ich Sie von irgendwoher?“ Er runzelte die Stirn.

„Ich denke nicht.“ Nein, wirklich. Er konnte ihr noch nicht begegnet sein. Er sah so extrem gut aus, wie Jasmine leider zugeben musste, dass sie sich bestimmt an sein Gesicht erinnern würde.

„Haben Sie in Sydney gearbeitet?“

Jasmine schüttelte den Kopf.

„Wo dann? Wo waren Sie vorher?“

Sie wurde rot. Und sie hasste es, über ihre Zeit dort zu sprechen. Anfangs hatte sie alles so gemocht – und am Ende nur noch schrecklich gefunden. Doch das konnte sie ihm wohl kaum erzählen. „Im Melbourne Central. Dort habe ich gelernt und in der Notaufnahme gearbeitet, bis ich meinen Sohn bekam.“

„Nette Klinik. Ehe ich in die Gegend hier gezogen bin, hatte ich dort auch mal ein Vorstellungsgespräch. Aber nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Punkt. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor …“

Er konnte doch unmöglich gemerkt haben, dass Penny ihre Schwester war? Das hatte noch keiner. Penny war nicht nur im Aussehen, sondern auch vom Charakter her ganz anders als sie. Sie war zielstrebig und entschlossen. Jasmine dagegen eher impulsiv. Und viel zu sensibel. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ihre Mutter das immer zu ihr gesagt, wenn sie zu weinen anfing.

„Ah, da sind Sie ja!“, unterbrach Schwester Lisa ihre Gedanken. Jasmine fuhr herum, und Jed verabschiedete sich und ging.

„Tut mir leid.“ Jasmine sah entschuldigend zu Lisa. „Es hat ewig gedauert, alle Formblätter für mich zusammenzusuchen.“

„Na ja, gut, damit wäre ja Ihr Papierkram erledigt“, meinte Lisa. „Dann kommen Sie jetzt mal mit mir mit. Ich führe Sie auf der Station herum, damit Sie sich einen Eindruck von den Räumlichkeiten verschaffen können. Geht grade wieder stressig zu.“

Ja, so sah es aus.

Vorhin, beim Erstgespräch von Jasmine in Schwester Lisas Büro, hatte noch Ruhe auf der Station geherrscht, fast andächtige Stille im Vergleich zu der Atmosphäre, die Jasmine aus der großen City-Klinik kannte. Mittlerweile aber waren alle Behandlungskabinen voll, das Personal hetzte nur so an Jasmine vorbei, und dazu schrillte auch noch die rote Alarmklingel aus dem Schockraum.

Jasmine holte tief Luft. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie dem alltäglichen Stress in einer Notaufnahme wirklich schon wieder gewachsen war. Die letzten zwei Jahre hatten sie so verwundbar gemacht und aus dem Tritt geraten lassen, dass sie sich eigentlich nur noch im Bett verkriechen und mit der Decke über dem Kopf liegen bleiben und krank melden wollte.

Doch ihr Ex wollte ihren Sohn nicht sehen, geschweige denn Alimente zahlen. Und da brachte auch der übliche Instanzenweg nichts – sie konnte schließlich nicht warten, bis man ihren Ex zur Kasse bat. Vor allem aber wollte sie für sich und ihren kleinen Sohn sorgen. Und deshalb brauchte sie den Job.

Und wenn es Penny noch so störte!

„Ach, apropos Dienstplan …“, wurde Jasmine von Schwester Lisa in ihren Gedanken unterbrochen, „… wir bemühen uns nach Kräften, und ich versuche nach Möglichkeit, auf individuelle Wünsche einzugehen, aber beim normalen Schichtdienst kann ich leider nicht jeden berücksichtigen.“ Vorhin hatte Jasmine ihr von Simon erzählt. Und es klang jetzt, als hätte Schwester Lisa schon ernsthaft darüber nachgedacht.

„Ich habe übrigens in der Krippe angerufen und Bescheid gegeben, dass Sie vorbeikommen, um sich ein wenig umzusehen. Aber Sie wissen ja, die schließen dort um sechs. Und wenn Sie Spätschicht haben, kommen Sie in der Regel erst nach neun hier weg.“

Jasmine nickte. „Meine Mutter hat mir schon ihre Hilfe angeboten“, erklärte sie, obwohl das nicht ganz stimmte. „Zumindest bis ich das mit dem Babysitten anderweitig geregelt habe.“

„Was ist mit Nachtdiensten? Die müssen wir alle machen – das ist nur fair.“

„Ich weiß.“

„Wenn wir uns alle turnusmäßig ablösen, trifft es einen in der Regel nur alle drei Monate oder so.“

„Klingt machbar“, gab Jasmine sich optimistisch, während sie sich im Stillen die Reaktion ihrer Mutter ausmalte.

