Romana Exklusiv Band 378

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HALT MICH FEST UND KÜSS MICH von BARBARA HANNAY 

Er ist herrlich unkompliziert, findet Emily. Mit Judd kann sie lachen, durch die Straßen von Brisbane schlendern und ungeschminkt im Pyjama frühstücken. Alles völlig ungefährlich, denn er ist der Lover ihres Cousins. Irrtum! Judd liebt Frauen. Und das ist nicht sein einziges Geheimnis …

NACH NEW YORK UND NICHT VERLIEBT? von FIONA HARPER 

Finger weg vom Boss, schwört sich Kelly. Auch wenn sein Lächeln einfach unwiderstehlich ist! Doch dann begleitet sie Jason Knight auf eine Geschäftsreise nach New York. Und sich in dieser verrückten Stadt nicht ein bisschen in den Boss zu verlieben, ist leider völlig unmöglich …

  

… UND PLÖTZLICH WAR ES LEIDENSCHAFT von THERESE BEHARRIE 

Sein Anblick ist prächtiger als der Tafelberg, sein Kuss sinnlicher als südafrikanischer Wein. Doch als Jess erfährt, wer ihr Kapstädter Nachbar wirklich ist, rückt Dylan Nel für sie in weite Ferne. Wie soll sie dem Millionär erklären, dass sie die Leihmutter seiner Schwester ist?


  • Erscheinungstag 24.08.2024
  • Bandnummer 378
  • ISBN / Artikelnummer 0853240378
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Barbara Hannay, Fiona Harper, Therese Beharrie

ROMANA EXKLUSIV BAND 378

1. KAPITEL

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, schaute Emily erneut auf ihr Handy. Immer noch keine Nachricht von Alex. Inzwischen machte sie sich ernsthaft Sorgen – nicht nur, weil er sich seit vierundzwanzig Stunden nicht gemeldet hatte, sondern auch, weil sie nicht wusste, was um alles in der Welt sie tun sollte, falls er nicht in Brisbane war.

Völlig verzweifelt war sie in aller Eile aufgebrochen. Sie brauchte Alex, wollte bei ihm Zuflucht suchen und ihm ihr Herz ausschütten. Aus ihrer Familie war er der Einzige, der sie verstehen würde. Emily war so überstürzt aus Wandabilla geflohen und in den Zug gesprungen, dass sie einfach gehofft hatte, Alex würde sich vor ihrer Ankunft in Brisbane bei ihr melden.

Mit quietschenden Bremsen kam der Zug zum Stehen, und um Emily herum erhoben sich die Fahrgäste, griffen geschäftig nach ihrem Gepäck, nach Jacken und Mänteln und gingen zum Ausgang. Alle hatten ein Ziel – nur sie nicht.

Falls Alex nicht da sein sollte, musste sie sich ein Hotel suchen oder zu ihrer Großmutter an die Sunshine Coast weiterfahren. Auf keinen Fall würde sie nach Wandabilla zurückkehren, da vermutlich jeder in dem kleinen Provinzstädtchen inzwischen wusste, was geschehen war.

Außerdem, sprach sich Emily Mut zu, besteht ja immer noch ein Funken Hoffnung, dass Alex doch zu Hause ist. Vielleicht hatte er Probleme mit seinem Handy oder der Akku war leer, oder er hatte eine neue Handynummer und es nur noch nicht geschafft, sie ihr zu geben.

Der Augustnachmittag war ungewöhnlich kühl, und ein scharfer Westwind wehte über den Bahnsteig. Mit klammen Fingern knöpfte Emily ihren Mantel zu und schlug den Kragen hoch. Sie nahm ihren Koffer und machte sich auf den Weg ins warme Bahnhofsgebäude.

Als sie sich gerade zwischen den Kauflustigen und Pendlern hindurchschob, hörte sie den lustigen Klingelton, den sie für ihre privaten Kontakte eingerichtet hatte. Sie fischte das Handy aus der Tasche. Es war eine SMS von Alex.

Em, tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde, und auch wegen deines @#$%$#-Freundes. Ich wünschte, ich könnte für dich da sein, aber ich bin zu Verlagsgesprächen in Berlin. Du kannst aber trotzdem das Apartment nutzen. Bleib, solange du möchtest, und nimm mein Zimmer. Ich habe Judd angerufen, er weiß Bescheid und erwartet dich.

Alles Liebe

Alex

Emily war erleichtert, dass es Alex gut ging, aber auch enttäuscht, dass er so weit weg war.

Sofort schossen ihr mehrere Fragen durch den Kopf: Wer ist dieser Judd? Seit wann gibt es ihn in Alex’ Leben? Und ist es wirklich kein Problem für ihn, wenn ich einfach so bei ihm auftauche?

Es war ihr unangenehm, sich einem Fremden aufzudrängen, und sie erwog kurz, stattdessen zu ihrer Großmutter zu fahren. Granny Silver war genauso verständnisvoll und gastfreundlich wie Alex, aber sie sah die Welt durch eine rosarote Brille, weshalb Emily sie nur selten mit ihren Problemen belastete.

Aber wenn dieser Judd sie schon erwartete und wenn er wie Alex war – wovon sie anhand ihrer Erfahrung mit seinen ehemaligen Mitbewohnern ausging – dann bereitete er sicherlich gerade alles für seinen Gast vor.

Wahrscheinlich zauberte er etwas Köstliches zum Abendessen, und es wäre unhöflich, jetzt einfach nicht zu kommen. Emily ging zum Taxistand. Aber als sich das Taxi in Richtung West End in Bewegung gesetzt hatte und über eine Brücke fuhr, unter der sich der Brisbane River sanft dahinschlängelte, erschien ihr diese spontane Reise in die Stadt törichter denn je.

Sie war so mit sich selbst beschäftigt und so verzweifelt gewesen, dass sie glaubte, nur bei ihrem Cousin Alex Zuflucht finden zu können. Sie hatte sich an seiner Schulter ausweinen, mit ihm am Fenster sitzen, über den Fluss und die Skyline der Stadt blicken und Wein trinken wollen, während sie ihm alles über die Katastrophe mit Michael erzählte.

Alex konnte so wunderbar zuhören, viel besser als ihre Mutter. Er machte ihr keine Vorhaltungen und predigte nie, dass er es ihr ja gleich gesagt habe. Stattdessen hatte er stets erst einmal ihre Tränen getrocknet und sie zum Lachen gebracht. Lachen wäre momentan gar nicht so verkehrt, aber von Alex’ neuem Mitbewohner konnte sie wohl schlecht Mitleid, Wein und Aufheiterung erwarten. Als das Taxi vor dem Apartmenthaus hielt, war sie überzeugt, dass sie im besten Fall auf freundliche Toleranz hoffen konnte, und auf ein wenig Privatsphäre, um ihre Wunden zu lecken.

Judd Marlowe saß gerade an seinem Laptop, als es klingelte. Er war mitten in einem Gedanken, und zwar einem der wenigen guten, die ihm heute gekommen waren. Deshalb ignorierte er das Klingeln und tippte weiter. Er wollte diesen Einfall unbedingt noch niederschreiben, denn wenn er seine Arbeit jetzt unterbrach, wären die Worte unwiederbringlich verloren, das wusste er aus Erfahrung.

Es klingelte erneut, diesmal eindringlicher. Zum Glück hatte er den letzten Satz gerade beendet. Judd speicherte seinen Text und stand auf. Er nahm seine Lesebrille ab, rieb sich die Nasenwurzel, streckte sich und ließ die Schultern kreisen, um die Verspannung zu lockern, die sich immer einstellte, wenn er in seine Arbeit vertieft war.

Die Besucherin musste Alex’ Cousine sein. Judd hatte eine wirre Nachricht erhalten, dass sie für ein paar Nächte ein Bett brauchte. Obwohl ihm gar nicht nach Gesellschaft war, hatte er Alex versichert, das sei in Ordnung. Angeblich hatte ihr Freund ihr das Herz gebrochen.

Noch einer von Alex’ Sorgenfällen, dachte Judd ironisch, denn schließlich war er selbst einer.

Er ging in den Flur und bemerkte jetzt erst die Dunkelheit – war es wirklich schon so spät? Judd schaltete die Lampe ein und zog die Tür auf. Der goldene Lichtstrahl fiel auf eine frierende Gestalt. Er sah sie an und es verschlug ihm den Atem.

Später fragte er sich, was genau er erwartet hatte. Falls er überhaupt über Alex’ von Liebeskummer geplagte Cousine nachgedacht hätte, so hätte er sie sich wohl als spießiges, unscheinbares Mäuschen vom Lande vorgestellt.

Was für ein Irrtum!

Die Frau, die hier in einem modischen weißen Wollmantel und kniehohen Lederstiefeln vor ihm stand, sah umwerfend aus. Ihr rotgoldenes Haar floss in Wellen über den weißen Kragen und erinnerte ihn an ein Feuer im Schnee. Sie hatte fein geschnittene, aber charaktervolle Gesichtszüge.

