NOX Band 3

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DEM MOND VERSPROCHEN von LINDA WINSTEAD JONES

Detective Gideon Raintree ist Hopes neuer Kollege in einem unheimlichen Mordfall – und ihr ein echtes Rätsel! Denn bei den Ermittlungen erkennt er Zusammenhänge, die eigentlich nur die Opfer wissen können. Und dann ist da noch seine geheimnisvolle Energie, mit der er Hope eines Tages wehrlos vor Verlangen macht …

DER KÖNIG DER MEERE von REBECCA FLANDERS

In letzter Sekunde rettet ein Fremder die hilflose Molly vor dem Sturz ins Meer. Obwohl sie nichts über diesen Mann weiß, verfällt die sonst so nüchterne Journalistin seinem sinnlichen Zauber. Unvergleichlich zärtliche Nächte verbringt sie mit ihm, wie gebannt in der romantischen Geschichte vom König der Meere und seiner Geliebten …


  • Erscheinungstag 03.08.2024
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 8098240003
  • Seitenanzahl 320

Leseprobe

Linda Winstead Jones, Rebecca Flanders

NOX BAND 3

GIDEON

Ich bin ein Raintree. Das ist mehr als nur ein Nachname. Es ist eine Besonderheit in meiner DNS.

Es ist ein Wink des Schicksals.

Um es kurz zu machen: Magie gibt es wirklich. Es gibt sie nicht nur, sondern sie existiert überall um uns herum, nur öffnen die meisten Menschen ihre Augen nicht weit genug, um sie zu sehen. Meine Augen waren schon immer weit offen. Magie liegt mir im Blut. Meine Vorfahren bezeichnete man als Magier und Hexen, sogar als Dämonen. Kein Wunder, dass meine Familie beschlossen hat, unsere besonderen Gaben zu verbergen. Sie zu verbergen, nicht, sie zu begraben. Denn Magie ist eine Verantwortung, der man sich nicht einfach so entziehen darf.

Jedes Mitglied der Familie hat eine besondere Gabe. Einige sind stark, andere schwach ausgeprägt; einige sind nützlicher als andere. Meine Gabe hat mit elektrischer Energie zu tun. Ich kann die Elektrizität, die es überall um uns herum gibt, für meine Zwecke nutzen. Ich kann sogar eine eigene elektrische Spannung erzeugen. Gut – manchmal brennen meinetwegen Computer oder Neonlichter durch. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen.

Durch meine Gabe vermag ich auch, mit Geistern zu sprechen; sie bestehen aus einer anderen Form elektrischer Energie, die wir noch nicht vollkommen verstehen. Diese Gabe ist in meinem derzeitigen Beruf sehr von Vorteil.

Mein Name ist Gideon Raintree. Ich bin Detective bei der Mordkommission von Wilmington, North Carolina.

PROLOG

Sonntag, Mitternacht

Das Adrenalin rauschte so hart durch ihren Körper, dass es Tabby schwerfiel stillzustehen. Der schnelle Anstieg zu dem Apartment im zweiten Stock half auch nicht. Sie verzog angewidert das Gesicht, als sie die grüne Wohnungstür betrachtete. Die Farbe platzte großflächig ab, das Holz war verzogen, die Nummer hing schief. Welcher Raintree mit einem Rest an Selbstachtung hauste in so einer Absteige?

Tabby hatte sehr lange auf diesen Moment gewartet. Alles musste perfekt sein, das war ihr mehrmals eingetrichtert worden. Sie hielt eine Pizzaschachtel in der linken Hand und klopfte mit der rechten. Ein Schwindelgefühl überkam sie, und sie genoss es. Jetzt war ihre Zeit endlich gekommen.

„Wer ist da?“, fragte eine offensichtlich genervte Frau.

„Pizzaservice.“

Sie hörte das Rasseln, als die Sicherheitskette gelöst wurde. Ein Riegel wurde gedreht, und endlich – endlich! – öffnete sich die Tür. Tabby sah sich die Frau schnell an. Zweiundzwanzig Jahre alt, einszweiundsechzig groß, grüne Augen, kurzes pinkfarbenes Haar. Sie.

„Das muss ein Missverständnis sein …“

Tabby drängte sich in das Apartment. Sie ließ die leere Pizzaschachtel fallen und gab so den Blick auf das Messer frei, das sie in ihrer linken Hand hielt. „Schrei, und ich bringe dich um.“

Das Mädchen riss die Augen weit auf. Komisch, Tabby hatte gedacht, dass die Augen einer Raintree auffälliger wären.

Der Job wäre mit einem Stich erledigt gewesen, aber Tabby wollte nicht, dass es zu schnell vorbei war. Ihre besondere Gabe war die Empathie, aber statt nur die Gefühle von anderen nachzuempfinden, war sie süchtig nach ihrer Angst. Hass und Furcht schmeckten süß, sie betrank sich daran.

„Ich habe nicht viel Geld“, sagte Echo weinerlich, und mit jeder Sekunde, die verging, stieg ihre Angst. „Was auch immer Sie haben wollen …“

„Was auch immer ich haben will …“ Tabby drückte Echo mit dem Rücken gegen die Wand. Was sie wirklich wollte, war die Gabe der Kleinen. Sie konnte die Zukunft vorhersehen. In dieser Gabe lag Macht, auch wenn Echo nichts daraus machte, wenn man sich einmal ihre Wohnung ansah. Tabby träumte davon, dass sie die übersinnlichen Kräfte ihrer Opfer in sich aufnahm. Es war ihr bisher noch nicht gelungen, aber eines Tages …

Als sie die Spitze ihres Messers gegen den schlanken Hals des Mädchens presste, wünschte Tabby sich sehnlichst, dass die Gabe der Vorhersehung irgendwie in ihre Seele fließen würde. Sie machte einen kleinen Schnitt, das Mädchen keuchte erschreckt auf, und oh, die Welle der Angst schmeckte so gut.

Sie lächelte und zog das Messer ein kleines Stück zurück. Echo sah erleichtert aus, und Tabby ließ die verängstigte Frau für den Augenblick in dem Glauben, dass es sich um einen einfachen Raubüberfall handelte, der bald vorbei sein würde. Aber nichts war vorbei. Es hatte gerade erst angefangen.

1. KAPITEL

Montag, 03:37 Uhr

Wenn Gideons Telefon mitten in der Nacht klingelte, war meistens jemand tot. „Raintree.“ Seine Stimme war vom Schlaf rau.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“

Die Überraschung, die Stimme seines Bruders zu hören, ließ Gideon sofort hellwach werden. „Was ist passiert?“

„Es gab einen Brand im Kasino. Könnte schlimmer sein“, fügte Dante hinzu, ehe Gideon fragen konnte, „aber ich wollte nicht, dass du es in den Morgennachrichten siehst und dich wunderst. Ruf Mercy in ein paar Stunden an, und sag ihr, dass es mir gut geht. Ich werde in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun haben.“

Gideon setzte sich auf. „Wenn du mich brauchst, komme ich sofort.“

„Danke, aber nein. Du solltest diese Woche auf keinen Fall in ein Flugzeug steigen, und hier ist alles so weit in Ordnung. Ich wollte dich nur anrufen, ehe ich bis zum Hals im Papierkram stecke.“

Gideon strich sich durchs Haar. Vor seinem Fenster brachen sich die Wellen des Atlantiks an der Küste. Er bot noch einmal an, nach Reno zu kommen. Wenn es sein musste, fuhr er zu ihm. Aber Dante lehnte ab und beendete das Gespräch.

