Romana Exklusiv Band 381

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  • Erscheinungstag 16.11.2024
  • Bandnummer 381
  • ISBN / Artikelnummer 0853240381
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Holly Baker

1. KAPITEL

„Wie geht es dir denn im Moment, so ohne Job?“, fragte Amy am anderen Ende der Leitung.

„Gut“, antwortete Phoebe, obwohl sie sich da nicht so sicher war. „Ich bin ja auch nicht direkt ohne Job, ich mache gewissermaßen eine Zwangspause.“

„Und was hast du jetzt vor? Bis du im Januar die neue Stelle antrittst, sind es ja noch ein paar Wochen.“

Das war eine gute Frage, auf die Phoebe leider auch keine Antwort hatte. „Keine Ahnung. Ausspannen?“

Phoebe hörte, wie Amy tief Luft holte. „Ich will dir ein Angebot machen, Phoebe. Was hältst du davon, wenn du für ein paar Wochen nach Saintes-Maries-de-la-Mer kommst und in der Zeit meine Praxis übernimmst? Ich möchte gerade am Anfang mehr für Marie da sein. Mein Onkel kann die Arbeit mit den Pferden und Stieren nicht übernehmen, außerdem ist er mit den Kleintieren vollkommen ausgelastet. Und einfach die Praxis schließen geht auch nicht. Dafür gibt es zu wenige Tierärzte hier in der Gegend. Die Verpflegung meiner Patienten muss gewährleistet sein.“

Phoebe, die gerade ihre Orchideen goss, ließ den Arm mit der Gießkanne sinken. „Du willst, dass ich zu dir nach Frankreich komme?“

„Wäre das nicht wunderbar? Seit deinem Auslandssemester in Paris haben wir uns kaum gesehen, und das ist immerhin schon ein paar Jahre her.“

Phoebe stellte die Kanne beiseite und ließ sich auf den weißen Sessel sinken, der direkt am Fenster stand.

„Ich weiß nicht“, sagte sie zögerlich. „Kann ich hier einfach alles stehen und liegen lassen?“ Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Obwohl sie erst seit ein paar Tagen nicht mehr zur Arbeit musste, sah es picobello aus: Die Fenster waren geputzt, sie hatte überall Staub gewischt und den Inhalt ihrer weißen Wohnzimmerschränke sortiert. Was sollte sie mit den kommenden zwei Monaten anfangen?

Amy lachte. „Was lässt du denn stehen und liegen? Wenn ich mich richtig erinnere, befindest du dich gerade zwischen zwei Jobs und in keiner festen Beziehung. Und jetzt komm mir nicht damit, dass du ausspannen willst. Ich kenne dich, dir würde in London die Decke auf den Kopf fallen.“

Nun lachte auch Phoebe. Amy kannte sie besser als die meisten ihrer Freunde, und dabei hatten sie sich wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Zu lange.

Phoebe erinnerte sich an ihre gemeinsame Zeit in Paris, wo sie Veterinärmedizin studiert hatten. Sie mochten sich auf Anhieb, machten die Nacht zum Tag, verbrachten fast jede freie Minute zusammen. Doch dann musste Phoebe zurück nach London, und obwohl sie sich seitdem nur noch selten sahen, hatte ihre Freundschaft nie darunter gelitten.

Phoebe stellte sich bereits vor, wie es sein würde, endlich mal wieder mehr Zeit mit Amy zu verbringen. Sie blickte aus dem Fenster und betrachtete die bunt gestrichenen Fassaden Notting Hills. Das Leben in London gefiel ihr, aber Amy hatte recht: Innerhalb der nächsten Wochen würde Phoebe mit Sicherheit die Decke auf den Kopf fallen. Außerdem war jetzt die beste Gelegenheit, um ihre Freundschaft mit Amy wieder aufleben zu lassen. Bald würde sie wieder Verpflichtungen haben, doch im Moment war sie ungebunden und frei.

„Na komm, was überlegst du noch?“, hakte Amy nach. „Wir wissen beide, dass du es machen wirst.“

Phoebe lächelte in sich hinein und fasste einen spontanen Entschluss. „Okay, ich mach’s.“

Am anderen Ende der Leitung brach Amy in Jubel aus. „Oh, das ist toll, ich freue mich ja so! Dann lernst du auch endlich Nathan und Marie kennen.“

„Kaum zu glauben, dass ich deinen Mann und deine Tochter noch gar nicht kenne“, erwiderte Phoebe. „Jetzt brauche ich nur noch einen Platz zum Schlafen.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Amy sofort. „Das ist alles schon geklärt. Nathan hat doch einen Reiterhof, und jetzt im Oktober ist nicht mehr so viel los wie im Sommer. Du bekommst eine kleine Ferienwohnung mit Blick auf die Koppel, und zur Praxis meines Onkels ist es auch nicht weit.“

