Romana Exklusiv Band 360

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DER DUFT DER MANDELBLÜTE von ROSE DE WINTER
Galant überreicht Rafael Conde de Altamira ihr einen Mandelblütenzweig und lächelt sie an. Julias Herz macht einen Salto. Heißt das, dass der spanische Adlige ihre zärtlichen Gefühle erwidert? Wenn sie nur wüsste, was er für seine hübsche Flamencopartnerin empfindet …

KÜSSE IN EINER FRÜHLINGSNACHT von LOUISA GEORGE
Schiefgegangen! Sasha wollte ihren Ex Nate Munro nur um einen Gefallen bitten. Stattdessen wird sie von seinen Leibwächtern überwältigt und mit der Luxuslimousine in den lauen Frühlingsabend entführt, wo es nur sie, Nate und dieses erotische Knistern gibt …

DIE EISKÖNIGIN UND DER MILLIARDÄR von MIRANDA LEE
Ein Playboy wie Jeremy Barker löst bei Alice nur frostige Abwehr aus. Er hält sie für eine Eiskönigin? Umso besser! Sie will ja mit ihm arbeiten und nicht ins Bett. Doch je näher der charmante Milliardär ihr kommt, desto mehr bringt er ihre eisige Fassade zum Schmelzen …


  • Erscheinungstag 06.04.2023
  • Bandnummer 360
  • ISBN / Artikelnummer 0853230360
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Rose de Winter, Louisa George, Miranda Lee

ROMANA EXKLUSIV BAND 360

1. KAPITEL

Die Seele reist dem Körper hinterher. An diesen Satz musste Julia denken, als sie aus dem Flugzeug stieg, das sie gerade aus dem trüb verregneten London in ein strahlend sonniges Sevilla katapultiert hatte. Ob der Satz von den Indianern oder den Aborigines stammte, wusste sie nicht mehr, aber doch, was er bedeutete: Wenn man sich zu schnell bewegt, kommt die Seele nicht mehr mit.

Und wenn zu viel im Leben passiert, dann auch nicht mehr, dachte Julia und biss sich auf die Lippen, um die Tränen zu unterdrücken. Nun konnte sie nicht einmal mehr lesen, wo sich das Gepäckband befand. Sie blinzelte entschlossen die Tränen fort und folgte den Schildern durch die Halle des kleinen spanischen Flughafens, der wie eine beschauliche Oase wirkte nach dem Labyrinth in London-Heathrow. Die durch die großen Fenster hell strahlende Sonne erschien ihr wie eine Verheißung.

Nein, keine Träne würde sie Finn mehr nachweinen, keine Träne mehr weinen wegen der Fehlgeburt. Es war ja noch nicht einmal eine richtige gewesen. Sie war gerade erst in der sechsten Woche gewesen, als bei ihr Blutungen einsetzten. Ein Abgang, wie es medizinisch korrekt hieß. Nun denn, sie hatte ihren eigenen Abgang ebenfalls geschafft: So schnell wie möglich war sie aus dem gemeinsamen Loft in London ausgezogen, das Studium zur Wirtschaftskorrespondentin, das sie gerade beginnen wollte, hatte sie auf unbekannte Zeit verschoben, und nun war sie an einem herrlichen Sonnentag Ende März in Sevilla gelandet, mitten im Frühling, der draußen vor den Fensterscheiben auf sie wartete. Und das alles wegen eines Briefes ihrer Großmutter.

Endlich hatte sie das Gepäckband gefunden und starrte auf die Koffer, die an ihr vorbeizogen. Sie atmete den Geruch von spanischem Kaffee und unbekanntem Putzmittel ein und hörte das vertraute Plätschern der spanischen Sprache um sich herum, die sie zwar fließend beherrschte, aber kaum noch sprach, seitdem sie bei ihren Eltern ausgezogen war.

Ihr Trolley wurde bestimmt zuletzt ausgeladen, er war sicher ganz hinten im Laderaum des Flugzeugs verstaut, schließlich hatte sie als Erste eingecheckt aus Angst davor, dass Finn versuchen würde, sie einzuholen und umzustimmen. Sie wusste, wie schnell sie an ihren Entscheidungen zweifelte.

Doch … obwohl. Julia schüttelte gedankenverloren den Kopf: Nie würde sie ihm verzeihen, wie er sich nach dem Verlust des Babys verhalten hatte: Er hatte erleichtert gewirkt! Sie beide wären doch noch zu jung für ein Kind, hatte er ihr erklärt, und mit der Hochzeit sollten sie auch noch zwei Jahre warten, bis sie die Ausbildung beendet hätten. Sie war erst zweiundzwanzig Jahre, aber sie war bereit. Bereit für eine Heirat, bereit für ein Kind. Zugegeben, das war recht jung, aber sie fand nicht, dass mit einem Kind das eigene Leben aufhörte, so wie Finn es immer darstellte. Sie waren schließlich schon fünf Jahre zusammen. Finn war finanziell so gut gestellt, dass es egal war, wann sie heirateten.

Als jedoch der Brief ihrer Großmutter eingetroffen war, hatte sie plötzlich das Unausgesprochene verstanden, das in der Luft hing: „Verlass ihn, denn er hat dich schon längst verlassen. Er weiß es nur noch nicht!“ Als Julia diesen Satz las, wusste sie, dass ihre Großmutter mit ihrer einmaligen Menschenkenntnis mal wieder ins Schwarze getroffen hatte: Finn liebte sie nicht mehr, konnte sich das aber nicht eingestehen. Und mit dieser Gewissheit spürte sie selbst: Sie liebte ihn auch nicht mehr. Das wusste sie jetzt. Ihre Geschichte war zu Ende.

Dass ihre Großmutter sie in demselben Brief in einem wichtigen Anliegen um Hilfe bat, kam Julia wie gerufen. Sie hatte eine Richtung und wusste, wohin sie der Weg aus ihrer Vergangenheit führte: raus aus London, rein nach Sevilla – zumindest, bis sie wieder klar denken konnte.

Wie einen persönlichen Schatz hatte Julia den Brief ihrer Großmutter umklammert gehalten, den ganzen Weg im Taxi nach Heathrow, durch den Londoner Flughafen und im Flugzeug selbst. Auch jetzt in Sevilla hielt sie ihn noch fest, als wäre er der entscheidende Freibrief für ein neues Leben.

„Ach Yaya“, entfuhr es ihr, als sie auf die Koffer starrte, die an ihr vorbeizogen, während das Bild ihrer Großmutter vor ihrem inneren Auge auftauchte. Yaya kannte keine Zweifel. Julia musste in sich hineinlächeln, als sie an die zierliche, eigenwillige Person dachte, von der sie als Kind angenommen hatte, dass sie mindestens eine Königin wäre.

Und so unrecht hatte sie damit ja nicht: Elena de Aragon, Duquesa de Villahermosa war Herzogin aus einem alten Adelsgeschlecht Andalusiens. Doch diese Señora mit dem sonnigen Gemüt, der kehligen Stimme und dem heiseren Lachen wollte stets nur Yaya von ihr genannt werden, so wie kleine Kinder in Andalusien ihre Großmutter nennen.

Als Julia sie einmal Granny nannte, wurde sie, auch wieder typisch Yaya, richtig wütend: „Hör auf, mich Granny zu nennen, ich bin kein grimmiger, alter Keks!“, fuhr sie ihre Enkelin mit ihrem starken spanischen Akzent an, auf dass sie es nie wieder wagte, sie so anzureden.

Julia kicherte bei dem Gedanken und bemerkte daher zu spät, wie eine gebräunte Männerhand geradewegs vor ihrer Nase ihren Koffer wegschnappte. Sie sah gerade noch, wie der große Mickey-Mouse-Aufkleber, den ihr Finn vor einer halben Ewigkeit auf ihren metallgrauen Trolley geklebt hatte, aus ihrem Blickfeld verschwand. Julia erschrak und umfasste unwillkürlich ihre Handtasche. Diebstahl war in Sevilla leider keine Ausnahme, wie sie wusste. Ihr Blick folgte der Hand, die einem jungen gut aussehenden Mann mit lockigem Haar gehörte, der sie um zwei Köpfe überragte und in einem sehr gut geschnittenen Anzug steckte.

„Der gehört wohl Ihnen“, sprach der Mann sie auf Englisch an, sein spanischer Akzent war kaum zu erahnen.

„Allerdings!“, antwortete sie in ihrem besten castellano, darum bemüht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ein Dieb fragte wohl kaum nach dem Besitzer, bevor er sich aus dem Staub machte.

„Woher wissen Sie, dass das mein Koffer ist?“, fragte sie und nahm sich vor, endlich diesen peinlichen Mickey Mouse-Aufkleber abzumachen.

„Nun, es war der letzte auf dem Band“, antwortete der Fremde ebenfalls auf Spanisch. Dabei zog er eine Braue hoch, während er aus dunkelbraunen schräg geschnittenen Augen so intensiv auf Julia herabblickte, dass ihr seltsam warm wurde.