Ihre Haut war glatt und hell und ihr Mund sanft geschwungen. Es schien, als wären alle seine Männerfantasien Wirklichkeit geworden.

„Sie sind sicher Judd?“, fragte sie, neigte den Kopf zur Seite und lächelte zurückhaltend.

„Natürlich.“ Gerade noch rechtzeitig besann er sich auf seine Manieren. „Und Sie sind wohl Emily.“

„Ja, Emily Silver, Alex’ Cousine.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen, Judd. Alex meinte, er hätte sie bereits vorgewarnt, dass ich komme.“

„Ja, er hat angerufen.“ Aber diese Warnung war völlig unzureichend, dachte Judd. Er hatte ursprünglich vorgehabt, ihr ein Mindestmaß an höflicher Gastfreundschaft zukommen zu lassen, und Emily Silver danach sich selbst und ihrem Liebeskummer zu überlassen. Im Prinzip war das immer noch sein Plan, aber er wusste jetzt, dass es nicht einfach werden würde, sie zu ignorieren.

„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich so kurzfristig aufnehmen.“ Sie gab ihm die Hand, und die Berührung ging ihm durch und durch.

„Das ist überhaupt kein Problem“, entgegnete er in schroffem Ton, um seine Bestürzung zu überspielen. Sein Blick fiel auf ihren Koffer. „Den nehme ich.“

„Vielen Dank.“

Gerade beugte er sich vor, um den Koffer zu greifen, als Emily den Hausflur betrat. Ihre Körper berührten sich für einen Augenblick. Verdammt. Judd konnte seine Reaktion auf sie kaum glauben. Er hatte wahrlich nicht wenige Freundinnen gehabt, aber jetzt tat sein Körper so, als sei er jahrzehntelang auf einer einsamen Insel gewesen und Emily die erste Frau, der er danach wieder begegnete.

„Oh, wie angenehm warm es hier drinnen ist“, stellte Emily erfreut fest.

Judd nickte. „Alex’ Zimmer ist am Ende des Flurs, wie Sie sicher wissen. Die erste Tür links.“

An der Tür zum Schlafzimmer ihres Cousins blieb Emily stehen und warf Judd ein Lächeln zu, das ihre Grübchen sichtbar werden ließ. „Wow. Ich habe noch nie in diesem Zimmer übernachtet. Da kann ich ja vom Bett aus die atemberaubende Aussicht auf den Fluss genießen.“

„Zweifellos.“ Judd trat nur einen Schritt ins Zimmer und stellte den Koffer ab. Er ärgerte sich, dass seine Gedanken allein bei der Erwähnung des Wortes ‚Bett‘ auf Abwege gerieten. Fest entschlossen, ihr nicht in die schönen Augen zu sehen, schlug er knapp vor: „Sie packen erst mal aus. Ich … bin in der Küche.“

Dort angekommen, starrte er auf den trostlosen Inhalt des Kühlschranks, wobei er sich selbst einen Trottel schimpfte. Es war völlig verrückt, dass Alex’ Cousine vom Land ihn derart aus der Fassung brachte.

Er durfte sich von ihrer Schönheit nicht beeindrucken lassen. Sie war vor ihrem miesen Freund hierher geflohen, und er hatte seine eigenen Probleme. Er war wegen einer ärztlichen Untersuchung hier, und die möglichen Ergebnisse jagten ihm eine Heidenangst ein.

Und trotzdem hatte er, als er Emily vor der Tür erblickte, all das vergessen. Jetzt kehrte er langsam wieder zurück in die Realität, und sein gesunder Menschenverstand schaltete sich ein.

Emily würde eine Zeit lang das Apartment mit ihm teilen, und er hatte Alex versprochen, auf sie aufzupassen. Aber das konnte er auch auf eine distanzierte Art und Weise tun. Ein paar höfliche Worte ab und zu, und ein Mindestmaß an Gastfreundschaft, mehr nicht.

Er war froh, dass er das für sich geklärt hatte. Angesichts all der Dinge, die vor ihm lagen, sollte er nicht mehr als oberflächliches Interesse für seinen Gast zeigen.

Emily fragte sich, ob sie nicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte, als sie sich auf Alex’ riesiges Bett setzte.

Sie hatte sich seinem Mitbewohner aufgedrängt, und vom ersten Moment an war klar gewesen, dass Judd nicht gerade begeistert war über ihre plötzliche Ankunft. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam sie, während sie die Flucht nach Brisbane in Gedanken der Liste ihrer jüngsten Fehler hinzufügte.

Sie musste Judd versichern, dass sie nicht lange bleiben würde. Das Problem dabei war nur, dass sie unter keinen Umständen bereit war, nach Wandabilla zurückzukehren. Sie würde sich morgen früh nach einer anderen Unterkunft umsehen. Bis dahin wollte sie versuchen, Judd möglichst nicht zur Last zu fallen.

Er war völlig anders als Alex, das hatte sie sofort gesehen. Körperlich lagen zwischen den beiden Männern Welten. Ihr Cousin hatte genau wie sie rötliche Haare und war ein schlanker, intellektueller Typ. Judd dagegen war dunkelhaarig und groß, mit breiten Schultern – ein Mann, der anpacken konnte. Nicht zu rau oder kantig, sondern durchaus attraktiv.

Aber Alex hatte immer schon einen guten Männergeschmack gehabt.

Sie verzichtete auf das Auspacken, zog nur den Mantel aus und machte sich anschließend auf den Weg in die Küche. Dort entdeckte sie einen weiteren Unterschied zwischen Judd und Alex – ihr Gastgeber konnte anscheinend überhaupt nicht kochen.

Judd stand in der Küche, starrte in einen offenen Vorratsschrank und wirkte ratlos.

Als er sie bemerkte, zuckte er mit den Schultern. „Wenn ich in meine Arbeit vertieft bin, vergesse ich das Essen völlig.“

„Bitte, Sie müssen nicht für mich kochen“, versicherte sie ihm. „Ich kann mich selbst versorgen.“ Sie wollte keinesfalls eine Belastung für ihn sein, doch ihre Neugier gewann die Oberhand: „Was genau ist denn Ihre Arbeit?“

Judd runzelte die Stirn und antwortete widerstrebend: „Ich bin Schriftsteller. Deshalb arbeite ich zwar von zu Hause aus, aber ich bin hoffnungslos unorganisiert, wenn es um Mahlzeiten geht. Manchmal mache ich mir eine Dosensuppe warm, aber seit ich hier im West End wohne, hole ich mir meistens etwas in einem Take-away.“

Emily vermutete, dass er Alex’ Gourmetküche vermisste. „Ich weiß, dass es hier viele gute Restaurants gibt. Ich kann schnell losgehen und etwas für uns besorgen.“

„Ich komme mit“, erklärte er.

„Sind Sie sicher?“

„Ich habe Alex versprochen, mich um Sie zu kümmern.“

Am liebsten hätte sie entgegnet, dass sie durchaus in der Lage war, allein bis zum Restaurantviertel zu laufen, aber sie wollte es sich nicht gleich zu Beginn mit ihm verderben. „Gut. Ich hole nur schnell meinen Mantel.“

Sie fühlte sich bereits ein wenig besser, obwohl sie in ihrer Brust immer noch einen dumpfen Schmerz verspürte, sobald ihre Gedanken zu ihrem Exfreund Michael wanderten. So stark waren ihre Schuldgefühle, dass sich ihr der Magen umdrehte, als sie an die Ehefrau und Kinder dachte, die er leider vergessen hatte zu erwähnen. Aber allein die räumliche Entfernung zu Wandabilla half ihr, Abstand zu gewinnen. Zumindest kannte sie hier in Brisbane niemand, und sie musste sich keinen Gerüchten und neugierigen Blicken aussetzen.

Die Restaurants waren gut besucht, die Gäste lachten, plauderten und schienen sich gut zu amüsieren.

Vor einem indischen Lokal blieb sie stehen.

„Ist das Ihre Wahl?“, fragte Judd.

„Ein Curry wäre toll. In Wandabilla gibt es nur einen Chinesen, und ich liebe indisches Essen.“

„Also dann indisch“, stimmte er zu und ging hinein.

Sie bestellten zwei verschiedene Currys, ein vegetarisches und eins mit Fleisch, dazu gekochten Reis und indisches Fladenbrot.

„Und Samosas“, schlug Judd vor. „Als Vorspeise.“

Auf dem Rückweg zum Apartment, mit den köstlich duftenden Päckchen in der Hand, hielt er plötzlich an einem Blumenstand und kaufte einen Strauß leuchtend gelber Narzissen.

„Wow!“ Emily war völlig überrascht, als er ihr die sonnengelben Blumen überreichte. „Womit habe ich denn das verdient?“

„Ich habe gehört, dass Sie ein wenig Aufmunterung brauchen.“

„Oh.“ Das war genau die liebenswerte Geste, die Alex eingefallen wäre. Vielleicht hatte er seinem Mitbewohner Anweisungen gegeben.

