NOX Band 8

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SCHNEEGESTÖBER UND HEISSE KÜSSE von PENNY JORDAN

Erst will sie mit ihrem Cabrio durch einen Fluss fahren, dann auf High Heels durchs Schneegestöber stöckeln. Finn könnte verzweifeln, hätte ihm Melly nicht völlig den Kopf verdreht. Dabei glaubt er, dass er und die süße Großstädterin nicht zusammenpassen – und ahnt nicht, dass ihre Liebe vom Himmel gewollt ist!

ES WARTET AUF DICH! von JANE TOOMBS

Das namenlose Grauen beginnt, als Kendra in das Haus ihrer Ahnen am Lynx Lake zurückkehrt. Bis zur Sommersonnenwende muss sie hier wohnen – dann gehört es ihr. Doch ihre Angst wird mit jedem Tag stärker. Nur in der Nähe des attraktiven Falk fühlt sie sich geborgen. Kann seine Liebe sie vor der düsteren Vergangenheit von Lynx House retten?


  • Erscheinungstag 21.12.2024
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 8098240008
  • Seitenanzahl 320

Leseprobe

Penny Jordan

PROLOG

Der Leiter der himmlischen Liebesengel-Abteilung kratzte sich sorgenvoll am Flügel.

„Jetzt sieh dir das an“, beklagte er sich bei seinem jüngsten Lehrling. „Die Chef-Liebesengel haben eine Konferenz aller Abteilungsleiter einberufen, um den Stand von Liebe und Romantik auf der Erde zu besprechen. Immer weniger Menschen verlieben sich und gehen feste Bindungen ein. Wenn das so weitergeht, können wir hier bald den Betrieb einstellen. Nicht auszudenken! Und jetzt auch noch diese Konferenz, wo wir sowieso zu wenig Personal haben. Gerade habe ich die Liste der Paare fertig, die sich in diesem Quartal ineinander verlieben sollen. Das muss sofort erledigt werden.“ Er zog die Brauen zusammen. „Außerdem bin ich fest entschlossen, dass wir diesmal unsere Vorgaben erreichen werden. Ich will mir nicht schon wieder vom Kollegen aus der Seniorenabteilung sagen lassen, dass sie dort mehr Paare glücklich machen als wir. Aber wer soll sich darum kümmern?“

„Wie wäre es mit mir?“, meldete sich der Lehrling zu Wort.

Der Abteilungsleiter zögerte, als er das hoffnungsfrohe Lächeln des jungen Liebesengel-Anwärters sah. Begeisterungsfähigkeit war zwar eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit eines Liebesengels, aber Erfahrung und Fingerspitzengefühl waren ebenso notwendig. Allerdings musste man unter den gegebenen Umständen Kompromisse schließen. Auf der Liste standen sechs Paare, die füreinander bestimmt waren. Die Männer und Frauen waren einander jedoch noch nie begegnet. Daher musste das erste Treffen so schnell wie möglich in die Wege geleitet werden.

Dem Abteilungsleiter war nicht wohl bei dem Gedanken – aber er sah keinen anderen Ausweg, als die verantwortungsvolle Aufgabe dem Lehrling anzuvertrauen. Schweren Herzens überreichte er ihm die sorgfältig zusammengestellte Liste.

„Wir haben bei jedem einzelnen Paar genau überprüft, ob es wirklich zusammenpasst. Wir bringen Menschen nur dann zusammen, wenn wir sicher sind, dass es für immer ist. Es ist alles bestens vorbereitet, und eigentlich kann nichts schiefgehen. Du musst nur dafür sorgen, dass diese Männer und Frauen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und sich begegnen. Die Anweisungen hier auf dem Zettel sind exakt zu befolgen. Bitte unterlasse alle Experimente oder Patentlösungen. Verstanden?“

Ausgerechnet dieser Liebesengel-Lehrling hatte bei einem Experiment den Chow-Chow einer New Yorker Gesellschaftsdame dazu gebracht, sich in die Siamkatze ihres Nachbarn zu verlieben. Die Geschichte war dann allerdings doch gut ausgegangen, als schließlich aus der Gesellschaftsdame und dem Nachbarn ein glückliches Paar wurde, obwohl die Dame eigentlich für jemand anderen vorgesehen war … Aber solche Dinge kamen eben vor. Schließlich müssen auch Liebesengel-Lehrlinge Erfahrungen in ihrem Job sammeln und üben.

„Hallo, wie geht’s?“

Der Liebesengel-Lehrling verzog das Gesicht, als eine junge Windsbraut ihm frech in die Flügel pustete.

„Ich habe zu tun“, wies er die Windsbraut zurecht. „Verschwinde und störe jemand anderen.“

Das war, wie er später reuevoll feststellte, die falsche Antwort gewesen. Jeder Engel im Himmel wusste, dass diese Windsbraut für ihre unverschämten Streiche berühmt war. Darüber hinaus war es leichtsinnig von ihm gewesen, die sorgfältig ausgearbeiteten Notizen seines Chefs und die Liste der zukünftigen Liebespaare auf dem Boden auszubreiten.

„Ich soll also verschwinden? Na gut, wie du willst!“, sagte die Windsbraut, holte tief Luft und pustete drauflos, sodass die Papiere auf dem Boden wild durcheinandergewirbelt wurden und kein Blatt mehr neben dem anderen lag.

Danach war sie sehr zerknirscht und half ihm beim Einsammeln. Es war kaum zu glauben, wie kräftig eine so zierliche Windsbraut pusten konnte. Als sie endlich alle Papiere wieder beieinander hatten, war der Lehrling ziemlich außer Puste. Aber das war nichts im Vergleich zu der Panik, die er empfand, als er sich vergeblich zu erinnern versuchte, welche Paare füreinander bestimmt waren. Die Windsbraut tat, was sie konnte, um ihm zu helfen. Schließlich waren sie sich beide ganz sicher, welche Frau zu welchem Mann gehörte.

„Welche wollen wir zuerst zusammenbringen?“, fragte sie.

„Diese hier“, sagte der Lehrling entschlossen und zeigte auf zwei Namen.

Die Windsbraut runzelte die Stirn, als sie die Adressen hinter den Namen sah. „Wie sollen diese beiden sich denn treffen?“

„Weiß ich noch nicht, aber mir wird schon etwas einfallen.“

„Bitte, darf ich dir helfen?“, erkundigte sie sich. Das würde ihr viel mehr Spaß machen, als Herbstlaub von den Bäumen zu pusten. Denn das war alles, was ihr normalerweise erlaubt war.

„Nein, auf keinen Fall“, lehnte der Liebesengel-Lehrling ab. Als er sah, wie die Windsbraut schon wieder Luft holte, überlegte er es sich allerdings anders. Der erste Schritt war, die erste Begegnung des füreinander bestimmten Paars herbeizuführen. Und dabei konnte die Windsbraut ihm helfen. Er hatte auch schon eine Idee, wie.

1. KAPITEL

Ungläubig blickte Melly auf die Straße, die der wolkenbruchartige Regen innerhalb von Minuten in einen See verwandelt hatte. Das Fahren erforderte bei diesem Wetter so viel Konzentration, dass ihr vor Anstrengung schon der Kopf wehtat.

Von dem Moment an, als sie die Anzeige für das Haus auf dem Land gelesen hatte, war sie fest entschlossen gewesen, es zu kaufen. Es war genau das Richtige, um ihrer Großmutter den Lebensmut wiederzugeben.

