NOX Band 5

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FÜRST DER MITTERNACHT von SHARON BRONDOS

Im Auftrag eines mächtigen Dämons soll Adrian die junge Wissenschaftlerin Dr. Sue Cooper mit einem tödlichen Kuss auslöschen. Doch das Unglaubliche geschieht: Adrian, seit fünfhundert Jahren ein Vampir, widersetzt sich dem Befehl seines Meisters, weil er eine stärkere Macht in sich fühlt: Liebe für Sue, ihre Wärme – ihre Küsse, die Leben versprechen …

EIN TRAUMMANN IN MEINEM BETT von JULIE KISTLER

Jack McKeegan kann sich absolut nicht erklären, warum er vollkommen nackt in einem fremden Bett erwacht! Es muss etwas mit der geheimnisvollen grünen Tür zu tun haben, durch die er gestern gegangen ist. Ist er durch sie in eine andere Welt gelangt? In der ihn die bildschöne Mary Flannery O‘Shea ungläubig anschaut – die Besitzerin des fremden Bettes!


  • Erscheinungstag 28.09.2024
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 8098240005
  • Seitenanzahl 320

Leseprobe

Sharon Brondos, Julie Kistler

NOX BAND 5

1. KAPITEL

Der Vampir betrat das Gemach des Todes. Auf dem Weg dorthin hatte er den Atem angehalten. Es roch wie in einer Gruft. Noch heute, fünf Jahrhunderte nachdem er sich dem Dämon verschrieben hatte, war ihm der feuchte Modergeruch, der ihn hier umgab, zuwider. Er glaubte ersticken zu müssen. Dennoch näherte er sich dem Thron des Meisters und kniete den Nacken ehrfürchtig gebeugt vor ihm nieder. Sein Blick war auf den schmutzigen Steinfußboden gerichtet.

„Ich bin Euer Diener“, sagte der Vampir.

„Sieh zu Uns auf“, befahl der Tod.

Der Vampir gehorchte. Sein Gegenüber war in einen schwarzen Umhang gehüllt. Unter einer Kapuze halb verborgen schienen ihn die leblosen Augenhöhlen geradezu zu durchleuchten.

Der Vampir fühlte, wie der leere Blick bis in den verborgensten Winkel seines Herzens drang.

„Du wagst es, in diesem neumodischen Aufzug vor mir zu erscheinen!“ Der Tod verzichtete nun auf Förmlichkeit. Der knochige Unterkiefer schnappte beim letzten Wort zu, und der Vampir wusste, dass der Meister seine nachlässige Erscheinung missbilligte.

Verständlich, dass der Dämon nicht mit ihm einverstanden war. Zu offiziellen Anlässen legte er bei seinen Günstlingen, den Vampiren, äußersten Wert auf den traditionellen schwarzen Anzug und den üblichen seidengefütterten Umhang. Sie sollten aussehen, wie ihre menschlichen Opfer es von ihnen erwarteten.

„Ihr ließet mir durch Euren Boten ausrichten, dass ich auf schnellstem Wege hierher kommen sollte. Nun, das habe ich getan.“ Bevor er fortfuhr, sah er an sich herunter. Die Jeans und der Wollsweater waren wirklich keine geeignete Kleidung für einen Vampir. „Wo ich im Augenblick lebe… hm, besser gesagt jage … falle ich so am wenigsten auf. So kann ich ganz in Ruhe auf die Jagd gehen.“

„Deine Jagdgewohnheiten interessieren mich nicht“, unterbrach der Dämon ihn. Ungeduldig winkte er mit seiner knochigen Hand ab. „Das ist hier unwichtig. Es geht um etwas ganz anderes. Ich habe dich rufen lassen, weil ich eine wichtige Aufgabe für dich habe.“

„Natürlich stehe ich ganz zu Euren Diensten“, erwiderte der Vampir. Er hoffte nur, dass der Tod nicht von ihm erwartete, dass er seine Jagdgewohnheiten änderte. Denn seit er entdeckt hatte, dass er auf menschliches Blut sehr gut verzichten konnte, zog er es vor, mit den Wölfen den Herden hinterherzujagen. Und diese Ernährungsstrategie hatte sich offensichtlich bewährt.

Er war nicht wie seinesgleichen, die Spaß am Töten hatten. Er war auch nie so weit gegangen, seine menschlichen Opfer völlig auszusaugen. Er hatte immer nur so viel genommen, wie er zum Überleben brauchte. Doch während die anderen Vampire in der Regel nach ungefähr zweihundert Jahren ihrer leidenschaftlichen Gier zum Opfer fielen, schlug er sich seit fünfhundert Jahren durch.

Und da behauptete der Tod, er habe kein Interesse an seinen Jagdgewohnheiten? Lächerlich. Er wüsste garantiert nur allzu gern, wie es ihm gelungen war, so lange zu existieren. Vielleicht kam jetzt der Augenblick, wo es galt, einige unangenehme, gefährliche Fragen zu beantworten. Der Vampir hielt gespannt den Atem an …

„Du tötest nicht“, sagte der Tod. „Zumindest hast du es lange Zeit nicht getan. Dennoch zweifle ich nicht daran, dass du den Drang zu töten noch immer in dir hast und die Macht, die von ihm ausgeht.“

Der Vampir zuckte die Achseln. „Heutzutage ist es kein Problem, satt zu werden. Bei dem Anwachsen der Weltbevölkerung. Aber ich habe keine Lust, ohne Grund zu töten.“

„Und wenn du den Befehl hast zu töten?“

„Ihr seid mein Boss ich meine, Ihr seid mein Meister.“

„Sehr gut.“ Der Dämon reichte ihm einen Ordner hinüber. „In diesem Ordner findest du alle Informationen über dein Opfer. Du hast nicht viel Zeit. Wie du vorgehst, überlasse ich dir, aber es muss bald geschehen.“

Der Vampir nahm den Ordner. „Ist es erlaubt zu fragen, warum gerade dieser Mensch so schnell ins Jenseits befördert werden muss?“

Der Tod zögerte einen Moment und verbarg sein knochiges Gesicht in der Kapuze. „Du weißt, was Hunger ist, was es heißt, wenn der Appetit zur Gier wird, nicht wahr? Als Vampir musst du dieses Gefühl kennen.“

„Ich kenne es.“

„Ich habe unzählige Seelen verschlungen. Und doch ist da immer noch diese Gier, diese unbändige Lust nach mehr. Dieser Mensch, der jetzt sterben muss, ist ein großer Wissenschaftler, der vor einer genialen medizinischen Entdeckung steht. Er sieht eine Möglichkeit, das menschliche Leben um Jahrzehnte zu verlängern. Ich kann es nicht zulassen, dass sich dadurch der Fluss der Seelen, der in mein Reich drängt, verlangsamt oder gar zum Stillstand kommt.“

„Zum Stillstand? Ist das denn möglich?“

„Nein!“ Der Tod drehte sich hastig um, sein weiter Umhang wirbelte den Schmutz des Fußbodens auf. „Aber die Bedrohung an sich muss von vornherein im Keim erstickt werden.“

„Ich verstehe“, erwiderte der Vampir nachdenklich. Der Tod hatte Angst. Er machte sich Sorgen um seine eigene Existenz. Aber sah er denn nicht, wie kurzsichtig es war, diesen einen Wissenschaftler aus dem Weg zu räumen? Die Menschen würden weiterforschen und zu neuen Erkenntnissen gelangen, die das Leben verlängerten. Es musste noch weitere Gründe geben, die der Dämon ihm absichtlich verschwieg.

„So erledigst du also deinen Auftrag?“, fragte er endlich.

„Ihr seid mein Meister“, entgegnete der Vampir.

