Romana Exklusiv Band 374

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  • Erscheinungstag 04.05.2024
  • Bandnummer 374
  • ISBN / Artikelnummer 0853240374
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Cathy Bell, Jessica Gilmore, Maureen Child

ROMANA EXKLUSIV BAND 374

1. KAPITEL

„Muss ich mir einen neuen Job suchen?“ Michelle sah Lynn aus großen Augen fragend an.

Lynn Brown kannte ihre Mitarbeiterin mittlerweile gut genug, um die Sorge hinter der vorgetäuschten Gelassenheit herauszuhören. „Nein“, sagte sie mit möglichst fester Stimme. „Ich lasse mir etwas einfallen, wie ich das Geld auftreiben kann.“ Dass sie nur noch einen Monat Zeit dafür hatte, ließ sie lieber ungesagt.

Michelle spürte natürlich, dass Lynn ihr etwas verschwieg, und warf ihr einen zweifelnden Blick zu, ehe sie sich einer Kundin zuwandte, die gerade den Laden betrat.

Lynn brauchte einen kurzen Moment, um sich von dem Gespräch zu erholen. Dass Michelle längst bemerkt hatte, wie schlecht es um ihren Laden bestellt war, erschütterte sie. Hatte Michelle etwa ein Gespräch belauscht? Oder merkte man es Lynn so deutlich an, wie sehr sie die Situation belastete?

Sie brauchte drei Atemzüge, bis sie sich wieder auf die Arbeit konzentrieren konnte. Gerade dekorierte sie die Sommerkollektion in den Vitrinen. Eine Aufgabe, die ihr normalerweise Spaß machte, ihr heute aber viel abverlangte. Mit jeder Kette, jedem Ring wurde sie jedoch entschlossener. Ja, sie liebte ihren Job – und sie würde dafür kämpfen. Ihren Mut und Kampfgeist hatte sie schon bewiesen, als sie aus England geflohen war und ihrer Familie den Rücken gekehrt hatte.

Auf Capri hatte sie eigentlich nur durchatmen wollen, doch als sie den kleinen Schmuckladen direkt an der Piazzetta gesehen hatte, wusste sie es sofort: Dieser Laden war ihre Rettung. An der Scheibe hatte ein kleiner Zettel gehangen. „Zu vermieten“. Also hatte sie den Laden kurzerhand übernommen und ihn zu dem gemacht, was er heute war. Ihr eigenes Reich. Ein gut laufendes Geschäft. Und ihr Leben.

Sie würde nicht einfach aufgeben, bloß weil ihre Vermieterin die Ladenmiete erhöht hatte. Wenn es nur ein wenig mehr gewesen wäre, hätte Lynn kein Problem gehabt. Doch die Erhöhung war so riesig, dass sie ihr das Genick zu brechen drohte.

Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, war Schluss mit dem schönen Geschäft. Nächsten Monat konnte sie das Geld noch aufbringen, aber dann … dann sah es schlimm aus.

Natürlich hatte sie mit ihrer Vermieterin diskutiert. Viele, viele Male schon. Doch der Vertrag lief diesen Monat aus, und die Mieterhöhung war rechtlich in Ordnung. Lynn hatte sicherheitshalber einen Anwalt eingeschaltet, aber der hatte ihr kaum Hoffnung gemacht.

Der Druck, der schon die ganze Zeit auf ihrem Magen lastete, wurde immer unangenehmer. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Mitarbeiterin kündigen. Außerdem wollte sie sich nicht von ihrem Laden trennen oder gar die Insel verlassen. Sie wollte hierbleiben. Und schon gar nicht konnte sie sich vorstellen, als gescheiterte Existenz nach England zurückzukehren.

Beim Gedanken daran begannen ihre Hände zu zittern. Hastig legte sie das letzte Schmuckstück an seinen Platz und schloss die Vitrine. In ihrer derzeitigen Verfassung konnte sie einfach nicht konzentriert arbeiten.

Zu viele Sorgen. Zu viele unlösbare Probleme. Die Mieterhöhung war leider nicht das Einzige, was sie in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Ihre Mutter hatte auch schon wieder angerufen und nach Geld gefragt.

Schluss jetzt mit den finsteren Gedanken, dachte sie streng und richtete sich auf. Das Glöckchen an der Ladentür klingelte leise und kündigte Kundschaft an. Ein Mann kam herein, was eher ungewöhnlich war. Lynn hatte das Schmuckgeschäft sehr feminin eingerichtet. Alles war in cremefarbenen, weißen und zartrosa Tönen gehalten, was Männer normalerweise vom Betreten des Ladens abhielt.

Dieser schien auch nicht ganz genau zu wissen, was er überhaupt hier wollte. Er war direkt hinter der Eingangstür stehen geblieben und ließ den Blick suchend über die Vitrinen und filigranen Regale gleiten. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug über einem grauen Hemd. Eine Krawatte fehlte, was ihn lässig, aber gleichzeitig schick aussehen ließ. Durch seine Größe und aufrechte Haltung schien er ihr kleines Geschäft sofort zu dominieren. Lynn schätzte ihn auf über einen Meter neunzig.

Ihre Blicke begegneten sich. Lynn fühlte augenblicklich ein seltsames Kribbeln in ihrem Inneren. Normalerweise war sie niemand, der beim Anblick eines attraktiven Mannes weiche Knie bekam. Doch dieser Mann brachte sie aus dem Konzept.

Er hatte einen intensiven Blick und das sichere Auftreten eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Weil er zusätzlich noch ziemlich gut aussah, schlug ihr Herz schneller. Sein schwarzes Haar trug er vorne etwas länger. Er hatte es sich mit etwas Gel aus dem Gesicht gestrichen, was ihm wirklich gut stand. Mit einem angedeuteten Lächeln nickte er in ihre Richtung und ging auf sie zu.

Seltsamerweise verblasste sein Lächeln immer mehr, je näher er kam, bis es schließlich ganz verschwunden war. Lynn beschloss, das zu ignorieren. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie freundlich.

Der Mann antwortete nicht sofort, sondern starrte sie nur an, blinzelte nicht einmal. Langsam ließ er seinen Blick über ihr Haar, ihr Gesicht und bis zu ihrer Taille gleiten – und wieder zurück. Als er ihr erneut in die Augen blickte, zog Lynn eine Augenbraue hoch. „Alles in Ordnung?“, fragte sie übertrieben freundlich. Die intensive Musterung war ihr höchst unangenehm.

Erst jetzt schien ihm aufzufallen, wie unhöflich er sich gerade verhielt. Er straffte sich, und eine leichte Röte überzog seine gebräunte Haut. Mit einem charmanten Lächeln versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen. „Bitte entschuldigen Sie mein Benehmen. Aber Sie sehen jemandem, den ich kenne, so ähnlich, dass es fast schon unheimlich ist.“

„Wirklich? Wem denn?“

„Meiner Ex-Verlobten.“ Er sagte das in einem so düsteren Tonfall, dass Lynn gar nicht nachfragen musste. Die Beziehung war eindeutig nicht im Guten zu Ende gegangen.

„Oh“, brachte Lynn überrascht hervor. „Das … tut mir leid.“ Kaum hatte sie das gesagt, hätte sie sich selbst ohrfeigen können. Tut mir leid? Was für eine dumme Bemerkung! Bevor sie noch mehr ins Plappern kam, sollte sie lieber zum Geschäftlichen zurückkehren. „Wonach suchen Sie denn?“

„Ich möchte meiner Schwester eine Kette schenken. Zur Hochzeit. Mit einem Anhänger, am besten mit einem kleinen Herzen. Sie wurden mir als Goldschmiedin empfohlen.“ Sein Blick machte jedoch deutlich, dass er sich den Laden anders vorgestellt hatte.

Lynn war diese Reaktion gewohnt. Die meisten Leute erwarteten von einem Schmuckgeschäft in der Nähe der berühmten Piazzetta di Capri ein sehr edles und modernes Design. Sie hatte das Geschäft jedoch ganz nach ihrem persönlichen Geschmack eingerichtet, der eher romantisch verspielt war. Dazu gehörten blau-weiße Terrakottafliesen, eine cremefarbene Couch und rosafarbene Tulpen auf einem kleinen Tischchen in der Mitte. Sie bot klassischen Schmuck für Touristen an, die kleine Erinnerungsstücke aus dem Urlaub mit nach Hause nehmen wollten, hatte aber auch extravagante Stücke für eine elegante Klientel im Angebot.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, sagte Lynn mit einem Lächeln und führte den Mann in einen Nebenraum. Hier bewahrte sie die edleren Schmuckstücke auf. Er beobachtete sie dabei, wie sie drei kleine Schachteln aus einer Schublade nahm und die Kostbarkeiten auf dem Glastisch ausbreitete.

Das erste Herz war aus Kristall und auf eine sehr verspielte Art verschlungen. Das zweite war winzig klein und in einem dunklen Goldton gehalten. Lynn war sich jedoch sicher, dass er das dritte Herz nehmen würde. Sie hielt es ihm hin.