„Das hast du dir wohl schon alles zurechtgelegt, was?“, meinte Phoebe, doch sie war ihrer Freundin keineswegs böse. „Wann soll ich kommen?“

„Wann du willst, hier steht alles bereit für dich. Sag einfach Bescheid, wenn du einen Flug gefunden hast. Dann hole ich dich vom Flughafen ab.“

„Super, ich melde mich, sobald ich mehr weiß.“

Phoebe legte auf und klappte ihren Laptop auf, um nach Flügen von London nach Montpellier zu suchen. In ihrem Bauch breitete sich ein freudiges Kribbeln aus, und sie begann zu singen Das tat sie immer, wenn sie sich gut fühlte. Mit einem Mal konnte sie es kaum mehr erwarten, ihre einsame Wohnung in London für ein paar Wochen hinter sich zu lassen.

„Oh, ist das schön hier!“

Phoebe stieg aus dem schwarzen Jeep, der neben einem dunkelblauen Land Rover Defender gehalten hatte, und sah sich nach allen Seiten um.

Es gab weiß getünchte Ställe, eine riesige Weide, die bis weit in die Sumpflandschaft hineinreichen musste, zwei Reitplätze und natürlich die Häuser, in denen die Feriengäste untergebracht waren beziehungsweise Amy mit ihrer kleinen Familie lebte. Die Sonne schien, und auf einem der Plätze erblickte Phoebe eine Reitlehrerin mit zwei Schülerinnen.

„Und für Oktober ist es ganz schön warm. Das sind doch bestimmt zwanzig Grad. Ich sag dir, in England haben wir schon seit Wochen trübes Wetter mit Dauerregen.“ Phoebe zog ihre Jeansjacke aus und krempelte die Ärmel ihres Pullovers hoch. Dann hielt sie ihr Gesicht in die Sonne.

Amy lachte. „Hoffentlich hast du nicht nur dicke Pullis eingepackt. Wir sind hier in Südfrankreich, da wird es für gewöhnlich auch im Dezember nicht so kalt wie in England schon im Oktober.“

„Das hoffe ich doch.“ Phoebe betrachtete das weiß gestrichene Haus gegenüber der Pferdekoppel. Auf dem schmalen Rasenstreifen vor dem Haus wuchs Lavendel, der herrlich duftete, obwohl er schon fast verblüht war. In den Blumenkästen auf den Fensterbänken hatte jemand Kräuter gepflanzt: Von Pfefferminze bis Thymian war alles da.

„Das ist euer Wohnhaus?“, fragte sie, doch die Frage erledigte sich von selbst, als ein gut aussehender Mann, ein Baby auf dem Arm, aus der Haustür trat. Er stieg die wenigen Stufen hinunter und kam lächelnd auf sie zu. Neben ihm lief ein beigefarbener Labrador, der noch nicht ganz ausgewachsen zu sein schien. Der Hund kam schwanzwedelnd auf Phoebe zugelaufen und begrüßte sie stürmisch.

Derweil ging Amy zu ihrem Mann und nahm ihm das Baby ab, das mit den leuchtend blauen Augen und den dunkelbraunen Haaren bisher ganz nach dem Vater kam. Amy sah so glücklich aus, wie Phoebe sie noch nie gesehen hatte. Ihre grünbraunen Augen strahlten regelrecht.

Was für ein schönes Paar, dachte Phoebe, während sie den Hund hinter den Ohren kraulte. Sie ärgerte sich immer noch, dass ihr ausgerechnet damals zu Amys und Nathans Hochzeit der Blinddarm entfernt werden musste und sie deshalb nicht hatte kommen sein können.

„Phoebe, darf ich dir Nathan vorstellen, meinen Mann?“ In Amys Stimme klang eine Spur Stolz mit. Sie zeigte auf den Labrador. „Und das ist übrigens Jolie, aber wie ich sehe, habt ihr euch schon angefreundet.“

Phoebe und Nathan standen sich gegenüber. Sie wollte ihm die Hand reichen, doch er umfasste ihre Schultern und gab ihr zur Begrüßung drei Wangenküsschen. Phoebe fand ihn sofort sympathisch. „Schön, dass wir uns endlich mal kennenlernen. Amy hat schon so viel von dir erzählt.“

„Hoffentlich nur Gutes.“ Nathans Augen funkelten vor Vergnügen. „Ich freue mich, dass du hier bist. Es ist wirklich toll, dass du Amy in deinem Urlaub eine Weile vertrittst.“

Phoebe winkte ab. „Genau genommen habe ich ja keinen Urlaub, und ich mache das wirklich gern. Es kann nicht schaden, noch ein bisschen Erfahrung zu sammeln, bevor ich meine neue Stelle antrete. Und das ist eure Tochter? Sie ist wirklich goldig.“

„Ja, das ist Marie“, sagte Amy und legte ihrer Freundin das kleine Mädchen in die Arme.