Der Tod nahm es als Zusage und entließ seinen Günstling mit einer flüchtigen Handbewegung, denn das sanfte Stöhnen des Windes kündigte die Ankunft einer frisch verstorbenen Seele an. Die Winde des Todes trieben sie ans Ende ihrer Reise. Nur mit Mühe beherrschte der Dämon seine gierige Vorfreude. Der trockene Kiefer klapperte, als er sich dem winselnden Ton zuwandte. Seine knochigen Hände verwandelten sich in habgierige Klauen.

Der Vampir wandte sich voller Abscheu ab und verließ die ungastliche Stätte.

Er beeilte sich, um vor Sonnenaufgang seine Hütte in den riesigen Wäldern Kanadas zu erreichen. Dort angekommen, nahm er seine ursprüngliche Gestalt wieder an, öffnete die Tür und trat ein. Er legte den Ordner ab, setzte sich an seinen Tisch und begann, seine Lage zu überdenken.

Er tötete niemals ohne triftigen Grund. Aber diesmal würde der Dämon unerbittlich darauf bestehen. Nun, wenn es unbedingt sein musste, hatte er keine andere Wahl. Er würde für sein eigenes Überleben morden, genau wie die anderen Male. Einer würde auf jeden Fall dran glauben, entweder der Wissenschaftler oder er selbst, der Vampir.

Ein Wissenschaftler, der auf dem besten Wege war herauszufinden, wie man das menschliche Leben verlängern konnte. Ein intelligenter Mann. Ein unglücklicher Mann. Hoffentlich war er auch ein alter Mann, dessen letzte Stunde sowieso in nicht allzu ferner Zeit geschlagen hätte. Sein Blut wäre zwar dünn und bitter vom Alter, ihn zu töten aber wäre nicht ganz so schlimm. Er würde ihm einen schmerzfreien Tod bereiten. Das konnte er. Aber was würde nach seinem Tod mit der Seele des Mannes geschehen? Darüber wollte er lieber nicht nachdenken.

Worüber er allerdings nachdenken musste, war seine Vorgehensweise. Sollte er sich ohne Umstände aus heiterem Himmel auf sein Opfer stürzen und es zerstören? Nein, auf keinen Fall. Ein solches Festmahl gönnte er dem Dämon nicht. Er wollte gnädig mit seinem Opfer verfahren. Er würde versuchen, seine Bekanntschaft zu machen, sich mit ihm anzufreunden. In der kurzen Zeit, die ihm noch blieb, wollte er sein Vertrauen gewinnen. Erst dann würde er ihn töten so schnell und schmerzlos wie möglich.

Diese Art von Gedanken wühlte ihn auf. Vielleicht war er ja im Laufe der Jahrhunderte verweichlicht. Vielleicht war es höchste Zeit für ihn, Leben zu trinken.

Endlich schlug er den Ordner auf.

Er stöhnte vor Entsetzen laut auf, als sein Blick auf das Foto seines Opfers fiel.

Dr. Sue Cooper bezahlte den Taxifahrer und ging müde zum Eingang ihres Apartmenthauses. Trotz der bequemen Birkenstock-Sandalen schmerzten ihre Füße. Das Haar, die Baumwollbluse und der Rock klebten an der Haut fest, und auch das Make-up war der enormen Luftfeuchtigkeit New Yorks zum Opfer gefallen. Die Septemberhitze war unerträglich.

Als Sue das Foyer betrat, empfand sie die klimatisierte Luft als erfrischend. „Hallo, Ben“, begrüßte sie den Hausmeister. „Alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung, Doc. Ihr neuer Untermieter ist übrigens eingetroffen.“ Der untersetzte Mann sah sie merkwürdig an.

„Oh, prima.“ Sue war schon mit einem Fuß im Fahrstuhl. „Danke, dass Sie mich vorgewarnt haben.“ Bevor der Hausmeister noch etwas hinzufügen konnte, hatte sich die Fahrstuhltür bereits hinter ihr geschlossen.

Erschöpft lehnte sie sich gegen die Fahrstuhlwand. Sie freute sich auf die Kanadierin, die ihre Freundin Ellen Bailey aus Toronto ihr empfohlen hatte. Allerdings hatte sie einen unglücklichen Tag für ihre Ankunft gewählt. Sue fühlte sich viel zu erschlagen, um sich gebührend um die Frau zu kümmern. Es war ein scheußlicher Tag gewesen. Ihre Versuchsreihe war beinahe abgeschlossen, und jedes Mal, wenn sie in die entscheidende Phase kam, brach alles zusammen.

Es war frustrierend.

Der Fahrstuhl hielt in der zehnten Etage. Sue stieg aus und ging, den Schlüssel griffbereit, zu ihrer Wohnung. Sie sehnte sich heute ganz besonders nach ihren eigenen vier Wänden.

Als sie die Wohnung kurz darauf betrat, war auf den ersten Blick alles wie immer. Die Vierzimmerwohnung trug deutlich Sues Handschrift. Der blank polierte Holzfußboden verdankte seinen schimmernden Glanz ohne Frage der Eigenart seiner Besitzerin, niemals Hausschuhe zu tragen. Ein großes bequemes Sofa und ein Lehnsessel. Kein Fernseher, aber eine Stereoanlage mit allen Schikanen. An der Wand gegenüber der Fensterseite stand ein Bücherregal neben dem anderen. Alles war vertraut und anheimelnd. Und doch war es anders als sonst.

Mitten im Wohnzimmer stand ein riesiger Koffer. Ein altmodisches Stück. Er musste ganz schön schwer sein. Wahrscheinlich hatte Ben ihn hier heraufgeschleppt. Sue hörte ihre neue Mitbewohnerin im zweiten Schlafzimmer rumoren. Die Tür war jedoch geschlossen.

„Guten Abend!“, rief Sue. „Ich bin es, Sue Cooper. Ich bin gerade nach Hause gekommen. Willkommen in New York …“ Erschrocken brach sie an dieser Stelle ihre Begrüßungsrede ab und starrte auf den großen Mann, der gerade aus dem Schlafzimmer trat und die Tür hinter sich schloss. Er trug enge Jeans und ein T-Shirt, die den Blick auf seinen muskulösen Körper freigaben.

„Hallo, Sue“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. „Mein Name ist Adrian Smith. Ich bin Ihr neuer Untermieter.“

Sue ging einen Schritt rückwärts in Richtung Tür. „Sie sind ja… ein Mann… Ich dachte…“

„Erschrecken Sie nicht. Entschuldigen Sie bitte mein kleines Täuschungsmanöver, Dr. Cooper.“ Er hob mit einer um Verzeihung bittenden Geste die großen Hände. „Als Ihre Freundin Ellen mir in Toronto sagte, dass Sie jemanden suchten, der sich an der Miete für Ihre Wohnung beteiligt, habe ich sofort zugegriffen. Ich suche schon seit längerer Zeit verzweifelt nach einer vernünftigen Wohnung hier in der Gegend. Ich möchte nur so lange hier wohnen, bis ich meine Forschungsarbeit abgeschlossen habe, und Ellen meinte, dass Sie wahrscheinlich nichts dagegen hätten, wenn Sie den ersten Schock überwunden hätten.“

„Ich hatte angenommen… Nach Ellens Anruf… Von einem Mann hat sie nichts gesagt.“

Wieder lächelte Adrian. Und dieses Mal konnte Sue nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Er schien wirklich ganz nett zu sein. Hinzu kam, dass er ausgesprochen gut aussah. Es war nicht nur sein athletischer Körperbau, der ihr sofort ins Auge gefallen war. Er hatte irgendetwas an sich. Er wirkte klassisch. Groß, dunkelhaarig und sehr attraktiv. Klare Gesichtszüge und ein sinnlicher Mund. Wunderschöne dunkelbraune Augen. Vielleicht war er etwas blass, aber das konnte daran liegen, dass er in Nordkanada lebte. In jenen Breiten war um diese Jahreszeit nicht mehr allzu viel von der Sonne zu sehen.