Es war ein etwa daumengroßes Medaillon in Herzform, das in sich wiederum weitere Herzen trug und mit kleinen Diamanten besetzt war. Es wirkte filigran und war doch voller kleiner Details. Die Steine glitzerten geheimnisvoll.

„Es ist eines meiner Lieblingsstücke“, sagte sie leise und lächelte, als sie das Funkeln in seinen Augen bemerkte. Dieser Ausdruck bedeutete meistens, dass der Kunde genau das gefunden hatte, wonach er suchte.

„Ich nehme es“, erklärte er schon Sekunden später. Dass er nicht nach dem Preis gefragt hatte, sprach für sich. „Es ist perfekt. Haben Sie das gemacht?“

Lynn nickte und spürte, dass sie leicht rot wurde.

„Sie sind wirklich eine Künstlerin“, sagte er jetzt mit einer Stimme, die ihr Herz höherschlagen ließ. Schweigend sah er ihr dabei zu, wie sie das Herz kunstvoll als Geschenk einpackte, und folgte ihr dann zur Kasse. Als sie den Preis nannte, zuckte er nicht mal mit der Wimper. Er reichte ihr lediglich seine Kreditkarte. Dabei ruhte sein Blick noch immer nachdenklich auf ihrem Gesicht.

Lynn versuchte sein merkwürdiges Verhalten zu ignorieren, aber so ganz funktionierte es nicht. Ihr Herz schlug zu schnell, und ihr Atem beschleunigte sich automatisch. Als sie ihm die Rechnung mitsamt dem Geschenk über den Tresen reichte, schien er ihr noch etwas sagen zu wollen.

Er öffnete kurz den Mund, schloss ihn dann aber wieder. „Ich danke Ihnen“, sagte er lediglich und wandte sich ab.

Lynn atmete tief durch und schalt sich selbst eine Närrin. Seit wann gingen ihr beim Anblick eines attraktiven Mannes die Nerven durch? Sie war schließlich keine sechzehn mehr. Doch gleich darauf machte ihr Herz einen erneuten Hüpfer. Der Kunde hatte sich kurz vor der Tür wieder umgedreht und kam zu ihr zurück. Diesmal wirkte er irgendwie entschlossen, fast finster.

„Ich würde Ihnen gerne ein Angebot machen. Ich hoffe, Sie verstehen es nicht falsch.“ Er sah sie aus seinen blauen Augen fragend an, schien auf eine Antwort zu warten.

„Okay“, sagte sie zögernd.

Er deutete auf den separaten Raum. „Können wir uns in Ruhe unterhalten? Allein?“

Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das wollte. Eigentlich wirkte der Mann vertrauenerweckend, aber sein Verhalten war doch etwas seltsam. Was sollte das für ein Angebot sein? „Geschäftlich oder privat?“, fragte sie misstrauisch.

„Geschäftlich.“

Sie nickte und bedeutete ihm, an ihr vorbeizugehen. Dabei warf sie Michelle einen intensiven Blick zu. Pass auf den Laden auf, bedeutete sie ihr mit einem Nicken in ihre Richtung. Und pass auf mich auf, setzte sie noch mit einer etwas gequälten Grimasse hinzu.

Nathan war kurz davor, einen Rückzieher zu machen. Was tat er hier? Die Idee war ihm spontan eingefallen. Was ihm jedoch im ersten Moment genial vorgekommen war, erschien ihm auf einmal lächerlich.

Der Gedanke verflog, als die Goldschmiedin zu ihm in den Raum kam. Sofort zog sich sein Magen zusammen. Ihr Anblick rief alte Erinnerungen wach. Schöne und schlechte gleichermaßen. Ihr Lächeln verursachte ein Kribbeln an seinem ganzen Körper und ließ ihn gleichzeitig seine Einsamkeit noch heftiger spüren. Die Goldschmiedin wirkte herzlicher, als er es von Maggie in Erinnerung hatte. Und doch war das Lächeln täuschend ähnlich.

„Setzen wir uns“, sagte die Frau freundlich und deutete auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Er mochte ihre Art zu sprechen. Melodisch, fast schon ein Singsang. Auch Maggie hatte auf diese Weise geredet. Zumindest am Anfang. Zuletzt war sie immer verschlossener geworden, bis sie kaum noch mit ihm geredet hatte.

„Ich bin Nathan Shannon“, sagte er und streckte ihr die Hand hin. Er beobachtete, wie sie etwa zwei Sekunden brauchte, um seinen Namen zuzuordnen. Zögernd nahm sie seine Hand.

„Shannon? Von Shannon-Waters?“, fragte sie mit großen Augen. Die Familie war auf der gesamten Insel berühmt, immerhin war sie der größte Arbeitgeber der Umgebung. Es war ungewöhnlich, dass sich ein Biotech-Konzern auf einer kleinen Insel niederließ, aber aus irgendwelchen Gründen war Capri schon seit langer Zeit der Firmensitz.

„Mein Vater ist der Firmengründer, ich bin der leitende Geschäftsführer“, erklärte Nathan knapp. Er mochte es nicht, wenn die Menschen vor Ehrfurcht erstarrten, sobald er sich vorstellte. Die Frau erholte sich zum Glück recht schnell und deutete wieder auf den Stuhl.

„Dann bin ich jetzt umso gespannter, was ein Biotechkonzern-Chef von einer einfachen Goldschmiedin will“, sagte sie mit einem charmanten Lächeln. Anders als bei vielen anderen Menschen sah er keinerlei Gier in ihren Augen. Viele Menschen witterten sofort das große Geschäft, sobald er seinen Namen erwähnte. Sie schien da anders zu sein und wirkte lediglich neugierig.

In der Sekunde entschied er sich und setzte alles auf eine Karte. „Sie sehen meiner Ex-Verlobten ähnlich. Sehr ähnlich. Dadurch sind Sie möglicherweise in der Lage, mich aus einer unangenehmen Situation zu retten. Meine Schwester heiratet in zwei Wochen hier auf Capri. Die gesamte Familie kommt zusammen, es wird das Event des Jahrhunderts. Auch meine Verlobte wird erwartet, nur ist sie seit gut einem halben Jahr nicht mehr mit mir liiert. Das habe ich allerdings meiner Familie gegenüber bislang nicht erwähnt.“

Er unterbrach sich, als er die ungläubige Miene der Goldschmiedin sah. Sie hatte eine Augenbraue hochgezogen und wirkte alles andere als begeistert. Eher entsetzt. „Ich möchte, dass Sie meine Verlobte spielen“, brachte er dennoch heraus. „Ich werde Sie dafür natürlich bezahlen. Sehr gut sogar. Sie müssen mir nur zwei Wochen lang Ihre Zeit zur Verfügung stellen.“

Er wartete. Hielt den Atem an. Ihr Gesicht wirkte im ersten Moment seltsam starr, sodass er nicht erkennen konnte, was sie dachte. Dann jedoch verdunkelte sich ihre Miene.

Langsam stand sie auf und deutete zur Tür. „Raus“, sagte sie mit blitzenden Augen.

Nathan gab ihr noch drei Sekunden, um es sich anders zu überlegen. An ihrer Körperhaltung erkannte er jedoch, dass er sie mit seinem Angebot tödlich beleidigt hatte. Sie würde sich nicht darauf einlassen. Niemals.

Ein wenig war er erleichtert. Die Idee war Wahnsinn und hätte vermutlich nur zu noch mehr Chaos geführt. Jetzt hatte er es wenigstens versucht. Bevor er ging, zog er eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche und schrieb bedächtig eine Zahl mit sehr vielen Nullen auf die Rückseite.

„Das ist mein Angebot. Überlegen Sie es sich und rufen Sie mich an. Jederzeit.“ Er schob ihr die Karte zu und sah sie eindringlich an. „Damit wir uns richtig verstehen: Es geht lediglich darum, vor meiner Verwandtschaft meine Verlobte zu spielen. Alles völlig jugendfrei.“

„Raus!“ Diesmal schrie sie ihn an.

Er wusste, wann er sich geschlagen geben musste. Also nickte er ihr zu und ging. Wie es schien, blieb ihm jetzt keine andere Wahl, als seine Familie zu enttäuschen. Schon wieder.

Lynn blieb wie erstarrt zurück und starrte auf die Visitenkarte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Vor Wut ballte sie die Hände fest zusammen, rang aber gleichzeitig mit ihrer Neugierde. Sie sollte die Karte direkt wegschmeißen, ohne einen Blick darauf zu verschwenden. Egal wie viel er ihr bot: Sie würde sein unverschämtes Angebot ohnehin nicht annehmen.

Es war entwürdigend! Und dennoch … sie brauchte dringend Geld. Wenn sie nicht bald eine Lösung fand, kämen noch viel entwürdigendere Momente auf sie zu. Sie müsste Michelle kündigen. Den Laden aufgeben. Nach England zurückkehren.