„Er ist jetzt schon eine Weile Karussell gefahren. Ich wollte nicht vorschnell eingreifen und das Schauspiel unterbrechen, aber verzeihen Sie, ich habe noch zu tun, Señorita Julia.“

Er grinste schief und sprach das „J“ ihres Namens sehr kehlig aus. Das machte es nicht unbedingt besser. Julia wurde etwas schwindlig. Wie konnte dieser Fremde sie gleichzeitig bloßstellen, sich über sie lustig machen und mit ihr flirten? Und woher kannte er überhaupt ihren Namen?

„Wir kennen uns. Ich bin Rafael!“, antwortete der Fremde, als wäre das die Antwort auf alle Fragen. Er verbeugte sich leicht und überreichte ihr einen Zweig, der übersät war mit rosafarbenen, zart süß duftenden Blüten.

Die Sonne schien mit einem Mal heller. Julia war plötzlich wieder zwölf Jahre alt und stand im Patio ihrer Großmutter. Ein Junge überreichte ihr zum Abschied einen Mandelblütenzweig, strahlte sie mit einem schiefen Grinsen an, gab ihr einen Kuss auf die Wange und lief dann weg.

„Rafael!“, rief Julia und lächelte ihn an.

„Na, endlich“, antwortete Rafael trocken mit erneut hochgezogener Augenbraue und einem warmen Lächeln, und schon wieder überfiel Julia ein leichter Schwindel, als würde sie kopfüber Fahrstuhl fahren. Wieso hatte sie ihn nicht gleich erkannt? Jeden Sommer hatten sie zusammen verbracht, bis sie zwölf war. Seine Familie, adelig wie die ihre, verwaltete das Anwesen ihrer Großmutter und wohnte ebenfalls dort. Er war fünf Jahre älter und hatte schon damals seine Späße mit ihr getrieben.

Julia fühlte sich plötzlich so leicht und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

„Meine Seele hat mich eingeholt“, sagte Julia und strahlte.

„Cómo?“, fragte Rafael verständnislos.

Julia lachte auf: „Ach, kennst du das nicht, dass die Seele nach einem Flug erst eine Weile braucht, bis sie den Körper eingeholt hat?“

„Ich bin eher katholisch als esoterisch“, antwortete Rafael, während er wieder den Koffer aufnahm und mit der anderen Hand in Richtung Ausgang zeigte. „Dort entlang.“

Julia hielt, so gut es ging, mit Rafael Schritt, der mit seinen langen Beinen ein ziemliches Tempo an den Tag legte.

„Warum ist meine Großmutter nicht mitgekommen, um mich abzuholen?“, fragte Julia, die es wirklich erstaunte, dass ihre liebe Yaya sie nicht selbst am Flughafen in die Arme schloss.

„Duquesa Elena schafft es nur mit viel Mühe die Treppen herunter. Dich vom Flughafen abzuholen, wäre eine zu große Strapaze für die Señora gewesen.“

„Äh ja, natürlich“, antwortete Julia schuldbewusst. Schließlich hatte ihr Yaya selbst davon geschrieben, dass sie nicht mehr so gut auf den Beinen war – und nicht nur das: Duquesa Elenas körperlicher Zustand war genau genommen der maßgebliche Grund, warum sie Julia hierhergebeten hatte. Wie konnte Julia nur annehmen, sie würde sie vom Flugzeug abholen? Manchmal fand sich Julia einfach schrecklich naiv.

Nachdem der Koffer verstaut war und Rafael ihr in den Wagen geholfen hatte, sank Julia in den weichen Sitz des Mercedes zurück. Sie hatte schon vermutet, Rafael würde einen dieser sportlichen Flitzer fahren, aber er hatte einen soliden Kombi, natürlich einen der Luxusklasse, aber Julia gefiel diese bodenständige Haltung zu Autos. Rafael lenkte den Wagen geschickt aus dem Flughafengelände heraus. Als hätte er ihre Gedanken erraten, erklärte er: „Ich muss oft etwas für das Museum transportieren oder für die Flamencoschule. Da eignet sich der Kombi einfach besser als irgend so ein Sportwagen.“

Julia pflichtete ihm bei: „Ach, ich mag es lieber bequem als gefährlich!“

„Tatsächlich?“, fragte Rafael sie, drehte sich zu ihr um und blickte sie unergründlich an, ein schiefes Lächeln auf den Lippen, während sich eine Haarsträhne aus seinem lockigen dunkelbraunen Zopf löste und ihm ins Gesicht fiel.

Julia fühlte, wie sie rot und ihr gleichzeitig ziemlich heiß wurde. Sie setzte sich etwas aufrechter hin, was machte dieser Kerl nur mit ihr? „Das war doch einstudiert!“

„Was?“

„Na, das mit der Haarsträhne!“

Rafael lachte auf und konzentrierte sich wieder aufs Fahren, sodass Julia ihn unbemerkt aus dem Augenwinkel beobachten konnte. Er sah wirklich unverschämt gut aus. Schon damals, als sie erst zwölf gewesen war, hatte Rafael ihr gefallen. Er war hübsch, verdammt witzig und schon siebzehn. Wenn sie sich recht besann, war er ihre erste heimliche Liebe gewesen, die sie sich damals nicht mal selbst eingestanden hatte, schließlich waren fünf Jahre Altersunterschied damals gefühlte fünf Lichtjahre.

Und nun saß ein echter Bilderbuch-Latin-Lover neben ihr. Siebenundzwanzig musste er jetzt sein. Lässig und doch wachsam wie ein Raubtier. Da seine schräg geschnittenen Augen auf die Fahrbahn gerichtet waren, konnte Julia die gerade Nase und die aristokratischen Lippen im Profil bewundern. Seine gebräunte Hand mit den langen und doch kräftigen Fingern lag am Schalthebel. Die Schenkel wirkten in seiner Anzughose durchtrainiert und stramm, sein Jackett hatte er geöffnet. Das Hemd saß perfekt an seinem Oberkörper. Wäre es einen Hauch enger, würde sich sicherlich das Sixpack an seinem Bauch abzeichnen. Julia fühlte, wie ihr wieder heiß wurde, obwohl die Klimaanlage beständig surrte. Rafael hatte definitiv nicht die Figur eines Bodybuilders, das wäre viel zu klobig, er hatte die Figur eines Flamencotänzers, schlank und gleichzeitig muskulös, durchtrainiert eben.

Sie dachte daran, wie sie ihn als Siebzehnjährigen hatte Flamenco tanzen sehen, voller Verve und trotzdem grinsend, anmutig, mit kraftvoller Leichtigkeit. Sie nahm damals selbst Stunden, kam sich neben ihm aber lächerlich vor. Niemals hätte sie gewagt, mit ihm zu tanzen. Rafael Gonzales, Conde de Altamira, ein echtes Sahneschnittchen! Julia biss sich auf die Lippen, um nicht dümmlich zu grinsen, und fragte stattdessen: „Tanzt du immer noch?“

„Viel zu selten, meint meine Mutter. Dabei ist die Feria de Abril schon in ein paar Wochen – und ich muss den männlichen Part tanzen. Unsere Schule steht momentan im Ruf, die weltbeste zu sein, und das muss ich repräsentieren. Aber das Museum beansprucht mich gerade auch ziemlich.“

„Welches Museum?“

„Hat dir Duquesa Elena gar nichts davon erzählt? In der Villa deiner Großmutter befindet sich nicht nur die Flamencoschule, sondern auch das erste Flamencomuseum. Wir haben unglaublich schöne Exponate zusammengetragen, alte Kostüme, Schmuck, Instrumente, aber auch Filme, Musikaufnahmen. Vieles zur Geschichte des Flamencos. Es wird sehr gut besucht.“

Rafael drehte sich kurz zu ihr um und lächelte stolz. Julia erriet, dass es sich bei dem Museum um sein ganz persönliches Steckenpferd handelte.

„Und du, Julia? Was führt dich nach Sevilla?“

„Meine Großmutter – sie hat mich eingeladen.“

„Aber warum nicht zur Karwoche Semana Santa oder zur Feria de Abril, dem größten Flamencofest der Stadt? Jetzt ist es doch gar nicht spannend hier. Und müsstest du nicht gerade studieren? Was war es noch mal … Wirtschaftskorrespondenz?“

„Nun, meine Großmutter hat mich gebeten zu kommen, weil …“

Julia hielt inne, fast hätte sie sich verplappert. Dabei hatte ihre Großmutter sie in dem Brief ausdrücklich darum gebeten, anderen gegenüber nichts von ihrer Bitte zu erwähnen. Zumal die Bitte wesentlich mit dem Anwesen der Großmutter zu tun hatte, das vor langer Zeit Rafaels Vater, der Conde de Altamira, gepachtet hatte und seit seinem Tod von Rafael verwaltet wurde.

„Weil?“, hakte Rafael nach.