„Also gut, Adrian.“ Sie ging zu ihm hinüber und reichte ihm die Hand. „Ich denke, ich kann mich mit der Situation abfinden. Willkommen in New York.“

Adrian schüttelte ihre Hand und hoffte, dass sie seine innere Erregung nicht bemerkte. Sues Anblick hatte ihn vom ersten Augenblick an aus der Fassung gebracht. Sie berühren zu dürfen war mehr, als er ertragen konnte.

Sie war bedeutend hübscher als auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das er von ihr gesehen hatte. Sie war klein, aber ausgesprochen weiblich. Das honigblonde Haar hatte einen bemerkenswerten Glanz, und die Augen waren von einem Blau wie der Sommerhimmel, den er so inständig mied. Sie war zwar nicht das, was man unter einer klassischen Schönheit verstand. Aber sie besaß eine ungeheure Anziehungskraft. Es war die Kraft des Lebens, die von ihr ausging.

„Vielen Dank“, entgegnete er und zog die Hand hastig zurück. „Und seien Sie ganz unbesorgt. Ich werde Ihnen kaum im Weg sein. Ich erforsche die Verhaltensweisen einiger Nachttiere. Deshalb bin ich auch ein Nachtmensch.“

„Ach?“ Sue setzte sich auf das Sofa und fühlte die Müdigkeit zurückkommen. „Sie sind nachts also gar nicht zu Hause?“ Sie lehnte den Kopf gegen ein Kissen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle eingeschlafen. Aber schließlich wollte sie nicht unhöflich erscheinen.

„Ich arbeite tagsüber“, sagte sie. „Obwohl ich manchmal abends noch einmal ins Institut gehe, wenn ich absolut nicht gestört werden will. Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Ein Bier? Oder etwas zu essen?“

„Nein, danke, sehr freundlich von Ihnen. Ich trinke keinen Alkohol und esse meist während der Arbeit. Sie brauchen sich meinetwegen keine Umstände zu machen.“

Sue lächelte. „Aber Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich mir ein Bier hole.“ Sie ging in die Küche, Adrian folgte ihr.

Sie spürte, wie er sie beobachtete. „Woran arbeiten Sie gerade, Adrian?“, fragte sie und holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. „Ellen hat mir, glaube ich, irgendwas von Wölfen erzählt.“

„Wölfe, ja, und andere Kreaturen, die nachts jagen.“ „Klingt interessant“, entgegnete Sue. Adrian sagte kein Wort. Er starrte sie nur an.

Seltsamerweise kam er ihr mit einem Mal bedrohlich vor. Bedrohlich und verlockend. Sie hatte das Gefühl, eine geheimnisvolle Macht zog sie an wie ein Magnet.

Sue schauderte. Um dieses unheimliche Gefühl loszuwerden, wechselte sie hastig das Thema. „Hören Sie, Adrian“, begann sie. „Da ist noch etwas, das geklärt werden muss. Die Beziehung zwischen uns beiden beschränkt sich auf unsere gemeinsame Wohnung. Einverstanden?“

„Natürlich.“ Adrian lächelte sie offen an. „Und entschuldigen Sie, wenn ich Sie so anstarre, aber Sie sehen aus, als hätten Sie nicht gerade Ihren besten Tag hinter sich. Hatten Sie Probleme mit Ihrer Arbeit?“ Adrian betrat die Küche und setzte sich an den Küchentisch.

„Sogar einige.“ Sue nahm ebenfalls Platz. „Aber ich kann unter keinen Umständen über meine Arbeit reden. Sie verstehen das sicher. Forschung ist der reine Wettbewerb. Was wäre, wenn Sie ein Spion wären?“ Sie grinste ihn an, um ihm zu zeigen, dass sie ihre Worte nicht ernst meinte.

„Und wenn ich wirklich einer wäre?“

„Dann wäre ich ein Idiot, weil ich Sie hereingelassen habe.“

Er zog einen Brief aus der Hemdtasche und legte ihn auf den Tisch. „Sie haben mich in diesem Brief an Ellen eingeladen.“ Er betonte das Wort eingeladen, als läge eine ganz besondere Betonung darauf.

„Sicher erinnere ich mich.“ Sue trank das Bier aus. „Und wenn Sie ein Spion sind, haben Sie sowieso Pech. Ich komme mit meiner Arbeit einfach nicht weiter.“ Sie schloss die Augen und gähnte. „Tut mir leid, ich gähne nicht Ihretwegen. Ich bin einfach kaputt.“

„Dann gehen Sie schlafen. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht stören werde.“

„Ich behandle Sie nicht gerade sehr zuvorkommend. Eigentlich sollte ich mich zusammenreißen und Sie ausführen, Ihnen die Stadt zeigen. Am Anfang ist sie überwältigend, insbesondere, wenn man lange Zeit so abgeschieden gelebt hat wie Sie.“

„Lassen Sie nur, Sue. Ich ziehe die Einsamkeit vor. Sie ist… sicherer.“ Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab.

„Sie sagen es. Deshalb müssen Sie mir versprechen, nicht auf eigene Faust loszuziehen, solange Sie nicht mit Ihrer Umgebung hier vertraut sind. Sie sehen zwar kräftig aus, aber glauben Sie mir, New York kann genauso gefährlich sein wie jede Wildnis.“

„Das glaube ich Ihnen gern. Ich war schon einmal hier.“ Vor hundertfünfzig Jahren, fügte er in Gedanken hinzu. „Ich habe sogar einige Jahre hier gelebt.“

„Ach, tatsächlich? Wann denn?“

„Es ist schon lange her. Sehr lange.“

„Wo kommen Sie denn ursprünglich her? Sie sprechen nicht wie ein Einheimischer.“

„Ich bin in England geboren.“

Sue wartete vergeblich darauf, dass er mehr über sich erzählte, dann ergriff sie wieder das Wort. „Sie haben einen ziemlich alten Namen. Wissen Sie, was er bedeutet?“

„Adrian“, sagte er, „kommt von dem lateinischen Wort ‚ater‘ und bedeutet der Dunkle.“

Dazu fiel Sue keine passende Bemerkung ein. Der Name passte wirklich zu ihm. Er hatte zwar blasse Haut, aber dunkel war er dennoch. Ihn umgab eine dunkle Aura. Sie lachte gequält. „Der Dunkle? Deshalb bevorzugen Sie also die Nächte?“

„Vielleicht.“

Sue nieste. „Oh, nein“, stöhnte sie. „Ich glaube, ich habe mich erkältet.“ Sie nahm ein Kleenex aus einer Schachtel auf der Anrichte. „Hoffentlich bekomme ich keine Grippe.“

„Sie werden krank?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Ich hoffe nicht. Trotzdem sollten Sie sich vorsichtshalber von mir fernhalten.“

„Ich stecke mich schon nicht an, aber Sie sollten sich jetzt ein wenig ausruhen. Schlaf ist immer noch die beste Medizin“ Er lächelte sie mitfühlend an.

„Sie haben recht. Ich glaube, ich sollte wirklich schlafen gehen.“ So freundlich seine Stimme auch klang, Sue spürte sofort, dass er keinen Widerspruch duldete. Ohne dass sie sich dessen bewusst war, gehorchte sie, ohne zu zögern, wünschte ihm eine gute Nacht und ging in ihr Zimmer. Er wartete noch, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm dann den Koffer auf die Schulter und trug ihn schnell in sein Zimmer.