Gideon hörte den Wellen des Ozeans zu und dachte nach. Keine Woche mehr bis zur Sommersonnenwende. Sein elektrisches Kraftfeld geriet langsam außer Kontrolle. Normalerweise passierte das nur, wenn ein Geist in der Nähe war, doch in den letzten Tagen ließ er auch so sämtliche Leitungen und Geräte in seiner Nähe durchdrehen. Das würde sich so bald nicht ändern, im Gegenteil. Vielleicht sollte er sich freinehmen und der Wache fernbleiben. Er schloss die Augen und schlief wieder ein.

Sie erschien ohne Warnung, schwebend über dem Fußende seines Bettes. Heute Nacht trug sie ein weißes Kleid, und ihre langen, dunklen Haare hingen auf ihren Rücken hinab. Sie hatte gesagt, sie würde eines Tages Emma heißen. Sie war ganz anders als die Geister, die ihn sonst heimsuchten. Dieses Kind kam nur in seinen Träumen zu ihm. Sie kannte keine Ungerechtigkeit, kein gebrochenes Herz, keine ungenutzten Chancen. Stattdessen brachte sie Licht und Liebe, und das Gefühl von Frieden. Und sie bestand darauf, ihn „Daddy“ zu nennen.

„Guten Morgen, Daddy.“

Gideon seufzte und setzte sich auf. Er hatte diesen besonderen Geist zum ersten Mal vor drei Monaten gesehen, aber ihre Besuche waren in letzter Zeit häufiger geworden – und immer wirklicher. Wer weiß? Vielleicht war er in einem früheren Leben ihr Vater gewesen. In diesem Leben würde er der Daddy von niemandem sein.

„Guten Morgen, Emma.“

„Ich bin so aufgeregt.“ Der Geist des kleinen Mädchens lachte.

Gideon mochte dieses Lachen. Er redete sich ein, dass dieses Gefühl nichts bedeutete. Überhaupt nichts. „Warum bist du aufgeregt?“

„Ich komme bald zu dir, Daddy.“

Er seufzte. „Emma, Liebling, Ich habe es dir schon hundert Mal gesagt, ich werde in diesem Leben keine Kinder bekommen, also kannst du aufhören, mich Daddy zu nennen.“

„Sei doch nicht blöd, Daddy.“

Sie hatte die Augen der Raintree und sein dunkelbraunes Haar. Aber er wusste, dass er nur träumte. „Ich sag dir das nur ungern, Kleines, aber um ein Baby zu machen, muss es auch eine Mommy geben, nicht nur einen Daddy. Ich habe nicht vor zu heiraten, und ich werde auch keine Kinder bekommen. Du musst dir wohl einen anderen Daddy suchen.“

„Du bist so stur. Ich komme zu dir, Daddy, in einem Mondstrahl.“

Gideon hatte sich schon an romantischen Beziehungen versucht. Es hatte nie funktioniert; er musste so viel von sich verbergen. Er musste sich bereits vor seinem Vorgesetzten, seiner Familie und einem nie endenden Strom aus Geistern rechtfertigen. Bestimmt begab er sich in keine Position, in der er auf noch jemanden Rücksicht nehmen musste. Frauen kamen und gingen, und er sorgte dafür, dass ihm keine zu nahe kam.

Es war Dantes Aufgabe, sich fortzupflanzen, nicht seine. Gideon warf einen Blick auf seine Kommode, auf der sein neuester Fruchtbarkeitszauber lag. Er musste nur noch eingepackt und verschickt werden. Wenn Dante erst einmal Kinder hatte, stünde Gideon nicht mehr an erster Stelle in der Thronfolge zum Dranir, dem Familienoberhaupt der Raintree. Gideon konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als Dranir zu sein, außer vielleicht zu heiraten.

Sein großer Bruder hatte im Moment allerdings alle Hände voll zu tun, also sollte er vielleicht ein paar Tage warten, ehe er ihm den Zauber schickte. Vielleicht.

„Sei vorsichtig.“ Emma schwebte ein Stück näher auf ihn zu. „Sie ist sehr böse, Daddy. Du musst vorsichtig sein.“

„Nenn mich nicht Daddy. Wer ist sehr böse?“

„Das wirst du bald merken. Achte auf meinen Mondstrahl, Daddy.“

„Mondstrahl. Was für ein Haufen …“

„Es hat gerade angefangen.“ Emmas Körper verblasste und verschwand schließlich ganz.

Der Wecker klingelte, Gideon wachte abrupt auf. Er warf einen Blick auf die Kommode, wo Dantes Fruchtbarkeitszauber lag, und erwartete, auch Emma zu sehen. Die Träume, die sich mit der Wirklichkeit vermischten, konnte er immer am schwersten abschütteln.

Er ließ sein Bett und seine Träume hinter sich und trat zu den großen Glastüren, die auf seine Terrasse mit Meerblick hinausführten. Er zog Kraft aus dem Wasser, wie er es immer tat. Manchmal war er sich sicher, dass sich die Wellen genau im Takt mit seinem Herzschlag bewegten. Der Ozean war so angefüllt mit Elektrizität, dass er sie regelrecht riechen und schmecken konnte.

Er freute sich nicht auf den Anruf bei Mercy. Nachdem er das erledigt hatte, würde er ins Büro gehen. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass Frank Stiles Johnny Ray Black umgebracht hatte, aber er hatte noch keine Beweise. Er dachte noch einmal darüber nach, sich freizunehmen, bis die Sommersonnenwende vorbei war. Wenn in der Wache alles ruhig war, könnte er sich ein paar Akten mit nach Hause nehmen und dort daran arbeiten.

Dann klangen Emmas letzte Worte in ihm nach. „Es hat gerade angefangen.“

Das kleine Apartment war gründlich zerlegt worden. Auf dem Teppich lagen Glasscherben, Bücher und Nippes waren auf den Boden gefegt worden, eine leere Pizzaschachtel lag achtlos herum, und jemand hatte mit einer scharfen Klinge das alte Ledersofa zerfetzt. Das gleiche Messer, das Sherry Bishop umgebracht hatte? Er wusste es nicht. Noch nicht.

Gideon richtete den Blick auf Bishops Leiche, während die Frau hinter ihm mit hoher Stimme sprach. „Ich dachte, Echo ist vielleicht früher nach Hause gekommen und hat Pizza bestellt. Sie isst doch so gerne spät noch etwas. Es ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen … Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie rauskriegt, dass ich eine Verrückte in die Wohnung gelassen habe.“

Gideon sah über die Schulter. War das ein Ausdruck, den Sherry Bishop schon hundert Mal zuvor benutzt hatte, oder hatte sie noch nicht gemerkt, dass sie tot war?

Sie sah noch undurchsichtig aus. Sie trug die gleichen Hüftjeans wie immer und ein T-Shirt ohne Saum, das ihren Bauchnabel freigab. Die Frisur war neu.

Echo hatte ihre Leiche gefunden, als sie von einem Wochenendausflug aus Charlotte wiedergekommen war. Sie hatte gleich angerufen, statt sich zuerst an den Notruf zu wenden. So viel zum Urlaub diese Woche … Gideon hatte alle notwendigen Anrufe auf dem Weg zum Tatort erledigt und sich im Flur mit Echo unterhalten. Er hatte sie einigermaßen beruhigt und die ersten Streifenbeamten davon abgehalten, den Tatort zu betreten und Spuren zu zerstören. Die Kollegen standen immer noch auf dem Flur und sahen ihm zu. Er hatte bereits den Ruf, seltsam zu sein. Das war die geringste seiner Sorgen.

„Hast du ihn gekannt?“

„Sie“, sagte Sherry.