„… weil sie mich da rausholen wollte.“

„Was?!“, Rafael zog eine Augenbraue hoch und drehte sich zu ihr um.

Julia schluckte: „Die Frage müsste nicht lauten, was führt dich nach Sevilla, sondern: Was führt dich aus London weg …“

Rafael konzentrierte sich weiter auf die öde Straße Richtung Sevilla, und Julia umriss kurz die letzten Wochen, die frühe Fehlgeburt und die Trennung von Finn.

„Das tut mir leid für dich, Julia“, antwortete Rafael sehr ernst und schaute sie an wie jemand, der versteht, was sie durchgemacht hatte.

Julia fühlte sich so verstanden wie lange nicht mehr, denn bis auf ihre Großmutter hatten alle in ihrem Umkreis mit Unverständnis auf die Trennung reagiert.

Julia fand, sie klang sehr erwachsen, als sie sagte: „Ach, wahrscheinlich waren wir eh zu jung. Wer bindet sich schon fest in unserem Alter? Und Kinder können ja auch noch warten.“

Julia war froh, glaubwürdig auf Rafaels Frage geantwortet und dabei das Anliegen ihrer Großmutter nicht verraten zu haben. Ihr Zögern musste auf Rafael so gewirkt haben, als würde sie nicht gern über das persönliche Thema reden. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihm sogar einen kleinen Wink damit gegeben, dass sie … nun ja … solo war? Julia spürte schon wieder, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte, dass Rafael es nicht bemerkte.

Darüber musste sie sich jedoch keine Gedanken machen: Rafael reagierte überhaupt nicht auf ihren letzten Satz, sondern blickte angestrengt geradeaus und erhöhte das Tempo. Mit seinen Händen umklammerte er das Lenkrad, die Knochen traten weiß unter der gebräunten Haut hervor. Die anfängliche Vertrautheit, der fast freundschaftliche Umgang waren wie fort geblasen.

Julia spürte, wie Rafael sich in sich zurückzog und damit eine Mauer des Schweigens zwischen ihnen errichtete. Sie überlegte, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. War es doch zu intim gewesen, die Fehlgeburt und die Trennung von Finn zu erwähnen? Nein, da hatte Rafael noch warmherzig reagiert. War es falsch gewesen, zu sagen, dass sie noch zu jung wäre, um Kinder zu bekommen? Aber sie hatte doch wirklich noch Zeit damit. Fieberhaft suchte Julia nach einer Lösung, wie sie die Stimmung wieder auflockern konnte, und blickte aus dem Fenster.

Langsam näherten sie sich der Stadt, die Dichte an Autos nahm zu, kurz darauf staute es sich. Nichts erinnerte mehr an die leichte Lässigkeit, die Rafael zu Beginn ihrer Begegnung ausgestrahlt hatte. Sein Kiefer war angespannt, seine Augen blickten düster in ein Nirgendwo, das vor ihm lag.

Am liebsten hätte Julia gefragt: „Was ist denn los, was hast du plötzlich?“ Aber diese Frage kam ihr nun zu direkt vor. Sie führten keine Beziehung, sie waren nicht einmal befreundet. Vor zehn Jahren hatten sie sich das letzte Mal gesehen. Rafael hatte ihr einen Mandelblütenzweig geschenkt, damals wie heute, na und? Sie schaute auf den Zweig, der auf ihrem Schoß lag und dessen Blüten schon ein wenig schlaff herabhingen. Wahrscheinlich machte man das so in Sevilla, so wie man sich im Frühling Tulpen schenkt. Wahrscheinlich waren die Mandelbäume schon ganz zerfleddert, weil bei der erstbesten Gelegenheit Zweige abgerissen wurden, um Freunde zu begrüßen oder zu verabschieden. Dieses leichte Kribbeln am Anfang der Begegnung mit Rafael war wahrscheinlich eine Überreaktion von ihr gewesen.

Mein Gott, sie hatte sich doch gerade erst von ihrem langjährigen Freund getrennt. Ihr Körper spielte verrückt wegen des Hormonabfalls durch die abgebrochene Schwangerschaft. Dass sie gerade nicht besonders attraktiv wirkte, konnte sich Julia ja denken. Trotzdem fände sie es zumindest nett, wenn er nun nicht ganz so schweigsam wäre. Was ging nur in ihm vor?

Rafael murmelte einen heftigen spanischen Fluch, als die vor ihm schleichenden Autos zum Stillstand kamen. Das nahm Julia als Stichwort: „Haben wir es eilig?“, hörte sie sich fragen.

Rafael blickte sie nicht an, als er antwortete: „In zehn Minuten beginnt eine Auktion, bei der einige kostbare Flamencoreliquien versteigert werden. Einige der Stücke interessieren mich sehr.“

„Oh, das tut mir leid“, antwortete Julia bedrückt. Sie hatte das Gefühl, dass sein Stimmungsumschwung nicht allein daher rührte, aber weiter nachfragen wollte sie lieber nicht.

„Macht nichts“, antwortete Rafael mit einem leicht gezwungenen Lächeln. „Es wird nicht die letzte Auktion sein. Hier staut es sich immer. Ich hatte schon befürchtet, es nicht zu schaffen.“

„Vielen Dank, dass du es auf dich genommen hast, mich abzuholen. Ich hätte auch ein Taxi nehmen können“, murmelte Julia schuldbewusst.

„Oh, wahrscheinlich würdest du noch immer auf das Gepäckband starren, und Duquesa Elena wäre halb verrückt vor Sorge. Sie hat mich dringend gebeten, dich abzuholen. Abgesehen davon hätte ich es mir auch nicht nehmen lassen, das kleine Mädchen aus England zu chauffieren.“

Julia wollte schon entrüstet antworten, dass sie noch jung, aber keineswegs ein kleines Mädchen war, als sein Blick und das entwaffnende Lächeln sie verstummen ließen.

Sei bloß vorsichtig, Julia! Du weißt gar nichts von ihm. So wie er aussieht, ist sein Handyspeicher voller weiblicher Kontakte. Finn reicht. Verlier bloß nicht dein Herz an diesen Don Juan.

Julia ließ Rafaels letzte Bemerkung unkommentiert und blickte auf der Suche nach einem neutraleren Thema wieder aus dem Fenster. Vom Wetter zu sprechen verbot sich angesichts der sengenden Sonne.

Endlich hatten sie das Stadtgebiet erreicht, das nach den Neubausiedlungen langsam die Form des alten Stadtkerns annahm. Die roten Fahnen der Stadt leuchteten hier und da auf, bedruckt mit dem seltsamen, gelben Schriftzug „No 8 Do“. Julia hatte ihre Frage gefunden: „Was bedeutet der Schriftzug auf den Fahnen der Stadt?“

Rafael warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu, bevor sich seine Augen wieder auf das intensive Fahrgeschehen richteten.

„Du bist die Enkelin der Duquesa de Villahermosa und weißt das nicht?“

„Sollte ich es?“, antwortete Julia ein klein wenig schnippisch. Sie mochte es nicht, wenn man so tat, als müsste sie über etwas Bescheid wissen, wovon sie keine Ahnung hatte.

„Nun ja, schließlich ist es so eine Art Familienwappen!“

„Wie bitte?“

„Hast du die Duquesa niemals ‚No me ha dejado!‘ sagen hören?“

„Oh, mindestens gefühlte tausend Mal“, seufzte Julia. Sobald es um Treue, Anstand, Charakterfestigkeit oder einfach nur um Julias Hausaufgaben ging, hatte Yaya ihr den Satz mit einem Funkeln in den Augen entgegengeschleudert.

„Das bedeutet ‚Du hast mich nicht verlassen‘, oder?“

„Ja“, sagte Rafael: „Das ‚No‘ auf der Fahne leitet den Satz ein. Die Acht symbolisiert nicht nur ewige Verbundenheit, sondern auch das spanische Wort für Wollknäuel: ‚madeja‘, das ‚Do‘ beendet den Satz.“

„Aber das heißt ja dann ‚No madeja do‘.“

„Ja, so hört sich: ‚Du hast mich nicht verlassen‘ umgangssprachlich auf Spanisch an.“

„Und was hat dieser Satz mit Sevilla, meiner Großmutter und mir zu tun?“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als Rafael, der den Blick wieder auf die Straße gerichtet hatte, begann: „Es war einmal ein König aus dem Mittelalter. Er hieß Alfons, der Zehnte, genannt Alfonso, el sabio, der Weise. Er hat das castellano zur Landessprache gemacht, indem er Nationalliteratur in Auftrag gab. Märchen, Lieder, Geschichten. Er war klug, und er war ein Spieler. Er war leidenschaftlich, und er wollte zu viel. Ein Mann, ein spanischer Mann.“

„Hat er sich verliebt?“

„Oh, ja, viele Male, aber darum geht es nicht. Seine große Liebe galt der Macht. Er war König von Kastilien und León, aber das reichte ihm nicht. Er wollte mehr. Er war ein geschickter Schachspieler, er schrieb sogar ein Buch darüber: ‚Das Buch der Spiele‘ heißt es, und wird noch heute verlegt. Aber die Schachzüge seines Lebens gingen meist nach hinten los: Er wollte König von Rom werden, was damals sozusagen die Weltherrschaft bedeutete, und verlor. Als er versuchte, die spanische Nation zu einen, wurde er von seinen Söhnen und anderen Adligen entthront. Hier in Sevilla durfte der Geächtete im Exil leben. Er hat der Stadt mit diesem Ausspruch ‚No me ha dejado‘ für ihre Treue gedankt. Er war ein unglaublich geistreicher und kluger Mann und hat die spanische Lehre und Literatur so geprägt wie kein anderer.“

„Wieso weißt du so viel über ihn?“, fragte Julia beeindruckt.