Natürlich würde nichts der alten Dame ihren geliebten Mann ersetzen können, der kürzlich verstorben war. Doch Melly war davon überzeugt, dass es ihrer Großmutter guttun würde, wieder in dem Haus zu leben, in dem sie und ihr Mann als frisch verheiratetes Paar für einige Zeit gewohnt hatten. Die vielen schönen Erinnerungen, die mit dem Haus verbunden waren, würden sie sicher aufheitern.

Wenn Melly Russell einmal einen Entschluss gefasst hatte, konnte sie gewöhnlich nichts mehr davon abbringen. Darum war sie auch geschäftlich so erfolgreich. Sie war vermögend genug, um bei der Versteigerung des großen Guts in Shropshire für das kleine Haus zu bieten, in dem ihre Großeltern einst ihr gemeinsames Leben begonnen hatten. Das Haus gehörte zu dem Gut Shopcutte und hatte früher als Altenteil gedient. Jetzt wurde es zusammen mit dem gesamten Anwesen versteigert.

Sie hatte während ihrer Kindheit viele Geschichten über Shropshire und das fruchtbare Bauernland dort gehört, aber sie war ein echtes Stadtkind. Für Regen, Matsch, Tiere und Landwirtschaft hatte sie nichts übrig. Ihr Herz schlug für die Headhunter-Agentur, deren Inhaberin und alleinige Geschäftsführerin sie war, für ihre elegante Stadtwohnung und ihren Freundeskreis. Ihre Freundinnen waren allein stehende Karrierefrauen wie sie. Am meisten hatte sie immer ihre Großeltern geliebt, die ihr nach der Scheidung ihrer Eltern Geborgenheit und ein Zuhause gegeben hatten. Die beiden hatten sie als Kind umsorgt und unterstützt. Jetzt tat es ihr weh, zu sehen, wie traurig und verloren ihre früher so starke, lebenstüchtige Großmutter plötzlich wirkte.

Bevor sie die Verkaufsanzeige für das Gut Shopcutte mit dem Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, den Katen und dem Altenteil entdeckt hatte, war sie ratlos gewesen. Verzweifelt hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, den Schmerz ihrer Großmutter zu lindern. Manchmal hatte sie sogar gefürchtet, dass sie ihre geliebte Großmutter auch noch verlieren würde. Jetzt wusste sie, dass sie das Richtige gefunden hatte, um die alte Dame zu trösten. Sie musste bei der Auktion unbedingt erfolgreich sein, und das würde sie auch. Nichts konnte sie davon abhalten, das Haus zu ersteigern.

Wenn sie nicht in den sintflutartigen Wolkenbruch gekommen wäre, hätte sie ihr Ziel, das Städtchen Lampton in der Grafschaft Shropshire, längst erreicht. Lampton lag in der Nähe des Guts, das versteigert werden sollte. Sie hatte im einzigen Hotel des Orts ein Zimmer reserviert. Aber seit der Regen eingesetzt hatte, kam sie nur noch im Schritttempo vorwärts. Der Himmel, der den ganzen Tag über blau und wolkenlos gewesen war, hatte sich jetzt fast schwarz gefärbt. Sie war ganz allein auf der Straße, die immer schmaler wurde. War das wirklich die Hauptstraße, der sie bisher gefolgt war? Oder hatte sie irgendwo eine falsche Abzweigung genommen? Unmöglich, so etwas passierte ihr sonst nie. Sie war stolz darauf, dass sie ihr Leben stets im Griff hatte.

Von dem perfekt geschnittenen blonden Haar bis zu den pedikürten und lackierten Fußnägeln strahlte sie Eleganz und Selbstbewusstsein aus. Ihre Freundinnen beneideten sie um ihre von Natur aus zierliche Figur. Sie trug Kleidergröße sechsunddreißig, ohne je Diät halten zu müssen. Ihre Haut war makellos. In ihrem Leben war alles bestens organisiert. Gefühlsmäßige Verwicklungen kannte sie nicht.

Sie war eine Frau, die sich Respekt zu verschaffen wusste. Kein Mann wagte es, ihr zu nahe zu treten oder sie gar frech zu behandeln. Sie hätte auch keinen Mann nahe genug an sich herangelassen. Nachdem sie miterlebt hatte, wie viel Unglück und Chaos die Liebe im Leben ihrer Eltern angerichtet hatte, hatte sie sich entschieden, Single zu bleiben. Bisher war ihr auch noch kein Mann begegnet, der diesen Entschluss ins Wanken gebracht hätte. „Du bist viel zu attraktiv, um allein zu bleiben“, hatte einer ihrer Verehrer einmal zu ihr gesagt und dafür nur einen vernichtenden Blick von ihr geerntet.

Manchmal fragte sie sich, warum sie gegen die Sehnsucht nach Liebe und Zweisamkeit immun zu sein schien, der andere Frauen irgendwann einmal erlagen. Aber sie erlaubte sich nicht, lange darüber nachzugrübeln. Sie war zufrieden mit ihrem Leben, wie es war. Jedenfalls würde sie es wieder sein, nachdem sie das Haus für ihre Großmutter ersteigert hatte.

Dass sie selbst herkommen musste, war ihrer Meinung nach überflüssig. Allerdings hatte der Makler ihr Angebot abgelehnt, das Haus schon vor der Auktion zu kaufen.

„Das gibt es nicht“, sagte Melly und stöhnte, als die Straße eine scharfe Kurve machte und steil abwärts führte. Vor ihr tauchte ein Schild mit der Aufschrift „Furt“ auf. Sie glaubte sich zu erinnern, dass eine Furt eine mittelalterliche Methode war, einen Fluss zu überqueren. So etwas gab es doch heute gar nicht mehr. Aber es stand auf dem Schild, und die Straße führte tatsächlich mitten durch den Fluss.

Das hier soll eine Hauptstraße sein? fragte Melly sich. Ärgerlich trat sie aufs Gaspedal, um durch das Wasser auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. „Ich weiß schon, warum ich das Leben auf dem Land nicht ausstehen kann“, schimpfte sie leise vor sich hin. Neben dem Motorengeräusch des Autos war auf einmal noch ein anderes, unheimliches Geräusch zu hören, das ihr Unbehagen verursachte. Im nächsten Moment sah sie, woher das bedrohliche Rauschen kam. Auf dem Fluss donnerte eine Flutwelle heran, die beinah so hoch war wie ihr Wagen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Melly blanke Panik. Hektisch trat sie das Gaspedal ganz durch, aber die Räder drehten durch. Das Cabriolet bewegte sich keinen Zentimeter vorwärts, während die Flutwelle unaufhaltsam heranrollte.

Finn hatte schlechte Laune. Die Besprechung hatte länger gedauert, als er gedacht hatte, und jetzt kam er viel später nach Hause als geplant. Er hielt erschrocken an, als er ein fremdes Auto in der Furt stehen sah. Auch er hatte die Flutwelle bemerkt, die sich donnernd darauf zu bewegte.

Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust, ungeladene und unwillkommene Gäste aus dem Fluss zu retten. Wie konnte jemand so leichtsinnig sein und bei diesem Wolkenbruch die Furt überqueren wollen? Noch dazu in einem so lächerlichen und ungeeigneten Fahrzeug wie diesem Stadtauto. Finn schüttelte den Kopf und schaltete in den niedrigsten Gang.