Eine Frau? Sie ist sehr böse, Daddy. Als Emma in seinem Traum erschienen war, war Sherry Bishop bereits mehrere Stunden tot gewesen. Nicht nur tot, sondern auch verstümmelt. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand fehlte. Er war ihr nach dem Tod abgetrennt worden. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass eine Frau all das getan haben sollte, aber mittlerweile sollte er wirklich wissen, dass ausnahmslos alles möglich war. „Hast du sie gekannt?“

Die geisterhafte Erscheinung schüttelte den Kopf. Sie sah fast echt aus, nur war alles an ihr ein wenig lichtdurchlässig. „Ich habe die Tür aufgemacht, sie ist reingestürmt und hat gesagt, sie würde mir nicht wehtun, wenn ich nicht schreie, und dann hat sie mich geschlagen und …“ Sie legte eine Hand auf ihren Hals und sah an Gideon vorbei auf die Leiche. Ihre Leiche. „Hat die Schlampe mich etwa umgebracht?“

„Ich fürchte, ja. Alles, was du mir erzählen kannst, hilft.“

Sherry keuchte. „Sie hat meinen Finger abgeschnitten? Wie soll ich Schlagzeug spielen mit …“ Der Geist ließ sich in die Couch zurückfallen. „Ich bin tot.“

„Detective Raintree?“ Ein Streifenbeamter steckte seinen Kopf in die Wohnung. „Ist alles, äh, in Ordnung?“

„Es geht mir gut.“

„Ich habe Sie, na ja, reden hören.“

Gideon sah den Jungen an. „Ich rede mit mir selbst. Sagen Sie es mir, wenn die Spurensicherung hier ist.“

Der Geist von Sherry Bishop seufzte. „Sie können mich nicht sehen, oder?“

„Nein.“

„Aber du kannst.“

Er nickte.

„Warum?“

Genetik. Ein Fluch. Eine Gabe. Elektronen. „Wir haben keine Zeit, über mich zu reden.“ Er wusste nicht, wie lange Sherry Bishop noch an die Erde gebunden war. Geister waren verdammt unzuverlässig. „Erzähl mir alles über die Frau, die dich angegriffen hat.“

Detective Hope Malory rannte die Treppen des alten Apartmentgebäudes hoch. Ein halbes Dutzend Cops und Nachbarn lungerte vor der Wohnung des Opfers, alle versuchten einen Blick hineinzuwerfen. Alle, bis auf eine zierliche Frau mit kurzem, blondem Haar, das mit großzügigen pinkfarbenen Strähnen durchzogen war. Sie hielt sich im Hintergrund, als hätte sie Angst.

Hope atmete tief durch und strich sich die marineblaue Jacke glatt. Ihre Pistole steckte in einem Halfter an ihrer Hüfte, die Dienstmarke hing ihr um den Hals. Das einzige Eingeständnis an ihre Weiblichkeit waren ein Hauch von Make-up und die hohen Absätze. Sie wollte einen guten Eindruck machen, weil es ihr erster Tag im neuen Job war. Nach allem, was sie gehört hatte, würde ihr neuer Partner sich nicht freuen, sie zu sehen.

Ein Polizist flüsterte ihr zu: „Sie können da nicht reingehen.“

Sie blieb an der Tür stehen und sah Detective Gideon Raintree bei der Arbeit zu. Sie hatte seine Akte gelesen. Er war nicht nur ein guter Cop, er hatte eine extrem gute Aufklärungsquote. Er untersuchte den Leichnam und redete leise vor sich hin.

Das Foto in seiner Akte wurde Gideon Raintree nicht gerecht. Er war ein sehr gut aussehender Mann – der maßgeschneiderte Anzug konnte das nicht verbergen. Auch dass er dringend einen Haarschnitt benötigte, machte ihn nicht weniger attraktiv. Hope hatte längeres Haar bei einem Mann schon immer gemocht. Egal, wie konservativ er sich anzog, er würde nie vollkommen konventionell aussehen.

Seinen edlen dunkelgrauen Anzug hatte er bestimmt nicht vom Gehalt eines Cops bezahlt, es sei denn, er hatte sich das ganze letzte Jahr nur von Tütensuppe ernährt. Er hatte einen sauber geschnittenen Bart. Dadurch sah er ein wenig verwegen aus. Ohne die Waffe und die Dienstmarke hätte man ihn nie im Leben für einen Cop gehalten.

Sie betrat den Raum. Raintree hob ruckartig den Kopf. „Ich habe Ihnen doch gesagt …“ Er beendete den Satz nicht, sondern starrte sie aus tiefgrünen Augen an, während Hope ihren ersten richtigen Blick auf Gideon Raintrees Gesicht warf. Diese Wangenknochen und diese Wimpern gehörten verboten … Und wie er sie mit seinem Blick fixierte … Die Glühbirne in der Lampe hinter ihm explodierte.

„Tut mir leid“, sagte er, als hätte er irgendetwas damit zu tun. „Ich bin noch nicht fertig. Geben Sie mir noch ein paar Minuten, danach können Sie den Tatort in Ruhe untersuchen.“ Er klang herablassend, und das ärgerte sie.

„Ich gehöre nicht zur Spurensicherung.“

„Dann raus hier.“

Hope schüttelte den Kopf. Normalerweise würde sie ihm die Hand reichen. Aber Raintree trug Handschuhe, also musste das warten. „Ich bin Detective Hope Malory. Ihre neue Partnerin.“

Er zögerte nicht. „Mein Partner ist vor fünf Monaten in den Ruhestand gegangen, und ich brauche keinen neuen. Fassen Sie auf dem Weg nach draußen nichts an.“

Hope hatte versucht, sich den Leichnam nicht genau anzusehen, aber während sie entschlossen stehen blieb, nahm sie die Szene langsam in sich auf. Zuerst fiel ihr das Haar auf. Das Opfer hatte kurze blonde Haare mit pinkfarbenen Strähnen, genau wie die Frau auf dem Flur. Sie hatte vier goldene Ohrringe in einem Ohr und einen im anderen, und insgesamt fünf Ringe an den Fingern. Hope drehte sich der Magen um. Ein Finger war abgetrennt worden, und am Kopf des Opfers befand sich eine blutende Wunde, als hätte jemand versucht, sie zu skalpieren. Der gleiche Jemand, der ihr auch die Kehle durchtrennt hatte.

Hope atmete tief durch und merkte, dass das keine gute Idee war. Der Tod war nicht schön anzusehen, und er roch auch nicht gut. Sie hatte natürlich schon Leichen gesehen. Aber sie waren noch nie so frisch gewesen, und auch nicht so zugerichtet.

„Sie werden nicht verschwinden, oder?“

Hope versuchte, beiläufig Mund und Nase mit einer Hand zu bedecken.

„Na gut“, sagte Raintree scharf. „Sherry Bishop, zweiundzwanzig Jahre alt. Sie war ledig und hatte keine feste Beziehung. Das Geld war knapp, also ist ein Raubüberfall als Mordmotiv ausgeschlossen. Bishop war Schlagzeugerin in einer Band und hat in einem Coffeeshop gekellnert, um sich über Wasser zu halten.“

„Wenn sie in einer Band war, hat sich vielleicht ein Stalker auf sie eingeschossen.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie wurde von einer Frau mit langen blonden Haaren mit der linken Hand umgebracht.“

„Wie haben Sie das in den letzten zwanzig Minuten herausgefunden?“

„Fünfzehn.“ Gideon Raintree stand langsam auf.

Er war über einen Meter achtzig groß – einen Meter fünfundachtzig laut seiner Akte. Seine Haut war gebräunt, und seine grünen Augen waren einfach bemerkenswert. Der Bart ließ ihn fast teuflisch aussehen, und irgendwie passte das zu ihm. Wenn er seine Augen zusammenkniff, sah er unglaublich hart aus. Auch wenn sie sich dabei feige vorkam, senkte Hope den Blick zu seiner blauen Seidenkrawatte.