„Nun, ich bin hier aufgewachsen.“ Rafael lachte. „Und ich glaube, ich hätte ihn gern kennengelernt. Er war ein sehr facettenreicher Mensch.“

„Aber was hat er mit mir und meiner Großmutter zu tun?“

„Und mit mir! Unsere Adelsfamilien, die Villahermosas und die Altamiras, haben ihn in seiner Bitte um Exil unterstützt. Wir in Sevilla haben ein Herz für die Gefallenen, für die, die das Leben mit Leidenschaft leben. Nicht umsonst ist hier in Andalusien der Flamenco zu Hause. Alfonso wurde vor allem durch Intrigen zurückgedrängt, ich kann nicht sagen, ob es richtig war, ihn zu entthronen. Aber was man heute mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er die spanische Literatur und Sprache maßgeblich vorangebracht hat – und dass er sich wahrscheinlich für zu viele Angelegenheiten zuständig fühlte, dass er dachte, er müsste alles allein regeln …“

Julia musterte Rafaels ansehnliches Profil. Er blickte melancholisch in die Ferne. Sie spürte, dass er eine schwere Last trug.

„Danke für deine spannenden Ausführungen!“, sagte sie und biss sich rasch auf die Lippen. Das war es eigentlich nicht, was sie hatte sagen wollen. Es war viel mehr … Sie hätte noch stundenlang seiner melodischen Stimme lauschen und ihn dabei ungeniert anstarren können.

„Wir sind da.“ Unvermittelt hielt Rafael in einer kleinen Seitenstraße direkt vor dem Eingang des Patios zum Haus der Großmutter.

„Oh“, rief Julia überrascht, löste den Gurt und wollte gerade die Tür öffnen, als Rafael sich zu ihr wandte und sie durchdringend ansah.

Nachdem sie Rafael so lange im Profil gesehen hatte, war sie auf den direkten Blickkontakt nicht gefasst. Sie hatte das Gefühl, seine Augen, die nun noch dunkler schienen, hielten ihre gefangen. In ihrem Kopf, in ihrer Brust, überall verspürte sie plötzlich ein kleines feines Vibrieren, ein süßes Ziehen, von dem sie hoffte, dass es nie aufhören würde. Sie wünschte, dass Rafael sie immer weiter anschauen würde, dass sie in seine Augen hineinfallen könnte und er sie auffangen würde. Verwirrt lächelte Julia, aber Rafael blickte sie weiterhin ernst an.

No me ha dejado heißt für uns Treue, heißt Durchhalten, heißt Hingabe, heißt Liebe! Es ist das, wofür ich lebe, wofür wir alle hier leben.“

Dann löste Rafael den Gurt und stieg behände aus, um ihren Koffer aus dem Kofferraum zu holen. Julia ließ sich zurücksinken und seufzte: Hatte Finn sie je so angeschaut? Kannte er überhaupt so etwas wie Leidenschaft? Julia lächelte. Das verregnete London und die verstockten Engländer hatte sie hinter sich gelassen. Hier war sie im Land des Pathos, der Leidenschaft, der Hingabe. „Sevilla!“, sagte sie leise vor sich hin, und meinte damit auch ein wenig Rafael.

Da erschien sein Gesicht an ihrer Scheibe. Er lächelte schief und öffnete mit einem eleganten Schwung die Tür: „Bienvenido a casa!“

Wenn es doch so wäre, dachte Julia seufzend.

„Vorsicht!“, warnte sie eine kleine Stimme in ihrem Innern.

2. KAPITEL

Der Patio war noch prachtvoller, als Julia ihn in Erinnerung hatte. Die Sonne fiel warm leuchtend hinein. In den Ecken des Hofes standen riesige Töpfe, aus denen bunte Blumen wucherten. Eingerahmt wurde der Innenhof von der dreistöckigen karminroten Fassade der Villa, die im Erdgeschossbereich durch einen Kreuzgang aufgelockert war. Zwischen den weißen Säulen hindurch erkannte Julia im rechten Seitenflügel zwei Eingänge: die halb offene Tür, die den Blick auf die Flamencoschule freigab, und eine zweite weiter hinten, die zum Wohnbereich der Altamiras führte. Im Quergebäude erkannte sie die wundervoll geschnitzte Holztür, die den Eingang zum Museum und zum Wohnbereich ihrer Großmutter markierte, und bemerkte im linken Seitenflügel eine Tür, von der sie nicht mehr wusste, was sich dahinter verbarg. Von den zahlreichen Balkonen der Fassade fielen üppiger Oleander und Bougainvillea herab wie ein Wasserfall aus Blüten. In der Mitte des Innenhofs, in einem aus bunten Steinen arrangierten Mosaik, das wie ein kunstvoller Teppich wirkte, stand ein blühender Mandelbaum, der milden Schatten spendete. Darunter standen ein Holztisch und einige Stühle.

„Wow“, entfuhr es Julia.

Rafael, der mit ihrem Gepäck hinter sie trat, lächelte belustigt: „Ihr sonnenarmen Briten seid leicht zu beeindrucken! Du hast Glück, dass der Winter dieses Jahr so ungewöhnlich lang und kalt war in Sevilla, sonst würde dieser herrliche Baum nicht mehr blühen, und ich hätte dir keinen Zweig mehr bringen können!“

Bevor Julia ihn bitten konnte, nie wieder einen Zweig für sie von diesem malerischen Baum abzureißen, kam aus dem Wohnbereich der Altamiras eine kleine rundliche Frau auf Julia zugelaufen, die Arme ausgebreitet und in einem gebrochenen Englisch rufend: „Unsere Julianita aus dem großen London! Ah, welche Schönheit du geworden bist. Und immer noch die großen Rehaugen und die schönen hellbraunen Locken, und so viele, ahhh! Hab ich es dir nicht gesagt, Rafael? Es una belleza, una preciosa! Eine Schönheit sind Sie, Señorita Julia.“

„Mama“, sagte Rafael lächelnd, „Julia spricht castellano immer noch wie eine Einheimische!“

Julia, die gerade mit zwei herzlichen Wangenküssen und einer kräftigen Umarmung bedacht wurde, lachte: „Gracias! Es ist so schön, Sie wiederzusehen, Condesa Anamaria de Altamira!“

„Schön, sagst du? Und lässt dich zehn Jahre nicht blicken?! Wir hatten schon Angst, dieser englische Dauerregen hat dich ganz britisch werden lassen. Und wie kommst du darauf, mich Condesa zu nennen, mein Herz? Für dich bin ich keine Gräfin, für dich bin ich deine Tía Anamia. So hast du mich früher genannt, so sollst du mich heute nennen. Obwohl es natürlich gut ist, dass ich nicht wirklich deine Tante bin“, sagte Anamaria mit einem verschmitzten Seitenblick auf Rafael.

„Höchstens vierzehnter Grad oder so“, antwortete Rafael und rollte dabei genervt mit den Augen. „Entschuldigt mich, ich muss noch arbeiten. Ich trage dir das Gepäck rasch hoch. Du wohnst im dritten Stock, angrenzend an die Räume deiner Großmutter.“

Julia bedankte sich mit einem Lächeln und wollte den beiden gerade durch die wunderschön geschnitzte Holztür zu ihrer Großmutter hoch in den dritten Stock folgen, als sie das vertraute Klappern von Kastagnetten hörte, dazu ein rhythmisches Stampfen. Julia fühlte sich wie elektrisiert und lief zu der offen stehenden Tür, die den Blick auf den großen Tanzsaal der Flamencoschule freigab. Tatsächlich übte da eine Gruppe junger Mädchen einen der zahlreichen Flamencotänze. Mit ernstem Gesicht klapperten und stampften sie sich synchron durch die Choreografie. Die Lehrerin, eine junge Frau von circa dreißig Jahren, deren langes rotes Haar einen interessanten Kontrast zu ihrem grünen Kleid bildete, stand abwartend im Hintergrund. Kaum waren die Mädchen durch, preschte sie nach vorn und rief: „Chicas! Das soll Flamenco gewesen sein? Roboter legen mehr Seele in den Tanz als ihr. Wo ist die Leidenschaft, wo ist der Ausdruck? Juan!“

Und Juan, der kleine Mann, der mit der Gitarre in der Ecke saß, begann zu spielen. Die Lehrerin drehte sich, dass ihr Rock rauschte, ihre Haare, die zu einem losen Zopf gebunden waren, wirbelten leuchtend um sie herum, ihre stampfenden Füße trommelten auf den Boden, die Kastagnetten lockten. Unvermittelt begann Juan zu singen. Beide steigerten sich, bis die Flamenca nach einem letzten Stampfer und einer Drehung innehielt.