„Das ist aber nett von Ihnen“, sagte Emily erfreut. Sie fühlte sich unerwartet dankbar und ein bisschen gerührt. Aus einem Impuls heraus stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte Judd einen Kuss auf die Wange. Zu ihrer Überraschung überzog plötzlich eine dunkle Röte sein Gesicht.

Voller Sorge, dass sie ihn vielleicht in Verlegenheit gebracht hatte, wechselte sie schnell das Thema. „Sollen wir vielleicht auch gleich etwas fürs Frühstück einkaufen, wenn wir schon einmal unterwegs sind?“

„Natürlich. Entschuldigung, ich bin in letzter Zeit manchmal etwas abgelenkt.“

Für einen Moment glaubte Emily, in Judds Augen einen Funken Angst oder Besorgnis aufflammen zu sehen, der aber so schnell verschwand, wie er gekommen war. Dennoch kam ihr der Gedanke, dass seine Arbeit vielleicht nicht das Einzige war, was ihn so beschäftigte.

Da sie ihn aber schlecht danach fragen konnte, steuerte sie einen kleinen Supermarkt an. Zügig suchte sie einige Lebensmittel aus, die Männer ihrer Meinung nach gerne aßen – Eier und Schinken, und dann noch eine Schale Blaubeeren, einen Becher Joghurt und eine Packung guten Kaffee. Judd bestand darauf zu bezahlen und wehrte ihren Protest entschlossen ab.

Auf dem Rückweg zum Apartment herrschte verlegenes Schweigen.

Zurück in der Küche stellte Judd die Transportbehälter auf den Küchentisch und suchte anschließend nach Besteck und Tellern.

„Wo essen Sie denn normalerweise?“, fragte Emily und war kein bisschen überrascht, als er erneut die Stirn runzelte. Es war ihr bereits klar geworden, dass dieser aufmerksame Blumenkauf nur eine kleine Abweichung von der Norm gewesen war und dass ab jetzt wieder Stirnrunzeln und Grimmigkeit auf der Tagesordnung standen. Sie erwartete fast, dass Judd ihr mitteilen würde, er äße am liebsten allein in seinem Zimmer vor seinem Computer.

Aber stattdessen fragte er: „Hier wäre doch gut, oder?“

„Natürlich.“ Emily bemühte sich, nicht allzu überrascht oder erfreut auszusehen, konnte aber nicht leugnen, dass ihr seine Gesellschaft lieber war, als mit ihren unerfreulichen Gedanken allein zu sein. Sie warf ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Wie wäre es mit Wein? Was ist Ihnen lieber, roter oder weißer? Alex hat immer beides da.“

„Eigentlich trinke ich keinen Alkohol.“

„Oh?“

„Ich verzichte derzeit darauf. Vorübergehend.“

Wieder einmal hatte sie das Gefühl, eine Gemütsregung bei ihm wahrzunehmen, die auf größere Sorgen schließen ließ. Einen Moment lang glaubte sie, Judd würde mehr darüber erzählen, aber dann schien er seine Meinung schnell wieder zu ändern.

„Dann trinke ich auch keinen Wein“, sagte sie. „Allein zu trinken, macht keinen Spaß.“

„Aber Sie sind nicht allein.“ Judd zeigte sich beharrlich. „Nur zu, trinken Sie ein Glas. Es wird Ihnen guttun. Ertränken Sie Ihre Sorgen.“

Wenn das nur so einfach wäre. Der Schmerz würde immer noch da sein, wenn die Wirkung des Alkohols nachließ. Trotzdem schenkte sich Emily ein Glas Weißwein ein, während Judd das verlockend duftende Essen auspackte und auf Teller verteilte. Dankbar ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

„Das riecht herrlich. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“

„Ich auch nicht. Ich bin kurz vorm Verhungern.“

Judd brachte Besteck, und bis auf ein gelegentliches beifälliges Nicken konzentrierten sich beide zunächst auf ihr Essen und ließen es sich schmecken. Seit der Trennung von Michael hatte Emily jedoch nur wenig Appetit und legte kurz darauf ihr Besteck zur Seite.

„Meine Augen waren wohl größer als mein Magen“, bekannte sie, während sie Judd dabei beobachtete, wie er sich eine weitere Portion auftat. Sie nippte an ihrem Wein, und weil Judd inzwischen ein wenig entspannter aussah, gab sie ihrer wachsenden Neugier nach. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage, aber wie lange kennen Sie Alex schon?“

Überrascht sah er sie an. „Warum sollte ich das nicht beantworten wollen? Wir kennen uns seit fünf Jahren. Wie schon gesagt, bin ich Schriftsteller. Alex ist mein Agent.“

„Ach wirklich?“ Die beiden verband also nicht nur eine private, sondern auch eine geschäftliche Beziehung. „Das ist ja ein praktisches Arrangement.“

Judd runzelte die Stirn, als hätte sie erneut etwas Merkwürdiges gesagt. „Ja, sehr praktisch.“

„Was schreiben Sie denn?“

„Krimis.“

Sie blickte ihn erstaunt an. „Kriminalromane?“

„Ja.“

„Wie interessant.“ Jetzt war sie diejenige, die überrascht war, und sie betrachtete ihren Gastgeber mit neu erwachtem Respekt.

„Sollte ich Sie kennen?“

„Nur, wenn Sie gern Krimis lesen.“

Emily las gern Krimis, bevorzugte aber Bücher von Autorinnen, weil diese mehr weibliche Charaktere in ihre Geschichten einbanden.

„Ich lese nicht so viele Krimis von Männern“, gab sie zu.

Das entlockte Judd tatsächlich ein Lächeln. „Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Deswegen kommt in meinen Büchern auch immer mindestens eine weibliche Hauptperson vor.“

„Aha.“ Ihr Respekt vor ihm wuchs mit jeder Minute. „Dann sollte ich wohl mal eins Ihrer Bücher lesen, nicht wahr?“

Er deutete eine Verbeugung an.

Bevor Emily jedoch zu einer neuen Frage ansetzen konnte, hob er die Hand. „Ich denke, das waren genug Fragen zu mir.“

„Aber …“ Emily verzog das Gesicht. „Unterhalten wir uns jetzt also über Alex? Oder über Weltpolitik?“

„Oder über Sie.“

„Glauben Sie mir“, warnte sie ihn bedrückt, „das wollen Sie nicht hören.“

Obwohl sie in die Stadt geflüchtet war, um sich bei Alex über Michael auszuweinen, konnte sie sich nicht vorstellen, Judd ihre privaten Probleme anzuvertrauen. Allein der Gedanke daran, ihm davon zu erzählen, wie ihr Freund sie betrogen hatte, ließ sie rot werden. Rasch trank sie einen kühlenden Schluck Wein, der diese Röte hoffentlich vertreiben würde.

Als hätte er ihre plötzliche Panik gespürt, fragte er nun: „Ich würde gerne wissen, was Sie beruflich machen.“

Das war auf jeden Fall leicht zu beantworten. „Ich arbeite in einer Bank.“

„Am Schalter?“

„Als Filialleiterin.“

„Wie bitte?“ Seine grauen Augen verengten sich. „Soll das heißen, Sie leiten eine Bankfiliale?“

„Genau.“

Judd starrte sie an.

„Glauben Sie mir etwa nicht?“

Er lächelte entschuldigend. „Es tut mir leid, dass ich so überrascht wirke, Emily. Es ist nur so, dass …“ Er holte tief Luft und gab sich große Mühe, ein erneutes Lächeln zu unterdrücken. „Ehrlich gesagt, bin ich fasziniert.“

„Die meisten Männer finden meine Arbeit langweilig.“ Oder sind davon eingeschüchtert.

„Vielleicht kennen Sie die falschen Männer.“

Ja, das hatte sie auf schmerzhafte Weise lernen müssen, aber zugeben wollte sie es nicht.

„Ich würde gern wissen, wie Sie an eine solche Position gekommen sind. Sie sind ja noch sehr jung.“

„Ehrlich gesagt, über Umwege.“

„Die besten Geschichten erlebt man niemals auf dem direkten Weg.“

Er wirkte tatsächlich interessiert, und Emily war sich sicher, dass Alex mit den Bemühungen seines Mitbewohners, den aufmerksamen Gastgeber zu spielen, sehr zufrieden sein würde. Zumindest lenkte sie ein Gespräch über ihre Arbeit von ihren düsteren Gedanken ab.

„Eigentlich habe ich nie vorgehabt, in einer Bank zu arbeiten“, gestand Emily. „Ich wollte immer eine berühmte Ballerina werden. Nach meinem Schulabschluss ging ich nach Melbourne, um Ballett zu studieren.“

„Eine Tänzerin. Das erklärt …“, murmelte er.