Marie sah sie mit ihren großen Augen an, die winzige Hand griff nach Phoebes Finger. „Ich hab mich verliebt“, sagte diese, und die stolzen Eltern lachten.

„Hast du Hunger?“, wollte Nathan wissen.

„Und ob ich Hunger habe. Im Flugzeug gab’s ja bloß Erdnüsse und Chips.“

„Da hat sich seit dem Studium wohl nicht viel verändert“, meinte Amy, dann wandte sie sich an ihren Mann. „Ich hab Phoebe immer dafür beneidet, dass sie bis zum Umfallen essen konnte und trotzdem so schlank geblieben ist.“

Phoebe zuckte mit den Schultern. „Dafür habe ich dich um andere Dinge beneidet.“ Ihr Blick glitt kurz zu Nathan, dann wieder zu Marie. Obwohl sie sich für Amy freute und selbst nicht mehr an die Liebe glaubte, war sie doch ein bisschen neidisch auf Amys kleine Familie.

„Dann heize ich mal den Grill an“, sagte Nathan. Er nahm Marie wieder auf den Arm und ging zurück Richtung Haupthaus. Der Kies knirschte unter seinen schwarzen Stoffturnschuhen.

„Und ich zeige dir deine Wohnung“, sagte Amy. Sie öffnete den Kofferraum des Jeeps, um Phoebes Gepäck herauszuholen.

Phoebe atmete tief ein. So saubere Luft kannte sie aus London gar nicht. „Das werden bestimmt herrliche zwei Monate. Danke, dass du mich gefragt hast.“

Die beiden Freundinnen lächelten sich zu, dann griff Phoebe ebenfalls nach einer Reisetasche, fröhlich vor sich hin pfeifend.

Das kleine Apartment gefiel Phoebe sofort. Sie hatte alles, was sie für die nächsten Wochen brauchte: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit Kochnische und Blick auf die Pferdekoppel sowie ein geräumiges Bad, in dem sich sogar eine frei stehende Badewanne auf Löwenfüßen befand.

Phoebe packte ihre Koffer aus, in denen sich neben ihren Kleidern und Kosmetikutensilien hauptsächlich Bücher befanden. Dann machte sie sich ein bisschen frisch und zog sich um. Sie entschied sich für ein buntes Sommerkleid mit Blumendruck und eine gelbe Strickjacke. Ihre blonden Haare, die sie für die Reise zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, ließ sie offen. Vor ihrer Abreise war sie extra noch einmal beim Friseur gewesen, und so reichten ihr die Haare jetzt nur noch bis zur Schulter. Doch der neue Schnitt gefiel ihr. Bevor sie aus dem Haus trat, zeichnete sie ihre Lippen in einem zarten Roséton nach.

Die Sonne empfing sie, Vögel zwitscherten. Auf der Weide graste ein braunes Fohlen, das zuvor noch nicht da gewesen war. Langsam ging sie hinüber. Das Fohlen sah auf und richtete die Ohren nach vorn. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus, streichelte ihm über das Mäulchen. Das Tier blieb ruhig, und auch Phoebe spürte eine tiefe Zufriedenheit in sich.

Nicht einmal, als ein schwarzer BMW auf den Hof rollte und neben den anderen beiden Autos parkte, ergriff das Tier die Flucht. Neugierig betrachtete Phoebe den Wagen. Ein Mann stieg aus, groß gewachsen und unglaublich gutaussehend. Er trug Jeans und ein enges schwarzes T-Shirt, unter dem sich deutlich sein durchtrainierter Oberkörper abzeichnete. Phoebe schätzte ihn auf maximal Mitte dreißig. Sie konnte einfach nicht wegsehen, obwohl ihr klar war, wie aufdringlich das erscheinen musste. In der Hand hielt er eine Schachtel. Als er sie bemerkte, kam er lässig auf sie zugeschlendert. Seine Haare waren blond, allerdings eine Spur dunkler als ihre eigenen.