„Der Winkel der Halswunde lässt darauf schließen, dass die Angreiferin das Messer in der linken Hand hielt. Das wird die Pathologie bestätigen.“

Sie hatte schon gehört, dass Gideon Raintree immer recht hatte. „Wie können Sie wissen, dass es eine Frau war?“

„Auf der Kleidung des Opfers befindet sich ein einzelnes langes blondes Haar. Haare dieser Länge sind bei einem Mann unwahrscheinlich. Das wird die Pathologie bestätigen.“

Na gut, er hatte das schon oft getan. Er war gut. „Und woher kennen Sie die ganzen persönlichen Details aus dem Leben des Opfers?“

„Sherry Bishop war die Mitbewohnerin meiner Cousine Echo.“

Hope nickte. Der Geruch setzte ihr zu.

„Das ist Ihr erster Mord, stimmt’s?“

Wieder nickte Hope.

„Wenn Sie sich übergeben müssen, tun Sie das bitte auf dem Flur. Ich werde nicht zulassen, dass Sie den Tatort verunreinigen.“

Wie fürsorglich von ihm. „Ich werde Ihren Tatort nicht verunreinigen.“

„Wenn Sie darauf bestehen hierzubleiben, dann befragen Sie die Nachbarn.“

Gerne. So entkam Hope dem Zimmer. Raintree fühlte sich bestimmt wohler, wenn er mit der Toten allein war.

Seine neue Partnerin befragte einen Nachbarn, und die Spurensicherung machte im Apartment ihre Arbeit. Gideon saß neben Echo auf der Treppe zum nächsten Stockwerk.

„Ist sie hier?“, fragte Echo leise.

„Sie sitzt hinter uns.“

Auch wenn Echo wusste, dass sie nichts sehen würde, sah sie über die Schulter auf die leere Treppe. „Es tut mir leid. Ich hätte es wissen müssen.“

Genau wie Bishop war Echo zweiundzwanzig. Sie war sehr begabt – als Gitarristin und als Seherin –, aber sie hatte fast keine Kontrolle über ihre Gabe. Sie konnte nicht sagen, wo man seine Brieftasche vergessen hatte oder ob man im nächsten Jahr heiraten würde, aber sie sah Katastrophen voraus. Ihre Albträume wurden wahr.

Gideon besaß eine seherische Gabe, aber sie war viel zu gering ausgeprägt. Echo dagegen erlebte es, als wäre sie dabei. Im Vergleich dazu hielt er es für einen Spaziergang, mit Geistern reden zu können.

„Sie hatte keine Schmerzen.“ Gideon legte den Arm um Echo.

„Warum sollte jemand Sherry umbringen?“, fragte Echo. Sie weinte immer noch, aber leise. „Jeder hat sie gemocht.“

„Ich weiß es nicht.“ Etwas gefiel Gideon gar nicht. Bishop hatte ihre Mörderin nicht gekannt. Es gab keinen Grund dafür, dass sie sterben musste, und schon gar keinen für die Verstümmelung. Er wollte seiner Cousine keinen Schrecken einjagen, aber es gab eine Möglichkeit, die er in Betracht ziehen musste. „Hattest du in letzter Zeit irgendwelche Visionen?“

„Du glaubst, die Person, die Sherry umgebracht hat, wollte eigentlich mich?“

„Verdammt!“, sagte Sherry. „Ich hätte mir die Haare nie blond und pink färben sollen. Wir dachten, es wäre ein gutes Markenzeichen für die Band. Ich fand es so süß.“

„Es ist nur eine Möglichkeit“, sagte Gideon leise. „Ich möchte, dass du dir einen ruhigen Platz zum Übernachten suchst und dort bleibst, bis ich diesen Fall gelöst habe. Wo sind deine Eltern?“

„St. Moritz.“

War ja klar. „Ich will nicht, dass du so weit weggehst.“ Außerdem waren Echos Eltern in einer Krise wie dieser mehr als nutzlos. „Du kannst ein paar Tage bei mir bleiben.“

„Wir haben nächstes Wochenende einen großen Auftritt, aber bis dahin … Ich sage im Coffeeshop Bescheid, dass ich diese Woche nicht kann, dann fahre ich nach Charlotte zu Dewey.“

Dewey. Na toll. Das war ein spindeldürrer, dämlich dreinblickender Saxophonist, der scharf auf Echo war, auch wenn sie immer wieder betonte, dass sie nur Freunde waren. Trotzdem besser, als hierzubleiben. „Ruf mich an, ehe du zurück in die Stadt kommst. Und den Auftritt musst du wahrscheinlich absagen.“

„Vielleicht sollten wir einfach alles absagen. Wir werden keinen Drummer finden, der Sherrys Platz einnehmen kann. Und selbst wenn …“

Gideon sah Echo nicht oft. Er war zwölf Jahre älter als sie, und sie hatten keine gemeinsamen Interessen. Seine Cousine hatte diese wilde Art an sich, die ihm im Grunde wahnsinnig auf die Nerven ging. Nicht dass er ein Heiliger gewesen wäre … Er war sogar ein paar Mal in verrauchten Clubs gewesen, um ihre Band spielen zu sehen. Die Musik war zu laut und zu wütend für seinen Geschmack, aber die Mädchen schienen ihren Spaß zu haben.

Sie hatte recht. Es würde nie mehr das Gleiche sein. „Du siehst müde aus.“

„Ich sollte Mark anrufen und ihm sagen, dass ich heute nicht kommen kann und dass Sherry …“ Ihre Stimme brach.

Es war schwer, es laut auszusprechen. Sherry Bishop würde nicht mehr zur Arbeit kommen. Nie mehr. Gideon nahm seinen Hausschlüssel aus der Tasche und gab ihn Echo. „Schlaf ein paar Stunden, ehe du fährst. In deinem Zustand solltest du nicht auf der Straße unterwegs sein. Und lass dein Handy an.“

Kein Raintree ging mit seinen Gaben hausieren, aber vielleicht hatte jemand Echos Fähigkeit entdeckt und wollte sie zum Schweigen bringen. Wegen etwas, das sie gesehen hatte oder noch sehen würde? Nur, warum den Finger und das Stück Kopfhaut? Das allein machte den Fall komplizierter als alle anderen. Alles, was er hatte, waren Fragen. Und noch mehr Fragen.

Als er die Treppen hinabstieg, folgte Sherry Bishop ihm. „Du wirst aber rausfinden, wer mir das angetan hat, oder?“

„Ich werde es versuchen.“

„Es ist so verdammt ungerecht. Ich hätte noch was vor mit meinem Leben, weißt du. Ich hatte meine neuen Stiefel noch nicht mal an! Mist. Sag Echo, sie kann sie haben.“

„Mache ich.“

Gideon hielt am Fuß der Treppe inne und beobachtete seine neue Partnerin, die eine ältere Frau befragte. Er arbeitete lieber allein. Leon hatte ihm abgekauft, dass er Selbstgespräche führte und großartige Eingebungen hatte. Hope Malory sah nicht so aus, als würde sie Dinge einfach hinnehmen.

Gideon mochte Frauen. Hope Malory war eine klassische Schönheit. Schwarzes Haar, kinnlang, rahmte voll und seidig ihr Gesicht. Ihre Haut war makellos, ihre Augen dunkelblau, die Lippen voll und rosig. Sie war schlank, und doch hatte sie überall Rundungen, wo sie hingehörten. Sie hatte das Gesicht eines Engels, den Körper einer Göttin, und sie trug ihre Waffe, als wüsste sie, wie man damit umging. Machte sie das zur perfekten Frau? Pure Elektrizität fuhr in einer Welle durch seinen Körper. Die Lichter im Flur flackerten. Wenigstens explodierte dieses Mal nichts.