Einige seiner Gattung machten eine dramatische, aber unnötige Zeremonie daraus, sich in ihren schmutzigen erdigen Särgen zur Ruhe zu begeben. Er holte eine schmale, rechteckige Metalldose heraus, die nur so viel von seiner englischen Heimaterde enthielt, wie er benötigte, um neue Kraft zu schöpfen und sich zu erholen. Er stellte die Dose auf das Bett und schloss die Augen.

Im anderen Schlafzimmer hörte er Sue Cooper rumoren. Am besten tötete er sie sofort. Wozu noch lange warten? Damit quälte er sich doch nur selbst. Der Tod duldete keinen Ungehorsam.

Also, Augen zu und durch! Er hatte keine andere Wahl. Entweder die Frau oder er selbst. Wenn er, Adrian, sie nicht tötete, würde der Tod einen anderen Mörder finden. Aber erst, nachdem er seine ungehorsame Kreatur beseitigt hatte. Sue stand zweifellos immer noch unter dem Einfluss seiner beherrschenden Macht, mit der es ihm auch gelungen war, Ellen zu überreden, ein Empfehlungsschreiben zu verfassen. Jetzt wäre sie mit Sicherheit ein leichtes Opfer.

Aber anstatt das Zimmer zu verlassen und es hinter sich zu bringen, setzte er sich auf das Bett neben sein Metallkästchen und horchte auf die Geräusche aus Sues Zimmer.

Nachdem Sue geduscht hatte, ging es ihr ein wenig besser. Dennoch befolgte sie Adrians Rat und kroch in ihr Bett. Ein paar Minuten hing sie noch ihren Gedanken nach und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren.

Ja, der Fehler, der ihr heute unterlaufen war, hatte ein ziemliches Chaos ausgelöst. Aber jeder Fehler, den sie machte, brachte sie einen Schritt näher zum Erfolg. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, den Menschen ein längeres Leben zu ermöglichen. Und dieses Ziel zu erreichen bedeutete ihr mehr als anderen Menschen Geld und Ruhm.

Noch war es ein Traum. Das Life-Research-Institut kurz LRI war sowieso ein Platz für Träumer. Träumer mit einem Labor, einem Computer und, was noch viel wichtiger war, mit Verstand. Aber eines Tages würde ihr Traum Wirklichkeit werden. Mit diesem Gedanken schlief Sue ein.

In dem anderen Schlafzimmer fällte der Vampir soeben eine Entscheidung. Sie schlief. Endlich. Er hörte ihren gleichmäßigen Atem und fühlte den Herzschlag, der im Schlaf allmählich langsamer wurde. Er erhob sich und ging zur Tür.

2. KAPITEL

Um unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen, musste er jegliches Geräusch vermeiden. Also verzichtete er darauf, die Türen zu öffnen, löste sich stattdessen in Nebel auf und glitt lautlos unter den Türspalten hindurch, um von seinem Zimmer in ihres zu gelangen. Er durfte sie jetzt nicht aufwecken. Ein Blick in ihre blauen Augen konnte alles verderben. Nur jetzt nicht schwach werden. Je schneller er es hinter sich brachte, desto besser. Er wollte sie nicht quälen. Auch wenn sein Hunger noch so groß war, konnte er Gnade walten lassen. Sie sollte keine Angst haben. Zumindest nicht vor ihm.

Er mochte gar nicht daran denken, was mit ihrer armen Seele geschah, wenn der Tod sie erst in seinen Klauen hatte.

Adrian hatte Sues Zimmer erreicht, schlüpfte unter der Tür hindurch und nahm wieder seine menschliche Gestalt an.

Sues Schlafzimmer war ein wenig kleiner als seines. Die Einrichtung trug entschieden weibliche Züge, ohne jedoch kitschig zu sein. Genau wie im Wohnzimmer standen entlang der einen Wand lauter Bücherregale. Sie hatte offensichtlich sehr viele unterschiedliche Interessen. Durch den Vorhang, der vor dem einzigen Fenster des Raumes hing, drang schwach das Mondlicht herein.

Sue lag auf dem Bauch und schlief tief und fest. Das blonde Haar war fächerförmig über das Kissen ausgebreitet. Im Schlaf wirkte das hübsche Gesicht jung und verletzlich. Der Vampir trat an das Bett heran. Der typische Duft, der von menschlichen Frauen ausging, stieg ihm in die Nase. Das Verlangen nach ihrem heißen Blut raubte ihm beinahe den Verstand.

Doch er konnte ihren Hals nicht erreichen. Er kniete neben dem Bett nieder, berührte zart ihre Wange und hoffte, dass sie sich umdrehte, ohne aufzuwachen.

Sie rührte sich nicht. Er berührte sie noch einmal diesmal ein wenig fester. Er legte ihr die Handfläche auf die Wange.

Ihre Hitze schoss ihm in den Arm. Es war eine unnatürliche Hitze. Diesmal drehte Sue sich zur anderen Seite. Sie stöhnte leise im Schlaf und befreite sich von ihrer dünnen Bettdecke. Der Vampir stand auf und ging zur Seite.

Er beobachtete den nackten jungen Frauenkörper. Einen ausgesprochen anziehenden Körper, schlank und doch sehr weiblich. Nur die Haut schien zu glühen und war von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Noch einmal trat er ans Bett und beugte sich über sie. Der süßliche Geruch von Krankheit umgab sie. Sie hatte also recht gehabt. Das konnte nur eine Grippe sein.

Gnade! Nicht einmal der Tod konnte von ihm verlangen, dass er infiziertes Blut zu sich nahm. Sue Cooper würde also noch eine Weile leben zumindest so lange, bis sie wieder gesund war.

Sie rührte sich wieder, und er bemerkte, dass sie kurz vor dem Aufwachen stand. Hastig verschwand er auf die gleiche geheimnisvolle Weise, wie er gekommen war.

Sue öffnete die Augen. Sie fühlte sich elend. Sämtliche Glieder schmerzten. Sie hatte also mit ihrer Vermutung recht gehabt. Wenn das keine waschechte Grippe war. Sie richtete sich auf und rieb sich die Augen. Hatte sie nicht eben eine Rauchwolke gesehen?

Unmöglich. Sie hatte schon Halluzinationen. Sie war total nass geschwitzt. Wieso musste sie ausgerechnet jetzt krank werden? Im Büro wartete so viel Arbeit auf sie. Sie kletterte mühsam aus dem Bett, zog ihren Bademantel über und ging ins Bad, um sich ein paar Aspirin zu holen. Vielleicht ging es ihr dann morgen wieder besser.

Ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken machte diese Hoffnung allerdings zunichte. Ihre Wangen waren glühend rot vom Fieber, und die Augen glänzten unnatürlich. Das LRI hatte strikte Bestimmungen für den Krankheitsfall der Mitarbeiter. Ein überraschendes Niesen oder die Verbreitung irgendwelcher Viren konnten fatale Folgen haben und die Arbeit von Monaten zerstören.

Sue drehte den Wasserhahn auf und kühlte Gesicht und Hände. Dann ging sie in die Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd. Heißer Tee mit Brandy wirkte immer Wunder.

„Stimmt etwas nicht, Sue?“ Beim Klang der tiefen Stimme zuckte sie zusammen. Adrian stand, mit einem schwarzen Bademantel bekleidet, in der Küchentür.

„Ich… ich konnte nicht schlafen“, log sie. „Ich mache mir gerade einen …“

„Sie sind krank“, sagte er, kam näher und legte ihr die Hand auf die Stirn. Seine Hand war eiskalt. „Gehen Sie ins Bett. Ich bringe Ihnen den Tee.“ Er packte sie am Arm. Seine Berührung ließ sie frösteln. Seine Kälte drang sogar durch den Stoff ihres Bademantels.

„Lassen Sie mich los. Sie stecken sich nur an“, warnte sie ihn.

Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, doch mit einem Blick aus seinen dunklen Augen schien er sie zu hypnotisieren. Sie wusste, dass er eine solche Macht über sie hatte, dass sie tun würde, was er wollte. Ganz gleich, was es auch sein mochte.

Und das ärgerte sie. „Lassen Sie mich sofort los“, wiederholte sie.

Der Vampir machte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung, und Sue schwieg schlagartig. Ein Schwächeanfall überkam sie. Sie stützte sich auf die Anrichte, um nicht den Halt zu verlieren. Adrian legte die Arme um sie und hielt sie fest.

„Adrian, Sie sollen mich nicht anfassen“, protestierte sie jetzt schwächer. „Ich kenne niemanden, der gegen eine solche Grippe immun ist.“

Adrians Umarmung wurde fester.

„Adrian, bitte …“, murmelte sie noch, und dann konnte sie sich an nichts mehr erinnern …

Es musste einige Zeit vergangen sein, bis sie wieder klar denken konnte. Sie fand sich in ihrem Bett wieder und hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen war. Das Bett war frisch bezogen, und irgendjemand hatte ihr den Bademantel ausgezogen. Oder hatte sie es selbst getan? Wieso konnte sie sich an nichts erinnern? Was geschah hier mit ihr? Ihre Zähne klapperten vor Kälte.

In ihrer Verzweiflung rief Sue nach Adrian.

Er kam sofort. Benommen beobachtete sie, wie er ein Tablett mit heißem Tee auf ihrem Nachttisch abstellte. Anschließend ging er an ihren Wäscheschrank, öffnete genau die Tür, hinter der sie ihre Bettwäsche aufbewahrte, nahm einige Wolldecken heraus und näherte sich dem Bett. Woher wusste er …?

Sue war zu schwach, um weiter darüber nachzudenken. Sie ließ auch zu, dass er ihre dünne Bettdecke einfach wegzog und sie in die warmen Wolldecken wickelte. Dann setzte er sich zu ihr auf die Bettkante und flößte ihr den heißen Tee mit Brandy ein. Die ganze Zeit über hatte er keine Miene verzogen, und sie war so schwach und hilflos, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, irgendwelche Fragen zu stellen.

Sie nahm seine Hilfe dankbar an. Sie hatte ja gar keine andere Wahl. Willenlos schlürfte sie das heiße Getränk. In ihrem Körper breitete sich eine wohlige Wärme aus. Sie spürte sie bis in die Zehen- und Fingerspitzen. Ohne dass sie es hätte verhindern können, sank ihr Kopf schwer gegen Adrians Brust. Sie ließ es zu, dass er ihr half. Nein, sie ließ es nicht eigentlich zu. Dazu hatte sie weder die Kraft noch den Willen.

„Ich habe noch eine besondere Medizin hinzugefügt.“ Er strich ihr beruhigend durchs Haar. „Sie sorgt dafür, dass Sie schnell einschlafen und bald wieder ganz gesund sind.“

Tatsächlich schlief Sue sofort ein. Sie träumte die wirrsten Träume. Einmal glaubte sie, das Klingeln des Telefons zu hören. Was es ein Traum oder Wirklichkeit?

Von Zeit zu Zeit erschien Adrian neben ihrem Bett und flößte ihr sein heißes Spezialmedikament ein. Der Geschmack war ihr völlig unbekannt. Wie leichtsinnig, einem Fremden zu trauen. Aber wieso sollte sie misstrauisch sein, wenn er sich doch so rührend um sie kümmerte? Also entspannte sie sich und versuchte so viel wie möglich zu schlafen, damit es ihr bald wieder besser ging. Tage und Nächte vergingen. Sie hatte sie nicht einmal gezählt. Sie vertraute ihm inzwischen bedingungslos. Es gab keinen Grund, es nicht zu tun.

Der Vampir kümmerte sich wirklich aufopferungsvoll um Sue. Und es machte ihm Spaß. Erstmalig seit langer Zeit hatte er das Gefühl, etwas Gutes zu tun.

Dennoch war sein Tun so sinnlos. Er bereitete das unschuldige Lamm für die Opferung vor. Es ging ihr von Stunde zu Stunde besser, doch indem ihre Genesung fortschritt, kam sie dem Verderben immer näher. Der Tod wollte sie für sich und er, der armselige Vampir, war nicht mehr als ein Werkzeug dieses schrecklichen Dämons. Er konnte sich dem Willen seines Herrn nicht widersetzen. Der Vampir dachte nach. Wieso gefiel es ihm, Gutes zu tun? Was kümmerte ihn die Gesundheit dieser Frau, die er kaum kannte? Er hatte sich nie zuvor für kranke Menschen interessiert. Im Gegenteil er hatte sie links liegen lassen und sich lieber gesunde Beute gesucht.

Was war dieses Mal anders? Vielleicht waren es die Dankbarkeit und das Vertrauen, die sie ihm entgegenbrachte. Auch wenn er sie die halbe Zeit mit einem starken Beruhigungsmittel in Tiefschlaf versetzt hatte, wachte sie gelegentlich auf und hatte lichte Momente, und dann sah er die aufrichtige Dankbarkeit in ihren Augen.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals etwas Ähnliches erlebt hatte.

Am Freitagmorgen startete Harlen Jackson einen erneuten Versuch, Sue Cooper telefonisch zu erreichen. Doch zum wiederholten Mal berichtete ihm die Frau von der Telefonzentrale mit gelangweilter Stimme, dass der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung die Verbindung unterbrochen hatte.

Äußerst ungewöhnlich für Sue. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Er kannte Sue nun schon über zehn Jahre. Sie hatten sich schon während des Studiums kennengelernt, und jetzt waren sie Kollegen im LRI. Ohne einen triftigen Grund hatte Sue noch nie einen Arbeitstag versäumt. Sie war immer die Zuverlässigkeit in Person gewesen.

Bis jetzt. Denn sie war seit Tagen nicht im Institut gewesen, und er hatte keine Ahnung, wieso. Harlen wurde allmählich sauer. Der Misserfolg von Dienstag konnte doch wohl nicht der Grund sein. Es war nicht Sues Art, einfach aufzugeben. Er brauchte sie dringend im Labor.

Ihr Telefon war immer noch tot. Harlen knallte den Hörer auf die Gabel, nahm ihn wieder auf und wählte die Nummer ihres Hausmeisters.

Das Gespräch dauerte nicht lange, aber nachdem es beendet war, wurde Harlen einiges klar.

Sue hatte einen Untermieter. Seit Dienstagnachmittag.

Einen Mann.

Harlen stand auf und ging zum Fenster hinüber. Er starrte hinaus. Die graue Betonmauer, die das Institut umgab, bot einen trostlosen Anblick. Er und Sue hatten sich früher öfter verabredet. Sie waren nie ein Paar gewesen, und schließlich hatte sie die Beziehung ganz abgebrochen. Danach hatte es nie einen Mann in ihrem Leben gegeben. Sie lebte nur für ihre Arbeit.

Und jetzt hatte sie einen Untermieter. Einen Mann. Sie war drei Tage nicht zur Arbeit erschienen. Wie viele Tage und Nächte würde er sie noch von ihrer Arbeit fern halten? Harlen ballte die Hände zu Fäusten. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Er konnte unmöglich zulassen, dass Sues Verhältnis zu einem Mann die gesamte Forschungsarbeit gefährdete.

Der Vampir wachte plötzlich auf. Irgendetwas hatte den Zauber gestört, mit dem er Sue Coopers Wohnung belegt hatte. Ein seltsames Geräusch, das aus seinem Innern zu kommen schien, hatte ihn aufgeweckt. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er war in Sicherheit und Sue ebenfalls. Niemand konnte ihnen etwas anhaben, solange der Zauber wirkte.