Er, Finn Gordon, hatte mit Börsengeschäften ein Vermögen erworben und sich dann aus der Geschäftswelt zurückgezogen. Sein früherer Mentor hatte ihm einmal das Kompliment gemacht, er hätte noch nie jemanden kennengelernt, der einen so untrüglichen Instinkt besäße wie er. Trotzdem wollte er, Finn, mit der Finanzwelt nichts mehr zu tun haben. Die Landwirtschaft war jetzt sein Leben, und wenn es nach ihm ging, sollte es für immer so bleiben. Der Pachtvertrag für die Ryle Farm lief allerdings in drei Monaten aus und konnte nicht verlängert werden. Darum hatte er sich entschlossen, das Gut Shopcutte zu ersteigern. Er wusste, dass das Gutshaus, das Land und alle Katen und Wirtschaftsgebäude, die dazugehörten, einzeln versteigert werden sollten. Aber er wollte den Besitz im Ganzen erwerben, um ihn zusammenzuhalten. Außerdem wollte er seine Privatsphäre schützen.

Ungestörtheit war für ihn das Wichtigste, und zum Glück verfügte er über die nötigen Mittel, um ein Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit führen zu können. Das Gut Shopcutte schien ihm dafür ideal.

Die Menschen, die ihn gekannt hatten, als er Anfang Zwanzig war und einer der erfolgreichsten Börsenmakler Londons, hätten ihn heute nicht mehr wieder erkannt. Es lag nicht nur daran, dass er zehn Jahre älter geworden war. Damals hatte er dank seines Erfolgs und seines Einkommens Zutritt zu der glamourösen Welt der Reichen und Schönen, des großen Gelds und der Drogen gehabt. Er hatte schnell die Erfahrung gemacht, dass diese Glitzerwelt von Gier und Unaufrichtigkeit regiert wurde. Er war immer zu vernünftig gewesen, um sich durch schnellen Sex und die stets verfügbaren Drogen verführen zu lassen, aber er hatte Kollegen gekannt, die nicht so viel Verstand oder Glück gehabt hatten.

Er hatte mit diesem Lebensstil nie etwas anfangen können. Als dann ein Freund an einer Überdosis Drogen gestorben war, hatte er, Finn, die Kreise, in die er geraten war, aus tiefstem Herzen zu verabscheuen begonnen. Er hatte es erlebt, dass junge Frauen sich ihm hemmungslos an den Hals warfen, getrieben von ihrer Drogensucht. Auf den Partys der Superreichen wurden diese Frauen dann herumgereicht wie Bonbons – genau wie die Drogen, die ihr Leben zerstört hatten. Es war eine Welt, in der es nur um materiellen Reichtum ging und in der Menschen wenig zählten. Eines Morgens war er aufgewacht und hatte sich entschieden, dass er nicht länger Teil dieser Welt sein wollte.

Vielleicht war es nicht fair, der Großstadt die Schuld am Verhalten einzelner Menschen zu geben. Aber er hatte sich lange gefragt, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Er sehnte sich nach Sauberkeit und Natur, er wünschte sich ein einfaches, friedliches Leben. Er hasste die Großstadt und die meisten ihrer Bewohner. Menschen, die den großstädtischen Lebensstil liebten, misstraute er zutiefst.

Seine Mutter war auf einem Bauernhof aufgewachsen, und er hatte anscheinend ihre Anlagen geerbt. Er hatte einen Geschäftsplan für einen landwirtschaftlichen Hof gemacht und war damit ein kalkuliertes Risiko eingegangen. Immerhin hatte sein Urteilsvermögen ihm schon einmal Millionen eingebracht. Seine Chefs in der Börsenmaklerfirma hatten ihn angefleht zu bleiben, doch sein Entschluss hatte festgestanden. Er wollte eigenes Land besitzen, um biologischen Ackerbau zu treiben, Vieh zu halten und seine kleine Herde Alpakas zu vergrößern.

Im Gegensatz zu Melly wusste Finn sofort, worum es sich handelte, als er das Rauschen der Flutwelle hörte. Er hielt an und schimpfte vor sich hin. Wenn das Flussbett überflutet war, war die Furt unpassierbar, selbst für seinen Landrover. Dann war er auf der falschen Seite des Flusses von der Welt abgeschnitten. Ungläubig betrachtete er das Auto, ein modernes Cabrio, mit dem nur ein Narr versuchen würde, eine überschwemmte Furt zu durchqueren.

Das Wasser stand bereits auf halber Höhe des Wagens und stieg schnell. In wenigen Minuten würde der Fluss das Cabrio mit sich reißen, mitsamt seiner blonden Fahrerin. Entschlossen startete Finn den Motor des Landrover und lenkte ihn vorsichtig durch die Fluten neben den anderen Wagen. Er biss die Zähne zusammen, als er den Sog der Strömung spürte, die sein Auto hin und her schleuderte und es flussabwärts zu reißen drohte.

Melly konnte nicht fassen, in was für einer Situation sie sich befand. So etwas gab es doch gar nicht! Zumindest passierten solche Dinge nicht ihr. Wie war sie mitten in einen reißenden Fluss geraten? Sie atmete scharf ein, als das Auto sich leicht zur Seite bewegte. Gleich würde sie von den Fluten mitgerissen werden und möglicherweise ertrinken. Aber sie hatte den Landrover hinter sich bemerkt und sagte sich, dass sie sich unnötig ängstigte. Wenn der Fahrer die Furt durchqueren konnte, dann konnte sie es auch. Entschlossen versuchte sie, den Motor zu starten.

Finn traute seinen Augen nicht, als er sah, wie die Frau sich nach vorn beugte, um den Wagen anzulassen. Dabei fiel ihr das schimmernde blonde Haar ins Gesicht. Was, um alles in der Welt, hatte sie vor? Ihr musste doch klar sein, dass ihr Wagen nicht anspringen würde. Und selbst wenn er es tat, würde es ihr nichts nützen, weil das Wasser bereits zu tief war.

Finn fuhr ein Stück vor, bis er direkt neben ihr stand, und kurbelte das Fenster hinunter. Die Frau bemerkte ihn und warf ihm einen abweisenden Blick zu, den er nicht zur Kenntnis nahm. Offensichtlich war sie eine Großstädterin, und seine Abneigung wuchs. Er forderte sie mit einer deutlichen Handbewegung auf, das Fenster zu öffnen.

Eigentlich wollte Melly den Mann ignorieren. In der Stadt reagierte eine Frau nie auf die Annäherungsversuche eines Fremden. Dann spürte sie allerdings, wie ihr Auto sich mit einem Ruck weiter stromabwärts bewegte.

„Was haben Sie vor?“, schrie Finn sie an, als sie endlich ihr Fenster hinuntergelassen hatte. „Sie sitzen in einem Auto, nicht in einem U-Boot.“

Der Mann machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für sie, das empörte sie noch mehr. Sie war es nicht gewohnt, von Männern unverschämt behandelt zu werden. Normalerweise garantierte ihr attraktives Äußeres ihr zumindest Respekt und Höflichkeit.

„Ich überquere den Fluss“, antwortete sie kühl.

„Bei dieser Überschwemmung?“, fragte er höhnisch.

„Als ich am anderen Ufer losgefahren bin, war die Furt noch nicht überschwemmt“, widersprach sie schnippisch und erschrak, als ihr Auto sich weiter zur Seite bewegte.

„Sie müssen sofort raus aus dem Auto“, machte Finn ihr klar. Jeden Moment konnte das Cabrio samt seiner Fahrerin von der Strömung fortgerissen werden. Er hoffte, dass sie nicht in Panik ausbrach und die Situation damit noch schlimmer machte.