Bevor sie sich bremsen konnte, schnappte sie sich die Karte. Nein! Sieh nicht darauf, sondern wirf sie sofort weg! Sieh nicht drauf!

Doch es war zu spät. Ein Blick, schon stand ihre Welt kopf. Mit dieser Summe könnte sie den Laden für sehr, sehr lange Zeit pachten – trotz der erhöhten Miete. Sie könnte auch ihrer Mutter helfen und sich dann von ihr lösen.

Zwei Wochen … Was waren schon zwei Wochen, wenn dadurch die eigene Existenz gerettet werden konnte? Andererseits würde sie sich und ihre Prinzipien verkaufen, wenn sie sich darauf einließe. Allerdings hatte Nathan Shannon durchaus vertrauenswürdig gewirkt. Wie ein Mann, der sein Wort hielt.

Spontan traf sie eine Entscheidung. Sie lief los, quer durch den Laden zur Eingangstür. „Du musst mal für zwei Stunden übernehmen“, rief sie Michelle zu. Die Antwort hörte sie nicht mehr, denn sie war bereits zur Tür hinaus.

Draußen sprang sie sofort die Hitze des Tages an. Zweiunddreißig Grad. Ein ganz normaler Augusttag auf Capri.

Hastig sah sie nach rechts und links, suchte nach Nathan Shannons großer Gestalt. Zum Glück war er noch nicht über alle Berge, sie entdeckte ihn keine drei Meter entfernt. Zu ihrer Verwunderung schien er sie bereits bemerkt zu haben, denn er hatte sich zu ihr umgedreht und sah sie fragend an.

„Wir sollten miteinander reden“, sagte sie zu ihm. „Wir müssen die Details klären, bevor ich zusage.“

Einen Moment lang wirkte er schockiert. Als hätte er niemals mit ihrer Zusage gerechnet. Oder als wäre ihm sein eigenes Angebot im Nachhinein furchtbar unangenehm. Doch der Moment der Verwirrung verflog. Lächelnd kam er zu ihr zurück und bot ihr seinen Arm an. „Kommen Sie. Ich lade Sie ein.“

Er führte sie geradewegs zu einer der exklusiven Bars an der Piazzetta di Capri. Zu dieser Tageszeit war der Platz von Touristen überlaufen, was Nathan jedoch nicht zu stören schien. Hier, im Schatten der Turmuhr, schlug das Herz der Insel. Die bunten Markisen überspannten den kleinen Platz, ließen ihn einladend wirken. Lynn mied den Platz sonst eher, da er meist überfüllt war. Sie gab jedoch zu, dass er durch die sandfarbenen Gebäude ringsum einen ganz besonderen Charme hatte. Es war ein behaglicher und geschützter Ort.

Nathan suchte ihnen einen Platz am Rande des Getümmels und bestellte auf Italienisch zwei Espressi. Lynn war noch immer so nervös, dass sie dankbar für seine Eigeninitiative war.

„Möchten Sie auch etwas essen?“, fragte er.

Lynn schüttelte den Kopf. Wenn sie ehrlich war, wollte sie am liebsten sofort wieder gehen und Nathan Shannon nie wiedersehen.

„Ihnen gefällt mein Angebot überhaupt nicht“, stellte er schließlich fest. Er musterte sie so intensiv, dass sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte.

„Ich komme mir schäbig vor, wenn ich das Angebot annehme“, sagte sie schließlich leise. „Schäbig und käuflich. Aber – und das gebe ich wirklich nicht gern zu – ich brauche das Geld.“ Sie sah ihm an der Nasenspitze an, dass er gerne nachgefragt hätte. Doch er schien sich zu zügeln, wofür Lynn ihm dankbar war. Sie wusste nicht, was sie ihm hätte sagen sollen. Dass ihr Laden in Gefahr war, ging niemanden etwas an.

„Falls es Sie tröstet: Ich bin selbst entsetzt darüber, dass ich Sie überhaupt gefragt habe. Es war eine Schnapsidee“, sagte er ernst.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Heißt das, Sie ziehen Ihr Angebot zurück?“

Einen Moment lang dachte er angestrengt nach, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Das Angebot steht. Was sind Ihre Bedingungen?“

Der Kellner servierte ihnen den Kaffee. Das gab Lynn Zeit, kurz nachzudenken. Als er fort war, sah sie Nathan streng an. „Wenn ich mich darauf einlasse – und das ist noch nicht klar –, dann gibt es keine körperlichen Annäherungsversuche. Verstanden? Keinen Kuss, keine Komplimente, die ich falsch verstehen könnte, kein Gefühlschaos. Das alles muss rein geschäftlich sein. Professionell.“

Er nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Wie er so dasaß, wirkte er ganz wie der Geschäftsmann, der gerade die Konditionen für einen großen Deal aushandelte. Er verströmte Macht und pure Dominanz. Lynn war irritiert, weil ihr das gefiel. Normalerweise war sie eher genervt von Männern mit einer derartigen Ausstrahlung. Bei ihm wirkte sie jedoch nicht machohaft, sondern sexy.

„Wir werden in einem Zimmer schlafen müssen. In einem Bett“, stellte er klar. „Sonst weiß meine Familie sofort Bescheid.“

Lynn blinzelte überrascht. Natürlich. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg und sich ihr Puls beschleunigte. Ihr Mund wurde trocken.

Offenbar hatte Nathan ihre heftige Reaktion auf seine Worte bemerkt, denn er schmunzelte amüsiert. „Ich bin ein Gentleman. Dass wir in einem Bett schlafen, muss Sie nicht beunruhigen. Es wird keine unangebrachten Bemerkungen geben, keine unangemessenen Berührungen, kein wildes Geknutsche. Ich müsste allerdings Ihre Erlaubnis haben, in der Öffentlichkeit Ihre Hand halten zu dürfen, Sie mal in den Arm zu nehmen, Sie …“ Er unterbrach sich mit einem tiefen Seufzer, senkte den Kopf und kniff sich mit den Fingern in die Nasenwurzel. „Ich sehe schon. Das wird nichts“, stellte er trocken fest.

Lynn musste über seine verzweifelte Miene lachen. „Nein. Ich glaube, wir lassen es doch lieber“, bestätigte sie. Die Idee war viel zu verrückt, als dass sie sich hätte umsetzen lassen. Natürlich brauchte sie das Geld. Aber nicht um jeden Preis.

In dieser Sekunde lief eine junge Frau freudestrahlend auf sie zu. Sie trug ein gelbes Sommerkleid mit Spaghettiträgern und einen sündhaft teuer aussehenden Hut. Ihre blauen Augen blitzten vor Freude, als sie sich geradewegs an Nathans Hals warf.

„Nathan! Du bist ja schon da“, rief sie aufgeregt. Sie umarmte ihn überschwänglich. Nathan wirkte zunächst völlig überrascht, erwiderte dann aber die herzliche Begrüßung.

Sekunden später hatte sich die junge Frau von ihm abgewandt und musterte Lynn neugierig. „Du musst Maggie sein. Ach, ich freue mich so, dass wir uns endlich kennenlernen. Nathan hat schon so viel von dir erzählt.“

Ehe Lynn sich wehren konnte, lag sie bereits in den Armen der Fremden. Sie roch nach Blumen und Meer – und nach Familie. Ein Stich ging durch Lynns Herz.

Die junge Frau schob Lynn etwas von sich, um sie eingehender zu mustern. Dass sie mit ihrer ausladenden Handtasche fast die Tassen vom Tisch fegte, schien sie nicht einmal zu bemerken. „Du bist wirklich so schön, wie Nathan immer erzählt. Er hat nur vergessen zu erwähnen, was du für tolle Augen hast. Ach, ich bin so glücklich, dass du es doch geschafft hast, zu meiner Hochzeit zu kommen!“ Sie drückte Lynn noch einmal fest an sich und sprang dann zurück, um sich einen Stuhl heranzuziehen.

Diese Frau glich einem Tornado.

„So, Brüderchen. Da bist du also klammheimlich auf die Insel gekommen, ohne uns die genaue Ankunftszeit zu sagen. Ich kann das verstehen. Mum ist völlig konfus, Dad brummt nur noch vor sich hin, und Stella keift jeden an, der ihr über den Weg läuft.“ Sie zwinkerte Nathan verschwörerisch zu, dann sah sie auf und winkte einer anderen Frau am Ende des Platzes zu. „Mum! Hier drüben! Nathan hat Maggie mitgebracht. Komm schnell!“

Nathan warf Lynn einen glühenden Blick zu. Sie sah reine Panik und vollkommene Ratlosigkeit darin. Ihr war klar, dass sie nur noch Sekunden hatte, um alles richtigzustellen. Sekunden, die alles entscheiden würden. Sollte sie Nathan bloßstellen? Oder half sie ihm aus der Klemme?