„Du wirst sie doch festnageln?“, fragte Sherry Bishop eindringlicher.

Er sah, wie Hope Malory sich Notizen machte. „Sie festnageln? Sie ist hübsch, aber nicht mein Typ, und es war noch nie gut, Geschäft und Vergnügen zu vermischen.“

„Denk wieder mit deinem Kopf, Raintree“, zischte Sherry. „Ich rede von der Frau, die mich umgebracht hat.“

Er löste seinen Blick nicht von Malory. „Ich versuche es.“

„Echo sagt, du bist der Beste. Und du solltest dich lieber beeilen, Raintree.“

Gideon drehte sich zu Sherry Bishop. Sie war sichtbar verblasst, seit sie das Apartment verlassen hatten. Bald würde sie ihren Frieden finden.

Malory kam mit langen Schritten auf ihn zu, die Selbstvertrauen und Eleganz ausstrahlten. „Nichts. Mrs. Tarleton, die nebenan wohnt, ist so gut wie taub, der andere Nachbar ist erst am frühen Morgen nach Hause gekommen. Niemand hat irgendetwas gehört. Alle mochten das Opfer und Ihre Cousine, auch wenn sie, wie Mrs. Tarleton sich ausdrückte, jung und ein wenig wild waren.“ Sie sah an Gideon vorbei zur Treppe. „Vielleicht sollte ich mit Ihrer Cousine reden.“

„Nein.“

Sie sah ihm in die Augen. „Nein?“

„Ich habe bereits mit Echo geredet.“

„Sie sind ihr Cousin, also stehen Sie ihr zu nah, um objektiv zu sein. Außerdem sind Sie ein Mann.“

„Klingt, als wäre das etwas Schlechtes.“

„Manchmal. Es geht darum, dass sie mir vielleicht Dinge sagt, die sie Ihnen lieber verschweigt. Außerdem, sollten Sie überhaupt an dem Fall arbeiten? Immerhin sind Sie persönlich damit verbunden.“

„Ich habe Sherry Bishop ein-, vielleicht zweimal getroffen. Es gibt keinen Grund …“

„Ich rede nicht von Ihrer Beziehung zu dem Opfer, Raintree. Bis wir sie ausschließen können, ist Ihre Cousine eine Verdächtige.“

„Echo würde niemandem etwas zuleide tun.“

„Gib’s ihr, Gideon“, sagte Sherry Bishop. „Wie kann sie es wagen, auch nur anzudeuten, dass Echo mir etwas antun würde?“

„Sie sind nicht objektiv.“

„Wenn Sie sich dann besser fühlen, überprüfen wir als Erstes das Alibi meiner Cousine. Wenn sie von Ihrer Liste der Verdächtigen gestrichen ist, haben Sie vielleicht nichts mehr dagegen, dass ich meinen Job erledige.“

„Kein Grund, gleich schnippisch zu werden.“

Gideon beugte sich vor und senkte die Stimme. „Detective Malory, wenn Sie darauf bestehen, meine neue Partnerin zu sein, kann ich wahrscheinlich nichts dagegen tun. Aber tun Sie uns beiden einen Gefallen, und benehmen Sie sich wie ein Detective und nicht wie ein kleines Mädchen.“

Offenbar hatte er einen wunden Punkt erwischt. „Ich bin kein Mädchen, Raintree, Sie …“

„Schnippisch“, unterbrach er sie. „Ein Wort, das echte Männer nie benutzen.“

„Gut. Ich werde einfach oft grunzen und mich immer mal wieder am Hintern kratzen, dann gehöre ich vielleicht irgendwann dazu.“

Gideon wusste, dass es egal war, was Malory tat. Sie würde ihm mächtig unter die Haut gehen. Aus den Augen, aus dem Sinn, sagte man nicht so? Sie war schließlich nicht die einzige hübsche Frau in Wilmington.

Er brauchte keinen Partner. Er wollte keinen. Und am Ende wäre es sowieso egal. Detective Hope Malory würde nicht lange bleiben.

2. KAPITEL

„Lunch?“ Gideon warf einen Blick auf seine neue Partnerin, während er den Wagen wendete. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen, und er hatte darauf bestanden zu fahren.

„Ich dachte, Sie wollten mit diesem Klubbesitzer reden.“

„Der wird vor vier nicht da sein.“ Sie hatten bereits mit dem Manager des Coffeeshops gesprochen, in dem Sherry und Echo die letzten sieben Monate gearbeitet hatten. Mark Nelson hatte nichts Interessantes zu berichten gehabt, aber Gideon wollte am Abend noch einmal zurückkehren. Vielleicht kam der Mörder, um zu sehen, wie die Leute auf den Tod von Sherry Bishop reagierten.

„Lunch ist okay.“

Er kurvte durch einige enge Straßen und bog schließlich auf den Parkplatz vor Mama Tanyas Café. Es war spät am Nachmittag, und der kiesbestreute Parkplatz war so gut wie verlassen.

„Wo sind wir, Raintree?“ Malory betrachtete misstrauisch das kleine Betongebäude, das einen neuen Anstrich gut hätte vertragen können.

„Mama Tanyas.“ Er stieg aus dem Wagen. „Das beste Soul Food in der ganzen Stadt.“

Als sie ihm folgte, knirschten ihre Absätze im Kies. „Wenn Sie versuchen, mich damit abzuschrecken …“

Gideon ignorierte sie und betrat das dürftig beleuchtete Restaurant. Mama Tanyas war berühmt für seine Südstaatenküche. Außerdem war es ein guter Ort, voller guter Menschen. Sogar die Geister, die sich hier blicken ließen, waren glücklich.

„Detective Raintree“, begrüßte ihn Tanya mit einem Lächeln. „Wie immer?“

„Jepp.“ Er setzte sich in seine Stammecke.

Tanya sah Malory an und hob die Augenbrauen. „Und für Sie, junge Lady?“

„Ich nehme nur einen Salat. Vinaigrette extra.“

Ihrer Bestellung wurde mit stummem Erstaunen aufgenommen. Gideon sah zu Tanya, als Malory sich ihm gegenüber hinsetzte. „Bring ihr einfach das Gleiche wie mir.“

„Was, wenn ich nicht mag, was Sie nehmen?“

„Sie werden es mögen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag befanden sie sich an einem ruhigen Ort und waren allein. Er nutzte die Gelegenheit, um Hope Malory unter die Lupe zu nehmen. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten. Sie sah intelligent aus. Und sie war umwerfend schön. Außerdem war sie wütend. „Also, was wollen Sie hier?“

„Ich wollte nur einen Salat.“

„In Wilmington. Wie sind Sie zu diesem unglücklichen und zeitlich begrenzten Job als mein Partner gekommen?“

Sie schluckte den Köder nicht. „Ich habe mich von Raleigh herversetzen lassen. Dort habe ich zwei Jahre bei der Sitte gearbeitet.“

Er war überrascht. Sie sah zu jung aus. „Wie alt sind Sie?“

Die Frage schien sie nicht zu beleidigen. „Neunundzwanzig.“

Sie war also auf der Überholspur unterwegs. Ehrgeizig, klug, vielleicht sogar ein bisschen gierig. „Warum der Umzug?“

„Meine Mutter lebt hier in Wilmington. Sie braucht ihre Familie um sich, also bin ich nach Hause gekommen.“