„Haben Sie einen Vorschlag, wie?“ Ihre Stimme klang eisig, ihr Blick war spöttisch. „Soll ich etwa die Tür aufmachen und schwimmen?“

„Zu gefährlich, die Strömung ist zu stark.“ Finn ging nicht auf ihren ironischen Ton ein, sondern betrachtete prüfend ihre zierliche Figur. Schroff forderte sie auf: „Klettern Sie durchs Fenster. Mein Auto steht direkt neben Ihrem. Versuchen Sie, durch das hintere Fenster auf den Rücksitz zu kommen.“

„Wie bitte?“ Melly glaubte, nicht richtig zu hören. „Ich trage ein Designerkostüm und ein Paar sehr teure Schuhe. Ich denke nicht daran, in Ihren schmutzigen Landrover zu klettern.“

Finn spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Diese Frau war unmöglich. Noch nie war er jemandem begegnet, der ihn in so kurzer Zeit zur Weißglut getrieben hatte. „Wenn Sie bleiben, wo Sie sind, verlieren Sie nicht nur Ihre Schuhe, sondern auch Ihr Leben. Haben Sie eine Ahnung, wie …?“ Er verstummte, als das Wasser ihr Auto hin und her bewegte. Jetzt hatte er genug.

„Los, raus da! Sofort!“, kommandierte der Mann, und Melly war so schockiert über seinen Ton, dass sie ihm gehorchte und aus dem Autofenster kletterte.

Er stützte sie mit beiden Händen und zog sie in das Innere des Landrovers. Dieser grobe Klotz fasst mich an wie einen Sack Kartoffeln, dachte sie zornig. Sie wand sich zappelnd durch das hintere Fenster des Landrover und landete etwas undamenhaft auf dem Rücksitz. In dem Moment, in dem sie erleichtert aufatmete, rutschten ihr die eleganten Pumps von den Füßen.

Ohne sich nach ihr umzudrehen, fuhr ihr unbekannter Retter los und durchquerte den Fluss. Der Landrover hielt den Fluten stand, die ihr Auto wie ein Spielzeug hin und her geschüttelt hatten. Es gelang ihr gerade rechtzeitig, sich aufzusetzen, um noch einen letzten Blick auf ihr Cabrio zu erhaschen, bevor der Fluss es mit sich riss. Sie begann zu zittern, als ihr klar wurde, wie knapp sie der Gefahr entronnen war. Dem Fahrer des Landrover schien es gleichgültig zu sein, wie ihr zumute war. Sie hatten das sichere Ufer erreicht, und er fuhr den Hügel hinauf.

Ein paar Sekunden später, und diese leichtsinnige Närrin wäre mitsamt ihrem Auto untergegangen, dachte Finn. Er kochte vor Wut. Wenigstens waren sie jetzt auf dem trockenen Land. Aber die Farm war vom Rest der Welt abgeschnitten, bis das Wasser zurückgegangen war. Es gab keine andere Straße zu dem Grundstück, das von allen Seiten von steilen Hügeln umgeben war.

„Sie können mich in der Stadtmitte absetzen“, informierte Melly den Fremden herablassend. „Am besten vor einem Schuhgeschäft, da ich meine Schuhe verloren habe.“ In dem Moment wurde ihr klar, dass sie auch keine Handtasche, kein Gepäck und keine Kreditkarten mehr besaß.

„Von welcher Stadt sprechen Sie? Was glauben Sie eigentlich, wo Sie sind?“, fragte er spöttisch.

„Auf der Hauptstraße, etwa fünf Meilen von Lampton entfernt“, erwiderte sie prompt.

„Sieht das hier etwa aus wie eine Hauptstraße?“ Er machte aus seiner männlichen Überlegenheit keinen Hehl.

Nun, da sie sich die Straße genau ansah, musste Melly zugeben, dass diese tatsächlich nicht wie eine Hauptstraße aussah. Eigentlich war es nur ein einspuriger, asphaltierter Feldweg. Irgendwo musste sie falsch abgebogen sein. Wie hatte ihr das passieren können? Sie machte doch sonst nie Fehler!

„Die Straßen auf dem Land sehen alle gleich aus. Jeder Feldweg kann hier eine Hauptstraße sein“, erklärte sie.

Ihre Überheblichkeit ging ihm immer mehr auf die Nerven. „Zu Ihrer Information: Das ist ein Privatweg. Er führt zu meinem Hof.“

Erschrocken blickte sie ihn an. Sie betrachtete seinen Hinterkopf, während sie versuchte, die unwillkommene Information zu verarbeiten. Der Mann hatte dichtes dunkles Haar und eine sehr männliche, markante Kopfform. Er könnte mal einen neuen Schnitt gebrauchen, sein Haar reicht schon über den Hemdkragen, dachte sie. Sie rümpfte die Nase über seinen abgetragenen Mantel. Er wirkte ausgesprochen feindselig. Aber sie konnte ihn ebenso wenig leiden wie er sie.

„Dann bin ich eben irgendwo falsch abgebogen“, räumte sie mit einem gespielt lässigen Schulterzucken ein. Es kostete sie ungeheure Überwindung, den Irrtum zuzugeben. „Wenn Sie mich nicht gekidnappt hätten, wäre ich umgekehrt.“

„Umgekehrt?“ Der Mann schnaufte verächtlich. „Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wären Sie jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben.“

Melly erschauerte, ließ sich allerdings nichts anmerken. Stattdessen tat sie, was sie immer in Krisensituationen tat: Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel und schob alles andere erst einmal beiseite.

„Wie lange wird es dauern, bis das Wasser zurückgeht, wenn wir hier warten?“, erkundigte sie sich.

Finn wunderte sich über die Frage. Wie konnte diese Frau so naiv sein? „Bis eine Überschwemmung dieses Ausmaßes zurückgeht, kann es ein paar Tage dauern“, antwortete er ungeduldig. Leute wie diese Großstadtfrau sollte man auf dem Land nicht frei herumlaufen lassen, dachte er. Sie hat so wenig Ahnung von den Gefahren der Natur, wie ein Kleinkind von denen einer Autobahn.

„Ein paar Tage?“

Im Rückspiegel sah er Panik in ihren Augen aufflammen. Unwillkürlich fragte er sich, warum. Was wollte sie überhaupt hier? Gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst, weil er sich für ihre Angelegenheiten zu interessieren begann.

„Wie viele Tage denn?“ Melly bemühte sich, möglichst gelassen zu wirken.

Finn zuckte die Schultern. „Kommt darauf an. Das letzte Mal hat es etwa eine Woche gedauert.“

„Eine Woche!“ Sie konnte das Entsetzen in ihrer Stimme nicht mehr unterdrücken. Und wenn die Straße tatsächlich zu der Farm des Mannes führte, dann hatte sie keine andere Wahl, als eine ganze Woche mit ihm zu verbringen.

Sie hatten jetzt den höchsten Punkt des Hügels erreicht. Automatisch drehte Melly sich um und blickte zurück auf den Weg, auf dem sie gekommen waren. Der nasse Asphalt glitzerte in der Sonne, die gerade wieder hinter den Wolken hervorkam. Die Straße durchzog wie ein schmales, schwarzes Band die Herbstlandschaft. Von ihrem Auto war nur noch das Dach zu sehen. Der Sportwagen lag halb umgestürzt an einem Baum.

Nachdem sie über den ersten Schreck hinweg war, spürte Melly, wie sich Angst in ihr ausbreitete. Ihre Kleidung, ihr Handy, ihre Handtasche mit dem Geld, den Kreditkarten und all den selbstverständlichen Dingen, die bestätigten, wer sie war, waren fort. Ihr ganzes Leben schien mit ihrem Auto in den Fluten versunken zu sein. Mit einem flauen Gefühl wurde ihr bewusst, dass sie in jeder Hinsicht von ihrem Retter abhängig war.