2. KAPITEL

Nathans Mutter trug wie immer ein himmelblaues Kostüm, das perfekt saß. Auch ihre blonden Locken sahen aus, als wäre sie gerade direkt vom Friseur gekommen. Doch obwohl sie sorgfältig geschminkt war, bemerkte Nathan die Schatten unter ihren Augen und ihre blasse Haut. Seine Mutter hatte sich noch immer nicht von der letzten schweren Herzattacke erholt. Seine Brust wurde enger, als sie herüberkam. Die letzten Monate waren schwer für sie alle gewesen, vor allem, weil er nicht auf Capri gewesen war und so wenig hatte helfen können.

Was würde sie sagen, wenn sie hörte, dass es mit Maggie schon wieder vorbei war? Die Frau, die er nach all den Jahren endlich in sein Leben gelassen hatte? Die Frau, die seine Familienmitglieder bereits ins Herz geschlossen hatten, obwohl sie ihr noch nie begegnet waren?

Seine Mutter erreichte den Tisch. Er stand sofort auf, um sie zu begrüßen, und sie umarmten einander fest. Seine Schwester organisierte währenddessen einen vierten Stuhl.

Lynn saß steif auf ihrem Platz und blickte ihn panisch an. Er sah die Frage in ihren grünen Augen. Was sollte sie tun? Gerne hätte er ihr darauf eine Antwort gegeben, doch auch er wusste nicht weiter. Trotzdem öffnete er den Mund, um alles richtigzustellen, da wandte sich seine Mutter so freudestrahlend an Lynn, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben.

„Ich freue mich, endlich die Frau kennenzulernen, die meinen Sohn aus seiner Einsamkeit geholt hat. Das konnte ich wirklich nicht mehr mitansehen. Schrecklich. Nach Noras Tod hat er sich so eingeigelt, dass wir schon dachten, er lässt niemals wieder eine Frau in sein Herz. Ich bin so glücklich!“ Auch sie drückte Lynn an sich.

Die sah Nathan über den Rücken seiner Mutter hinweg hilflos an und formte lautlos die Worte „Tun Sie was!“ Er tat so, als hätte er sie nicht verstanden – und schwieg.

Seine Mutter setzte sich endlich und winkte vergnügt den Kellner heran. Vor Aufregung hatte sie sogar einen Hauch Farbe auf den Wangen. Sie bestellte für sich und ihre Tochter Cappuccino und wandte sich dann wieder Lynn zu.

„Wann bist du angekommen? Ich darf doch ‚du‘ sagen, oder? Nathan hat immer so viel von dir erzählt, da habe ich fast den Eindruck, dich persönlich zu kennen.“

Da war er. Der Moment. Die letzte Sekunde, um noch alles richtigzustellen. Nathans Herz klopfte schmerzhaft. Er wusste, dass es falsch war. Die ganze Situation entglitt seiner Kontrolle, verselbstständigte sich. Doch er sah in die glücklichen Gesichter seiner Familie, spürte ihre Aufregung und die Hoffnung, dass jetzt alles gut werden würde. Er brachte es einfach nicht übers Herz, sie nach all den schrecklichen Dingen, die in der Vergangenheit passiert waren, erneut zu enttäuschen.

Lynn nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie lächelte. Zwar zögerlich, aber es kam von Herzen. „Natürlich können wir uns duzen. Ich bin nur gerade etwas überfordert von eurer stürmischen Art.“

Seine Schwester lachte daraufhin glockenhell auf und knuffte Nathan in die Seite. „Das sagt Nathan auch immer. Entschuldige. Ich bin Emma, aber das hast du sicherlich längst erkannt. Und das ist Elizabeth, Nathans und meine Mutter.“

„Freut mich. Ich bin …“ Sie zögerte nur eine Sekunde, dann straffte sie sich und sah Nathan direkt an. „Ich bin Maggie. Und ich bin schon ganz gespannt, euch endlich alle kennenzulernen.“

Hinterher hätte Lynn nicht mehr sagen können, wie sie diese heikle Situation hinter sich gebracht hatte. Zum Glück übernahmen Emma und Elizabeth das Reden. Lynn brauchte eigentlich nur dabeizusitzen und zuzuhören. Emma erzählte begeistert von ihren Hochzeitsvorbereitungen, während Nathan dazu meistens nur nickte und nicht viel sagte.

Sein Blick ruhte fast die ganze Zeit auf Lynn. Fragend. Fast verzweifelt. Aus einer Schnapsidee war Realität geworden. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Nach einer guten Stunde verabschiedeten sich die beiden Frauen. „Bis gleich dann in der Villa“, sagte Elizabeth zu Lynn. „Oh, ich freue mich so, dir alles zeigen zu können. Du wirst begeistert sein!“

Und dann, so schnell wie sie aufgetaucht waren, waren sie fort. Sie nahmen den Frohsinn und die Ausgelassenheit mit sich und hinterließen eine bedrückende Stille, die weder Nathan noch Lynn durchbrechen wollten.

Stattdessen sahen sie einander schweigend an, bis Nathan schließlich tief Luft holte. „Es tut mir sehr leid“, sagte er leise. „Das lief irgendwie anders als geplant.“

Im ersten Moment wollte Lynn ernsthaft darauf antworten, aber dann musste sie lachen. So herzlich, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Es war ein befreiendes Lachen, das tief aus ihrem Herzen kam. „Was war das denn?“, gluckste sie. „Ihre Familie ist ja einnehmender als jeder Sturmtrupp!“

Nathan blieb noch ein paar Sekunden lang ernst, dann musste auch er lachen. „Ja, sie sind ziemlich speziell. Aber es heißt jetzt nicht mehr Ihre Familie, sondern deine.“ Er reichte ihr übertrieben feierlich die Hand. „Ich bin Nathan. Dein Verlobter. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Lynn wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und straffte sich. Sie nahm seine Hand, die warm und angenehm beruhigend war. „Ich bin offenbar jetzt Maggie. Meinen Nachnamen kenne ich allerdings noch nicht.“

„Maggie Bingham. Du kommst aus London. Bitte sag mir, dass du da schon mal gewesen bist.“

Der Stich, der durch ihr Herz ging, war heftiger als erwartet. Allein die Erwähnung ihrer alten Heimat ließ sie innerlich erbeben. Es waren nicht alles nur schlechte Erinnerungen. Nicht ganz. Aber überwiegend.

„London kenne ich sehr gut.“ Sie kniff die Lippen fest zusammen, um das ungute Gefühl zu verdrängen. London. Es würde schwer werden, darüber zu reden, sollte sie jemand darauf ansprechen.

Nathan schien ihr Unbehagen zu bemerken, doch er hakte nicht weiter nach. Stattdessen winkte er den Kellner heran, um zu bezahlen. „Du musst packen“, erklärte er ruhig. „Meine Familie erwartet dich in unserer Villa.“ Er sah sie schweigend an, dann legte er sehr sanft eine große Hand auf ihre. „Danke“, sagte er schlicht.

Lynn schluckte schwer. „Keine Intimitäten“, erinnerte sie ihn. „Und du bezahlst mich dafür.“

Er nickte.

„Dann lass uns gehen. Du musst mir möglichst viel über deine Familie erzählen. Und ich muss meiner Mitarbeiterin irgendwie erklären, dass ich die nächsten Tage nicht im Laden auftauchen werde.“

Michelle platzte zwar vor Neugierde, fragte aber in Nathans Anwesenheit nicht nach den Gründen für die Abwesenheit ihrer Chefin. Lynn trug ihr auf, den Laden zu den gewohnten Zeiten zu öffnen, ihn aber früher zu schließen. Sie konnte es ihr nicht zumuten, eine Überstunde nach der nächsten zu leisten. Was ihr dadurch an Einnahmen entging, würde Nathans Geld ausgleichen. Die dringendsten Aufgaben, die Lynn sonst übernahm, notierte sie für Michelle auf einem Zettel. Alles andere musste warten, bis sie zurück war.

Danach fuhren sie zu ihrem Apartment, damit Lynn ein paar Sachen packen konnte. „Soll ich helfen?“, fragte Nathan, doch Lynn lehnte ab. Ihr war es unangenehm, wenn er ihre heruntergekommene Wohnung zu Gesicht bekam. All ihre Ersparnisse flossen entweder in den Laden oder gingen nach England zu ihrer Mutter. Da blieb kein Geld übrig, um sich auch nur den kleinsten Luxus zu gönnen. Lynn teilte sich die Wohnung mit einer Mitbewohnerin, die sie allerdings so gut wie nie zu Gesicht bekam.

Kaum war sie in ihrem Zimmer, begann sie hastig zu packen. Ihre Garderobe würde kaum gut genug sein, um den eleganten Maßstäben von Nathans Familie gerecht zu werden. Aber egal, das konnte sie jetzt ohnehin nicht ändern. Also faltete sie so schnell wie möglich ihre hübschesten Kleider zusammen und räumte ihren Badezimmerschrank vollkommen leer. Danach schrieb sie ihrer Mitbewohnerin eine kurze Notiz und war nur eine halbe Stunde später wieder draußen.