Adrian stand auf, zog hastig seine Jeans und ein Sweatshirt an, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann brach er den Zauber, bereit, sich jenem zu stellen, der es gewagt hatte, seine Ruhe zu stören.

Harlen Jackson schüttelte verwirrt den Kopf und rappelte sich vom Boden hoch. Er hatte vorgehabt, solange an Sues Wohnungstür zu klopfen, bis sie ihm antwortete. Er würde sich um keinen Preis abwimmeln lassen, wer auch immer der Mann sein mochte, den sie bei sich aufgenommen hatte. Doch bevor er die Tür auch nur berühren konnte, spürte er einen Luftdruck, der ihn mit Gewalt zurückdrängte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, fand er sich ein paar Meter weiter auf dem Fußboden im Hausflur wieder.

Wieder schüttelte er den Kopf und starrte auf Sues Tür. Was sollte er jetzt machen? Am besten holte er den Hausmeister. Aber was sollte er ihm sagen? Dass Sue Coopers Apartment von einem undurchdringlichen Spannungsfeld umgeben war?

Bevor Harlen sein weiteres Vorgehen überdenken konnte, wurde die Wohnungstür von innen geöffnet. Ein großer dunkelhaariger Mann stand auf der Schwelle. Er sah ausgesprochen gut aus. Harlen hasste ihn auf den ersten Blick.

„Wo zum Teufel ist Sue?“, fragte Harlen gereizt. „Wer zum Teufel sind Sie? Und was zum Teufel hat mir einen derartigen Stoß versetzt, als ich an die Tür klopfen wollte?“

Der Vampir betrachtete den Mann interessiert. Er war mittelgroß, hatte hellbraunes Haar und blassblaue Augen. Eine ziemlich unauffällige Erscheinung, wenn da nicht dieser Ausdruck von Wut gewesen wäre. Mit geballten Fäusten stand er da und starrte Adrian hasserfüllt an. Wäre dieses menschliche Wesen ein Vampir, ein Werwolf oder irgendeine andere Höllenkreatur, wäre er ohne Zweifel ein williger Handlanger des Todes. Doch jemand, der seine Leidenschaft nicht zügeln konnte, neigte zu unüberlegten Handlungen und gab sich sehr schnell seiner Zerstörungswut hin. Adrian erkannte sofort die erbärmliche Seele.

„Los, antworten Sie!“, schrie der Mann unbeherrscht. „Wirds bald!“

„Verzeihen Sie bitte“, erwiderte der Vampir gelassen. „Sie haben mich aus dem Schlaf geholt. Ich bin noch nicht ganz da.“

„Bis Sie sich gesammelt haben, will ich mit Dr. Cooper sprechen. Lassen Sie mich rein.“

„Tut mir Leid.“

Adrian wollte die Tür gerade wieder schließen, als Harlen im letzten Augenblick versuchte, in die Wohnung einzudringen. Adrian gab ihm einen Stoß, sodass er unsanft auf dem Boden landete. Fassungslos starrte Harlen den Mann an, der es gewagt hatte, Hand an ihn zu legen. Das würde ein Nachspiel haben.

„Dafür bringe ich Sie ins Gefängnis!“, brüllte er. „Was haben Sie mit Sue gemacht?“

Adrian zeigte keine Spur von Erregung. „Machen Sie sich keine Sorgen um Dr. Cooper. Sie hatte eine schwere Grippe. Aber ich kümmere mich um sie.“

„Das kann ich mir sehr gut vorstellen.“ Harlen stand auf, hielt aber einen angemessenen Abstand zu dem Mann in der Tür. „Trotzdem möchte ich sie sehen.“

„Das geht nicht. Sie schläft gerade.“ Adrian rührte sich keinen Millimeter von der Tür weg. „Aber sie ist auf dem Wege der Besserung“, fuhr er sanft fort. Er klang beinahe ein wenig traurig.

Sue schlief keineswegs. Die Wirkung des Medikaments hatte nachgelassen, und die Stimmen an der Wohnungstür rissen sie endgültig aus ihrem Dämmerzustand. Sie war bei vollem Bewusstsein, und doch wünschte sie sich, es wäre anders. Wenn sie doch schliefe und träumte oder zumindest noch unter dem Einfluss der Medikamente stünde …

Aber was sie sah, war weder ein Traum noch eine Halluzination. Ein schwarzer Schatten löste sich aus einer dunklen Ecke ihres Schlafzimmers. Obwohl kaum Licht durch das verhangene Fenster hineindrang, konnte sie erkennen, wie er Gestalt annahm. Ein
bösartiges Zischen ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie versuchte, sich zu bewegen, zu schreien, aber ihre Stimme versagte, ihre Glieder gehorchten nicht.

Die Gestalt wurde langsam deutlicher …

Adrian erstarrte, als ein Mark erschütternder Schrei aus Sues Schlafzimmer drang. Panische Angst packte ihn zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren. Nicht etwa Angst um sich selbst, sondern um einen Menschen. In Windeseile knallte er die Wohnungstür zu und rannte ins Schlafzimmer.

Der Anblick, der sich ihm hier bot, war entsetzlich. Sue lag zusammengekrümmt auf dem Bett. Ihr Gesicht war angstverzerrt. Der Tod hatte einen seiner Günstlinge ausgesandt. Eine hässliche skelettierte Kreatur bewegte sich langsam auf Sue zu, ohne Zweifel in der Absicht, sie zu töten.

Blinde Wut erfasste Adrian. In dem Augenblick, als das Monster mit seiner knochigen Hand nach Sues Schulter greifen wollte, packte er es und schleuderte es wutschnaubend gegen die Wand. Ein kaum wahrnehmbarer Grabesgeruch und ein Häufchen Staub waren alles, was Sekunden später noch an das Grauen erinnerte.

Dann drehte sich der Vampir um und nahm Sue in die Arme. Immer noch stand ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Mit aller Kraft klammerte sie sich an ihn. Sie sagten beide kein Wort, und als Adrian bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte, zog er sie noch fester an sich.

„Du brauchst keine Angst mehr haben“, sagte er beinahe zärtlich. Es war ihm nicht einmal bewusst, dass er sie duzte. Und die Gefühle, die seine Seele und sein Herz durchströmten, verwirrten ihn. Er hatte vergessen, dass es solche Gefühle überhaupt gab. „Die Kreatur ist tot. Sie kann dir nicht mehr gefährlich werden. Ich schwöre, dass dir so etwas nicht noch einmal passiert.“

Seine erste Reaktion war unbändige Wut darüber, dass der Tod sich in seine Angelegenheiten gemischt hatte. Was fiel ihm ein, eine seiner Kreaturen zu schicken? Diese Frau gehörte ihm, Adrian. Und wenn sie schon geopfert werden musste, dann würde er allein bestimmen, wie und wann es zu geschehen hatte. Er allein hatte das Recht …

Plötzlich flog die Schlafzimmertür auf. Harlen hatte dem Hausmeister Bescheid gesagt, und nun stürmten die beiden Männer ins Zimmer. Der Vampir hatte gerade noch Zeit genug, sich zu sammeln. Im ersten Moment hatte er mit einem weiteren Angriff gerechnet.

„Sie hatte einen Albtraum“, sagte er erklärend. „Das Fieber ist immer noch nicht ganz weg.“

Sue hob den Kopf. Der sogenannte „Albtraum“, umklammerte ihre Gedanken immer noch mit seinen knochigen Händen. Aber allmählich konnte sie wieder klarer denken. „Harlen? Ben? Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?“ Sie löste sich aus Adrians Armen und zog vorsichtshalber die Bettdecke ein Stück höher.

„Du hast geschrien, und ich dachte …“, fing Harlen an.