Im Rückspiegel beobachtete Finn den wechselnden Ausdruck in den Augen der Frau. Er hatte einen Blick für Menschen. Das Leben in der Finanzwelt hatte ihn gelehrt, in Gesichtern zu lesen. Was hatte eine typische Londonerin wie sie in diesem abgelegenen Winkel des Landes zu suchen? Alles an ihr verriet, dass sie das Land weder kannte noch mochte. Sein Instinkt warnte ihn. Sie bedeutete Ärger.

Normalerweise konnte er Gefahren gut einschätzen. Trotzdem verspürte er diesmal einen überwältigenden Drang, direkt darauf zuzugehen. Er war noch dabei, sich über sich sein ungewöhnliches Verhalten zu wundern, als er sich auf einmal sagen hörte: „Wenn Sie Freunde hier in der Gegend besuchen wollten, können Sie sie gern von meiner Farm aus anrufen, um ihnen zu sagen, was passiert ist.“

Wieso lud er sie ein? Er wollte sie nicht in seiner Nähe haben, sie ging ihm auf die Nerven, sie provozierte ihn bis zu dem Punkt, an dem er an nichts anderes mehr denken konnte als daran, sie in die Arme zu nehmen. Erschrocken stellte Finn fest, dass seine Gedanken eine unerwünschte Richtung nahmen. Er wollte diese Frau festhalten und küssen. Insgeheim fragte er sich, ob ihre Lippen sich so voll und weich anfühlten, wie sie aussahen.

Finn biss die Zähne zusammen. Was war nur los mit ihm? So etwas zu denken war völlig unangebracht.

„Ich will hier niemanden besuchen“, antwortete die Frau kurz angebunden.

Vergeblich wartete er darauf, dass sie weitersprach, aber sie schwieg. Erstaunt stellte er fest, dass ihre Zurückhaltung ihn störte. Eigentlich hätte er froh darüber sein müssen, dass sie sich ihm gegenüber distanziert verhielt.

Melly fand es aufdringlich, dass ihr Retter wissen wollte, was sie nach Shropshire führte. Der Grund für ihre Fahrt aufs Land war persönlich und ging ihn nichts an. In ihrem Beruf spielte Diskretion eine wichtige Rolle. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, nicht unnötig Informationen preiszugeben. Wozu sollte sie ihre persönlichen Gründe mit einem Bauern besprechen, nur weil er sie aus dem Fluss gerettet hatte?

Sie hatten inzwischen den Kamm des Hügels überquert. Die Straße vor ihnen wurde noch schmaler und schlängelte sich durch Weideland zu einem hübschen Bauernhaus aus der Tudorzeit. Einige Tiere, die auf einer Wiese grasten, wurden durch den Landrover aufgeschreckt und rannten ein Stück vom Zaun weg. Melly sah ihnen erstaunt nach.

„Was sind das für Tiere? Lamas?“, fragte sie neugierig.

„Nein, Lamas sind größer. Das sind Alpakas, ich halte sie wegen der Wolle.“

„Wegen der Wolle?“, wiederholte Melly erstaunt und betrachtete die kleine Herde, die in sicherer Entfernung stehen blieb. Das vorwitzigste Tier reckte seinen langen Hals und blickte sie an.

„Alpakawolle ist wertvoll und teuer. Ich würde mich nicht wundern, wenn Ihr ‚Designer‘ etwas davon in Ihrem Kostüm verarbeitet hätte“, erklärte der Fremde ein wenig süffisant.

Der Ton, in dem er das Wort Designer aussprach, war so verächtlich, dass Melly gern mit einer spitzen Bemerkung darauf reagiert hätte. Doch der Mann schaltete gerade in einen höheren Gang und machte auch noch das Radio an, sodass ihre Worte in dem Motorengeräusch und der Stimme des Nachrichtensprechers untergegangen wären.

„Anscheinend sind wir nicht die Einzigen, die von dem Unwetter überrascht wurden“, bemerkte der Mann.

„Danke“, sagte sie schnippisch. „Ich verstehe die Landessprache.“

Die Auktion fand erst in sechs Tagen statt. Bis dahin musste der Fluss wieder seinen normalen Wasserstand erreicht haben. Melly bereute jetzt, dass sie einige Tage früher gekommen war, um mit dem Makler zu sprechen und ihm noch einmal ein Angebot für das Haus zu machen. Sie war bereit, nahezu jeden Preis zu zahlen, wenn sie das Haus nur bekam. Nichts wünschte sie sich mehr, als ihre Großmutter wieder lächeln zu sehen.

Sie hatten jetzt den Hof erreicht. In einem Drahtverhau sah Melly Hühner im Gras scharren. Auf einem Teich schwammen Enten. Manche Leute würden das sicher idyllisch finden, dachte sie. Aber sie konnte den Reizen des Landlebens wenig abgewinnen, vor allem weil der Hof einem unfreundlichen, arroganten Mann wie ihrem Retter gehörte. Er drehte sich zu ihr um.

„Lassen Sie uns eine Sache klarstellen“, begann er schroff. „Mir gefällt die Situation genauso wenig wie Ihnen. Im Übrigen waren Sie es und nicht ich, die gegen jede Vernunft in den überschwemmten Fluss gefahren ist. Ich war es auch nicht, der eine falsche Abzweigung genommen hat.“

„Der Fluss war nicht überschwemmt, als ich die Furt durchqueren wollte“, unterbrach Melly ihn wütend. „Die Flutwelle kam aus heiterem Himmel, so als …“ Als hätte das Schicksal mir einen Streich gespielt, hatte sie sagen wollen. Allerdings war sie viel zu vernünftig, um einen so absurden Gedanken laut auszusprechen. „Da Ihnen der Bauernhof hier gehört, sind Sie gesetzlich verpflichtet, ein Warnschild aufzustellen, wie gefährlich die Furt ist.“

Finn beschloss, sie in dem Glauben zu lassen, dass ihm der Hof gehörte. Jetzt war nicht der richtige Moment, um mit ihr über unwichtige Einzelheiten zu diskutieren. „Es handelt sich um einen Privatweg. Ich bin zu überhaupt nichts verpflichtet“, erinnerte er sie grimmig.

„Woher soll ein Autofahrer das wissen, wenn es kein Hinweisschild gibt?“, wandte Melly ein.

„Dazu braucht man kein Schild“, erklärte Finn gereizt. „Es ist auf jeder Karte ersichtlich, dass die Straße keine Durchgangsstraße ist, sondern an meinem Hof endet. Warum sind Frauen eigentlich unfähig, Landkarten zu lesen?“

Allmählich hatte sie genug. Was sie am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass er gar nicht so unrecht hatte.

„Ich bin in der Lage, eine Landkarte zu lesen, vielen Dank. Aber noch besser als mit Karten kenne ich mich mit Menschen aus. Und Sie sind der ungehobeltste Klotz, dem ich je begegnet bin“, stieß sie hervor.

„Und Sie sind die unmöglichste Frau, die ich je getroffen habe“, konterte er.

Sie funkelten einander in stummer Feindseligkeit an.

2. KAPITEL

Melly beendete das Telefongespräch mit ihrer Assistentin Gayle so schnell wie möglich, nachdem sie ihr erzählt hatte, was passiert war, und sie gebeten hatte, ihre Kreditkarten sperren zu lassen und neue zu bestellen.