Nathan wartete auf sie, lässig lehnte er an seinem schwarzen SUV. Touristen durften auf Capri kein Auto fahren. Das galt zum Glück nicht für die Einheimischen. Er nahm ihr den kleinen Koffer ab und zog fragend die Augenbrauen hoch. „So wenig?“, erkundigte er sich freundlich.

Lynn schoss wie immer in solchen Situationen die Röte in die Wangen. „Ich habe nicht viel, was mir passend für deine Familie erschien“, erklärte sie schüchtern.

Er nickte. „Wir werden einkaufen gehen“, sagte er und musterte ihr buntes Kleid. „Wobei mir dein Kleidungsstil gefällt.“ Sein Lächeln war echt und verursachte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Inneren.

„Keine unpassenden Komplimente“, erinnerte sie ihn. Trotzdem freute sie sich über seine Worte.

Er seufzte. Die Regeln. Offenbar bestand sie tatsächlich auf den Regeln.

Im Wagen war es angenehm kühl. Lynn schloss genießerisch die Augen und atmete tief ein und aus. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber es brachte nichts, sich jetzt verrückt zu machen.

Sie öffnete die Augen erst wieder, als Nathan losfuhr. „Ich brauche Hintergrundinformationen. Zumindest die wichtigsten. Wer ist Nora?“

Nathan versuchte seine Miene möglichst neutral zu halten, doch Lynn hatte den Schatten trotzdem gesehen. Den Moment der Trauer, den er rasch zu überspielen versuchte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Offenbar fiel es ihm nicht leicht, darüber zu sprechen.

„Nora war meine Jugendfreundin. Sie starb bei einem Verkehrsunfall. Zusammen mit dreien meiner besten Freunde.“ Er versuchte es gelassen klingen zu lassen, doch Lynn hörte den Schmerz deutlich heraus.

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie leise. Normalerweise hätte sie es auf sich beruhen lassen, um ihn nicht weiter zu quälen. In ihrer Situation konnte sie sich das aber nicht leisten. Sie musste mehr wissen. „Deine Mutter sagte, du hättest dich danach völlig zurückgezogen?“

Jetzt warf er ihr einen kurzen Blick zu. Einen warnenden Blick. „Ja“, sagte er kühl.

Sie war zu weit gegangen. Es passte ihm nicht, dass sie so detailliert nachfragte und in seine Privatsphäre eindrang.

„Ach, komm schon, Nathan. Ich mache das hier auch nicht freiwillig. Deine Familie wird jedoch erwarten, dass ich solche Dinge weiß. Ich bin sonst schneller enttarnt, als ich meinen Namen buchstabieren kann. Meinen richtigen Namen.“

Er presste die Lippen aufeinander und umklammerte das Lenkrad fester. Schließlich nickte er. „Du hast recht. Entschuldige. Nach dem Tod meiner Freunde bin ich … anders geworden, schweigsamer. Mein Vater hat den Moment der Schwäche für seine Zwecke genutzt. Denn so konnte er mich ohne große Gegenwehr in das Familienunternehmen drängen. Doch zu meiner eigenen Überraschung hat mir der Job irgendwann Spaß gemacht. Ich bin ziemlich gut darin. Vater überließ mir schon bald die Verantwortung für den Londoner Firmensitz.“

Er zuckte mit den Schultern, als wäre das nichts Besonderes. „Vor drei Jahren habe ich dann Maggie kennengelernt. In einem Pub. Sie fiel mir sofort auf, weil ihre Augen beim Lachen regelrecht funkelten. So wie bei dir.“ Sein Blick war weich, als er sie ansah. „Das sollte jetzt keine unangemessene Bemerkung sein. Das ist die Wahrheit. Du bist ihr wirklich ziemlich ähnlich. Hast du noch eine Schwester, die in London lebt?“

Lynn lachte leise. Die düstere Atmosphäre, die sich im Inneren des Autos aufgebaut hatte, löste sich ein wenig auf. „Zumindest keine, die Maggie heißt. Meine Schwester heißt Lianne – und sie sieht mir kein bisschen ähnlich. Dunkle Haare, blaue Augen. Verwechslung ausgeschlossen.“

Sie legte den Kopf schief und sah Nathan forschend an. „Du scheinst deine Familie sehr zu lieben. Ihr steht euch offensichtlich sehr nahe. Wie kommt es, dass du ihnen noch nie deine Freundin vorgestellt hast? In drei Jahren hast du das nicht ein Mal geschafft?“

„Maggie war schwierig, was das Thema Familie angeht. Zu ihren Eltern hatte sie kein gutes Verhältnis. Dadurch war sie auch nicht scharf darauf, meine kennenzulernen. Sie hatte jede Menge Ausreden. Also bin ich immer allein gefahren, was bei meiner Familie natürlich nicht gut ankam.“

„Das heißt, sie erwarten eigentlich eine richtige Zicke“, stellte Lynn trocken fest und ließ sich in den Sitz sinken. „Na wunderbar.“

Nathan schmunzelte. „Ja, ich gebe zu: Meine Familie hatte sich zum Schluss schon über meine unsichtbare Freundin lustig gemacht. Sie kannten sie ja nur von Fotos. Emma war sogar der Meinung, ich hätte sie mir ausgedacht, um meine Ruhe zu haben. Aber nein. Sie hat wirklich existiert.“ Jetzt klang er traurig.

„Warum habt ihr euch denn überhaupt getrennt?“

Für einen Moment schien Nathan es ihr verraten zu wollen, doch dann schüttelte er den Kopf. „Wir haben uns ja gar nicht getrennt, nicht wahr? Meine Verlobte sitzt schließlich neben mir“, sagte er möglichst locker. „Sie ist übrigens Bankerin. Aber keine Sorge, Dad hasst Banker und redet ohnehin nicht viel. Er wird dich niemals darüber ausfragen. Und meine Mutter und meine Schwester … du hast sie ja erlebt. Sie reden lieber selbst, als andere etwas zu fragen. Das wird schon alles gut gehen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu, doch Lynn sah die Sorge in seinem Gesicht.

Als sie sich der Villa näherten, kam Lynn aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Haus lag abseits des pittoresken Hauptortes Capri. Eine einsame Straße wand sich in Serpentinen hin zu einem eindrucksvollen gusseisernen Tor. Wie von Geisterhand schwang es auf, sodass Nathan einfach hindurchfahren konnte.

Auf dem akkurat geschnittenen Rasen standen hohe Palmen und liebevoll angelegte Beete, auf denen bunte Blumen blühten. Lynn war keine Botanikerin, aber sie wusste, dass Capri als die pflanzenreichste Insel Italiens galt. Hier schienen alle Blumen und Pflanzen auf einem Fleck versammelt zu sein.

Die Straße führte in sanften Kurven den Hügel hinauf. Inmitten der durch Sandsteine getrennten Terrassen glitzerte ein blauer Pool. Die Liegestühle drum herum waren verlassen, genau wie der Rest des parkähnlichen Gartens. Je höher sie kamen, desto besser konnte Lynn das kristallklare Meer erkennen, das sich schäumend unter ihnen gegen die Klippen warf.

„Der Ausblick ist wunderschön“, murmelte sie begeistert. Als dann auch noch die Villa in ihr Blickfeld kam, konnte sie es kaum glauben. Das Gebäude war im Stil der Insel ganz in Weiß gehalten. Der Parkplatz war mit ockerfarbenem Pflaster ausgelegt, das sich perfekt in die Umgebung einfügte und zu den steinernen Bögen passte, die den Parkplatz von der Terrasse und dem hinteren Bereich des Gartens abtrennten.

Nathan parkte neben einem Lamborghini mit offenem Verdeck und wandte sich Lynn zu. „Wenn dir der Gesprächsstoff ausgeht oder irgendwer unbequeme Fragen stellt, sprich Mum einfach auf ihren Garten an. Oder du fragst Emma, in welchem Teil des Gartens die Hochzeitszeremonie stattfinden soll. Ab da übernehmen sie das Reden für dich.“ Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und stieg aus.

Lynn hingegen blieb noch einen Moment im Wagen sitzen und atmete tief ein und aus. Sie musste verrückt gewesen sein, sich auf so etwas einzulassen! Statt ihren Prinzipien treu zu bleiben, hatte sie nur das Geld gesehen und war in die Falle der Versuchung getappt.

All die Jahre über hatte sie sich gegen die Ränkespiele ihrer Mutter gewehrt. Die hatte ihr stets einen reichen Mann angeln wollen und sie für den Moment vorbereitet, wenn ein Millionär ein Auge auf sie werfen würde. Und jetzt? Jetzt saß sie in einem der teuersten Wagen der Welt und blickte auf eine Villa, die ihr Vorstellungsvermögen überstieg. Und das alles nur für Geld.

In diesem Moment verachtete sie sich. Sie hatte sich immer über ihre Mutter lustig gemacht, die Männer nur nach ihrem Vermögen beurteilte. Kein Wunder, angesichts der finanziellen Lage, in der sich ihre Familie befand. Für Lynn war aber niemals infrage gekommen, sich aus finanziellen Gründen auf einen Mann einzulassen. Sie hätte sich wie eine Prostituierte gefühlt. Und was tat sie jetzt?