„Ist sie krank?“

„Nein.“ Malory gefiel die Richtung, in die das Gespräch lief, offensichtlich nicht. „Sie ist letztes Jahr gestürzt. Es war nichts Ernstes. Sie hat sich den Knöchel verstaucht und humpelte ein paar Wochen.“

„Aber Sie haben sich Sorgen gemacht.“

„Ein wenig. Was ist mit Ihnen?“, fragte sie dann schnell. „Haben Sie Familie in der Nähe? Abgesehen von Echo.“

Leute, die zu viele Fragen stellten, machten ihn immer nervös. „Ich habe eine Schwester und eine Nichte, die ein paar Stunden entfernt im Westen leben, einen Bruder in Nevada und Vettern, wohin ich mich auch umdrehe.“

Die letzte Information entlockte ihr ein kleines Lächeln. Vielleicht war sie am Ende doch nicht so ernsthaft. „Was ist mit Ihren Eltern?“

„Sie sind tot.“

Ihr Lächeln verging ihr schnell. „Das tut mir leid.“

„Sie wurden ermordet, als ich siebzehn war“, sagte er ausdruckslos. „Wollen Sie noch etwas wissen?“

„Ich wollte nicht neugierig sein.“ Natürlich wollte sie das nicht, aber seine Antwort hatte das Gespräch beendet. Diese Frau konnte sein Leben auf alle erdenklichen Arten durcheinanderbringen. Gruselige Vorstellung.

Tanya stellte zwei Teller auf den Tisch und dazu zwei große Gläser Eistee.

„Raintree“, sagte Malory leise, nachdem Tanya gegangen war. „Das trieft alles vor Fett.“

„Genau richtig.“

Sie konzentrierten sich auf das Essen. Hope entspannte sich nach ein paar Bissen. Gideon war froh über das Schweigen, aber es machte ihn auch nervös, weil etwas Tröstliches darin lag. Er wollte keinen Partner. Er hatte Leon dreieinhalb Jahre lang toleriert, und am Ende hatten sie ein gutes Team abgegeben, weil jeder für sich geblieben war.

„Ich glaube, sie hat schon vorher gemordet“, rief eine leise Stimme.

Gideon drehte sich um. Sherry Bishop. „Was?“

„Raintree“, fing Malory an, „geht es Ihnen …“

Er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen, ohne Sherry aus den Augen zu lassen.

„Die Frau, die mich umgebracht hat“, sagte der Geist, „war nicht mal nervös, nur aufgeregt. Aufgekratzt, wie Echo und ich vor einem Auftritt. Ich glaube, es hat ihr Spaß gemacht.“

„Raintree“, sagte Malory wieder, diesmal schärfer. Gideon hob wieder die Hand, diesmal mit gestrecktem Zeigefinger.

„Wenn Sie noch einmal mit dem Finger auf mich zeigen, breche ich ihn.“

Sherry Bishop verschwand, und Gideon drehte sich zu Detective Malory um. „Tut mir leid. Ich hab nur nachgedacht.“

„Sie haben eine seltsame Art zu denken.“

„Das sagt man mir öfter.“

Ihr Blick wurde weicher, und etwas Schlimmeres als Wut erschien in ihren Zügen. Neugierde. „Aber anscheinend funktioniert es. Wie machen Sie das?“

„Denken?“

„Ich habe noch nie einen Detective mit Ihrer Aufklärungsquote getroffen. Bis auf den einen Fall letztes Jahr ist Ihre Akte einwandfrei.“

„Ich weiß, dass Stiles es getan hat, ich kann es nur nicht beweisen. Noch nicht.“

„Wie? Wie können Sie das wissen?“

Es war am leichtesten, die Antworten zu geben, die von ihm erwartet wurden: dass er ein gutes Auge für Details hatte, dass er Muster erkannte, dass er entschlossen war, jeden Fall zu lösen. Das alles entsprach der Wahrheit. Es war nur nicht der Grund für seine fast makellose Akte. „Ich kann mit Toten reden.“

Malorys Reaktion kam plötzlich, aber nicht unerwartet. Sie lachte laut auf. Ihre Augen funkelten; ihre Wangen wurden rosa; Gideon wurde mit einem Schlag klar, dass er sich viel zu wohl mit Hope Malory fühlte. Dieses Lachen, er könnte sich daran gewöhnen … und das durfte er auf keinen Fall zulassen.

Hope fuhr langsam an Raintrees Haus vorbei. Das dreistöckige Haus direkt am Wrightsville Beach hatte er nicht vom Gehalt eines Polizisten gekauft, so viel war klar. Hope hatte Nachforschungen angestellt. Sie wusste, was er für das Haus bezahlt hatte, als er vor vier Jahren eingezogen war. Raintree besaß drei Wagen. Außerdem war er ein verdammt guter Cop. Bei den meisten Morden, die er aufgeklärt hatte, war es um Drogen gegangen. Hatte er etwas mit jemandem aus dem Dealermilieu zu tun?

Ich kann mit Toten reden. Ja, sicher.

Warum hatte niemand seinen Lebensstil hinterfragt? Jeder Detective, den sie kannte, wollte ins Morddezernat. Und trotzdem arbeitete Raintree, fünf Monate nachdem sein Partner in Rente gegangen war, immer noch allein – bis sie gekommen war.

Vielleicht gab es vernünftige Antworten auf ihre Fragen, vielleicht auch nicht. Sie musste es wissen, ehe sie sie ihm vertraute. Und sie wusste instinktiv, dass Raintree ein Lügner war. Natürlich log er; er war ein Mann. Die Frage war nur, wie weit er dabei ging.

Hope parkte am Ende der Straße, wo ein weiteres Auto kaum auffallen würde. Dann ging sie zurück zu Raintrees Haus. Es war unwahrscheinlich, dass sie so spät in der Nacht noch etwas zu sehen bekam, aber sie konnte ohnehin nicht schlafen.

Das Haus, die teuren Anzüge, die Autos … mit Raintree war irgendetwas faul.

Sein vor Kurzem pensionierter Partner, Leon Franklin, hatte eine schneeweiße Weste. Franklin hatte ein wenig Geld gespart, aber nicht zu viel. Jeder, mit dem sie gesprochen hatte, hatte ihr gesagt, dass Gideon Raintree das Gehirn in dem Team war. Er löste alle Fälle. Es war einfach nicht normal.

Hope schlüpfte in die Dunkelheit. Mit ihrer schwarzen Kleidung verschmolz sie sofort mit den Schatten. Sie bemerkte eine Bewegung am Strand. Gideon Raintree kam vom Schwimmen. Sein Haar hatte er glatt zurückgestrichen, und Wasser tropfte von seiner Brust. Als das Terrassenlicht auf ihn fiel, hielt sie für einen Moment den Atem an. Er trug Jeans, die direkt über dem Knie abgeschnitten waren und ihm zu tief auf der Hüfte hingen, weil das Wasser sie schwer machte. Sonst trug er nichts, bis auf einen kleinen silbernen Anhänger.

„Gideon“, trällerte eine Stimme. Er hielt inne und lächelte die Blondine an, die über das Balkongitter des Nachbarhauses lehnte.

„Hi, Honey.“ Hope hatte so ein Lächeln den ganzen Tag nicht einmal ansatzweise zu sehen bekommen.

„Wir geben am Samstagabend eine Party. Kommst du auch?“

„Danke, aber wahrscheinlich kann ich nicht. Ich muss arbeiten.“

„Das Mädchen aus den Nachrichten?“, fragte Honey, und ihr Lächeln verblasste.

„Ja.“

Raintree hatte das Aussehen, das Bankkonto und diesen selbstbewussten Charme … Mit diesen Augen und Wangenknochen brachte er die Herzen naiver Frauen bestimmt reihenweise zum Rasen. Zum Glück war Hope noch nie naiv gewesen.