Julia konnte nicht an sich halten: „Bravo!“, rief sie und klatschte. Auch die Schülerinnen klatschten begeistert.

Die Flamenca drehte sich überrascht zu ihr um und nickte ihr leicht lächelnd zu. Wieder an die Mädchen gewandt sprach sie: „Ich will euer Feuer sehen, das, wofür ihr brennt. Die Sevillana ist ein einfacher Tanz, den könnt ihr alle, aber den Ausdruck kann ich euch nicht lehren. Entweder es brennt in euch, oder ihr vergeudet hier nur eure Zeit!“

Julia war so begeistert, dass sie am liebsten in den Saal gelaufen wäre und mitgetanzt hätte. Sie hatte das Gefühl, noch jeden einzelnen der Schritte zu kennen, obwohl es zehn Jahre her war, dass sie zum letzten Mal Flamencounterricht hatte. Erst jetzt spürte sie, wie sehr sie es vermisst hatte, die Musik in sich fließen zu lassen und sie in Drehungen, Schritten, Klatschen und Klappern wieder auszuspucken.

Aber da war ja noch ihre Großmutter! Schuldbewusst machte sie kehrt und rannte die kleine Treppe zum dritten Stockwerk an der Stirnseite des Gebäudes hoch. Hier hatte sich ihre Großmutter eine eigene Dreizimmerwohnung eingerichtet. Der Rest des Anwesens war seit über dreißig Jahren an die Familie Altamira verpachtet, die die Flamencoschule und das Museum betrieben und ebenfalls im Gebäude wohnten.

Für Duquesa Elena war es damals die zweckdienlichste Lösung gewesen, denn sie war aus Liebe nach England gezogen, um dort Julias Großvater zu heiraten und ihre Mutter zur Welt zu bringen. Das alte Familienanwesen zu verkaufen, hatte sie nicht übers Herz gebracht. In ihrer Kindheit verbrachte Julia jeden Sommer auf dem Anwesen. Aber nachdem Julias Großvater vor zehn Jahren erkrankte, unternahmen sie nur noch kleinere Reisen in die Umgebung Londons, an denen der Großvater im Rollstuhl teilnehmen konnte. Als er vor drei Jahren verstarb, zog Duquesa Elena zurück in ihre Heimat.

Schon längst hatte Julia sie besuchen wollen, aber immer kam etwas dazwischen, und schließlich mochte Finn den Süden Europas nicht. Er war mehr der skandinavische Typ, der seinen Urlaub beim Kanufahren im verregneten Norwegen verbrachte. Mit einem leichten Schaudern dachte Julia daran – und wieder einmal fiel ihr auf, was ihre Großmutter ihr schon seit Ewigkeiten predigte: „Du passt dich zu sehr an. Lerne doch einfach du selbst zu sein.“

Aber wer war sie? Dazu fiel ihr nicht viel ein, ganz sicher war sie jedoch nicht so eine leidenschaftliche Flamenca, wie sie sie eben bewundert hatte …

Oben an der Treppe wartete schon ihre Großmutter: Elena de Aragon, Duquesa de Villahermosa, trug einen leichten schwarzen Pulli und einen langen schwarzen Rock. Sie hatte sich eine rote Mantilla, das traditionelle spanische Schultertuch, über die Schultern gelegt. Im ersten Moment erschrak Julia. Die Haare der Großmutter waren nun schon fast alle ergraut; sie war noch schmaler und zierlicher geworden, als wäre sie in sich zusammengeschrumpft. Mit der rechten Hand stützte sie sich auf einen Gehstock, den Julia noch nicht kannte. Ein Blick in ihre Augen verriet Julia jedoch, dass Yaya immer noch die stolze, lebensfrohe, strahlende Persönlichkeit war, die sie kannte.

„Julianita, mi vida!“, rief sie mit ihrer kehligen Stimme und nahm ihre Enkelin in die Arme. „Ah, mein Herz, lass dich anschauen. Du bist noch schöner geworden … und du siehst frei aus! Hat deine Seele Finn ziehen lassen?“

Julia errötete ein wenig: Sie konnte ihrer Großmutter wohl kaum sagen, dass dieses Abbild von Mann, neben dem sie im Auto gesessen hatte, ihr Blut in Wallung gebracht hatte?! Sie lächelte: „Es fühlt sich so gut an, hier zu sein! Und unten habe ich gerade großartigen Flamencounterricht erlebt. Ich hätte am liebsten gleich mitgetanzt.“

Die alte Spanierin schaute sie mit einem seltsam prüfenden Blick an, den Julia schon aus ihrer Kindheit kannte. Als hätte Yaya ihre Gedanken gelesen, breitete sich ein feines Lächeln auf ihrem Mund aus. Ob sie wirklich Gedanken lesen konnte? Julia fühlte, wie sie noch mehr errötete. Erstaunen würde es sie nicht.

Als sich Schritte näherten, rief Duquesa Elena freudig, ohne sich umzudrehen: „Rafael! Ich weiß, du hast einiges um die Ohren, aber bitte sei doch noch so nett und zeige Julia kurz ihr kleines Reich.“

„Aber natürlich, Señora Elena!“, antwortete Rafael warmherzig und führte Julia in einen kleinen Gang nach rechts, der zum Seitenflügel des Hauses führte.

„Solltest du mal später nach Hause kommen und deine Großmutter nicht stören wollen, kannst du den Weg durch das Flamencomuseum nehmen. Hier ist ein Schlüssel zur Tür.“

Er zeigte auf eine kleine, unscheinbare grüne Tür und drückte ihr den Schlüssel in die Hand. „Bitte pass jedoch auf, dass du nichts umstößt oder anfasst. Es sind einige Kostbarkeiten dort gelagert.“

„Natürlich!“, erwiderte Julia etwas verärgert, sie war ja schließlich kein kleines Kind mehr.

Der Gang machte eine leichte Biegung und erweiterte sich zu einem schmalen Vorraum, von dem zwei Türen abgingen. Julia öffnete die eine und fand ein kleines Badezimmer vor, mit einem winzigen Fenster, vor dem zwei Tauben hockten und gurrten. Die zweite Tür führte zu einem sonnendurchfluteten Raum, der fast vollkommen rund war. In ihm standen ein schmiedeeisernes Himmelbett, ein runder Tisch mit zwei Stühlen, ein kleines Regal und ein Kleiderschrank. Ein Balkon gab den Blick auf einen strahlend blauen Himmel frei.

„Was für ein hübsches Zimmer! Besonders das Bett“, rief Julia und ließ sich auf das Bett fallen.

Rafael lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme und blickte lächelnd auf sie herab. Dabei fiel ihm erneut eine Haarsträhne ins Gesicht. Er hatte etwas Hungriges in seinen Augen. Ein hungriger Wolf, und du sitzt hier auf dem Bett … Julia schoss das Blut in den Magen. Sie stand wieder auf und wuchtete den Trolley, den Rafael neben sich abgestellt hatte, zum Schrank.

„Es tut mir leid, dass es hier keine Küche gibt, aber ich nehme an, dass du die Mahlzeiten sowieso mit deiner Großmutter einnehmen willst?“

Julia stellte den Koffer ab, und merkte dabei, wie sich ihr Rock hochzog. Sie spürte Rafaels Blicke im Rücken kribbeln. „Ja, sicher. Danke fürs Tragen“, murmelte sie und drehte sich zu ihm um.

„Gern“, erwiderte Rafael und blickte sie weiterhin so hungrig an, dass sich Julias Magen heftig zusammenzog und sie nicht wusste, ob sie ihn ohrfeigen oder küssen sollte.

„Die Strähne“, murmelte sie.

„Ach ja!“ Rafael grinste, schob sie sich hinters Ohr und ging auf Julia zu.

Da ertönte ein lang gezogener Ruf, der von unten aus dem Hof kam: „Raaaafaaaaaeeeel!“

Rafael hielt inne. Er wirkte, als würde er gerade aus einem Traum erwachen, murmelte: „Entschuldige mich“, und lief die Treppen herab. Julia öffnete die Tür zum Balkon und spähte vorsichtig hinunter. Unten stand die rothaarige Tänzerin, die Arme in die Hüften gestemmt. Rafael bot ihr den Arm an, und gemeinsam verließen sie den Hof durch das Eingangstor, durch das noch vor Kurzem Julia und Rafael hereingekommen waren.