„Sollen die neuen Karten dorthin geschickt werden, wo Sie jetzt sind?“, hatte Gayle sie gefragt.

„Nein, lassen Sie sie ins Hotel nach Lampton schicken. Oh, und wenn Sie der Versicherung und der Werkstatt erzählen, was mit meinem Auto passiert ist, versuchen Sie, einen kostenlosen Ersatzwagen zu bekommen, ja?“

Sie hatte ihren Bericht ziemlich knapp gehalten und war über Gayles mitfühlende Zwischenrufe einfach hinweggegangen. Finn Gordon hatte ihr einen Raum gezeigt, in den sie sich zurückziehen konnte, und ihr sein Handy geliehen. Es war ihr unangenehm, ihn um etwas bitten zu müssen. Schnell wählte sie die Nummer ihrer Großmutter. Sie hatte ihr nichts von ihren Plänen erzählt, sondern nur angekündigt, dass sie für einige Tage geschäftlich unterwegs sein würde.

Arabella Russells Stimme klang schwach und verloren, als sie sich am Telefon meldete. Es schnürte Melly die Kehle zu.

Finn, der seinem unerwarteten und unerwünschten Gast eine Tasse Tee hatte bringen wollen, stand vor der halb offenen Tür. Er hörte den besorgten, liebevollen Ton in Mellys Stimme, als sie fragte: „Geht es dir denn gut, Darling?“

Er nahm an, dass Melly mit ihrem Freund telefonierte, und zog sich sofort zurück. Irritiert fragte er sich, warum es ihn so sehr störte, dass es einen Mann in ihrem Leben gab.

Inzwischen hatten sie sich einander vorgestellt. Die Förmlichkeit, mit der das geschehen war, hätte er in jedem anderen Zusammenhang komisch gefunden. Obwohl sie ein wenig mitgenommen aussah, fand er Melly immer noch beunruhigend attraktiv. Vergeblich versuchte er sich einzureden, dass er brünette Frauen bevorzugte und blaue Augen schöner fand als braune. Trotzdem ertappte er sich immer wieder dabei, wie er sie ein wenig zu lange und zu intensiv betrachtete.

Nachdem Melly das Gespräch mit ihrer Großmutter beendet hatte, sah sie sich in dem Zimmer um. Es war geräumig und verfügte über ein eigenes Badezimmer. Durch die Mansardenfenster hatte man einen herrlichen Blick auf Felder und Wiesen, hinter denen steil einige bewaldete Hügel aufragten. Da es Herbst war, dämmerte es bereits. Verzweiflung überkam sie bei dem Gedanken, dass sie hier festsitzen würde, bis die Furt wieder passierbar war.

Auf ihre Bitte hin, den Computer benutzen und eine E-Mail an Gayle senden zu dürfen, hatte sie von ihrem unfreiwilligen Gastgeber nur ein spöttisches Lächeln geerntet.

„Ich habe keinen Computer. Ich suche mir gern aus, wen ich in meine Privatsphäre eindringen lasse.“

Das war ein Seitenhieb gegen sie und verriet seine Einstellung zur Informationstechnologie. Der Mann schien ein Neandertaler zu sein. Heute besaß doch fast jeder einen Computer mit Internetzugang. Mit Ausnahme dieses Bauern, wie es schien. Das Schicksal hätte kaum jemanden finden können, der mir unsympathischer ist, dachte Melly gereizt. Einen größeren Gegensatz als zwischen Finn und ihr konnte es wohl kaum geben. Ihrer Ansicht nach konnte das Wasser gar nicht schnell genug zurückgehen, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Auktion.

Finn saß in der Küche und hörte sich im Radio den örtlichen Wetterbericht an. Bisher gab es für das plötzliche Unwetter keine meteorologische Erklärung. Erstaunlicherweise waren nur sein Hof und das unmittelbare Umland betroffen.

Finn hoffte, dass der Fluss rechtzeitig zur Versteigerung wieder passierbar war. Es war ihm lieber, persönlich für das Gut zu bieten als am Telefon. Er beobachtete gern das Mienenspiel seiner Mitbieter, um ihre Stärken und Schwächen besser einschätzen zu können. Er rechnete nicht damit, dass er bei der Auktion viel Konkurrenz haben würde – jedenfalls nicht, soweit es das Herrenhaus und das Ackerland betraf. Bei den zwei kleinen Katen und dem Haus, das als Altenteil gedient hatte, lagen die Dinge anders. Auf keinen Fall wollte er Wochenendausflügler aus der Stadt oder gar Urlauber auf seinem Land haben. Er brauchte Ruhe.

Die Küchentür ging auf, und Melly kam herein. Finn drehte sich zu ihr um. Sie hatte ihre Kostümjacke ausgezogen. Die dünne Seidenbluse betonte ihre erstaunlich vollen Brüste. Er musste bei ihrem Anblick ein wenig lächeln. Mit der modischen Bluse, den schlichten goldenen Ohrsteckern und dem gut sitzenden schwarzen Rock wirkte sie wie eine selbstbewusste Geschäftsfrau – bis auf die Tatsache, dass sie keine Schuhe trug.

Als sie seinen amüsierten Gesichtsausdruck sah, hob Melly angriffslustig das Kinn. „Ein falsches Wort, und ich werde …“

„Was werden Sie? Etwa einen Schuh nach mir werfen?“ Finn konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie ein wenig zu necken.

„Ich bin eine erwachsene Frau, ich werfe nicht mit Dingen“, konterte sie.

„Was, nicht einmal ein Kopfkissen nach Ihrem Liebsten?“

Sie verstand nicht, wieso er plötzlich auf so ein persönliches Thema zu sprechen kam.

„Ich habe keinen Liebsten“, rutschte es ihr heraus.

Finn dachte über diese viel zu schnelle Antwort nach. Er war sicher, dass es eine Lüge war. Diese Frau verkörperte alles, was er am Großstadtleben hasste. Warum konnte er dann nicht aufhören, sie anzusehen? Er hatte schönere Frauen gekannt und auch Frauen, die weniger distanziert gewesen waren. Melanie Russell hatte eine unsichtbare Mauer um sich errichtet, die ihn auf Abstand halten sollte. Dabei hatte er überhaupt nicht vor, ihr zu nahe zu treten. Höfliche Distanz zu wahren war ganz in seinem Sinn. Aber warum fragte er sich dann, wie es wohl sein mochte, sie in den Armen zu halten und zu küssen?

Finn presste die Lippen zusammen. Solche Fantasien durfte er nicht zulassen. „Ich gehe hinaus und sperre die Hühner und Gänse für die Nacht ein. Wenn Sie Hunger haben, nehmen Sie sich etwas aus dem Kühlschrank.“

Besonders gastfreundlich klingt das ja nicht, dachte Melly etwas gekränkt und sah ihm nach, als er hinaus auf den Hof ging. Zuhause in der Stadt säße sie jetzt noch im Büro. Sie machte selten vor zwanzig Uhr Feierabend, oft wurde es sogar noch später. Meistens aß sie mit Freunden oder Kunden zu Abend. Mit ihren Freundinnen traf sie sich gewöhnlich in den überfüllten, teuren In-Restaurants der Londoner City. Für Geschäftsessen mit ihren Kunden bevorzugte sie ruhigere und gediegenere Lokale, die ebenfalls zur gehobenen Preisklasse gehörten.