Mit einem leisen Stöhnen schlug sie die Hände vor das Gesicht. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

In diesem Moment öffnete Nathan die Beifahrertür. „Kommst du?“

Lynn schluckte. Sie brauchte das Geld. Das war die bittere Wahrheit. Sie konnte es sich nicht leisten, kalte Füße zu bekommen. Jetzt oder nie. Also reichte sie Nathan die Hand und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen.

„Alles wird gut“, sagte er leise zu ihr. „Du schaffst das.“

Nathan war überrascht, wie mühelos sich Lynn in ihrer Rolle zurechtfand. Selbst sein stets brummiger Vater erwiderte ihr strahlendes Lächeln. Sie hatte eine ganze spezielle Art, sich zu bewegen, die ihm gut gefiel. Es war, als schwebte sie durchs Leben.

Dass sie im Moment Sorgen hatte, konnte er nur vermuten. Wahrscheinlich ging es dabei um Geld, sonst hätte sie sein Angebot niemals angenommen. Der Gedanke weckte sofort sein schlechtes Gewissen.

Er wollte nicht, dass sie sich gezwungen fühlte. Und dennoch. Er war froh, dass sie jetzt bei ihm war. Mit ihr an der Seite ließen ihn seine Familienmitglieder endlich in Ruhe. Statt ihn mit unbequemen Fragen über sein Liebesleben zu löchern, konzentrierten sie sich auf Lynn. Zum Glück erzählten sie Lynn sehr viel über die Familie, sodass sie kaum etwas zum Gespräch beisteuern musste.

An diesem Nachmittag hatte die gesamte Familie sich auf der Terrasse versammelt, um das Wiedersehen zu feiern. Die riesigen weißen Sonnensegel schützten sie vor der Sonne, und die großen Blumenkübel neben jedem Sessel machten den Ort zu einem gemütlichen Treffpunkt.

Anders als sonst hatte sich sein Vater nicht neben Nathan gesetzt, um über Geschäftliches zu diskutieren. Wie es schien, akzeptierte er, dass Lynn gerade wichtiger war. Nathan konnte kaum in Worte fassen, wie erleichtert er darüber war. Es war anstrengend, mit seinem Vater zu diskutieren. Eigentlich konnte er ihm nie etwas recht machen. Er analysierte jeden seiner Schritte und hatte fast immer etwas auszusetzen.

„Komm, Maggie. Wir zeigen dir, wo die Hochzeitszeremonie geplant ist. Es gibt zwei Orte. Du musst entscheiden, welcher besser ist“, erklärte seine Schwester in diesem Moment aufgeregt und sprang auf, um Lynn auf die Beine zu ziehen. Die warf Nathan einen amüsierten Blick zu, den er mit einem Augenzwinkern erwiderte. Sekunden später waren die drei Frauen im Garten verschwunden.

Kaum waren sie fort, schlug auch sofort die Atmosphäre um. Jack, der zukünftige Bräutigam, blickte nervös zwischen Nathan und seinem Vater hin und her und stand hastig auf. „Ich muss kurz auf mein Zimmer“, erklärte er abrupt und warf Nathan einen entschuldigenden Blick zu.

Verräter. Nathan war klar, was jetzt folgte. Und tatsächlich, kaum war Jack fort, setzte sich Nathans Vater zu ihm.

„Die Londoner Bilanzen sehen mies aus“, eröffnete er augenblicklich das Gespräch.

Nathan seufzte in Gedanken. „Dad! Muss das jetzt sein? Die Bilanzen sind völlig in Ordnung.“

„Und wann wolltest du mir sagen, dass du Bio-Top doch aufgekauft hast? Ich hatte doch gesagt, dass ich dagegen bin!“

Jetzt geht es los, dachte Nathan müde. Er hatte keine Lust, sich mit seinem Vater zu streiten. Allerdings konnte er den Vorwurf, das falsche Unternehmen aufgekauft zu haben, nicht auf sich sitzen lassen. Wenn er zu wenig wagte, war es verkehrt. Wenn er aber selbstständig etwas entschied, war das auch nicht richtig.

In Momenten wie diesen wusste er wieder, warum er so selten nach Capri kam. Er liebte seine Familie über alles, aber es war schwierig, es allen recht zu machen. Sein Vater war ein Patriarch, der eigentlich nur das Geschäft im Sinn hatte. Seine Mutter hingegen verbot derlei Gespräche rundheraus, was automatisch zu Spannungen führte.

Es war kompliziert. Und ermüdend.

Als die Frauen von ihrem Rundgang zurückkamen, hatte sich die Diskussion in ein Streitgespräch verwandelt. Zu Nathans Überraschung ging Lynn dazwischen.

Sie trat neben ihn und legte ihm eine kühle Hand in den Nacken. „Der Pool sieht traumhaft aus. Wo hast du denn meine Koffer hingebracht, Nathan? Ich würde gerne schwimmen gehen“, sagte sie sanft.

Nathan war so verblüfft über die Unterbrechung, dass er zunächst nicht antwortete.

Lynn hingegen streckte ihm auffordernd die Hand entgegen. „Mr. Shannon, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihren Sohn kurz entführe.“ Sie lächelte so charmant, dass sein Vater automatisch in die Defensive ging.

„Nein. Natürlich nicht. Gehen Sie ruhig. Nathan und ich können das auch zu einem späteren Zeitpunkt besprechen.“ Da Nathan seinen Vater sehr gut kannte, entging ihm keineswegs der leise Tadel in seiner Stimme. Für den Moment akzeptierte er jedoch ihre Einmischung.

Nathan ließ sich nur zu gerne von Lynn von der Terrasse ziehen. Sie behielt dabei seine Hand fest in ihrer, verstärkte ihren Griff sogar noch. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Sie erreichten die Empfangshalle, die eher einem Ballsaal ähnelte, und liefen die Steinstufen hinauf. Er hatte die Koffer bei ihrer Ankunft in die Suite bringen lassen, sodass Lynn den Weg noch nicht kannte.

Jetzt sah sie sich staunend um, behielt seine Hand aber noch immer in ihrer. Erst als er vor einer kunstvoll geschnitzten Tür stehen blieb und die Klinke berührte, löste sie sich von ihm.

„Ist dein Vater immer so?“, fragte sie leise und folgte ihm in den Raum. „Wow“, sagte sie, während sie sich langsam um sich selbst drehte. Dabei bewunderte sie die hohen Decken.

Amüsiert beobachtete Nathan sie dabei. Wie hübsch sie war! Anziehend und unkompliziert. Er räusperte sich, um sich selbst zur Vernunft zu bringen. Wo kamen bloß diese Gedanken her? Sie war tabu für ihn.

„Mein Vater denkt nur ans Geschäft, während meine Mutter sich die ganze Zeit Sorgen um meinen Seelenzustand macht“, nahm Nathan den Anfang des Gesprächs wieder auf.

„Du hast ziemlich angestrengt ausgesehen. Nimmt er dich immer so in die Mangel?“

Nathan war es unangenehm, über seinen Vater zu urteilen. Auf der anderen Seite war lügen in diesem Fall zwecklos. „Dad ist noch von der ganz alten Schule. Er ist das Familienoberhaupt und sagt, wo es langgeht. Da ich schon bald das Unternehmen übernehmen soll, ist er zusätzlich streng mit mir. Eigentlich erwartet er, dass ich bald die Position als Familienoberhaupt einnehme. Gleichzeitig will er sie nicht abgeben. Es ist schwer, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Nathan zuckte möglichst lässig mit den Schultern, aber Lynns Blick sprach Bände. Sie hatte seine lockere Fassade durchschaut.

„Familie kann man sich nicht aussuchen“, erklärte sie trocken. „Sie treibt einen in den Wahnsinn, aber sie treibt einen auch an. Die Frage ist allerdings, ab welchem Punkt man sich lösen muss, um sich selbst zu schützen.“

Nathan spürte, dass sie längst nicht mehr über seine Familie sprach. Die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Er hakte jedoch nicht weiter nach. Noch nicht. Lynn faszinierte ihn allerdings immer mehr, was ihm gar nicht gefiel. Sie war nur hier, um seine Verlobte zu spielen. Dafür bekam sie sogar Geld. Das durfte er niemals vergessen.

Denk an Maggie, dachte er. Denk daran, was die letzten Male passiert ist, als du geglaubt hast, etwas für eine Frau zu empfinden. Die Erinnerung brachte ihn sofort auf den Boden der Tatsachen zurück. Er und die Liebe – das passte einfach nicht zusammen. Irgendwer hatte offenbar entschieden, dass er allein bleiben sollte. Wann immer er sich sicher war, endlich jemanden gefunden zu haben, wurde sie ihm mit aller Gewalt entrissen. Auf die eine oder andere Art.