Enttäuscht schloss Julia die kleine Balkontür wieder. Sie hätte sich ja denken können, dass Rafael schon längst vergeben war. Natürlich an eine Flamenca, sinnlich, leidenschaftlich und ihm ebenbürtig.

Doch wieso hat er mich eben so angeschaut? fragte sie sich. Weil er immer so schaut! Bild dir nichts darauf ein …

Julia seufzte, ließ ihren Koffer unausgepackt und lief zurück zu ihrer Großmutter, die es sich inzwischen mit Anamaria bei Kaffee und Kuchen in ihrem Salon bequem gemacht hatte.

„Ist alles zu deiner Zufriedenheit, mein Herz?“, fragte Yaya.

Julia versicherte, dass das Zimmer wunderhübsch sei. Condesa Anamaria drängte sie zu einem Stück Kuchen und etwas Kaffee, auf den sie zwar gar keine Lust hatte, der sie aber stärkte. Nachdem sich die Großmutter erkundigt hatte, ob das Wetter in London immer noch so verregnet sei und ob Julias Eltern wohlauf seien, kam sie zum Kern ihres Anliegens: „Du weißt, meine Liebe, warum ich dich hergebeten habe und was auf dem Spiel steht!“

Julia blickte etwas verlegen zur Condesa. Yaya folgte ihrem Blick und versicherte Julia: „Anamaria ist meine engste Freundin und Vertraute. Sie weiß Bescheid und wird versuchen, uns in jeder Hinsicht zu unterstützen.“

„Das verstehe ich nicht ganz“, sagte Julia verwirrt.

„Nun, es ist so“, begann ihre Großmutter. „Wie ich dir bereits geschrieben habe, versagen meine Beine langsam ihren Dienst. Ich bewältige die drei Treppen kaum noch. Wenn ich mich nicht gänzlich dem Leben verschließen will, muss ich hier ausziehen. Ich will aber diese Villa, mein Geburtshaus, nicht verlassen.“

„Gibt es denn keine andere Möglichkeit, hier unterzukommen?“, fragte Julia nachdenklich. „Das Haus ist doch groß genug.“

„Schon, aber sie haben alle einen Haken“, seufzte die Großmutter. „Einige sind im Umbau sehr teuer, andere hätten persönliche Konsequenzen …“

„Ich verstehe nicht.“

„Nun, der Platz im Parterre ist begrenzt: Vorne befindet sich die Flamencoschule. Im Hinterhaus, geradewegs über den Hof und unter meiner Wohnung, ist in den ersten zwei Stockwerken das Museum untergebracht. In den drei Stockwerken des rechten Seitenflügels liegt die Wohnung der Altamiras. In den ersten zwei Stockwerken des linken Seitenflügels – eigentlich die einzige machbare Option – wohnt Carmela Bautis y Santos. Darüber liegt dein Zimmer.“

„Wer, bitte?“, fragte Julia.

„Unsere Flamencostartänzerin, die hier auch unterrichtet. Vielleicht hast du sie beim Hereinkommen gesehen. Sie fällt sehr auf mit ihren roten Haaren.“

„Ja tatsächlich! Ich habe sie tanzen sehen. Ich war absolut hingerissen.“

„Sie ist zurzeit die beste Tänzerin Andalusiens!“, bestätigte Anamaria.

„Gerade ist sie mit Rafael fortgegangen“, sagte Julia, um die peinliche Stille zu überbrücken.

„Ja“, seufzte Anamaria. „Carmela hat Verhandlungen für einen Auftritt. Rafael soll sie unterstützen. Carmela kann einfach nicht ohne Rafael.“

„Sie sind ein schönes Paar“, gab Julia mit einem kleinen Stich in der Magengrube zu.

Duquesa Elena und Condesa Anamaria tauschten einen ernsten Blick, bevor Elena ihre Enkelin fragte: „Hat Rafael dir erzählt, dass sie ein Paar sind?“

Julia war überrascht über den scharfen Unterton. „Nein, aber das ist doch offensichtlich, oder?“

Anamaria seufzte erneut: „Sie waren mal ein Paar. Carmela wohnt noch immer hier. Gott weiß, warum sie so heftig darauf besteht. Sie hat uns gedroht, den Job zu kündigen, wenn sie nicht mehr hier wohnen darf. Obwohl sie von der Problematik weiß, ist sie nicht bereit, mit Elena die Zimmer zu tauschen. Sie geht oft abends weg, da hat sie wohl Angst, dass sie es die Treppen nicht mehr hochschafft.“

„Wie bitte?“, fragte Julia nach.

„Anamaria!“, wies Elena ihre Freundin zurecht.

„Aber es ist doch wahr, warum soll sie nicht gleich die ganze Wahrheit erfahren?“, antwortete die Condesa schmollend.

„Es ist so, dass Carmela keine Grenzen kennt. Ihre große Leidenschaft macht sie zu einer vortrefflichen Flamenca … aber, nun ja, manchmal ist sie auch recht betrunken“, murmelte Elena etwas verhalten. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm.

„Carmela ist ein Star, sie benimmt sich wie ein Star. Das ist manchmal anstrengend, doch unsere Schule würde erheblich in ihrem Ansehen sinken, wenn die beste Tänzerin nicht mehr bei uns unterrichten, sondern vielleicht eine eigene Schule aufmachen würde, wie sie es Rafael schon angedroht hat“, führte Condesa Anamaria weiter aus.

„Nicht, dass Carmela so etwas je tun würde. Dazu verfügt sie nicht über das organisatorische Können“, warf die Großmutter ein.

„Aber sie könnte jemanden engagieren, der ihr hilft“, gab Anamaria zu bedenken.

„Und ich soll jetzt eine Lösung finden, die es Yaya ermöglicht, weiter in diesem Haus zu wohnen, und die Carmela nicht verärgert?“, fragte Julia, der die Sache gar nicht gefiel.

„Nun, wir dachten, du als angehende Wirtschaftskorrespondentin hast da vielleicht eine Idee“, erklärte ihre Großmutter hoffnungsvoll.

„Elena und ich haben ein Orakel zu diesem Problem befragt, und heraus kam, dass eine junge Verwandte in allen Fragen die Lösung bringen würde“, fügte Anamaria lächelnd hinzu.

Julia glaubte, nicht richtig gehört zu haben: „Und deswegen hast du mich nach Sevilla gebeten?“

„Du bist die einzige junge Verwandte, die wir haben“, fügte Anamaria kleinlaut hinzu.

Julia konnte es nicht fassen: „Ich soll in einer total verworrenen Angelegenheit zwei alten Damen helfen, ihre Ziele durchzusetzen, weil ein Orakel das sagt, obwohl man sich einfach mal mit zwei erwachsenen Menschen, nämlich Rafael und Carmela, zusammensetzen und die Lage erörtern müsste?“

Duquesa Elena lachte kurz auf: „Mein Herz, glaubst du nicht, dass wir das nicht schon versucht hätten? Keiner von beiden ist zu einem vernünftigen Gespräch bereit. Stattdessen verhalten sie sich absolut kindisch. Sie waren noch vor einigen Wochen zusammen. Es ist die reinste Hölle.“

„Genau das ist der Haken: Wer weiß, vielleicht sind sie in ein paar Wochen wieder zusammen und die Wohnsituation steht unter einem ganz neuen Stern“, entgegnete Julia aufgebracht.

„Dios mío!“, rief Anamaria aus und bekreuzigte sich.

„Tut mir leid, aber das ist mir zu verworren!“, gestand Julia.

„Ich gebe dir mein Wort, dass das nicht passieren wird“, antwortete Duquesa Elena ernst. Ob sie dabei Anamaria oder Julia beruhigen wollte, war nicht ersichtlich.

Julia schüttelte den Kopf: „Nein, Yaya, das alles klingt mir nach der Intrige zweier alter Damen. Deine Beine machen nicht mehr mit, das tut mir leid. Aber ich kann das nicht. Ich habe gerade viel durchgemacht, ich will Klarheit in meinem Leben und nicht noch mehr Probleme. So wie ich dich kenne, hast du immer eine Lösung gefunden und wirst es auch diesmal tun. Bitte entschuldigt mich. Ich gehe auf mein Zimmer und werde den nächsten Flug nach London buchen.“

Julia sah, wie ihre Großmutter bei ihren Sätzen förmlich auf dem Sofa zusammenschrumpfte, während sich Tía Anamias Augen ungläubig weiteten. Normalerweise hätte sie mit den beiden Damen nicht so geredet, aber es wurde Zeit, dass sie Stellung bezog. Das würde ihr Leben vereinfachen. Bei Finn hatte sie stets zu lange gewartet und sich dann von seinen Argumenten überzeugen lassen, nur um schließlich das Gefühl zu haben, dass es immer nach ihm ging. Damit war jetzt Schluss. Während sie sich umdrehte und den kleinen Gang zu ihrem Zimmer entlanglief, hörte sie die beiden Freundinnen tuscheln.

„Deine Enkelin ist aber doch sehr britisch geworden, meine Teure!“ Condesa Anamaria seufzte.