Obwohl sie in ihrer Wohnung eine moderne Einbauküche hatte, bereitete sie nie warme Mahlzeiten zu. Sie konnte natürlich ein bisschen kochen. Ihre Großmutter war immer eine ausgezeichnete Köchin gewesen, sie hatte Melly allerdings nie zur Mithilfe im Haushalt gedrängt. Im Gegenteil, sie hatte sie ermuntert, sich auf die Schule zu konzentrieren. So hatte es sich nie ergeben, dass sie Haushaltsführung oder Kochen von ihrer Großmutter hätte lernen können.

Wenigstens kann ich mich in mein Zimmer zurückziehen und dort essen, dachte Melly. Vielleicht ist der Fluss morgen ja schon wieder passierbar. Wenn es einen Menschen gäbe, dessen Willenskraft ausreichen würde, um die Elemente zu zähmen, dann wäre sie es.

Melly ging um den großen Tisch in der Mitte des Raumes herum und warf einen abschätzigen Blick auf die Bücher und Zeitungen, die dort verstreut lagen. Vor dem Ofen stand ein altmodischer Lehnstuhl, auf dem sich eine schlafende Katze zusammengerollt hatte. Das ganze Haus hatte etwas Schäbiges und Trauriges an sich. Sie fühlte sich an etwas erinnert, woran sie nicht denken wollte.

Sie hatte Jahre ihrer Kindheit damit zugebracht, mit ihrer Mutter von einer möblierten Wohnung in die nächste zu ziehen. Ihre Eltern waren geschieden. Jedes Mal, wenn ihre Mutter einen anderen Mann kennengelernt hatte, zogen sie um. Sobald die Affäre zu Ende war, waren sie erneut umgezogen. In einigen Menschen weckte ein solches unstetes Leben das Bedürfnis nach einer engen, vertrauensvollen Bindung. In ihrem Fall hatte es dazu geführt, dass sie fest entschlossen war, unabhängig zu bleiben.

Finns altes Bauernhaus erinnerte sie auf unangenehme Weise an das Leben mit ihrer Mutter. In ihrem jetzigen Leben gab es nichts Schäbiges oder Ärmliches. Ihre Wohnung war liebevoll und mit Bedacht eingerichtet. Sie umgab sich nur mit Gegenständen, die genauso gepflegt, geschmackvoll und auf dem neuesten Stand waren wie alles in ihrem wohl geordneten Leben.

Im Moment allerdings ist mein Leben nicht gerade wohl geordnet, stellte Melly trocken fest, als sie auf ihre Füße in den teuren Designerstrümpfen blickte. Sonst ging sie nie barfuß, nicht einmal zu Hause in ihrer Wohnung. Und schon gar nicht in fremden Häusern. Für sie war Barfußgehen gleichbedeutend damit, arm und verletzlich zu sein. Sie verabscheute es, sich schwach und abhängig zu fühlen. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so empfand.

Entschlossen machte sie die Kühlschranktür auf. Es war besser, an etwas Praktisches wie Essen zu denken. Aber der Anblick des Inhalts ließ ihre Stimmung endgültig auf den Nullpunkt sinken.

Finn stieß die Hintertür auf und zog die schlammbedeckten Gummistiefel aus. Der Geflügelverhau war immer matschig, und jetzt nach dem Unwetter war es noch schlimmer als sonst. Er hatte sich lange abmühen müssen, um ein rebellisches Bantamhuhn einzufangen, und sogar schon mit dem Gedanken gespielt, es einfach seinem Schicksal und damit dem Fuchs zu überlassen, der nachts auf Beutefang ging. Dann hatte jedoch seine Sorge um das Wohl des Tieres gesiegt, und es war ihm endlich gelungen, es zu seiner eigenen Sicherheit einzusperren.

Er fror und hatte Hunger, und wegen des Treffens mit dem Alpakazüchter am Nachmittag war er nicht dazu gekommen, das Chili zuzubereiten, das er an diesem Abend hatte essen wollen. Er hatte noch eine Menge Büroarbeit vor sich, die er nicht gern erledigte. Vielleicht machte er sich das Leben unnötig schwer, indem er sich weigerte, sich einen Computer anzuschaffen. Während er die schmutzigen Stiefel abstreifte, beobachtete er Melly dabei, wie sie ratlos in den offenen Kühlschrank blickte.

„Es ist ja alles noch roh“, stellte sie irritiert fest. Sie war sehr hungrig und hatte erwartet, dass sie wenigstens eine Tiefkühlpizza zum Aufbacken vorfinden würde. Natürlich hatte sie nicht mit einer fertigen Gourmetmahlzeit gerechnet, wie sie in einem Londoner Restaurant serviert wurde.

Sein Gesicht nahm einen missbilligenden Ausdruck an. „Was haben Sie denn erwartet? Sie sind auf einem Bauernhof, nicht im Supermarkt. Wir befinden uns hier am Anfang der Nahrungskette, nicht am Ende“, teilte Finn ihr trocken mit.

„Aber man muss die Sachen alle erst kochen“, wandte Melly ein. Sie sah ihn so vorwurfsvoll an, dass er sie am liebsten gepackt und geschüttelt hätte.

„Klar muss man sie kochen. Das hier ist kein Restaurant.“

Zu seiner Verwunderung schlug sie die Kühlschranktür zu und trat einen Schritt zurück. „Ich habe doch keinen Hunger“, sagte sie kühl.

„Das glaube ich gern. Sie sehen aus, als ob Sie sich von ein paar Blättern überteuertem Radicchio am Tag ernähren“, erwiderte Finn unfreundlich.

Melly konnte nicht sagen, was sie mehr ärgerte – dass Finn ihre Figur nicht gefiel oder dass er sich über ihren Lebensstil lustig machte. Woher wusste ein Bauer wie er überhaupt, dass Radicchio in den Londoner In-Restaurants der Modesalat der Saison war?

„Auch wenn Sie nichts essen wollen, ich habe Hunger.“ Er ging an ihr vorbei, um die Kühlschranktür zu öffnen.

Melly spürte seine Körperwärme. Ihr fiel auf, wie durchtrainiert sein Oberkörper war. Was war nur los mit ihr? Sie gehörte eigentlich nicht zu den Frauen, die sich für Muskeln interessierten oder beim Anblick eines starken Mannes schwach wurden. Sein Gesicht war sehr markant. Dafür würde ein männliches Fotomodell einem Schönheitschirurgen ein Vermögen zahlen, dachte sie ein wenig boshaft. Auch wenn es nur in Gedanken war, sie wollte es Finn gern heimzahlen, dass er ihr gefiel. Er war so maskulin, und sie wunderte sich, wie ein Mann mit dunkelbraunem Haar so helle blaue Augen haben konnte.

„Haben Sie es sich anders überlegt?“, hörte sie ihn fragen.

„Was? Ich?“ Sie war völlig verunsichert. Wie konnte er ahnen, dass sie gerade dabei war, ihre Meinung über ihn zu ändern? Auf den ersten Blick war er überhaupt nicht ihr Typ gewesen. Jetzt konnte sie nicht verhindern, dass sie ihn auf einmal doch attraktiv fand.

„Sie sehen so hungrig aus. Möchten Sie nicht doch etwas essen?“, hakte er nach.