„Sind Sie okay, Doc?“, fragte Ben sichtlich verlegen. „Brauchen Sie Hilfe?“

„Nein“, sagte sie. Adrian saß immer noch neben ihr auf dem Bett. „Ich war sehr krank, und Mr. Smith hat sich um mich gekümmert. Ich hatte nur einen Albtraum“, bestätigte sie Adrians Lüge.

„Du hast nicht angerufen“, fing Harlen wieder an. „Drei Tage hast du nichts von dir hören lassen. Ich dachte… wir dachten schon, dir sei etwas zugestoßen. Deshalb bin ich gekommen, um nachzusehen. Dein Wohl liegt mir schließlich sehr am Herzen.“

Sue wusste, dass das eine Lüge war. Wenn es überhaupt etwas gab, das Harlen am Herzen lag, dann war es sein eigenes Wohl, seine Karriere. Er kam ohne sie nicht weiter, das war der Grund.

„Ich war so krank, dass ich nicht anrufen konnte.“ Sie wollte endlich wieder mit Adrian allein sein. Sie wollte mit ihm reden. Es gab so viele ungeklärte Fragen …

„Sue, ich glaube du verstehst gar nicht …“, fing Harlen wieder an.

Da stand Adrian auf. „Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen“, sagte er. Wieder hatte seine Stimme diesen eigentümlichen Klang, der keinen Widerspruch duldete.

Er machte eine Handbewegung in Richtung der beiden Männer, und zu Sues größtem Erstaunen verließen beide widerspruchslos das Zimmer. Er begleitete sie noch hinaus und machte einige seltsame Handzeichen in Richtung auf die geschlossene Wohnungstür.

Sue hatte alles von ihrem Bett aus beobachtet. Das war mehr als seltsam. „Adrian, setz dich zu mir“, sagte sie, als er ins Schlafzimmer zurückkehrte. „Und sag mir endlich, was hier gespielt wird. Dieses Ding eben war kein böser Traum. Es war so real wie du und ich. Sag mir, wo es herkam. Und wieso wusstest du, wie man es aus dem Weg räumt? Es war nicht das erste Mal, dass du einer solchen Kreatur begegnet bist, hab ich recht?“

Adrian antwortete nicht. Er sah sie nur an.

„Adrian, ich will die Wahrheit wissen. Und zwar auf der Stelle. Was war das für eine Kreatur, und was hatte sie mit dir zu tun? Ich muss es wissen.“

„Nein“, entgegnete er. „Das musst du nicht.“

„Vertrau mir.“

„Ich glaube nicht, dass …“

„Bitte, vertrau mir“, sagte Sue. „Und zum ersten Mal, seit sie diesen Mann kennengelernt hatte, hatte sie wieder das Gefühl, sie selbst zu sein.“

3. KAPITEL

„Also gut.“ Der Vampir setzte sich zu ihr auf die Bettkante und lächelte entwaffnend. Natürlich konnte er ihr nicht die Wahrheit erzählen, aber vielleicht tat es ja auch eine glaubhafte Lüge. Er musste sie schließlich nur für einige Zeit ruhig stellen.

So lange, bis sie gesund genug zum Sterben war.

„Ich bin nicht nur Verhaltensforscher.“

„Was du nicht sagst“, entgegnete sie trocken und rückte ein Kissen zurecht, um bequemer sitzen zu können. „Und weiter?“

„Ich untersuche nicht nur das Verhalten von Nachttieren, sondern ich beschäftige mich außerdem mit der Parapsychologie und der Psyche bestimmter nächtlicher Jäger, an deren Existenz die meisten Menschen zweifeln. Aber es gibt sie wirklich. Und von Zeit zu Zeit bin ich Ziel ihres Angriffs. Diesmal hat sich anscheinend einer verlaufen. Er hat dich angetroffen, bevor er zu mir vordringen konnte. Und da dachte er, er könnte dir ja im Vorbeigehen einen kleinen Schreck einjagen.“

„Einen Schreck einjagen! Er wollte mich umbringen. Ich war wie paralysiert, es hat mich schon eine unmenschliche Kraft gekostet, überhaupt nur zu schreien.“

„Ich kann das sehr gut nachvollziehen.“

„Aber wie erklärst du dir dann, dass diese Kreatur mir etwa antun wollte, obwohl sie eigentlich hinter dir her war?“

Der Vampir antwortete nicht sofort, aber was er dann sagte, überraschte Sue. „Vielleicht sind diese Wesen in der Lage, in unserem Unterbewusstsein zu lesen. Möglicherweise hat es herausgefunden, dass du mir mehr bedeutest, als mir selbst bewusst ist.“

Sie hatte schon eine skeptische Antwort auf den Lippen, als sie innehielt. Hatte er sich nicht in den vergangenen Tagen, waren es wirklich nur Tage gewesen, aufopfernd um sie gekümmert? „Was für ein Tag ist heute?“

„Freitag.“

„Ich war also drei Tage lang krank und habe fast nur geschlafen?“

Adrian nickte.

„Bist du denn in der Zeit zur Arbeit gegangen?“

„Nein.“

„Du hast also die Wohnung gar nicht verlassen?“

„Nur um etwas zu essen zu besorgen.“

„Wieso?“

„Ich hatte Hunger.“

„Nein, das meine ich nicht. Ich verstehe nur nicht, warum du für mich deine ganze Zeit geopfert hast.“

„Ich finde, ich habe sie sinnvoll genutzt. Allerdings bist du immer noch nicht fit. Du solltest dich ausruhen.“ Er erhob sich.

„Setz dich wieder hin“, sagte sie. „Bitte. Da gibt es noch ein paar Dinge, die ich nicht verstehe.“

Der Vampir setzte sich.

„Adrian, wie du weißt, bin ich Wissenschaftlerin. Gestern oder auch nur vor einer Stunde, hätte ich all diese Dinge nicht für möglich gehalten. Ich habe immer nur an das geglaubt, wofür ich eine logische Erklärung finden konnte. Und jetzt habe ich dieses Skelett mit eigenen Augen gesehen, und ich habe gesehen, wie du es außer Gefecht gesetzt hast. Das ist mehr als merkwürdig. Ich weiß ganz genau, dass du eine ganze Menge mehr weißt, als du mir sagst. Habe ich recht?“

„Kann sein. Brauchst du einen Beweis für meine Fähigkeiten?“

„Könntest du sie denn unter Beweis stellen?“

„Ja.“

„Also gut. Aber denke dran, dass mein Nervenkostüm im Augenblick ein wenig überstrapaziert ist. Ich wäre schon mit etwas Harmlosem zufrieden.“

„In Ordnung. Ich werde mich zurückhalten.“ Adrian stand auf, kniete sich mit einem Knie auf das Bett und streckte die Hände nach ihr aus.

Unwillkürlich wich Sue zurück. „Nicht …“, protestierte sie, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was er mit ihr vorhatte. „Keine Angst, ich will nur dein Gesicht berühren. Schließ einfach die Augen und entspann dich.“

„Leicht gesagt.“ Sie drückte den Hinterkopf krampfhaft gegen das Kopfende des Bettes und hatte beinahe so viel Angst wie vorhin, als der dunkle Schatten Form angenommen hatte. „Adrian, bitte, ich kann nicht …“

Doch schon spürte sie seine kalten Hände auf ihrem Gesicht und glitt in eine andere Welt.

Der Himmel war klar und blau. Sie lag im warmen Sand am Meer und horchte auf das beruhigende Plätschern der Wellen. Es war herrlich warm, und die Sonne fühlte sich gut an auf ihrer nackten Haut. Sie schaute sich um. Es war genau so, wie sie sich das Paradies vorgestellt hatte. Sie war allein allein und sicher. Sie atmete tief durch und fühlte sich zufrieden und frei.