„Erklärt was?“

„Warum Sie sich so anmutig bewegen“, antwortete er, sah aber aus, als wünschte er sich, er könne seine Worte zurücknehmen.

„Ich habe das Ballett geliebt. Die Disziplin, die Musik und die Auftritte. Aber …“ Sie drehte den Stiel ihres fast leeren Weinglases zwischen den Fingern. „Nach ein paar Jahren bekam ich Probleme mit einem Choreographen.“

Sie blickte auf, direkt in Judds Augen, und stellte fest, dass er sie erneut nachdenklich beobachtete.

„Sagen wir einfach, dass ich kein Glück mit Männern habe.“

Sie seufzte. Die bloße Anwesenheit in Alex’ Küche erinnerte sie an all die anderen Male, die sie hier gewesen war und ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte.

Der Mann, der ihr jetzt gegenübersaß, war zwar nicht Alex, aber er hatte wunderbare rauchgraue Augen, aus denen er sie mitfühlend und verständnisvoll ansah. Wahrscheinlich fühlte sich Judd verpflichtet, Alex’ Platz einzunehmen.

Emily zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Männer geht, treffe ich oft die falschen Entscheidungen. Oder die Männer treffen falsche Entscheidungen. Ich weiß nicht, aber es endet immer damit, dass ich unglücklich bin und weglaufe.“

„Tun Sie das auch jetzt wieder?“, fragte Judd überraschend sanft.

„Ja.“ Sie trank ihr Glas aus und stand auf. „Lassen Sie mich das abräumen, nachdem Sie schon netterweise das Abendessen bezahlt haben.“

„Da sage ich nicht Nein.“ Auch er stand auf, wahrscheinlich erleichtert darüber, dass er sich zurückziehen konnte.

„Judd“, rief ihm Emily zu, als er gerade die Küche verlassen wollte.

Er drehte sich zu ihr um.

„Morgen früh werde ich verschwinden.“

Ein wachsamer Blick trat in seine Augen, und das Stirnrunzeln erschien wieder.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich finde schon etwas, keine Sorge. Hierherzukommen war eine spontane Idee. Ich wusste nicht, dass Alex weg ist. Ab morgen sind Sie mich los.“

Nach kurzem Schweigen meinte er nur: „Wenn Sie das so wollen.“

„Ja, will ich.“

Irgendwie war sie enttäuscht, als Judd nickte, ihr eine gute Nacht wünschte und sich mit den Worten zurückzog, er müsse noch arbeiten.

Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, ging Emily in Alex’ Zimmer und zog aus reiner Gewohnheit ihr Handy aus der Tasche. Sofort bereute sie es.

Die erste Nachricht war eine SMS von einer Freundin aus Wandabilla.

Stimmt das wirklich mit Michael? Oh mein Gott. Wie schrecklich!

Die Gerüchteküche brodelte bereits.

Emily dachte an das Foto, das sie gestern auf Facebook gefunden hatte – eine Aufnahme von Michael mit seiner hübschen Frau und zwei niedlichen Kindern, ein kleiner Junge, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, und ein kleines Mädchen mit blonden Locken.

Schmerz und Trauer überkamen sie. Wie hatte er ihr das antun können? Sie hatte ihm ein ganzes Jahr ihres Lebens geschenkt und den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollen.

Warum war sie nur so dumm gewesen?

2. KAPITEL

Die Nächte waren für Judd am schlimmsten. Tagsüber hatte er seine Gedanken unter Kontrolle und gestattete sich keine Grübeleien. Nachts jedoch, wenn er allein war, ohne Ablenkungen, war es um einiges schwieriger, sich keine Sorgen zu machen. Seine immer häufiger auftretenden Kopfschmerzen ließen auf ein ernstes medizinisches Problem schließen, insbesondere weil er in letzter Zeit auch immer öfter verschwommen sah.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es halb vier Uhr morgens war. Das war doch gar nicht so übel. Er hatte bereits ein paar Stunden geschlafen und musste nur noch wenige Stunden bis zum Morgengrauen totschlagen.

Judd schloss die Augen und zwang sich dazu, sich zu entspannen. Durch die tiefe Stille drangen Geräusche an sein Ohr.

Ein leises Weinen.

Aus Emilys Zimmer.

Alle Gedanken an seine eigenen Probleme waren sofort verschwunden. Judd setzte sich auf und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Emilys Schluchzen klang gedämpft, aber es hielt an …

Alex hätte gewusst, wie man ihr helfen konnte. Er hätte ihr zugehört, sie zum Reden ermuntert und instinktiv geahnt, was sie brauchte. Judd dagegen fühlte sich hilflos. Zu allem Übel hatte er auch noch ihr Angebot angenommen, am Morgen auszuziehen, was im Prinzip einem Rauswurf gleichkam.

Ziemlich mies, nachdem er doch versprochen hatte, sich um sie zu kümmern.

Langsam ließ das Weinen nach, aber an Schlaf war für Judd nicht mehr zu denken. Also stand er auf und setzte sich an seinen Laptop. Ein paar Stunden später kochte er gerade Kaffee, als Emily in der Küche erschien. Im Nachthemd.

Um Himmels willen. Beinahe hätte er seine Tasse fallen lassen. Was dachte sie sich nur dabei?

Ihr Nachthemd wirkte nicht offensichtlich provokativ oder durchsichtig, aber es war nicht schwer, sich unter der cremefarbenen Spitze ihren nackten Körper vorzustellen. Und mit ihrem rotgoldenen Haar, das ihr über die Schultern fiel, sah sie aus wie eine Prinzessin aus vergangenen Zeiten, wie die junge Elisabeth die Erste. Eine wunderschöne, aber müde Prinzessin, die eine schwere und qualvolle Nacht hinter sich hatte.

Judd bemühte sich nach Kräften, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren, wo man den Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. Er fragte sich, ob Emily davon ausging, dass er ihr gegenüber immun war, weil sie ihn für schwul wie Alex hielt. Vermutlich sollte er sie darüber aufklären, dass das nicht der Fall war, aber wie sprach man so ein Thema an, ohne dass es für alle Beteiligten peinlich wurde?

Stattdessen versuchte er, seine Reaktion zu überspielen. „Haben Sie Hunger?“, fragte er betont fröhlich. „Vielleicht Lust auf Pancakes? Oder Rührei mit Schinken?“

Statt ihm zu antworten, machte Emily jedoch eine wegscheuchende Handbewegung. „Ich kümmere mich um das Frühstück. Sie müssen anfangen zu schreiben.“

Er ignorierte ihre Geste und wollte gerade nach der Pfanne greifen, als ihm Emilys rotgeränderte Augen auffielen, eindeutig Spuren ihrer nächtlichen Tränen. Wahrscheinlich fände sie fröhliches Geplapper beim Frühstück unerträglich. Vielleicht wäre es das Beste, wenn er verschwinden und seine Arbeit vorschieben würde.

„Gut, dann gehe ich. Aber vorher muss ich Ihnen noch sagen, dass ich über Ihre geplante Abreise nachgedacht habe. Eigentlich besteht dazu keine Veranlassung.“

Hatte er das wirklich gerade gesagt?

Emily wirkte so überrascht, dass Judd seine Worte am liebsten zurückgenommen hätte. Die kommende Woche würde viel einfacher für ihn sein, wenn sie nicht da wäre.

„Sind Sie sicher, Judd?“

„Natürlich. Sie sind Alex’ Cousine, und er hat Ihnen seine Wohnung angeboten. Sie haben mehr Recht, hier zu sein, als ich.“

Ihre blauen Augen wirkten ein wenig misstrauisch. „Das ist sehr nett von Ihnen.“

Judd war sich sicher, dass er nicht halb so nett gewesen war, wie es Alex gehofft hatte. Er räusperte sich. „Und wenn Sie reden möchten …“

Bestürzt sah er, wie Emily feuerrot anlief.

„Ich möchte nicht neugierig sein“, fügte er unbeholfen hinzu. „Ich bin nicht Alex, aber wenn ich irgendwie helfen kann …“

„Das ist wirklich lieb von Ihnen, Judd, aber ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.“

Da er nicht wusste, was er darauf antworten sollte, zuckte er mit den Schultern. Lebenshilfe war nicht gerade seine Stärke.

Aber da seufzte Emily resigniert. „Ach, was soll’s. Vielleicht sollte ich Ihnen einfach erzählen, was passiert ist. Damit Sie Bescheid wissen.“

Judd lehnte sich gegen den Türrahmen und versuchte so auszusehen, als hätte er alle Zeit der Welt.

Emily begann: „Über ein Jahr war ich mit Michael zusammen. Er ist Geologe, und seine Arbeit führte ihn regelmäßig nach Wandabilla, wo er Probebohrungen machte. Er war charmant und sexy, und ich habe mich in ihn verliebt.“

Ihre Stimme begann zu schwanken. Den Blick fest auf den Strauß gelber Narzissen auf dem Küchentisch geheftet, holte sie tief Luft.