Melly errötete. Ihr wurde klar, dass Finn die ganze Zeit vom Essen gesprochen hatte. Er konnte unmöglich wissen, dass sie sich auf einmal zu ihm hingezogen fühlte. Sie interessierte sich gegen ihren Willen für einen Mann, den sie kaum kannte und den sie gar nicht hatte kennenlernen wollen. Sie verstand selbst nicht, wie sie plötzlich so empfinden konnte. Aber als sie und Finn sich an der offenen Kühlschranktür gegenüberstanden, wurde sie von so verwirrenden Gefühlen durchflutet, dass ihr beinah ein wenig schwindelig wurde. Sie war sich seiner Nähe überdeutlich bewusst. Schockiert über die erotischen Bilder und Fantasien, die sich in ihr Bewusstsein drängten, schüttelte sie den Kopf. Entschlossen versuchte sie, die unschicklichen Gedanken zu vertreiben, deren Kühnheit und sie erschreckte. 

Nie zuvor hatte sie sich solche Dinge vorgestellt oder erträumt. Sie hatte bis heute nicht das Bedürfnis gehabt, sich derartigen Fantasien hinzugeben. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Doch sogar die Luft schien auf einmal wie elektrisch geladen. Melly verstand nicht, woher diese eigenartige, erregende Atmosphäre plötzlich kam. Es war, als würde jemand oder etwas sie zwingen, Finn in einem anderen Licht zu sehen.

Finn kniff die Augen zusammen. Er musterte Melly eingehend und beobachtete, wie ihre Pupillen sich weiteten. Sie atmete schneller, und ihre Brüste hoben und senkten sich. Es war ihm unmöglich, ihre verführerische Weiblichkeit länger zu ignorieren. Am liebsten hätte er die Kühlschranktür zugeschlagen und dem starken Bedürfnis nachgegeben, Melly in die Arme zu nehmen. Stattdessen wandte er sich abrupt von ihr ab.

„Ich hatte vor, zum Abendessen Chili zu kochen. Es müsste eigentlich für zwei reichen.“

Seine Worte klangen wenig einladend, als hoffte er, dass sie ablehnen würde. Aber warum sollte sie? Sie würde nicht hungrig ins Bett gehen, nur um einem arroganten Bauern, der keine Manieren besaß, einen Gefallen zu tun.

„Ich nehme nicht an, dass Sie in diesem Aufzug kochen wollen“, sagte sie spitz und betrachtete abschätzig seinen alten Mantel.

Der Blick, den Finn ihr zuwarf, ließ sie erschauern.

„Nein, das hatte ich nicht vor. Was halten Sie davon, wenn Sie mit dem Chili schon mal anfangen, während ich nach oben gehe und dusche? Hier ist das Hackfleisch.“ Er nahm einen verschlossenen Plastikbehälter aus dem Kühlschrank und reichte ihn ihr. „Ich bin gleich wieder da.“

Hilflos blickte Melly auf den Plastikbehälter. Sie stellte ihn auf die Arbeitsfläche und nahm zögernd den Deckel ab. Eigentlich hätte sie Finn deutlich sagen sollen, dass sie nicht vorhatte, die unbezahlte Haushaltshilfe zu spielen. Sie hätte ihm an den Kopf werfen können, dass er sich sein Essen gefälligst selbst kochen sollte. Allerdings hatte sie die Gelegenheit, ihr Gesicht zu wahren, ungenutzt verstreichen lassen. Jetzt hatte sie keine andere Wahl, als dieses verflixte Fleisch zuzubereiten. Auf keinen Fall würde sie zugeben, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie man es anfing.

Aber es kann eigentlich nicht so schwer sein, machte sie sich Mut. Sie hatte ihrer Großmutter oft beim Kochen zugesehen, während sie am Küchentisch ihre Hausaufgaben machte. Zuerst gibt man das Fleisch in eine Pfanne, überlegte sie. Sie krauste die Stirn, als sie sich zu erinnern versuchte, was ihre Großmutter beim Kochen genau getan hatte. Vor ihrem inneren Auge tauchte die gemütliche Küche im Haus ihrer Großeltern auf. Melly sah ihre Großmutter vor sich, wie sie lächelnd und geschäftig zwischen dem Herd und der Spüle hin- und hereilte, während ein köstliches Aroma die Luft erfüllte und ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Aber was ihre Großmutter am Herd getan hatte, wusste sie leider nicht mehr genau.

Melly straffte sich. Irgendwie würde sie es schaffen. Auf keinen Fall würde sie diesem eingebildeten Kerl gestehen, dass sie nicht kochen konnte. Das kam überhaupt nicht infrage.

Zuerst brauchte sie eine Pfanne. Wahrscheinlich bewahrte er die Pfannen direkt neben dem Herd auf. Das wäre nahe liegend. Erfreut über ihren Geistesblitz, ging sie zum nächsten Küchenschrank, um nachzusehen.

Fünf Minuten später hatte sie jeden Schrank in der ganzen Küche durchsucht. Sie fand das Kochgeschirr schließlich auf der entgegengesetzten Seite des Raumes. Und da besaßen Männer die Kühnheit, zu behaupten, Frauen könnten nicht logisch denken!

Melly schüttete den Inhalt der Plastikdose in die Pfanne und verzog das Gesicht. Das rohe Hackfleisch sah für ihren Geschmack ziemlich unappetitlich aus. Sie schaltete den Herd ein und stellte die Pfanne auf die Platte. Jetzt brauchte sie nur noch zu warten, bis das Fleisch durchgebraten war. Sie hatte es geschafft.

Oben in seinem Schlafzimmer frottierte Finn sich das nasse Haar. Er ließ das Handtuch fallen und griff nach seinem sauberen Hemd. Über sein Bedürfnis, nicht nur zu duschen, sondern sich auch zu rasieren, wollte er jetzt nicht nachdenken. Er beschloss, auf das Rasieren zu verzichten.

Ein scharfer, unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Finn atmete ihn ein und runzelte die Stirn. Kein Zweifel, es roch angebrannt. Er ließ das Hemd liegen und eilte hinunter in die Küche.

Melly verstand nicht, was passiert war. Eine übel riechende Rauchwolke hing über dem Herd und breitete sich weiter aus. Das Fleisch kann doch noch gar nicht fertig sein, dachte Melly. Sie erinnerte sich vage, dass ihre Großmutter länger gebraucht hatte, um Hackfleisch zu braten.

Zögernd ging sie zum Herd und wollte gerade den Deckel von der Pfanne nehmen, als Finn hereinkam.

„Was, zum Kuckuck, soll das werden?“ Er ging an ihr vorbei, riss die Pfanne vom Herd und ließ sie in die Spüle fallen. Dann nahm er den Deckel ab und warf einen kurzen, angewiderten Blick auf den angebrannten Inhalt, bevor er den Wasserhahn aufdrehte.

„Es ist nicht meine Schuld, wenn Ihr Herd nicht funktioniert“, verkündete Melly mit einem Selbstbewusstsein, das sie bei Weitem nicht empfand.

„Mein Herd!“, stieß Finn zwischen den Zähnen hervor. „Es ist nicht mein Herd, der nicht funktioniert, sondern die Köchin. Warum haben Sie denn nicht etwas mehr Wasser hineingetan?“

Sie schluckte. Ihre Großmutter hatte sie dazu erzogen, immer die Wahrheit zu sagen, aber für Fälle wie diesen galt das bestimmt nicht.

„Sie haben überhaupt kein Wasser hineingetan“, vermutete Finn richtig und sah sie fassungslos an.

Autor

Jane Toombs
In dem Alter, als Jane das Alphabet lernte, hatte ihr Vater, ein erfolgreicher Sachbuchautor, nach einer Krankheit vollständig sein Gehör verloren. Wer mit ihm kommunizieren wollte, musste schreiben. Er trug stets einen kleinen Block mit sich herum, darauf stand z.B.: Was hast du auf dem Schulweg gesehen? Und so musste...
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