„Salut“, begrüßte er sie und nahm die dunkle Sonnenbrille ab. Darunter kamen grüne Augen zum Vorschein, die sie aufmerksam von oben bis unten musterten. „Feriengast oder neue Reitlehrerin?“

„Weder noch“, erwiderte sie. „Ich bin die neue Tierärztin.“

Überrascht sah er sie an. „Die neue Tierärztin?“

„Ja, genau. Phoebe James. Amy und ich sind alte Freundinnen. Wir kennen uns aus dem Studium, und sie hat mich gebeten, eine Weile für sie einzuspringen.“

„Ach ja? Warum weiß ich gar nichts davon?“

Er reichte ihr die Hand und schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln. „Freut mich sehr, Phoebe. Stéphane Gauthier, Freund der Familie, Maries Patenonkel und außerdem Gendarm in Saintes-Maries-de-la-Mer. Wenn du also während deines Aufenthalts bei uns ein Problem haben solltest, kannst du dich vertrauensvoll an mich wenden.“ Er zwinkerte ihr zu. Flirtete er etwa mit ihr? Stéphane lehnte sich gegen den Zaun der Weide. „Also, woher kommst du?“

„Ich lebe in London. Dort arbeite ich normalerweise auch als Tierärztin, aber da meine alte Praxis vor Kurzem aus privaten Gründen schließen musste und meine neue Stelle erst im nächsten Jahr beginnt, greife ich Amy ein wenig unter die Arme.“

„Nett von dir. Dann sehen wir uns ja in nächster Zeit hoffentlich noch öfter. Ich geh mal schnell Hallo sagen und das hier abgeben.“ Er hielt die Schachtel hoch.

Phoebe zögerte. Sie wollte nicht, dass Stéphane einen falschen Eindruck bekam und dachte, sie würde ihm nachlaufen wie ein Welpe. „Ich komme mit, Amy und Nathan warten vermutlich schon längst mit dem Essen auf mich.“ Sie streichelte dem Fohlen noch einmal über den Hals, dann folgte sie Stéphane über den Hof zum Haupthaus.

„Wohnst du hier auf dem Reiterhof?“, fragte er.

Sie nickte. „Nathan hat mir die freie Ferienwohnung gegeben. Es ist wirklich schön hier, so ruhig und friedlich.“

„Wo in London wohnst du?“, fragte Stéphane.

„In Notting Hill. Das ist gar nicht so weit von der Innenstadt entfernt.“

Er grinste. „Na dann. Ist zwar eine schöne Gegend, und der Hyde Park ist auch nicht weit weg, aber mit der Camargue kann’s natürlich nicht mithalten.“

„Du kennst dich in London aus?“

Er zuckte mit den Schultern. „Auskennen ist zu viel gesagt, aber mein bester Freund ist Halbengländer.“

„Nathan?“, fragte Phoebe. „Das wusste ich gar nicht, aber es würde erklären, warum er so gut Englisch spricht.“

„Dein Französisch ist aber auch nicht schlecht.“ War da eine Andeutung in seiner Stimme? Phoebe hatte plötzlich den Eindruck, als würde er eigentlich von etwas ganz anderem reden.

Sie beschloss, es einfach zu ignorieren. „Auslandssemester in Paris.“

Stéphane schlug den gepflasterten Weg neben dem Haus ein, der direkt zur Terrasse führte. Der Duft von Grillkohle und Würstchen hing in der Luft, kleine Rauchschwaden stiegen auf. Der ovale Tisch war bereits gedeckt: frisches Baguette, Soßen, Salate. Es roch köstlich, und Phoebes Magen gab ein leises Grummeln von sich. Das Frühstück war schon viel zu lange her.

Nathan stand am Grill und wendete gerade das Fleisch. Jolie hatte nicht weit von ihm alle viere von sich gestreckt und döste in der Sonne. Marie lag in ihrer Wiege, sie schlummerte tief und fest. Aus dem Haus drang leise Musik. Mit einer weiteren Salatschüssel in den Händen trat Amy aus der offenen Terrassentür. Sie lächelte, als sie ihre Freunde erblickte.

„Ah, Stéphane. Wie ich sehe, hast du Phoebe schon kennengelernt.“ Sie stellte die Schüssel ab und begrüßte ihn.