„Diese Woche wollten Michael und ich eigentlich zusammen Urlaub machen. Alles war schon geplant. Wir wollten auf die Fidschi-Inseln. Doch am Abend vor unserem Abflug schickte mir eine Freundin einen Link auf eine Facebook-Seite – von Michaels Frau.“

Judd spürte einen Kloß im Hals.

„Sind Sie absolut sicher, dass es derselbe Michael ist?“, fragte er und bemühte sich dabei um einen neutralen Tonfall.

Emily nickte. „Er hat es zugegeben. Er konnte es ja auch schlecht leugnen – auf der Seite war ein Foto von ihm, ein Familienbild mit seiner hübschen Frau und zwei süßen Kindern. Sie leben im Süden Australiens, und er heißt nicht einmal Michael. Sein Name ist Mark.“

Judd ballte die Hände zu Fäusten. Zu gerne hätte er dem Kerl eins auf die Nase gegeben.

„Jetzt kennen Sie meine traurige kleine Geschichte.“ Emilys Versuch eines Lächelns misslang gründlich. „Aber keine Sorge, mir geht’s gut. An gebrochenem Herzen stirbt man nicht. Ich komme schon darüber hinweg.“

„Bleiben Sie hier, solange Sie möchten. Ignorieren Sie mich einfach. Tun Sie einfach so, als wären Sie hier zu Hause.“

„Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht – danke.“

Er hob seine Kaffeetasse als Zeichen seiner Zustimmung. „Dann gehe ich mal zurück an die Arbeit, aber vielleicht komme ich später noch mal, um mir einen Toast zu machen.“

„Das kann ich doch übernehmen.“ Emily wirkte plötzlich ganz eifrig. „Womit essen Sie Ihren Toast denn gern? Marmelade? Schinken?“

„Schinken klingt gut, vielen Dank.“

„Ich bin berühmt für meine Schinkensandwiches.“

„Wunderbar.“

Zurück in seinem Zimmer, sagte Judd sich selbst, dass es das Beste sei, sich von Emily fernzuhalten. Sie brauchte etwas Zeit, um sich von ihrem Liebeskummer zu erholen, und er hatte genug eigene Sorgen.

Um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, klappte er seinen Laptop auf. Hoffentlich war ihm die Muse gnädig und ließ ihn in sein Fantasiereich flüchten.

Doch die Worte kamen nur mühsam.

Es waren sowieso nicht die richtigen. Judd kam mit seiner Arbeit irgendwie nicht voran und ließ sich sofort ablenken, als Emily mit einem Tablett im Türrahmen erschien. Noch immer trug sie ihr Nachthemd.

„Frühstück“, verkündete sie leise, so als hätte sie Angst, ein Genie bei der Arbeit zu stören.

Auf dem Tablett befanden sich das versprochene Schinkensandwich, das herrlich knusprig aussah, sowie ein Glas frisch gepresster Orangensaft und eine Tasse Kaffee.

„Sie sind ein Engel“, sagte Judd, woraufhin Emily ihm ein unsicheres Lächeln schenkte.

„Wohl kaum.“

„In diesem Aufzug sehen Sie jedenfalls wie einer aus.“

Als sie prompt rot wurde und verletzt aussah, hätte sich Judd am liebsten auf die Zunge gebissen. Dafür war es jedoch zu spät, denn Emily flüchtete bereits aus dem Zimmer. Schweigend sah er ihr nach.

Den Rest des Tages bekam er sie nicht mehr zu Gesicht. Natürlich war er dankbar, dass sie ihn in Ruhe arbeiten ließ. Allerdings lief es am Nachmittag auch nicht besser. Ihm fiel einfach nichts ein. gereizt verließ er schließlich abends sein Zimmer. Er war ärgerlich auf sich selbst, dass er so viele Stunden kostbare Zeit verschwendet hatte.

Normalerweise machte er in so einem Fall einen langen Spaziergang, um seine Gedanken zu ordnen. Heute Abend wurde er jedoch von köstlichen Düften aus der Küche angezogen.

Er folgte seiner Nase und entdeckte Emily, die sich eine von Alex’ bunten Schürzen umgebunden hatte. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten. Sie sah zum Anbeißen aus.

„Das duftet fabelhaft.“

Sie drehte sich zu ihm um, und obwohl sie erhitzt wirkte, schien sie doch deutlich glücklicher zu sein als heute Morgen, als sie aus seinem Zimmer geflüchtet war. Sie schenkte ihm sogar ein strahlendes Lächeln.

„Das ist Coq au Vin. Ich hoffe, das mögen Sie.“

„Ich werde es lieben, aber Sie müssen nicht für mich kochen, Emily.“

„Das macht mir nichts aus. Ich koche gern und immerhin kann ich mich damit für das Abendessen gestern revanchieren.“ Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Oder wollten Sie ausgehen?“

Judd dachte bei sich, er hätte einen seiner Kumpels anrufen und sich für heute Abend verabreden sollen. Das wäre sicher klüger gewesen, als noch einen Abend hier in dieser Wohnung mit einer Frau zu verbringen, die viel zu attraktiv war.

Zu seiner Überraschung hörte er sich jedoch sagen: „Ich habe nichts vor.“ Er holte sich ein Glas Wasser. „Das Essen riecht wirklich sensationell.“

„Hört, hört, und das sagt jemand, der sich aus Essen nichts macht …“

„Erwischt“, gab er mit einem reumütigen Lächeln zu.

Emily erwiderte sein Lächeln, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er dieses Lächeln gerne immer sehen würde.

„Ich habe mich bemüht, leise zu sein“, berichtete sie ihm. „Hatten Sie einen produktiven Tag?“

„Nicht wirklich.“

Einen Moment lang sah sie besorgt aus, aber dann weiteten sich ihre Augen voller Aufregung. „Ich habe heute eines Ihrer Bücher gekauft. Es heißt Dorn im Fleisch, und ich habe schon angefangen, es zu lesen. Es ist hervorragend, Judd. Total fesselnd. Ich kann es kaum erwarten weiterzulesen. Genau das Richtige, um mich von … allem … abzulenken.“

„Schön, dass ich Ihren Geschmack getroffen habe.“

Emily drehte sich zum Herd um und regulierte die Hitze unter dem Topf herunter. „Haben Sie etwas von Alex gehört?“, fragte sie beiläufig.

„Heute noch nicht.“

„Fehlt er Ihnen?“

Judd trank den letzten Schluck Wasser und zuckte mit den Schultern. „Nicht besonders. Er ist ja nur etwa drei Wochen fort.“

Da wurde ihm bewusst, wie Emily ihn ansah, die blauen Augen voller Mitgefühl. Mit einem Schlag traf ihn die Erkenntnis, dass sie ihn und Alex für ein Liebespaar hielt.

Er sollte das jetzt abstreiten. Ihr die Wahrheit sagen. Denn schon allein wie sie dastand in Jeans und Alex’ gestreifter Schürze, löste ein starkes Verlangen in ihm aus, das ihm Angst machte. Es überraschte ihn, dass sie hier im selben Raum mit ihm stehen konnte, ohne seine flammende Lust zu bemerken.

Warum war es nur so schwer, die Sache richtigzustellen? Übrigens, Emily, ich bin nicht schwul.

Normalerweise hätte er ihr das genau so gesagt. Aber hier gab es noch andere Faktoren zu berücksichtigen.

Ihr Vertrauen in Männer war schwer erschüttert worden. Sie hatte einen Zufluchtsort gebraucht und war deshalb hierhergekommen. Sich sicher zu fühlen, war derzeit sehr wichtig für sie, und Judd wollte das nicht ruinieren. Dieses Apartment bot ihr eine Auszeit von den Männern und half ihr, sich zu erholen.

Gleichzeitig war es genauso unsinnig, sich um seine Gefühle für Emily Gedanken zu machen. Eigentlich war er in die Stadt gekommen, um herauszufinden, was mit ihm los war. Er brauchte eine medizinische Diagnose, keine romantischen Verwicklungen.

Alles in allem schien es sicherer, Emily glauben zu lassen, er sei schwul. Schließlich würde sie bald wieder abreisen und er – ja, er hatte sein Leben in den Stand-by-Modus versetzt, bis er wusste, was die Zukunft brachte.

Als Emily am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich schon ein wenig besser. Sie hatte sogar recht gut geschlafen, sicher auch weil der vorangegangene Abend mit Judd so angenehm gewesen war.

Sie hatten sich das Essen schmecken lassen, das von Judd überschwänglich gelobt worden war. Danach hatten sie sich beide mit einem Buch in die gemütlichen Ohrensessel gekuschelt und bei leiser Hintergrundmusik gelesen. Es war ein gemütlicher und entspannter Abend gewesen, genauso wie Emily es von den Abenden mit Alex gewohnt war.