„Das mit der Orakelsitzung hättest du vielleicht nicht erwähnen sollen!“, entgegnete Duquesa Elena. „Es klingt für Briten etwas unseriös.“

Julia lächelte in sich hinein, die beiden waren einfach zu köstlich.

Als sie die Tür zu dem kleinen Zimmer aufstieß, hatte sich das Licht etwas verändert. Es fiel nicht mehr gleißend hell hinein, sondern hatte einen goldenen Schimmer bekommen. Julia setzte sich aufs Bett. Schade! Keine einzige Nacht würde sie in diesem schönen Bett verbringen. Die Sonne würde wieder aus ihrem Leben verschwinden, der Regen einkehren, der Geruch nach Mandelblüte sich verflüchtigen, so wie die Leichtigkeit, die sie seit ihrer Ankunft gespürt hatte. Wie oft hatte sie eigentlich schon gelächelt, seit sie gelandet war? Häufiger als in den letzten zwei Monaten. Auf einen Neuanfang hatte sie gehofft, aber nicht so. Sie seufzte. Auch wenn es ihr schwerfiel, so schnell Abschied zu nehmen, sie würde hier nicht Teil eines neuen Problems werden. Sie zückte ihr Smartphone, um die Flüge nach England zu checken, als es an ihrer Tür klopfte.

„Adelante“, rief Julia.

In der Tür stand ihre Großmutter, die ihr sonnigstes Lächeln aufgesetzt hatte. „Ich war schon lange nicht mehr hier. Das war mein Jugendzimmer!“

„Ach wirklich?“, sagte Julia und dachte daran, wie gut das kleine runde Zimmer zu dem zierlichen, schwarz gelockten jungen Mädchen gepasst hatte, das ihre Großmutter einst gewesen war.

„Darf ich?“, fragte Elena und setzte sich neben sie. „Ah, ich fühle mich sechzig Jahre jünger!“

Julia lachte auf. „Du solltest öfter hier hereinkommen.“

Die Großmutter lächelte. „Du weißt … meine Beine.“

Julia schluckte schuldbewusst. „Ja natürlich.“

„Mein Herz, das Tragische am Altern ist, dass du noch möchtest, aber nicht mehr so kannst, wie du willst. Die Kraft schwindet. Ich bin dankbar und glücklich, dass mein Leben so voller schöner Erinnerungen ist …“ Duquesa Elena straffte ihren Rücken, bevor sie weiterredete: „Aber du hast recht, ich werde eine Lösung finden, auch wenn es mir schwerer fällt als früher. Ich bin alt geworden, Julianita. Doch darüber wollte ich nicht mit dir reden. Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich stolz auf dich bin.“

„Wie bitte?“, fragte Julia.

„Du vertrittst deinen Standpunkt, auch wenn er ein unbequemer ist. Das gefällt mir. Zu lange wolltest du es immer allen recht machen.“

„Ach, Yaya“, sagte Julia und seufzte. „Ich weiß nicht, was mein Standpunkt ist. Ich weiß nur, dass ich nicht schon wieder Teil eines Problems sein möchte.“

Die Großmutter lächelte. „Man kann ein Leben voller Probleme führen oder ein Leben voller Spiel! Alfonso, el sabio, hat ‚Das Buch der Spiele‘ geschrieben. Ein Buch über Schach. Ich habe es erst kürzlich gelesen. Du weißt, wie gern ich mit deinem Großvater gespielt habe. Hätte ich es früher gelesen, hätte ich vielleicht öfter gewonnen.“

„Von diesem Buch hat mir schon Rafael im Auto erzählt. Worauf willst du hinaus, Yaya?“

„Ach, hat er?“ Duquesa Elena lächelte.

„Nun, Schach bringt dich zum Nachdenken: Wie gehst du das Leben an? Siehst du ein Problem und rennst weg? Willst du nichts damit zu tun haben? Oder nimmst du es als Herausforderung an und überlegst dir eine Lösung?“

„Eben noch hast du gesagt, du wärest stolz auf mich, weil ich meinen Standpunkt klar vertreten habe.“

„Ja, das meinte ich auch so! Und ich habe dich nicht wegen des Orakels gebeten zu kommen. Das ist für mich eher eine Art Spielerei, aber Anamaria hat nicht unrecht, wenn sie sagt, dass es uns schon oft als Wegweiser gedient hat …“

„Und wieso wolltest du, dass ich komme?“

„Du bist eine angehende Wirtschaftskorrespondentin. Du möchtest lernen zu vermitteln, vielleicht auch ungewöhnliche Lösungen in einem Konfliktfall zu finden, oder? Es herrscht selten Einigkeit im Leben, fast immer geht es darum, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle leben können. Du wirst gut darin sein, Julianita, das weiß ich. Sieh doch diese Situation als eine Art Praktikum, in dem du prüfen kannst, wie sehr dir das Verhandeln liegt und wie geschickt du darin bist, Kompromisse zu finden. Lerne Schach spielen und spiele es mit Freude, dann lernst du auf ganz neue Art das Leben zu meistern.“

„Aber die ganze Situation birgt schon so viel Konfliktpotenzial“, seufzte Julia.

„Nein“, sagte die Großmutter, „die Situation ist eigentlich ganz einfach: Ich will etwas, Carmela will etwas anderes. Es muss eine Lösung gefunden werden, die bezahlbar ist und den Fortbestand der Schule und des Museums sichert. Ich glaube, du bringst einen ganz frischen Blick auf die Sache.“

„Weil das Orakel es gesagt hat?“, murrte Julia.

„Weil ich dich kenne, mein Herz. Lass dich auf die Herausforderung ein und lerne dich ein wenig mehr kennen … Ach, und habe ich schon erwähnt, dass du die Verhandlungen mit Rafael führen wirst?“

„Was?“, piepste Julia.

„Rafael ist seit dem Tod seines Vaters für all das verantwortlich. Es ist dir doch nicht unangenehm, mit ihm zu reden, oder?“

„Nein, oder doch, in gewisser Weise schon“, druckste Julia.

„Er gefällt dir!“ Yaya lachte auf.

„Nein, überhaupt nicht“, blockte Julia etwas zu schnell ab und biss sich dann auf die Lippen. „Also, er sieht natürlich gut aus, aber er ist sehr ironisch. Ich glaube nicht, dass ich ihm gewachsen bin.“

Mi vida, du siehst auch sehr gut aus. Ein Mann und eine Frau … so ist das nun mal. Sollte er anziehend auf dich wirken, umso besser. Das ist eine gute Übung für dich, bei deinen Verhandlungen zu bleiben und damit umzugehen.“

Julia lachte, als hätte ihre Großmutter einen Scherz gemacht, aber eigentlich lachte sie, weil der Abschiedsschmerz, der sie schon ergriffen hatte, sich verflüchtigte. Warum nicht? Warum sollte sie nicht ein bisschen Konfliktmanagement betreiben? Yaya hatte recht. Es würde ihr helfen, zu lernen, wie sich eigene und andere Interessen miteinander vereinbaren ließen. Wenn sie zukünftig in ihrem Studium Erfolg haben wollte, war dies sicherlich eine gute Vorbereitung. Und mit Rafael Verhandlungen zu führen, war ganz sicher ein gutes Training. Julia spürte ein Kribbeln in sich, als Rafaels Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte. Sie wandte sich an ihre Großmutter: „Gut, ich mach’s. Ich mache es für dich, weil ich möchte, dass du noch einige schöne Jahre in deinem Haus verbringst, Yaya. Außerdem kann ich sicher was dabei lernen, aber ich kann dir nichts versprechen.“

Elena strahlte. „Das brauchst du nicht, mi vida!“

„Großmutter?“

„Ja, mein Herz?“

„Danke, dass du diesmal nicht darauf gepocht hast!“

„Worauf?“

„No me ha dejado!“

Die Duquesa lachte auf: „Ah, mein Ruf zu Pflicht und Treue! Ich wollte nicht, dass du es für mich tust, sondern ich wollte, dass du verstehst, dass du es für dich tust! Spannende Zeiten liegen vor uns!“ Sie zwinkerte ihrer Enkelin zu und verließ zu Julias Erstaunen wesentlich agiler als zuvor das Zimmer.

3. KAPITEL

Das Gurren der Tauben, die warme Brise des Frühlings und das goldene Licht, das sie selbst mit geschlossenen Augen wahrnahm, weckten Julia am nächsten Morgen. Als sie die Augen aufschlug, mischten sich das Rot der Geranien auf ihrem kleinen Balkon und das unendliche Blau des Himmels. Das hier ist das Paradies! Sie war ihrer Großmutter dankbar, dass sie sie umgestimmt hatte. Sie war dankbar für den kleinen Spaziergang, den sie gestern in der Abendsonne noch durch die malerischen Gassen des alten Stadtkerns unternommen und bei dem sie sich fast verlaufen hatte, dankbar für das heitere Abendessen mit Elena und Tía Anamia bei Tapas und Wein, Flamencoklängen und vielen Anekdoten aus ihrer Kindheit.