3. KAPITEL

Das Streitgespräch zwischen Nathan und seinem Vater fand Lynn ziemlich beunruhigend. Sie hatte schon von solch komplizierten Vater-Sohn-Beziehungen gehört, sie aber noch nie so deutlich vor Augen geführt bekommen. Auf der anderen Seite war die Beziehung zu ihrer Mutter auch nicht viel besser. Auch dabei ging es stets um Geld – allerdings um nicht vorhandenes Geld. Kurz bevor sie sich den Bikini anzog, warf Lynn noch einen Blick auf ihr Handy.

Drei Anrufe in Abwesenheit. Zwei davon von ihrer Mutter, natürlich. Lynn hatte das versprochene Geld noch nicht geschickt. Nicht, nachdem sie von der Mieterhöhung gehört hatte. Die neue Miete für ihr Geschäft und die Pachtzahlungen für das marode Familienanwesen waren einfach zu viel für ihr Konto gewesen.

Der altbekannte Knoten in ihrem Magen verhärtete sich. Er war seit ihrer Jugend ihr ständiger Begleiter. Seitdem ihre Mutter ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass das Wohl und Wehe ihres Erbes von einer guten Heirat abhing. Von ihrer guten Heirat. Das war auch in etwa die Zeit gewesen, als Lynn sich emotional von England verabschiedet hatte. Ihr war klar geworden, dass sie so nicht leben konnte – und auch nicht wollte.

Allerdings war es naiv von ihr gewesen, zu glauben, dass sie ihren Problemen entfliehen konnte. Auch der Umzug nach Capri hatte nichts an ihren Verpflichtungen geändert. Sie musste ihrer Mutter zwar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und sich beschimpfen lassen. Doch der emotionale Druck, den sie durch jedes Telefonat aufbaute, blieb derselbe. Sie entkam ihrer Familie nicht, egal wie weit sie fortging. Den Kontakt ganz abzubrechen, wagte sie jedoch nicht. Ihre Schwester litt genauso unter ihrer Mutter wie sie. Lynn konnte sie nicht im Stich lassen. Niemals.

Ein Problem nach dem nächsten, dachte Lynn und schaltete das Handy aus. Im Moment konnte sie keine Ablenkung gebrauchen. Die Aufgabe, die vor ihr lag, war ihr zunächst nicht schwierig erschienen. Doch jetzt, wo sie mittendrin steckte, lagen überall Fallstricke. Sie kannte Maggie viel zu wenig und hatte keine Ahnung, wie viel Nathans Familie über diese Frau wusste. Ein falsches Wort – schon hatte Lynn sich verraten.

Warum Nathan überhaupt all das auf sich nahm, nur um das Ende seiner Beziehung zu verheimlichen, war Lynn noch immer schleierhaft. Auf ihre Fragen hatte er nicht reagiert. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu spekulieren.

Die Familie achtete auf jeden seiner Schritte. Die Mutter machte sich viel zu viele Sorgen um ihn. Der Vater erwartete hingegen Höchstleistung und baute enormen Druck auf. All das hatte Lynn innerhalb kürzester Zeit erfasst. Doch was hatte das alles mit Maggie zu tun?

Sobald sie später am Abend allein sein würden, würde sie Nathan noch einmal danach fragen. Bei dem Gedanken daran beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ihr Blick glitt automatisch zu dem großen Kingsize-Bett, das den Schlafraum dominierte. Es war mit einer dunkellila Bettwäsche bezogen, die einzige Farbe im ganzen Raum. Ansonsten beherrschten Weiß und Creme das Ambiente.

Nathan hatte sich auf den großzügigen Balkon zurückgezogen, um ihr etwas Privatsphäre zu lassen. Rasch zog sie ihren Bikini aus dem Koffer und schlüpfte in das Badezimmer. Sandfarbener Marmor, eine begehbare Dusche und ein Whirlpool in der Ecke – der pure Luxus. Lynn ließ den Anblick einen Moment auf sich wirken.

Du bist genau da, wo du nie sein wolltest, dachte sie bitter. Sie hörte geradezu, wie sich die Stimme ihrer Mutter vor Freude überschlug.

Du musst ihn dir schnappen. Dann sind all deine Probleme gelöst.

Genau. Nur ihr Stolz wäre für immer zerstört.

Gedankenverloren zog sie sich um und schnappte sich einen kuschelig weißen Bademantel vom Haken an der Tür. Das riesige Strandlaken nahm sie ebenfalls mit. Danach huschte sie barfuß zu Nathan auf den Balkon. „Wollen wir?“, fragte sie.

Er drehte sich um und blinzelte überrascht. Lynn bemerkte, wie sein Blick an ihren langen, schlanken Beinen hängen blieb. Wie er ihre Taille und für einen winzigen Moment auch ihre Brüste betrachtete. Bevor es jedoch peinlich wurde, riss er sich zusammen.

„Ich ziehe mich auch nur eben um“, sagte er.

Klang seine Stimme etwas rauer als sonst? Lynn war sich nicht sicher, hütete sich aber, ihn deswegen aufzuziehen.

Er verschwand kurz nach drinnen und kam nur eine Minute später wieder heraus. Anstatt des Hemdes trug er jetzt ein einfaches, weißes T-Shirt, das seine kräftigen Oberarme betonte. Es passte zu seiner engen schwarzen Badeshorts.

Bevor er fragen konnte, hielt sie ihm die Hand hin. „Frisch Verliebte halten Händchen“, erklärte sie ihm mit einem Schmunzeln.

„Wir sind aber nicht mehr frisch verliebt. Wir sind schon seit drei Jahren zusammen.“

„Aber frisch verlobt.“

Nathan lächelte und nahm ihre Hand, drückte sie kurz. „Ich dachte, Berührungen sind verboten“, zog er sie auf.

„Händchen halten gehört zu den harmlosen Berührungen. Das ist schon in Ordnung. Nur beim Küssen streike ich.“ Sein Blick glitt automatisch zu ihren Lippen, was ein Prickeln in ihrem Unterleib auslöste. Fast hätte sie ihm die Hand doch noch entzogen, aber das wäre zu auffällig gewesen. Sie musste wirklich aufpassen, dass sie nicht anfing, mit ihm zu flirten. Nicht, dass er etwas falsch verstand.

Sie gingen nebeneinander durch die leeren Flure. Die Villa war riesig. Die meisten der Zimmer schienen unbenutzt.

„Maggie wollte nie Händchen halten“, bemerkte Nathan nach einer Weile. „Sie fand das albern.“

Lynn zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Also diese Maggie mag Händchen halten. Und ich schwöre dir: Wenn wir das nicht tun, machen wir uns verdächtig.“

„Ich dachte nur, ich bin lieber ehrlich zu dir. Maggie war eher zurückhaltend, was so etwas angeht. Umarmungen in der Öffentlichkeit, Küsschen auf die Wange, Händchen halten – all das war nicht so ihr Ding. Meine Eltern wissen natürlich nicht, dass Maggie das nicht mochte. Sie haben sie ja nie kennengelernt. Wenn du nicht willst, müssen wir das also nicht tun.“

Lynn warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und überlegte, ob sie den Gedanken laut aussprechen sollte, der ihr gerade in den Sinn kam. Eigentlich kannten sie sich zu wenig, als dass sie so etwas offen sagen konnte. Trotzdem. Sie musste das jetzt klarstellen. „Aber du magst so etwas“, sagte sie. Das war offensichtlich. Er hatte sich nicht eine Sekunde gesträubt. „Allmählich ahne ich, warum ihr euch getrennt habt.“

Er öffnete den Mund, um zu protestieren. Wahrscheinlich wollte er seine Ex-Verlobte aus Gewohnheit verteidigen, doch dann nickte er zögernd.

Emma und Jack lagen bereits am Pool und sonnten sich. Die junge Frau zog ihre Designersonnenbrille nach unten, um Lynn genauer betrachten zu können. „Wow, Brüderchen. Da hast du aber einen richtig guten Fang gemacht. Sie hat nicht nur den Mumm, Dad den Mund zu verbieten und dir den Hintern zu retten. Sie sieht auch noch verdammt gut aus!“

„Emma“, fuhr Nathan seine Schwester augenblicklich an. „Benimm dich!“

Emma kicherte vergnügt und warf ihrem Bruder eine Kusshand zu. Lynn hingegen spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Natürlich freute sie sich über das Kompliment, allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Hastig warf sie den Bademantel und das Handtuch auf die Liege und sprang in den Pool.

Sie schwamm ein paar Bahnen, um sich abzukühlen. Erst als sie ein Plätschern hörte, wandte sie sich wieder den anderen zu. Nathan saß am Rand des Pools und sah sie nachdenklich an. Er hatte sich das T-Shirt ausgezogen, sodass sie ihn zum ersten Mal mit nacktem Oberkörper sah. Er war braun gebrannt und für einen Geschäftsmann erstaunlich muskulös.