Alles in allem war das Vorgestellungsgespräch aber gut gelaufen, fand sie. Und sie war sogar richtig zuversichtlich, die Stelle zu bekommen, zumal sich Schwester Lisa auch noch mit den Worten von ihr verabschiedete: „Sie werden bald von uns hören. Sehr bald. Ich kann gut jemanden wie Sie gebrauchen, der nicht lange eingearbeitet werden muss – zwei aus dem Team haben sich gerade für den Rest der Woche krankgemeldet.“

Jasmine gab ihr die Hand und machte sich nachdenklich auf den Weg zum Ausgang, als sie plötzlich jemanden ihren Namen rufen hörte. Sie drehte sich um und erkannte Jed, der vor einem Röntgenapparat stand.

„Na, hat’s geklappt?“, erkundigte er sich. „Wie es ist für Sie gelaufen?“

„Gut“, antwortete Jasmine. „Also, glaube ich zumindest.“

„Na, Gratulation!“

„Ich will mir nur noch kurz die Krippe ansehen.“

„Also, dann noch mal viel Glück. Wie ich gehört habe, brauchen Sie einiges davon, um dort einen freien Platz zu ergattern“, fügte er hinzu. „Ach, und Jasmine, ich kenne Sie doch.“

„Nein, tun Sie nicht.“ Sie lachte.

„Da bin ich mir ganz sicher. Ich vergesse nie ein Gesicht. Es fällt mir schon noch ein, woher.“

Hoffentlich nicht, dachte Jasmine.

3. KAPITEL

„Na, wie ist es gelaufen?“, empfing ihre Mutter sie schon an der Tür.

„Gut“, antwortete Jasmine. „Sorry, dass du so lange warten musstest.“

„Schon okay. Simon schläft.“ Jasmine folgte ihrer Mutter in die Küche, und Louise setzte Teewasser auf. „Also, wann fängst du an?“

„Ich weiß ja nicht mal, ob ich den Job habe.“

„Ich bitte dich …“, rief ihre Mutter über die Schulter, „… Krankenschwestern werden händeringend gesucht, kommt doch ständig in den Nachrichten.“

Fragwürdige Komplimente machen – das konnte ihre Mutter gut. Jasmine brannten Tränen in den Augen. Richtig begeistert war Louise ohnehin nie gewesen, dass Jasmine in die Krankenpflege wollte. Sie hatte vielmehr gemeint, Jasmine könnte Medizin studieren wie Penny, wenn sie sich in der Schule mehr dahinterklemmte. Und obwohl sie es beide nie so direkt sagten, war klar, dass sowohl Mutter als auch Schwester dachten: Penny macht Karriere – Jasmine nur ihren Job. Obendrein einen, den jeder machen konnte. Jasmine brauchte ja bloß ihre Schwesterntracht anzuziehen und vorzuführen, oder?

„Ich habe mich als Pflegefachkraft beworben, Mum“, erklärte Jasmine. „Und außer mir noch einige andere.“ Darauf ging ihre Mutter aber nicht ein. Und Jasmine bezweifelte einmal mehr, ob es wirklich richtig gewesen war, wieder in ihre Nähe zu ziehen. Ihre Mutter war nicht mütterlich – immer nur erfolgreich, witzig, klug und karrierebewusst. Und sie wollte schlichtweg auch solche Töchter – schließlich hatte sie neben ihrer Karriere noch die Mutterrolle gemeistert und Jasmine und Penny allein großgezogen, nachdem der Kindsvater sie verlassen hatte.

Jasmine wollte es ja auch allein schaffen. Sie brauchte doch nur eine Pause, ein wenig Hilfe, damit sie das alles durchstand. Und beides hatte die Mutter ihr auch gegeben – auf ihre Art.

Nachdem Jasmine vier Wochen wieder zu Hause wohnte, bekam Louise ein nettes Häuschen zum Vermakeln herein. Direkt am Strand, Miete überraschend niedrig – und Jasmine griff sofort zu. Andere Dinge machten ihr weit mehr zu schaffen. Denn das Krankenschwestersein mit den vielen Schichtdiensten, das war so ganz ohne Unterstützung wirklich nicht einfach zu schaffen.