Plötzlich lag ein Mann neben ihr im Sand. Sie konnte ihn nicht erkennen, aber offensichtlich standen sie sich sehr nahe. Sie liebte ihn, sie vertraute ihm, und sie würde sich ihm hingeben. Der Höhepunkt, den sie erlebte, war erschütternd und löste endlich die Anspannung, die von ihrem Körper und ihrer Seele Besitz ergriffen hatte. Sie fühlte sich glücklich und frei, und zwar in einem Maße, wie es in ihrem realen Leben noch niemals vorgekommen war.

Sekunden später spürte sie, wie der Mann, der sie in diesen Zustand der Ekstase versetzt hatte, erschauerte. Auf dem Gipfel der Leidenschaft konnte er einen lauten Schrei nicht unterdrücken und der Traum war vorbei.

Sue öffnete die Augen und starrte Adrian an. Er kniete immer noch neben ihr. Mit den Händen umfasste er ihr Gesicht. Ansonsten berührte er sie nicht.

„Adrian?“, sagte sie. „Was war das? Alles in Ordnung?“

Er sprang von ihrem Bett herunter und ließ ihr Gesicht los, als hätte er sich die Finger verbrannt. Er wandte ihr den Rücken zu. „Ich habe dich eine Fantasie ausleben lassen.“ Als er sich jetzt wieder in ihre Richtung drehte, hatte er sich scheinbar wieder völlig unter Kontrolle. „Hat es dir gefallen?“

„Das weißt du doch genau.“ Das Gefühl totaler Leidenschaft und Hingabe war immer noch gegenwärtig. Und sie ahnte, dass es ihm ähnlich ergehen musste.

„Wie sollte ich? Ich habe keine Ahnung, was sich in deinem Bewusstsein abgespielt hat. Das weißt nur du allein.“ Er lächelte schwach. „Ich habe dich nur mit der nötigen Energie versorgt. An deinem Traum teilgenommen habe ich nicht.“

Lügner, dachte sie. Aber wenn es gegen seine Ehre ging, sollte ihr es recht sein. „Na, dann vielen Dank. Es war ein wunderbarer Traum. Ich bin ehrlich beeindruckt. Du scheinst da ein paar ganz außerordentliche Fähigkeiten zu besitzen, aber …“

„Und jetzt solltest du wieder schlafen“, unterbrach er sie mitten im Satz, und zwar mit derselben seltsam hohlen Stimme, mit der er Ben und Harlen vor die Tür gesetzt hatte.

Sue wurde schläfrig. „Und was ist, wenn wieder eine solche Kreatur hier auftaucht? Bleibst du bei mir?“

„Ich werde dich bewachen. Du kannst ganz beruhigt sein.“ Er holte einen Stuhl und stellte ihn neben das Bett.

Sie vertraute ihm und versank kurz darauf in einen tiefen Schlaf.

Adrian beobachtete sie. Er hatte in den letzten beiden Stunden mehr Ängste ausgestanden als in den vergangenen Jahrhunderten seines Daseins als Untoter. Zuerst war es Sues Schrei, dann diese Fantasie, in die er hatte eintauchen müssen. Was er da erlebt hatte, hatte ihn derart mitgenommen …

Infiziertes Blut oder nicht, das Sicherste war, sie auf der Stelle zu töten. Sie durfte keine Macht über ihn erlangen. Sie war so anziehend, dass ihre Reize bereits jetzt eine Bedrohung für ihn waren. Er konnte sie auch so töten. Er musste nicht unbedingt ihr Blut trinken. Dann war alles vorbei. Die Sache wurde für ihn immer riskanter.

Harlen Jackson saß in einem kleinen Café gegenüber dem Apartmenthaus, in dem Sues Wohnung war. Die Tasse Kaffee in seinen immer noch zitternden Händen war längst kalt geworden. Er starrte aus dem Fenster auf das große Gebäude und versuchte sich genau zu erinnern, was eigentlich geschehen war.

Der Fremde hatte ihn und diese Null von einem Hausmeister hypnotisiert. Nur so konnte es sein. Ansonsten hätte ihn nichts auf der Welt dazu gebracht, Sues Wohnung zu verlassen.

Harlen dachte über Sue nach. Sie schien diesem Mann bedingungslos zu vertrauen. Das machte ihn erst recht gefährlich. Gesetzt den Fall, er wäre ein Industriespion. Sues Arbeit wäre für jedes Forschungsinstitut von unschätzbarem Wert. Sämtliche Chemie- und Pharmaziekonzerne würden versuchen, an ihre Ergebnisse zu kommen. Dazu wäre ihnen jedes Mittel recht.

Harlen nahm einen Schluck von seinem kalten Kaffee. Wahrscheinlich war dieser Bursche da oben ja schon so eine Art Lockmittel. Ein gut aussehender, charmanter junger Mann, der es darauf anlegte, sie zu verführen und dazu zu bringen, mit dem LRI Schluss zu machen und fortzugehen …

Harlen musste der Sache unbedingt auf den Grund gehen.

Adrian stand neben ihrem Bett und betrachtete das entspannte Gesicht, das im Schlaf noch jünger und verletzlicher erschien als sonst. Was hatte sich der Tod dabei gedacht, seine Kreaturen auszusenden, um sie zu töten? Eine solche Unverfrorenheit machte den Vampir rasend. Vorsichtshalber belegte er Sues Zimmer mit einem stärkeren Zauber. Das Wesen, das ihn durchbrechen konnte, musste über eine unglaubliche Macht verfügen.

„Sie ist mein! Mein. Wage es nicht, weitere Sklaven der Hölle auf sie zu hetzen! Ihr Blut gehört mir. Und ich allein bestimme, wo und wann ich die Tat vollbringe!“, rief er aus.

Adrian wartete einen Augenblick. Würde der Tod ein Zeichen geben? Würde er sein Missfallen durch ein gewaltiges Erdbeben oder einen ohrenbetäubenden Donnerschlag zum Ausdruck bringen? Nichts dergleichen geschah. Offensichtlich hatte er die Worte des Vampirs akzeptiert.

Ohne einen weiteren Blick auf die friedlich schlafende junge Frau zu werfen, verließ Adrian das Schlafzimmer. Ihre Tür ließ er allerdings vorsichtshalber offen.

Stunden später wachte sie auf und fühlte sich großartig. Sie hatte weder Fieber noch Schmerzen. Sie schaute zum Fenster. Kein Lichtstrahl drang von draußen ins Zimmer. Es war Nacht. Sie hatte den ganzen Tag verschlafen. Seltsamerweise erinnerte sie sich nicht mehr an das, was passiert war, bevor sie eingeschlafen war. Sie wusste nur noch, dass es etwas Wichtiges gewesen war. Aber die Erinnerung an die letzten Stunden und Tage war völlig verschwommen.

Egal. Ein starker Kaffee würde ihrem Erinnerungsvermögen bestimmt nachhelfen.

Sue erhob sich langsam. Sie hatte das Gefühl, sich im Zeitlupentempo zu bewegen. Die Luft um ihr Bett herum wirkte dick und undurchdringlich. Wahrscheinlich waren ihre geschwächten Muskeln daran schuld, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich von der Stelle zu bewegen.

Autor

Sharon Brondos
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Julie Kistler
<p>Julie Kistler kommt bei Komödien, alten Filmen, Musicals, Katzen und großen, dunkelhaarigen und gut aussehenden Männer wie ihrem eigenen Ehemann, mit dem sie seit 20 Jahren verheiratet ist, ins Schwärmen. Früher war sie Rechtsanwältin, hat sich dann aber für eine Karriere als Romance-Autorin entschieden und sich durch ihre humorvollen Liebesromane...
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