„Warum kommst du nicht rauf und trinkst etwas mit uns?“

„Tut mir leid, geht nicht.“ Raintree drehte sich zu seinem Haus um – und zu Hope – es schien, als würde er sie direkt ansehen. „Ich habe Besuch.“

Hope hielt den Atem an. Er konnte sie auf keinen Fall sehen.

„Besuch?“, fragte Honey weinerlich.

„Ja.“ Raintree starrte in die Dunkelheit. „Mein neuer Partner ist vorbeigekommen.“

Hope murmelte ein paar leise Flüche, und Raintree lächelte, als hätte er sie gehört. Das war unmöglich! Genauso unmöglich war aber, dass er sie in den Schatten sah.

„Bring ihn doch mit“, sagte die Brünette. „Je mehr wir sind, desto lustiger wird es.“

Sie“, antwortete Raintree. „Mein neuer Partner ist ein Mädchen.“

Er sagte „Mädchen“, um sie zu ärgern, das wusste Hope genau.

„Oh. Du kannst sie von mir aus auch mitbringen.“ Honey klang auf einmal weniger begeistert.

„Danke. Aber wir haben noch Dinge zu besprechen, die die Arbeit betreffen. Stimmt’s, Detective Malory?“

Aufgeflogen. Hope trat ein paar Schritte vor, bis Licht auf sie fiel. War Raintree gefährlich? Vielleicht. Andererseits war sie bewaffnet und wusste, wie man sich verteidigte. Aber sie hatte nicht das Gefühl, dass es dazu kommen würde. „Genau“, sagte sie.

„Wie lange sind Sie schon da unten?“, fragte Honey.

„Erst ein paar Minuten.“

„Sie waren ziemlich ruhig.“

„Ich habe den Ausblick genossen.“

Die Brünette seufzte. „Das verstehen wir vollkommen.“

Hope wurde rot. Oh, nein. „Ich liebe das Meer.“

„Ich auch“, sagte Gideon. „Kommen Sie rein.“ Er drehte ihr den Rücken zu und ging voran. „Ich nehme an, Sie sind hier, um sich über den Fall Bishop zu unterhalten.“

„Klar“, erwiderte sie fröhlich. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.“

Er sah sie über die Schulter an, verwegen und amüsiert. „Überhaupt nicht, Detective Malory. Ganz und gar nicht.“

Die schöne Hope Malory war so aufgekratzt, so mit ihrer elektrischen Spannung angefüllt, dass sie beide explodieren würden, wenn er sie berührte. „Ich ziehe mich nur eben um.“ Gideon deutete auf die Küche. „Nehmen Sie sich etwas zu trinken.“

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Gideon sich abgetrocknet und angezogen hatte. Wenn es Ergebnisse der Spurensicherung gab, hätte er einen Anruf bekommen. Wenn sie eine Theorie hatte, hätte sie es ihm am Telefon sagen können. Also warum war Malory hier?

Er fand es heraus, gleich nachdem er ins Wohnzimmer gekommen war. Seine neue Partnerin saß mit einem Glas Soda in der Hand in einem Ledersessel. „Schönes Haus, Raintree. Wie können Sie sich das mit einem Polizistengehalt leisten?“

Sie dachte, er habe Dreck am Stecken. Wollte sie bei der profitablen Korruption mitmachen oder seinen Hintern hinter Gitter bringen? Er hätte ihr Letzteres zugetraut, aber er hatte sich bei Frauen früher schon mal geirrt. „Meine Familie ist wohlhabend. Ich hole mir etwas zu trinken.“

Sie deutete auf ein Glas Soda. „Ich habe Ihnen schon einen Drink gemacht.“

Gideon ließ sich auf den Sessel sinken. War es ein Zufall, dass sie sein Glas so weit von ihrem Sessel weggestellt hatte? Nein. Malory mochte tough wirken, aber als sie darüber geredet hatte, wie ihre Mutter gestürzt war, hatte er in ihren Augen gesehen, wie verletzlich sie wirklich war. Sie hatte jedenfalls ihr Bestes getan, um heute Abend hart auszusehen.

„Eine wohlhabende Familie?“

„Ja. Meine Eltern und meine Großeltern, genau wie deren Eltern und Großeltern, waren alle sehr erfolgreich. Und sie hatten Glück.“

Sie sah ihm auf diese beunruhigende Art in die Augen. „Ich habe Echos Wohnung heute Morgen gesehen. Gehört sie zum armen Teil der Familie?“

„Echo ist eine Rebellin und will es sich erarbeiten. Das bewundere ich an ihr, auch wenn sie manchmal einfach alles tut, nur um nicht wie die anderen zu sein.“

„Haben Sie auch Glück?“

Er lächelte. „Nicht heute Nacht, würde ich sagen.“

Sie reagierte nicht auf den Kommentar. „Sie haben auf jeden Fall Glück als Detective. Ich habe Ihre Akte gesehen.“

„Schön für Sie. Ich würde Ihre auch gerne sehen.“ Wenn Malory zu viele verdammte Fragen stellte, musste er umziehen. Mist, ihm gefiel es hier. Er mochte dieses Haus, und er liebte es, nahe am Meer zu wohnen. Jahrelang war er von Revier zu Revier gezogen, immer dorthin, wo er glaubte, am meisten gebraucht zu werden. Traurigerweise brauchte man seine Gabe so gut wie überall, also hatte er sich irgendwann entschlossen, in Wilmington sesshaft zu werden.

Er musste Hope Malory entweder zu seiner Freundin machen oder sie loswerden.

„Irgendwas stimmt hier nicht.“ Malory betrachtete sein Wohnzimmer kritisch. „Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist sehr hübsch hier. Alles passt ganz gut zusammen, die Möbel, die Bilder …“

„Aber?“, hakte Gideon nach.

„Der Fernseher ist klein und billig, das Telefon alt und noch mit Kabel. Sie haben einen Ghettoblaster! Hatten Sie eine Pechsträhne?“

Wie konnte er ihr beibringen, dass seine Elektrogeräte es an sich hatten, ohne Vorwarnung zu explodieren? Er verbrauchte Handys wie andere Leute Papiertaschentücher. Wenn er in ein Flugzeug stieg, musste er einen mächtigen Schutzzauber tragen, den nur Dante für ihn erschaffen konnte. „Ich sehe nicht viel fern. Höre auch nicht gern Musik. Schnurlose Telefone sind nicht abhörsicher.“

„Und Ihre Telefonate müssen abhörsicher sein, weil …?“

Genug war genug. Gideon durchquerte den Raum, um sich neben sie zu stellen. „Warum fragen Sie nicht einfach?“

„Was fragen?“

„Ob ich meine Finger schmutzig gemacht habe.“

Sie sah ihm in die Augen. „Haben Sie?“

„Nein.“

„Irgendwas hier stinkt bis zum Himmel. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, was.“

„Es ist das Geld. Es fällt den Menschen schwer, zu glauben, dass jemand ein Cop sein will, wenn er eine andere Wahl hätte.“

„Es ist mehr als das, Raintree. Sie sind gut. Zu gut.“

Er neigte sich zu ihr, und sie wich nicht zurück. Sie roch gut. Sauber, süß und verlockend … gemütlich und vertraut. Er wollte sie berühren. Aber er behielt seine Hände bei sich. „Ich habe vor langer Zeit eine Wahl getroffen. Ich mache diesen Job nicht, weil ich es muss. Ich habe genug Geld auf der Bank und könnte einen Job im Kasino meines Bruders bekommen … oder mich auf unser Familienanwesen zurückziehen und überhaupt nichts tun. Aber als meine Eltern ermordet wurden, waren es ein paar Detectives und eine Handvoll Hilfssheriffs, die den Mörder gefasst und hinter Gitter gebracht haben. Es ist ein wichtiger Job, und ich mache ihn, weil ich es kann.“ Und weil er keine andere Wahl hatte.