Augenblicklich drehte sie sich von ihm fort und tauchte unter. Sie musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Ganz dringend. Den Anblick dieses Oberkörpers sofort vergessen. Sofort! Dass sie ihn attraktiv fand, war eine Sache. Aber wie sehr, war ihr erst gerade eben klar geworden. Er war extrem sexy. Wenn sie nicht aufpasste, hatte sie bald ein weiteres Problem am Hals. Denn er war tabu für sie, und zwar in jeder Hinsicht.

Sie schwamm ein paar Bahnen und sah sich um. Elizabeth stand neben einer anderen Frau am Rande der Terrasse und diskutierte mit ihr. Lynn kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Irgendetwas kam ihr an der Fremden bekannt vor.

Ihr Magen verkrampfte sich. Nein! Sie sah Gespenster. Ganz sicher sah sie Gespenster. Die Frau war schlank und sehr groß. Die Art, wie sie sich bewegte, ließ sie stolz und unnahbar wirken. Das traf auf viele Frauen zu.

Lynn schwamm an den Rand und versuchte mehr zu erkennen, doch die Sonne stand ungünstig. Das ist sie nicht, versuchte sie sich zu beruhigen. Was sollte ihre Vermieterin hier bei Nathans Familie machen? Sicherlich sah sie ihr nur ähnlich. Lynn gab es nicht gerne vor sich selber zu, aber sie hatte Angst vor dieser Frau. Die alte Italienerin hatte die Macht, ihr Leben zu zerstören. Und wie es schien, hatte sie das auch vor.

Genau diese Angst war sicherlich schuld daran, dass Lynn sie jetzt überall sah. Elizabeth gestikulierte gerade, zeigte daraufhin zum Pool. Vor Schreck hielt Lynn den Atem an und tauchte unter. Sicher war sicher.

Ihr Herz klopfte wie wild. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie ist es nicht, sagte sie sich immer wieder. Doch was, wenn sie es doch war? Sie würde erkennen, dass sie nicht Maggie war, und ihr ganzes Vorhaben zunichtemachen. Sie hatte die Macht, sie zu enttarnen. Dann würde sie kein Geld mehr bekommen. Geld, das sie bitter benötigte.

Sie ist es nicht.

Doch das ungute Gefühl blieb.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Lynn kam sich mittlerweile vor, als wäre sie im Urlaub, und spielte dabei die Rolle ihres Lebens. Zum Glück machte ihr Nathans Familie die Sache ziemlich leicht. Nathans Mutter und seine Schwester achteten darauf, nicht in ihre Privatsphäre einzudringen. Sie verzichteten sogar auf überflüssige Fragen.

Mittlerweile war sie sich auch sicher, dass die fremde Frau nicht ihre Vermieterin gewesen sein konnte. Ihre Fantasie war lediglich mit ihr durchgegangen. Als Lynn aus dem Pool kam, war sie jedenfalls nicht mehr da gewesen. Seitdem war sie auch nicht wieder aufgetaucht.

Auch die Nächte mit Nathan waren deutlich unkomplizierter als befürchtet. Er schlief auf der Couch, sie im Bett. Dass jemand hereinplatzte, war äußerst unwahrscheinlich. Trotzdem schlossen die beiden zur Sicherheit immer die Tür ab.

Ganz allmählich begann Lynn sich zu entspannen. Sie mochte Emma mit ihrer stürmischen Art. Die mütterliche Elizabeth hatte Lynn von Anfang an in ihr Herz geschlossen. Nathans Vater hielt sich seit dem letzten Zusammenprall etwas zurück, was jedoch nicht hieß, dass er seinen Sohn nicht immer wieder zur Seite nahm. Der Einzige, der ein wenig außerhalb des Familiengefüges stand, war Jack. Der junge Bräutigam sagte kaum ein Wort und half eher schweigsam bei den Hochzeitsvorbereitungen.

Die waren mittlerweile in vollem Gange. Vor der Hochzeit war ein Galaabend mit all jenen Gästen geplant, die nicht zur eigentlichen Feier eingeladen werden konnten. Hinzu kamen noch der Polterabend, zahlreiche Probedinner, die Generalprobe und natürlich die Hochzeit selber. Lynn schwirrte schon bald der Kopf vor Dekorations-Problemen, Blumen-Desastern und diversen Panikattacken.

Nathan war bei alldem der Fels in der Brandung. Wann immer Tränen flossen, hatte er ein Taschentuch parat. Er schlichtete zwischen seiner Schwester und den Brautjungfern, suchte in Windeseile einen neuen Caterer und blieb selbst dann noch gelassen, als die Probefrisur eine völlige Katastrophe wurde und die Braut sich stundenlang im Zimmer einschloss.

Lynn beobachtete das alles mit leichtem Amüsement, war aber trotzdem ziemlich eingespannt. Ihre Meinung war häufig gefragt, und gerade bei Dekorationsfragen hatte sie als kreative Goldschmiedin ein gutes Auge.

Zwischendurch entspannte sich die Familie bei Ausflügen. Sie besuchten die legendäre Blaue Grotte, eine Höhle, deren Inneres in einem einzigartigen Blauton schimmerte. Auf einem kleinen Boot ging es durch den schmalen Eingang ins Innere hinein. Lynn kannte die Grotte bereits, doch inmitten der fröhlichen Gesellschaft genoss sie das fantastische Azurblau des funkelnden Wassers noch viel mehr.

„Eigentlich könnten Jack und ich auch hier heiraten, oder?“, merkte Emma an, woraufhin es eine wilde Diskussion gab, um sie von dem Gedanken abzulenken. Nathan und Lynn waren sich nicht sicher, wie ernst Emma die Idee meinte, und legten sich entsprechend ins Zeug.

Sie besuchten die zweite Stadt der Insel, das etwas ländlichere Anacapri. Hier bummelten sie durch die engen Einkaufsgassen, bewunderten die hübsche Altstadt und machten schließlich einen Abstecher zum Strand. Aufgrund der vielen Steilküsten gab es hier viele kleine, versteckte Badebuchten. Nathan, Emma, Jack und Lynn gingen eine Weile über den feinen Sand, bis sie eine abgelegene Stelle fanden. Hier blieben sie für mehrere Stunden und genossen die Sonne und das Meer.

Zum Glück waren Emma und Jack vollkommen aufeinander fixiert, sodass ihnen nicht direkt auffiel, dass Nathan und Lynn nicht nah genug nebeneinanderlagen. Als Emma und Jack im Wasser miteinander tobten, sahen sie ihnen lediglich zu. Lynn musste zugeben, dass sie ein wenig neidisch auf die beiden war. Wie sie miteinander umgingen, war wunderschön. Man spürte ihre tiefe Verbundenheit und die Vertrautheit, die Lynn in ihrem Leben so sehr vermisste.

Sie musste wohl einen leisen Seufzer von sich gegeben haben, denn Nathan stand plötzlich von seinem Strandtuch auf und grinste breit. Er trug lediglich Badeshorts und eine große Sonnenbrille, die ihn geheimnisvoll und gleichzeitig wahnsinnig verführerisch aussehen ließ.

Ohne ein Wort zu sagen, schnappte er sich Lynn, legte sie sich wie einen Sack über die Schulter und rannte lachend ins Meer hinein. Das Wasser spritzte ihr ins Gesicht, während sie sich spielerisch wehrte. Sekunden später warf Nathan sie ins kalte Meer, woraufhin eine wilde Wasserschlacht zwischen den beiden Frauen auf der einen und den beiden Männern auf der anderen Seite begann.

Am Ende des Tages waren alle vier vollkommen erschöpft, aber glücklich. Das wiederum beunruhigte Lynn ein wenig. Sie stellte nämlich fest, dass Nathan sich ganz langsam in ihr Herz stahl. Sie hatte ihn bereits von Anfang an gemocht, ihn auch sofort attraktiv gefunden, aber er war tatsächlich der umgänglichste und freundlichste Mensch, den sie kannte. Und jedes Mal, wenn er ihre Hand nahm, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer.

Du musst aufpassen, ermahnte sie sich, während sie Nathan und seine Schwester beobachtete. Nathan maß gerade für die Trauungszeremonie den Abstand von einer Stuhlreihe zur nächsten ab. Zum dritten Mal. Emma stand mit einem Klemmbrett daneben und notierte alles geflissentlich. Lynn hatte eine Weile dabei geholfen, sich dann aber etwas abseits in den Schatten begeben.

Nathans Mutter gesellte sich zu ihr. Sie lächelte zufrieden. „Ich bin so froh, dass Nathan dich gefunden hat....

Autor

Cathy Bell
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Jessica Gilmore
Jessica Gilmore hat in ihrem Leben schon die verschiedensten Jobs ausgeübt. Sie war zum Beispiel als Au Pair, Bücherverkäuferin und Marketing Managerin tätig und arbeitet inzwischen in einer Umweltorganisation in York, England. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann, ihrer gemeinsamen Tochter und dem kuschligen Hund – Letzteren können die beiden...
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<p>Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal. Ihre liebste...
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