Nachdem sie sich eine Jeans und einen Pullover angezogen hatte, um weitere Kommentare über Engel und Nachthemden zu vermeiden, war es schon fast neun Uhr, als sie die Küche betrat. So lange hatte sie schon ewig nicht mehr geschlafen.

Emily kochte Kaffee und machte Blaubeerpfannkuchen, und wie schon am vorherigen Tag lud sie alles auf ein Tablett und klopfte vorsichtig an Judds Tür. Ihm das Frühstück zu bringen, war das Mindeste, was sie tun konnte, wenn er schon so großzügig die Wohnung mit ihr teilte.

Auf ihr Klopfen kam jedoch keine Antwort. Sie überlegte, ob er sich vielleicht gerade in einer Art künstlerischem Rausch befand, bei dem die Worte nur so aus seiner Vorstellung direkt über die Fingerspitzen und Tasten in das Manuskript flossen. Sie klopfte noch einmal, diesmal lauter.

Die einzige Reaktion aus dem Zimmer war ein unterdrücktes Brummen.

„Judd, haben Sie Appetit auf Kaffee und Pancakes?“

Nach einem weiteren kurzen Moment der Stille öffnete sich die Tür und Judd erschien im Türspalt. Er trug schwarze Boxershorts und ein graues T-Shirt, das die Muskeln an Oberkörper und Arm eng umschloss. Die Augen hatte er zusammengekniffen, als ob das gedämpfte Flurlicht viel zu hell für ihn wäre.

Seine Haare waren zerzaust, sein Kinn von einem tiefdunklen Bartschatten bedeckt, aber es war der glasige Ausdruck in seinen Augen, der Emily verriet, dass er Schmerzen hatte.

„Ich lasse das Frühstück heute mal aus“, erklärte er ihr matt. „Die Pancakes sehen toll aus, aber ich habe keinen Hunger.“

„Ist Ihnen nicht gut?“

„Kopfschmerzen.“

„Oje, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie etwas? Aspirin? Kamillentee?“

Ein dünnes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er schüttelte den Kopf, wobei er sofort das Gesicht verzog, als wäre die Bewegung zu schmerzhaft gewesen.

„Keine Sorge, ich habe Medikamente, weil ich öfters an Kopfschmerzen leide. Ich lege mich jetzt noch mal für eine Stunde aufs Ohr, dann geht es gleich besser.“

Da Judd offensichtlich nicht weiter gestört werden wollte, ging Emily auf Zehenspitzen zurück in die Küche. Sie machte sich Sorgen.

Das Sonnenlicht lockte, und so setzte sich Emily mit ihrem Frühstück ans geöffnete und verschlang beim Essen die beiden letzten Kapitel von Dorn im Fleisch.

Judd hatte eine wunderbare Geschichte geschrieben. Ganz abgesehen von der aufregenden Verfolgungsjagd am Ende, bei der die bösen Buben erwischt wurden, gab es auch ein herrlich romantisches Happy End für den Helden und die Heldin.

Als Emily das Buch aus der Hand legte, wurde ihr mit einem Schlag wieder die unangenehme Realität bewusst. Ihre eigenen Romanzen waren nie so glücklich gewesen. Alle waren plötzlich und unglücklich zu Ende gegangen, sodass sie sich inzwischen wie die größte Versagerin in Liebesdingen fühlte.

Angefangen hatte es mit Dimitri, dem attraktiven russischen Choreographen an der Ballettschule in Melbourne. Damals war sie jung und naiv gewesen. Dimitri hatte sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, als sich eine der Startänzerinnen des australischen Balletts für ihn interessierte. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis Emily das überwunden hatte.

Zurück in Wandabilla hatte sie Dave kennengelernt, einen netten, grundsoliden Farmer. Diesmal war sie sich sicher, den Richtigen gefunden zu haben. Sie wollte ihn heiraten und mit ihm auf einer Farm in der Nähe ihrer Eltern leben – sie hatte sich das alles wunderbar ausgemalt.

Daves große Liebe hatte dem Rodeo gegolten, und irgendwann war er auf eine Wettkampfreise gegangen, die ihn zu Turnieren in die entlegensten Ecken Australiens führte.

Und irgendwo dort hatte er dann Annie kennengelernt, die seine Leidenschaft für Pferde und Reisen teilte, und plötzlich hatte er sich nicht mehr bei Emily gemeldet.

Danach hatte sie sich in ihre Arbeit gestürzt und zahlreiche Weiterbildungen zu Kundenservice, Marketing und anderen Themen besucht, die ihr die Karriereleiter hinaufhelfen konnten.

Als sie bereit war, sich wieder mit Männern zu verabreden, hatte sie sich strenge Regeln auferlegt. Sie würde nie wieder so vertrauensselig sein und sich nicht mehr verlieben, bis sie einen Mann traf, der alle ihre Erwartungen erfüllte.

Und dann war Michael auf der Bildfläche erschienen.

Er sah gut aus, kleidete sich stilvoll und konservativ, war intelligent und charmant – der perfekte Mann. Emily hatte jedoch aus ihren Fehlern gelernt und hielt sich ihm gegenüber anfangs zurück. Michael machte aus seinem Interesse an ihr jedoch keinen Hehl, und geschmeichelt beschloss sie irgendwann für sich, dass er es ernst meinte.

Er kam aus dem Süden und arbeitete als Geologe für ein Minenunternehmen, das in Wandabilla Probebohrungen durchführen ließ. Deshalb war er immer nur sechs Wochen am Stück in ihrer Stadt, aber das regelmäßig. Wenn er zu Hause war, rief er sie immer an oder schrieb ihr.

Diesmal war sie sicher, den Richtigen gefunden zu haben. Waren Geologen denn nicht intelligent, gebildet und zuverlässig?

Weit gefehlt.

Michaels Verrat hatte ihr unglaublich wehgetan. Sie war nicht nur enttäuscht, sie fühlte sich betrogen, benutzt und lächerlich gemacht, als hätte sie seit Dimitri überhaupt nichts dazugelernt. Und obwohl sie selbst auch das Opfer von Michaels Betrug war, fühlte sie sich schuldig, weil sie mit dem Mann einer anderen Frau geschlafen hatte.

Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sehr Michaels – nein, Marks – Frau ihn liebte und wie verletzt sie sein würde, sollte sie jemals alles herausfinden.

Emilys Stimmung verdüsterte sich noch mehr, als sie in die Küche zurückging und sah, dass ihr Handy blinkte.

Sie drückte den Nachrichtenknopf – fünf neue SMS von Leuten aus Wandabilla!

Und drei Sprachnachrichten von Michael/Mark. Sie hörte die erste ab – lauter fadenscheinige Entschuldigungen und die flehende Bitte, ihn zurückzurufen.

Der Klang seiner Stimme ließ erneut Wut und Trauer in ihr hochkommen. Am liebsten hätte Emily das Handy quer durchs Zimmer geschleudert, doch sie machte sich Sorgen, dass der Lärm Judd aufwecken könnte.

Ihr Blick fiel auf seinen Roman Dorn im Fleisch, der noch auf dem Frühstückstablett lag, und sie dachte an die toughe Heldin. Von jetzt an würde sie auch so eine starke Frau sein.

Lächelnd nahm sie das Telefon und löschte jede einzelne Nachricht.

Ein gutes Gefühl.

3. KAPITEL

Am Nachmittag machte Emily es sich auf dem Sofa gemütlich. Sie war noch einmal in der Buchhandlung gewesen und hatte sich zwei weitere Bücher von Judd gekauft. Jetzt vertiefte sie sich in die spannende Mystery-Geschichte, die in einer wildromantischen Küstenlandschaft angesiedelt war. Plötzlich hörte sie, wie sich Judds Zimmertür öffnete. Kurz darauf erklang das Rauschen der Dusche im Bad.

Gut – dann ging es ihm bestimmt besser. Sie war überrascht, wie sehr sie das freute. Nicht einmal das Buch konnte sie jetzt mehr fesseln, als sie darauf wartete, dass Judd aus dem Bad kam. Es war ihr wichtig, dass es ihm gut ging.

Als er endlich frisch rasiert und mit noch feuchten Haaren das Wohnzimmer betrat, kniff er weder schmerzverzerrt die Augen zusammen, noch runzelte er die Stirn. Fast konnte man meinen, er hätte niemals Kopfschmerzen gehabt.

„Fühlen Sie sich besser?“, fragte Emily in bester Krankenschwesternmanier.

„Viel besser, danke.“ Er bemühte sich, ihre Sorgen zu zerstreuen. „So gut, dass ich jetzt ausgehen werde.“

Verrückterweise spürte sie sofort einen Stich der Enttäuschung. Warum bloß? Eigentlich war sie bisher niemand gewesen, der immer Gesellschaft brauchte. Sie ärgerte sich über sich selbst.