Ihr Gesichtsausdruck verriet überhaupt nichts.

Sie ist sehr böse, Daddy. Hatte Emma ihn vor Sherry Bishops Mörderin gewarnt? Oder vor seiner neuen Partnerin?

3. KAPITEL

Sie hatte die falsche Frau umgebracht.

Tabby saß in der hintersten Ecke des Coffeeshops. Sie beobachtete die Kunden und Angestellten im Café. Viele der Stammkunden und die zwei jungen Kellnerinnen schnieften. Sie hatte einen Fehler gemacht. Wenigstens kam sie für ihre Mühen in den Genuss, den Schmerz im Coffeeshop in sich aufzusaugen.

Sie war nach dem Mord langsam heruntergekommen und hatte dann fast den ganzen Tag geschlafen. Nachdem sie aufgewacht war, betrachtete sie ihre neuesten Souvenirs. Eines Tages würde sie einen Weg finden, diese Andenken für eine mächtige Magie zu verwenden, die ihr die Gaben ihrer Opfer verleihen konnte.

Und dann hatte sie den Fernseher angeschaltet – nur um herauszufinden, dass das, was sie an sich genommen hatte, überhaupt nicht zu einer Raintree gehörte.

Wer hätte gedacht, dass zwei Frauen mit pinkfarbenen Haaren sich eine Wohnung teilten? Cael würde sie umbringen, wenn er es herausfand. Es sei denn, sie machte ihren Fehler wieder gut. Sie hatte gehofft, Echo Raintree würde heute Abend hier sein. Mist.

Vielleicht hatte sie sich irgendwo verkrochen und beweinte den Tod ihrer Mitbewohnerin. Wenn alles andere versagte, gab es immer noch die Beerdigung. Und es musste einfach noch diese Woche passieren. Wenn Echo Raintree eine Vision hatte und ihre Familie warnte, könnte es sein, dass nicht alles so glattlief wie geplant.

Als die Tür aufging, wandte Tabby sich um. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Gideon Raintree. Ihr lief buchstäblich das Wasser im Munde zusammen. Sie begehrte Gideon noch viel mehr als Echo, aber sie hatte den Befehl abzuwarten. Cael sagte, einen Cop umzubringen machte zu viel Wirbel. Später in der Woche, wenn es fast an der Zeit war, konnte sie Gideon umbringen.

Tabby glaubte nicht, in der Nähe des Tatorts gesehen worden zu sein. Trotzdem war sie froh, dass sie die kurze brünette Perücke trug. Sie konnte sich entspannt zurücklehnen und einfach beobachten.

Gideon und die Frau, die bei ihm war, setzten sich in eine Ecke, in der sie das ganze Restaurant im Blick hatten. Sie waren zwanglos angezogen, die Frau ganz in Schwarz, Raintree in Jeans und einem ausgewaschenen T-Shirt. Beide waren bewaffnet.

Tabby betrachtete die Frau aus dem Augenwinkel. War sie seine Freundin? Ein Cop? Der Halfter ließ auf Cop schließen, aber vielleicht war die Frau sowohl Kollegin als auch Bettgefährtin. Das Paar strahlte weder Angst noch Traurigkeit aus, aber da war eine Energie. Die Frau umzubringen würde Raintree ablenken, falls er ihr zu schnell auf die Schliche kam. Es würde allerdings auch ziemliches Aufsehen erregen.

Tabby wurde unruhig. Zu wissen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, verdarb ihr die Freude am Ausflug von letzter Nacht. Sie wollte mehr. Sie hatte diesen Job ohnehin versaut – was würde es ausmachen, wenn sie einen Cop umbrachte? Solange Echo und Gideon beide am Ende der Woche tot waren, würde Cael ihr alles vergeben.

Gideon Raintree war ein Mitglied der königlichen Familie. Sie wollte ihn berühren, wenn sie das Messer in sein Herz versenkte.

Auch wenn sie noch keinen Weg gefunden hatte, die Gaben zu stehlen, zog sie Energie aus ihren Andenken. Sie bewahrte sie in einem besonderen Lederbeutel auf, der jedes Jahr schwerer wurde. Diese Erinnerungen gaben ihr Kraft, wenn sie dazu gezwungen war, sich zurückzuhalten. Ja, sie könnte ihr Opfer aus der Ferne erledigen, aber Gideon Raintree umzubringen würde ein so köstlicher Moment sein, dass sie noch nicht bereit war, ihn als Mittel zum Zweck aufzugeben.

***

Dienstag, 7:40 Uhr

Frühstücksbuffet im Hilton, hatte Raintree gestern Abend gesagt. Es war eine Tradition, dass sich die Detectives vom Wilmington PD jeden Dienstagmorgen dort trafen. Als Hope ins Restaurant ging, strich sie sich die Falten aus ihren schwarzen Hosen. Sie kam zehn Minuten zu spät.

Die Gruppe war leicht auszumachen. Ein runder Tisch in der Mitte des Restaurants wurde von neun Männern belegt, alle in Anzügen. Raintree stach heraus, er hätte genauso gut im Scheinwerferlicht stehen können, so sehr zog er die Blicke auf sich. Die Männer redeten miteinander, während sie ihren Kaffee tranken und Eier mit Speck und dazu Brötchen aßen. Hope hielt den Kopf stolz, als sie auf die Männer zuging. Augenbrauen hoben sich. Münder standen offen.

Hope war an die Reaktionen gewöhnt. Sie sah nicht wie ein Cop aus, und am Anfang schlug ihr immer Ablehnung entgegen, zusammen mit einer unausgesprochenen Frage. Hatte sie sich hochgeschlafen? Sie musste sich geschäftsmäßiger, distanzierter und engagierter geben als jeder Mann in ihrem Beruf.

Der einzige freie Platz am Tisch war neben Raintree. Sie stellte sich den anderen Detectives vor. Nach der anfänglichen Fragerunde wendeten sich die Männer wieder der Frage zu, wo sie sich morgen zum Lunch trafen. Schließlich drehte sich das Gespräch doch um Fälle, die gerade untersucht wurden, auch um Sherry Bishop. Raintree hatte Akten von Morden angefordert, die während der letzten sechs Monate nach dem gleichen Schema begangen wurden. Am Nachmittag würde der Großteil dieser Akten auf seinem Schreibtisch liegen – und auf ihrem.

Hope entspannte sich ein wenig. Wenn Raintree schmutzige Geschäfte machte, würden die anderen das zumindest vermuten. Letzte Nacht war sie noch überzeugt gewesen, dass Raintree auf irgendeine Art mit den Verbrechen, die er aufklärte, zu tun hatte. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Nach dem Essen traten Hope und Raintree gemeinsam hinaus in den sonnigen, warmen Morgen.

„Was haben wir heute vor?“, fragte Hope. Ihre Absätze klopften auf den Asphalt. Gideons Schritte waren langsamer, gleichmäßig und rhythmisch.

„Ich will noch einmal in die Wohnung. Vielleicht könnten Sie den Papierkram in Ordnung bringen, ehe die Akten kommen. Die Befragungen der Nachbarn müssen noch abgetippt werden. Und wenn Sie im Kriminallabor anrufen, bekommen wir vielleicht auch etwas schneller Ergebnisse.“

„Ich bin nicht Ihre Sekretärin, Raintree.“

Autor

Linda Winstead Jones
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Rebecca Flanders
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