„Ich werde auch nachts ran müssen.“ Jasmine sah ihre Mutter die Schultern anspannen, als sie heißes Wasser in zwei Becher mit Teebeuteln goss. „Alle drei Monate für zwei Wochen.“

„Ich hab nicht zwei Kinder großgezogen, um mich nun um deins zu kümmern“, warnte Louise sie. „Die nächste Zeit werde ich dir helfen, so gut ich kann. Aber abends habe ich oft Hausbesichtigungen. Und im Mai gehe ich auf Kreuzfahrt.“

„Ich weiß. Sowie ich die Zusage habe, suche ich mir eine feste Babysitterin.“

„Und wenn du dienstfrei hast, informierst du mich bitte mindestens einen Monat im Voraus.“

„Mach ich.“

Jasmine ließ sich von ihrer Mutter einen Becher Tee geben. Auch wenn sie sich vielleicht eine Umarmung dazu gewünscht hätte. Oder irgendeine andere kleine Aufmunterung. Aber so etwas gab es in diesem Hause nicht.

„Hast du mal daran gedacht, dir was zu suchen, wo du Kind und Beruf besser vereinbaren kannst? Gab’s da nicht eine Stelle auf dieser Station, wie hieß sie noch gleich, MA …?“

„MRT“, half Jasmine ihrer Mutter auf die Sprünge. „Ja, stimmt, auf der Kernspin war eine frei, sogar mit super Arbeitszeiten. Aber es ist einfach nicht das, was ich wirklich will. Ich mag die Notaufnahme, Mum. Penny würdest du auch nicht zu einer Arbeit drängen, die sie nicht interessiert.“

„Penny hat auch kein einjähriges Kind zu versorgen“, entgegnete ihre Mutter. Woraufhin sie einige Minuten nur stumm dasaßen.

„Du solltest mal wieder zum Frisör“, platzte Louise irgendwann in die Stille. „Und du müsstest etwas mehr Wert auf dein Äußeres legen, wenn du wieder anfängst zu arbeiten“, fügte sie hinzu. Auf ihre typisch knurrige Art gab sie ihr Einverständnis zu dem, was ihre Tochter Jasmine vorhatte. „Und du solltest ein bisschen abnehmen.“

Jasmine wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, entschied sich für Ersteres.

„Was ist da so komisch?“

„Du“, antwortete Jasmine. „Heißt die Devise nicht ‚Abwarten und Tee trinken‘?“

„Nicht bei mir.“ Ihre Mutter lächelte. „Warum gehst du nicht heim?“

„Simon schläft.“

„Ich nehme ihn heute. Mein Abendtermin ist geplatzt. Und du kannst bestimmt so eine Nacht für dich allein gut gebrauchen.“

Manchmal, und immer wenn Jasmine es am wenigsten erwartete, konnte ihre Mum echt nett sein.

„Ach, das wäre toll.“ Seit Simon auf der Welt war, hatte Jasmine keine Nacht mehr für sich gehabt. „Danke, Mum.“

„Dafür nicht. Ich sollte mich mal mit der Granny-Rolle vertraut machen.“

„Na, gut. Lass mich nur schnell noch mal nach ihm sehen.“

„Wenn du ihn nicht aufweckst.“

Jasmine weckte ihn nicht auf. Simone schlummerte, mit Däumchen im Mund, auf dem Bauch. Er lag friedlich in ihrem alten Gitterbettchen in ihrem alten Kinderzimmer. Der bloße Anblick lohnte alle Mühen. Simon war ihr Ein und Alles. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Lloyd nichts mit ihm zu tun haben wollte.

„Meinst du, er vermisst seinen Dad?“, fragte Jasmine ihre Mutter.

„Besser kein Dad als einer, der keiner sein will“, erwiderte Louise. „Aber ich weiß es nicht richtig, Jasmine. Als du klein warst, habe ich mich das auch gefragt.“ Sie lächelte ihre Tochter an. „Offenbar liegt der Männergeschmack bei uns in der Familie. Kein Wunder, dass Penny ihnen abgeschworen hat.“

„Hat sie dir je erzählt, was passiert ist?“, hakte Jasmine nach. Penny war nämlich erst verlobt gewesen – und plötzlich nicht mehr. Sie wollte auch nicht darüber reden.

„Sie meinte nur, dass es Probleme gab und sie besser jetzt Schluss machen wollten als später.“

Bevor Kinder die Dinge noch mehr komplizieren, dachte Jasmine, aber äußerte es nicht.

„Ich weiß, es sind gerade harte Zeiten, aber es kommen auch wieder leichtere“, sagte ihre Mutter.

„Und wenn nicht?“

„Dann legst du dir besser eine Elefantenhaut zu.“ Luise zuckte mit den Schultern. „Hast du Penny erzählt, dass du dich am Peninsula beworben hast?“

„Ich hab sie gesehen, als ich mich vorgestellt habe.“

Autor

Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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