„Übrigens“, sie zeigte Judd das Buch, in dem sie gerade las, „das hier gefällt mir hervorragend.“

Judd warf einen Blick auf den Buchumschlag und lachte. „Habe ich da etwa einen neuen Fan gewonnen?“

„Vielleicht“, gab sie leichthin zurück.

Die Hände tief in die Taschen seiner Jeans vergraben, deutete Judd eine feierliche Verbeugung an. Dann drehte er sich um und ging zur Tür.

„Machen Sie sich keine Gedanken über das Abendessen.“, rief er ihr im Gehen zu. „Heute bin ich mit Kochen dran.“

Emily wollte ihn gerade verwundert fragen, seit wann er denn kochen könne, als sie das amüsierte Glitzern in seinen Augen bemerkte.

„Wie wäre es diesmal mit Thai? Ich kenne da ein gutes Restaurant, das auch außer Haus verkauft.“ Mit diesen Worten war er auch schon verschwunden, noch ehe Emily ihm antworten konnte.

Als sich die Haustür hinter ihm schloss, erschien ihr das Apartment merkwürdig leer.

Es war schon fast dunkel, als Judd mit dem versprochenen thailändischen Essen zurückkam. Während des Essens beobachteten sie in der Ferne den Sonnenuntergang über dem Mount Coot-Tha.

„Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht heute Abend Lust haben, ins Kino zu gehen“, sagte Judd plötzlich während des Essens. „Es würde uns beide aufmuntern.“

„Brauchen wir denn Aufmunterung?“

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Sind Sie nicht deshalb hier?“

„Ja“, gab Emily zu, „aber Sie sind nicht für meine Unterhaltung zuständig. Bitte fühlen Sie sich mir gegenüber nicht verpflichtet.“

„Ach, mir würde ein wenig Aufheiterung auch nicht schaden. Diese verflixten Kopfschmerzen haben mir doch ganz schön zugesetzt.“

„Kein Wunder.“

Emily wurde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte, als er zugab. Da sie ihn aber nicht gut genug kannte, um ihn direkt darauf anzusprechen, fragte sie nur: „Ich nehme an, Sie möchten einen Krimi sehen, oder?“

„Würde Ihnen das etwas ausmachen? Mit Frauenfilmen konnte ich leider noch nie viel anfangen.“

„Das überrascht mich. Ich hätte gedacht, dass Sie sich solche Filme zu Recherchezwecken ansehen. In Ihren Büchern schreiben Sie so wunderbar romantische Szenen.“

„Ach ja?“ Er wirkte ertappt, fast ein wenig schuldbewusst.

„Machen Sie sich keine Gedanken“, versicherte ihm Emily. „Ein Krimi ist schon in Ordnung. Ich bin garantiert nicht in der Stimmung für einen Liebesfilm.“

Als sich ihre Blicke diesmal trafen, nahm sie in Judds Gesicht einen anderen Ausdruck wahr – ein flüchtiges Aufflackern seiner wunderschönen grauen Augen, das sie völlig unvorbereitet traf und das sie von einem homosexuellen Mann nicht erwartet hätte. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, dass er sie sehr bewusst wahrnahm – als Frau.

Zu ihrer Erleichterung schlug er einfach vor: „Einen Krimi also. Seit letzter Woche läuft ein richtig guter. Ich lade Sie ein. Schließlich kann ich das als Recherche von der Steuer absetzen.“

Das Haus zu verlassen, war eine gute Idee gewesen. Da es recht kühl geworden war, hatten sie sich warm eingepackt.

Wie Judd es vorhergesagt hatte, war der Film unglaublich spannend. Fast zwei Stunden lang dachte Emily keinen Moment an Michael.

„Das war keine verschwendete Zeit“, erklärte sie glücklich, als sie das Kino verließen.

„Haben Sie Lust auf noch etwas mehr Zerstreuung? Wenn Sie es mit dem Heimgehen nicht eilig haben, könnten wir irgendwo einen Kaffee trinken“, bot Judd an.

Die Rückkehr ins Apartment würde für Emily auch eine Rückkehr zu ihren trüben und einseitigen Gedanken und in die Einsamkeit ihres Zimmers bedeuten.

„Gerne. Und ich freue mich, dass Sie sich völlig erholt haben.“

„Ja, das habe ich.“ Er lächelte, konnte aber den Schatten nicht verbergen, der über sein Gesicht huschte.

Emily wünschte sich, sie hätte das nicht gesehen. Sie fragte sich, ob er genau wie sie versuchte, sich abzulenken. Wahrscheinlich war es gut, dass sie dem Kaffee zugestimmt hatte.

In einem gut besuchten Café ergatterten sie einen Tisch in einer ruhigen Ecke. Emily bestellte heiße Schokolade und Judd einen chinesischen Lapsang Souchong, einen sogenannten Rauchtee.

„Sie trinken denselben Tee wie ihr Romanheld Raff“, stellte Emily fest.

Er lächelte. „So ein merkwürdiger Zufall.“

Sie ließen sich ihre heißen Getränke schmecken und diskutierten über die Handlung des Krimis.

„Die Drehbuchautoren wussten jedenfalls gut über Kriminalität und die Schattenseiten der Gesellschaft Bescheid“, vermutete Emily.

Sie warf Judd über den von einer kleinen Lampe beleuchteten Tisch hinweg einen interessierten Blick zu. „Genau wie Sie. Das merkt man an Ihren Büchern. Wie machen Sie das? Wie versetzen Sie sich in die Gedankenwelt eines hartgesottenen Kriminellen?“

„Durch Recherche“, antwortete er einsilbig.

„Ja, das dachte ich mir schon. Wie, möchte ich wissen. Mit wem sprechen Sie?“

„Hartgesottenen Kriminellen.“

Das sagte er so trocken und mit solch unbewegter Miene, dass sie einen Moment lang fast darauf reinfiel.

„Sie wollen also sagen, dass der Umgang mit Ihnen zweifelhaft ist.“

Lachfältchen erschienen um seine Augen. „Keine Sorge. Sie sind sicher bei mir.“

Als sich ihre Blicke begegneten, verspürte Emily plötzlich eine Wärme, die ihr völlig unangebracht erschien.

Sie bemühte sich, dieses Gefühl abzuschütteln. „Ich würde wirklich gerne wissen, wie Sie Ihre Geschichten so real gestalten können.“

„Ich kenne einige Leute bei der Polizei und beim Militär, und habe sie gnadenlos über ihre Arbeit ausgefragt. Dann habe ich mehrere Tage mit einem Schießtrainer verbracht und mir einen weiteren Tag lang das Kommandotraining beim Militär angesehen. Ich habe sogar daran teilgenommen, deshalb weiß ich, wie es ist, in Handschellen gelegt, auf den Boden geworfen und dort festgehalten zu werden, während eine taktische Einheit eine Geiselsituation simuliert.“

Lächelnd fügte er hinzu: „Und jetzt kenne ich eine Bankfilialleiterin, und das könnte sich auch als sehr praktisch erweisen. Ich kann mir ein Dutzend Geschichten vorstellen, in denen ein Bankraub und eine schöne Direktorin eine Hauptrolle spielen.“

Emily errötete und presste die Hände gegen ihre Wangen, um die aufsteigende Hitze zu unterdrücken. Sie fühlte sich albern, denn diese Reaktion auf eine Bemerkung, die sicherlich in keiner Weise erotisch gemeint war, kam ihr übertrieben vor. Schließlich hatte er nur gesagt, dass er sie hübsch fand.

Sie verfielen in Schweigen, und Emily trank hastig ihre heiße Schokolade aus. „Oje, wahrscheinlich habe ich jetzt einen Kakaoschnurrbart.“ Verlegen lächelnd griff sie nach einer Serviette.

„Lassen Sie mich das machen.“

Zu ihrer Überraschung nahm Judd ihr die Serviette aus der Hand und tupfte damit ihre Oberlippe ab. Der Druck seiner Finger so nahe an ihrem Mund wirkte seltsam vertraulich, und sein intensiver Blick raubte ihr den Atem.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blinzelte er plötzlich wie jemand, der aus einer Trance erwacht, und warf die Serviette auf seine Untertasse. „Worüber sprachen wir gerade?“

Emily konnte sich an nichts mehr erinnern. Zu ihrer Bestürzung dachte sie darüber nach, wie attraktiv er war, und dass die Botschaft in seinen grauen Augen ihr das Gefühl gegeben hatte, schwerelos zu sein. Zwischen ihnen gab es ein unbestimmtes Knistern, das sie verwirrte.

Das musste ein Produkt ihrer Fantasie sein.

Mit einer hilflosen, nervösen Geste versuchte sie, den merkwürdigen Zauber zu brechen, der sie offenbar befallen hatte. Prompt warf sie dabei den Pfefferstreuer um. Sofort musste sie niesen und wühlte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

Glücklicherweise schlug Judd vor zu gehen, nachdem sie endlich mit dem Naseputzen fertig war. Dankbar stimmte Emily zu.