Sie hatte tief geschlafen, war nur einmal von einem Rumpeln hochgeschreckt, dem ein wüster Fluch gefolgt war. Als sie daraufhin hörte, wie Rafael leise auf jemanden einredete, ahnte sie, was passiert war. Die Flamenca war offenbar an einen der Stühle unter dem Mandelbaum gestoßen. Die beiden waren beim Abendessen nicht anwesend gewesen. Rafael hatte seine Mutter informiert, dass er einen grandiosen Deal für Carmela ausgehandelt hatte und sie darauf bestand, ihn zu einem Dinner einzuladen. Julia war es nur recht gewesen. Die Augenblicke, die sie am Tag mit Rafael geteilt hatte, hatten ihrem Herz einige Hüpfer und ein paar Dämpfer versetzt.

Schon wieder spürte sie dieses Ziehen in der Magengegend, als sie daran dachte, wie er hier im Zimmer lässig am Türrahmen gelehnt hatte und ihm die Strähne ins Gesicht gefallen war. Wie es wohl wäre, neben ihm aufzuwachen und dieses Gesicht ganz nah neben dem ihren liegen zu sehen? Nein! So weit durfte sie nicht denken. Mit einem Ruck schwang sie sich aus dem Bett. Heute war Sonntag, aber morgen schon würde sie mit Rafael Verhandlungen führen. Julias Euphorie verebbte. Ob das wirklich so eine gute Idee war?

„Du bist ihm nicht gewachsen!“, meldete sich die Stimme in ihr.

Na, wenn schon, dann werde ich eben an ihm wachsen! dachte Julia trotzig und schlang sich ihre üppigen Locken zu einem strengen Dutt.

Nach einer erfrischenden Dusche schlüpfte Julia in ein rosa Kleid, dessen Farbe an die Mandelblüten erinnerte und das zugleich bequem wie angenehm figurbetont geschnitten war. Sie klopfte an die Tür zum Wohnbereich ihrer Großmutter und trat zögernd ein, da niemand antwortete. Auf dem Couchtisch lag ein Zettel, auf dem ihre Großmutter sie mit ihren großen zackigen Buchstaben darüber informierte, dass sie sich in Begleitung von Condesa Anamaria auf den Weg zur Kirche gemacht hatte. Ob ihre Großmutter wirklich allein den Weg schaffte? Julia beschloss, den beiden Damen zu folgen.

Beschwingt lief sie die Stufen hinab und durch den kleinen Patio, als sie ein anerkennendes Schnalzen hörte. Julia wandte sich empört um. Da bemerkte sie Rafael lässig lächelnd mit einem Buch und einem cafécito unter dem Mandelblütenbaum sitzen, und es fiel ihr wieder ein: Das Schnalzen mit der Zunge ersetzte hier den Zuruf „Hey“ oder „Hallo“. Frauen wie Männer nutzten es, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Es war auf seine Art viel diskreter, wenn man es gewohnt war.

„Buenos días“, sagte Julia und entspannte sich.

„Guten Morgen, Mandelblütenmädchen. Wohin des Wegs?“, erwiderte Rafael mit einem Blick auf ihr Kleid.

Julia spürte, wie ihr Gesicht die Farbe des Kleides annahm. „Zu meiner Großmutter!“

„Vergiss Wein und Kuchen nicht!“

Julia brauchte einen Moment, um zu verstehen: „Dann bist du der Wolf?“

„Vielleicht …“, antwortete Rafael verführerisch grinsend und klappte das Buch zu, in dem er gerade gelesen hatte. „Möchtest du einen Kaffee?“

„Nein, ich sollte lieber …“

„Zur Großmutter?“ Rafael grinste breit. „Keine Sorge, Duquesa Elena geht es hervorragend. Juan, der Gitarrenspieler, hat die Duquesa und meine Mutter vor einer halben Stunde abgeholt. Sie fahren zur Messe und setzen sich dann an den Guadalquivir, wie jeden Sonntag. Es ist sozusagen ihr Highlight der Woche. Du kannst hier ruhig ein paar Blumen pflücken oder einen cafécito mit mir trinken, bis sie zurück sind.“

„Ich nehme gern einen Kaffee“, willigte Julia ein, die sich dem köstlichen Kaffeegeruch nicht widersetzen konnte.

„Un momentito“, sprach Rafael, schwang sich geschmeidig wie ein Raubtier hoch und lief in den Seitenflügel der Altamiras. Julia konnte nicht umhin, die Eleganz seiner Bewegungen zu bewundern. Erst jetzt nahm sie wahr, dass Rafael wesentlich entspannter und gelöster wirkte als tags zuvor. Er trug ein leichtes weißes, langärmeliges Shirt mit feinen Querstreifen in Dunkelblau, dazu eine schmal geschnittene Jeans und blau-weiße Segeltuchschuhe. Die Haare hatte er zu einem lockeren Zopf gebunden. Wie sie es schon geahnt hatte, war Rafaels Körperbau athletisch, doch wie der eines Tänzers mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Wie musste es sich anfühlen, diese Schultern zu umfassen und an sich zu ziehen? Julia fühlte, wie verräterische Hitze ihren Körper durchrieselte. Hör auf mit deinen Schwärmereien!

Als Rafael kurz darauf zurückkam, trug er nicht nur ein Glas frischen Café con leche, sondern auch einen Teller mit geröstetem Brot und Olivenöl. Julia nahm sich dankbar eine Scheibe, streute Salz darauf, goss etwas Öl aufs Brot und biss hinein: „Köstlich!“

„Und ich dachte schon, du würdest auf schwarzen Tee und Rührei mit Speck und Bohnen bestehen …“, sagte Rafael und lächelte verschmitzt.

„Bloß nicht.“ Julia lachte. „Ich bin wahrscheinlich die einzige Britin, der davon schlecht wird.“

„Halb-Britin!“ Rafael schmunzelte.

Julia, die bemerkte, dass Rafael immer noch lächelte, fragte: „Du wirkst so glücklich, freust du dich noch über den Deal?“

Rafael beugte sich ein wenig näher zu ihr hin: „Sollte ich nicht glücklich sein beim Anblick des Mandelblütenmädchens?“

Julia senkte errötend den Blick und lenkte vom Thema ab: „Wieso bist du nicht mit in die Kirche gegangen?“

Rafael lehnte sich wieder zurück und nahm noch einen Schluck Kaffee. „Manchmal gehe ich mit. Ich mag die Gesellschaft der drei, sie sind sozusagen meine Familie, aber ganz ehrlich: Hier unter dem Mandelblütenbaum an einem Sonntag fühle ich mich Gott näher als in einer Kirche.“

„Bist du tatsächlich so gläubig?“, rutschte es Julia heraus.

Rafael lachte auf: „Ich bin nicht fromm und auch nicht keusch, wenn du das meinst. Ich gehe auch nicht ständig in die Kirche. Ich glaube an die Heiligkeit der Dinge, an das Leben, an die Schönheit. Ich mag das Einfache lieber als das Prächtige, das Leise ziehe ich dem Lauten vor.“

„Ist das nicht sehr ungewöhnlich für einen Sevillaner?“, fragte Julia, die nicht zugeben wollte, dass sie sich in seinen Worten wiederfand.

„Ich weiß nicht. Ich bin froh, dass ich heute nicht arbeite. Ich liebe meine Arbeit, aber der Sonntag ist mir heilig.“

Julia lachte auf. Wie oft hatte Finn sie am Sonntag wegen wichtiger Termine versetzt und sie danach zur Entschuldigung in teure Bars ausgeführt, an denen ihr nichts lag.

Rafael blickte sie fragend an. „Ist das so merkwürdig?“

„Du musst heute gar nicht arbeiten?“

„Nach der Siesta macht das Museum auf. Manchmal führe ich Gäste herum, aber meist macht das meine Mutter. Sie liebt es und kann dazu herrliche Anekdoten erzählen. Ich bin eher der, der sammelt, ordnet, reflektiert … Möchtest du es sehen?“, fragte Rafael unvermittelt.

„Was?“

„Das weltweit erste Museum zur Geschichte des Flamencos. Sie bekommen eine Privatführung, Duquesa Julia!“

Julia zögerte einen Moment. Am liebsten wäre sie hier im Hof unter dem Mandelbaum mit Rafael sitzengeblieben und hätte ihm zugesehen, wie er langsam den Löffel in seinem Kaffeeglas rührte, statt durch dunkle kühle Gänge zu gehen. Doch sie spürte, wie viel ihm die Sammlung bedeutete, also antwortete sie: „Ja gern!“

Rafaels leuchtende Augen gaben ihr recht. Er beeilte sich, die Reste des Frühstücks in die Küche zu bringen, holte die Schlüssel und hielt Julia feierl...

Autor

Rose De Winter
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Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney. Miranda ging auf eine Klosterschule....
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