Draußen war es kälter als zuvor. Sie schlug ihren Mantelkragen hoch und steckte die Hände tief in die Taschen. Sie hoffte, die kühle Nachtluft würde ihr einen klaren Kopf verschaffen, damit dieser Unsinn ein Ende hatte. Während sie schweigend neben Judd herlief, fragte sie sich, was er wohl dachte. Hatte er ihre alberne Reaktion bemerkt?

Sie war dankbar, dass auf dem Rückweg nicht gesprochen wurde. Jedes Mal, wenn sie einen Blick auf Judd riskierte, wirkte er düster und in Gedanken versunken. Deshalb war sie überrascht, als er sich im Apartment angekommen mit einem warmherzigen Lächeln zu ihr umwandte.

„Danke für den schönen Abend.“

„Ich habe zu danken“, erwiderte sie höflich. „Ausgehen war eine gute Idee. Genau das, was ich gebraucht habe.“

„Geht mir genauso.“

Sie standen regungslos im Flur, als wären sie erneut von einem mysteriösen Zauber befallen. Aber das Letzte – das Allerletzte –, was Emily erwartet hätte, war, dass Judd sie küsste.

Auf den Mund.

Aber genau das tat er.

Bevor sie überhaupt Zeit zum Nachdenken hatte, umfasste er bereits ihre Schultern und küsste sie gekonnt. So gekonnt, dass sie zuerst vergaß, geschockt zu sein. Sein Duft und die warmen Lippen waren verführerisch. Instinktiv schloss sie die Augen und gab sich dem Moment hin.

Eine viel zu lange Zeit verstrich, bis ihr durch den Kopf schoss, dass dieser Kuss ein Fehler war.

Um Gottes willen.

Erschrocken machte sie einen Schritt zurück.

Wie hatte das passieren können? Hatte ihr Gehirn einen Kurzschluss gehabt? Fassungslos presste sie die Finger auf ihre prickelnden Lippen. „Das war … unerwartet.“

Die Untertreibung des Jahres.

„Es tut mir leid“, bekannte Judd. „Ich konnte nicht anders. Du bist so liebenswert.“

„Und …“, sie schnappte nach Luft, als die Wahrheit offensichtlich wurde. „Und du bist nicht schwul.“

„Nein“, entgegnete er sanft, „das bin ich nicht.“

Außer sich vor Zorn hob sie die Hand und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Danach machte sie auf dem Absatz kehrt, marschierte den Flur entlang und knallte die Tür hinter sich zu. Rumms!

Judd zuckte zusammen, als Emilys Tür zuschlug.

Gut gemacht, Marlowe.

Was in aller Welt hatte ihn bloß veranlasst, Emily zu küssen? War er verrückt geworden?

Obwohl er sie eigentlich nicht wirklich angelogen hatte, hatte er ihr doch die Wahrheit verschwiegen, dass er und Alex nur Freunde und Geschäftspartner waren. Und er hätte auf jeden Fall eben mehr Selbstbeherrschung zeigen müssen. Schließlich war Emilys Vertrauen bereits genug erschüttert worden. Verdammt noch mal, sie hatte doch erst vor ein paar Tagen eine Beziehung beendet.

Aber er war heute Abend auf der Suche nach Ablenkung gewesen, um die Untersuchungen zu vergessen, denen er sich nachmittags im Krankenhaus unterzogen hatte. Morgen wollte man ihm die Ergebnisse mitteilen und dann würde er endlich wissen, was die Ursache für seine Kopfschmerzen und Sehprobleme war, die ihn während der letzten paar Monate gequält hatten.

Das war egoistisch von ihm gewesen.

Leider fand er sie unwiderstehlich. Und er war nicht der erste Mann mit diesem Problem.

Stundenlang lag Emily wach und schäumte vor Wut über die unehrlichen Männer.

Erneut hintergangen worden zu sein, war fast mehr, als sie ertragen konnte.

Trotz ihres Ärgers tat es ihr inzwischen leid, dass sie Judd geschlagen hatte. Denn sie hatte das ungute Gefühl, dass sie nicht wirklich Judd hatte schlagen wollen, sondern Michael-Schrägstrich-Mark. Jetzt musste sie nicht nur mit ihrem Ärger fertig werden, sondern auch noch mit ihren Schuldgefühlen. Verflixt, sie war Judds Gast, und sie konnte auch nicht einfach jeden Mann schlagen, der versuchte, sie zu küssen.

Es dauerte sehr lange, bis sie endlich einschlief, aber dann schlummerte sie tief und fest und erwachte erst spät.

Der Zorn vom vergangenen Abend hatte nachgelassen. Granny Silver hatte ihr immer gesagt, dass alles nicht mehr so schlimm war, wenn man erst einmal darüber geschlafen hatte. Wieder einmal hatte ihre Großmutter recht behalten.

Im Licht des neuen Tages entschied sie, dass es keinen Grund zum Schmollen gab. Judd war so freundlich gewesen, das Apartment mit ihr zu teilen, und sie musste zukünftig einfach nur sehr vorsichtig sein. Mehr auf ihren Kopf als auf ihr Herz hören, so wie die Heldinnen in Judds Büchern.

Außerdem hatte Judd nach ihrer Reaktion vom Vorabend bestimmt keine Lust auf eine Wiederholung, sodass sie hoffentlich ihre Freundschaft ohne großes Drama wiederaufnehmen konnten. Beim Frühstück würde sie etwas in dieser Richtung vorschlagen.

Als Emily jedoch schließlich geduscht und angezogen war, stellte sie fest, dass Judd längst fort war. Seine Zimmertür stand weit offen und sie konnte sehen, dass er sein Bett gemacht, den Laptop geschlossen und sogar seinen Schreibtisch aufgeräumt hatte.

Enttäuscht ging sie zurück in ihr Zimmer, um das Handy einzuschalten. Selbst eine dieser sensationslüsternen SMS aus Wandabilla wäre ihr in diesem Moment recht gewesen, aber sie sah sogar noch etwas Besseres – eine Nachricht von ihrer Großmutter.

Es war ein schönes Gefühl, Grannys melodische Stimme zu hören, und Emily rief sofort zurück. „Granny, es tut mir leid, dass du mich nicht erreicht hast.“

„Das macht doch nichts. Ich habe nur angerufen, weil ich heute nach Brisbane komme. Ich habe einen Termin im Krankenhaus.“

„Es ist doch nichts Ernstes?“

„Nein, zum Glück nicht. Nur mein halbjährlicher Kontrolltermin nach meiner Operation wegen des Grauen Stars.“

„Ach so. Wann hast du denn deinen Termin? Ich kann dich am Krankenhaus abholen und wir können zusammen Mittag essen.“

„Das wäre wunderbar, Emily. Danke.“

„Prima, ich freue mich darauf.“

Emily mochte Krankenhäuser nicht – sie waren so groß, steril und trostlos. Als sie in der Augenklinik ankam, wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Großmutter noch im Behandlungsraum war, deshalb nahm sie Platz und blätterte in einer völlig veralteten Zeitschrift. Hätte sie nur eins von Judds Büchern mitgebracht.

Während sie noch darüber nachdachte, wurde ihre Aufmerksamkeit von festen Schritten auf dem polierten Linoleumfußboden geweckt. Als sie aufsah, entdeckte sie Judd.

Er schritt den Gang entlang und wirkte blass und besorgt. Bei Emilys Anblick hielt er abrupt inne.

„Was machst du denn hier?“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Ärger und Schrecken. „Bist du mir gefolgt? Das hier geht dich nichts an, Emily.“

„Ich hole nur meine Großmutter ab. Sie hat einen Termin beim Augenarzt.“

„Ach so.“ Die steile F...

Autor

Barbara Hannay
Die Kreativität war immer schon ein Teil von Barbara Hannays Leben: Als Kind erzählte sie ihren jüngeren Schwestern Geschichten und dachte sich Filmhandlungen aus, als Teenager verfasste sie Gedichte und Kurzgeschichten. Auch für ihre vier Kinder schrieb sie und ermutigte sie stets dazu, ihren kreativen Neigungen nachzugehen. Doch erst als...
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Fiona Harper
Als Kind wurde Fiona dauernd dafür gehänselt, ihre Nase ständig in Bücher zu stecken und in einer Traumwelt zu leben. Dies hat sich seitdem kaum geändert, aber immerhin hat sie durch das Schreiben ein Ventil für ihre unbändige Vorstellungskraft gefunden. Fiona lebt in London, doch sie ist auch gern im...
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Therese Beharrie
Autorin zu sein war immer Therese Beharries Traum. Doch erst während ihres letzten Studienjahres, als der Arbeitsalltag in einem Unternehmen bereits auf sie wartete, wurde ihr klar, dass sie diesen Traum bald zur Wirklichkeit machen wollte. Also machte sie sich ernsthaft ans Schreiben. Inzwischen verdient sie tatsächlich ihren Lebensunterhalt mit...
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