Nathan, der die beiden noch gar nicht bemerkt hatte, drehte sich zu ihnen herum. „Ihr kommt gerade rechtzeitig, die Würstchen sind gleich fertig.“

„Ich wollte euch eigentlich nur die versprochenen Strampler vorbeibringen“, sagte Stéphane und reichte Amy die Schachtel. „Die Frau meines Arbeitskollegen hat sie extra noch mal gewaschen.“

„Danke, das ist lieb. Mittlerweile ist Marie aus fast allem herausgewachsen.“

„Das ist doch ein gutes Zeichen, oder? Dann will ich mal nicht länger stören.“

„So ein Blödsinn, du isst mit uns“, meinte Amy. „Es ist genug da. Du hast doch nichts dagegen, Phoebe?“

„Nein, gar nicht“, antwortete diese. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Dass sie an ihrem ersten Abend lieber mit ihrer Freundin allein wäre? Das wäre doch schrecklich unhöflich.

Stéphane stimmte sofort zu. „Schon überredet. Das riecht wirklich lecker.“

„Ich hol dir noch schnell ein Gedeck.“

Stéphane hielt Amy am Arm fest. „Ach was, das kann ich doch selbst machen. Ich weiß ja, wo alles steht.“ Schnell verschwand er im Haus.

Amy sah ihre Freundin an. „Ich hoffe, du hast wirklich nichts dagegen? Entschuldige, dass ich dich einfach so überrumpelt habe. Da blieb dir ja gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen.“

„Schon okay“, beruhigte Phoebe sie und senkte ihre Stimme. „Und Stéphane ist wirklich Nathans bester Freund? Die beiden wirken auf mich so … unterschiedlich.“

Amy lachte. „So kann man es auch sagen. Stéphane ist wirklich nett, aber er ist eben auch ein Frauenheld. Bei ihm musst du aufpassen.“

„Keine Sorge. Ich habe nicht vor, mir die Finger zu verbrennen.“

Stéphane kam mit einem Teller und Besteck in der Hand zurück auf die Terrasse. Amy und Phoebe hatten bereits Platz genommen. Sie saßen einander gegenüber und plauderten über alte Zeiten. Nathan werkelte noch am Grill.

Ohne lange zu überlegen, nahm Stéphane neben Phoebe Platz. Die meisten Camarguerinnen hatten ihre Röcke und Kleider trotz des schönen Wetters bereits eingemottet, aber Phoebe, die in London vermutlich schon den Herbst zu spüren bekommen hatte, trug ein farbenfrohes Kleid. Es reichte ihr bis zum Knie, und wenn sie saß, so wie jetzt, gab es den Blick auf ihre langen, wohlgeformten Beine frei. Die Aussicht gefiel ihm.

Phoebe, die seinen Blick bemerkte, räusperte sich. „Du bist also Polizist. Das klingt spannend.“

Er musterte sie von der Seite. Ihre Augen waren braun, aber nicht so dunkel wie Schokolade, sondern eher wie Karamell. Und sie roch auch so, süß und verlockend. „Ich mag meinen Job, aber spannend ist er nicht wirklich. Immerhin haben wir hier in Saintes-Maries-de-la-Mer nicht einmal dreitausend Einwohner.“

„Dann wärst du lieber woanders Gendarm?“

Stéphane dachte an seinen Vater, der bei der Polizei in Montpellier gearbeitet hatte. Er schüttelte den Kopf. Tauschen wollte er ganz sicher nicht. „Nein, ich bin zufrieden. So kann ich wenigstens pünktlich Feierabend machen und Nathan nach der Arbeit noch bei einem Bier auf die Nerven gehen.“

„Apropos, wie wär’s mit einer Flasche?“ Nathan kam an den Tisch, in der Hand hielt er einen Teller, auf dem sich nicht nur Steaks und Würstchen befanden, sondern auch gegrillte Zucchini und Auberginen.

„Lieber eine Cola, ich bin mit dem Auto hier.“ Stéphane nahm sich ein Steak und seufzte. „Ach ja, das waren noch Zeiten, als Nathan und ich allein gegrillt haben und es nur Fleisch gab.“

„Besser?“, fragte Amy amüsiert.

„Anders, aber auf keinen Fall besser“, antwortete Nathan und gab Amy einen flüchtigen Kuss. Er goss seinem Freund eine Cola ein, nahm sich selbst ein Steak und ließ sich neben seiner Frau nieder.

Überrascht stellte Stéphane fest, dass auch Phoebe nach einem Stück Putensteak griff und das Gemüse, zumindest vorerst, links liegen ließ. „Nicht schlecht“, meinte er mit einem Nicken zu ihrem Teller, auf dem sich neben dem Putensteak bereits Olivensalat häufte. „Ich mag Frauen, die ordentlich zulangen, und zwar in jeder Hinsicht.“

Phoebe ließ sich von ihm ein Stück Baguette reichen. „Ich habe das Glück, dass ich essen kann, was ich will, und das tue ich für gewöhnlich auch.“

„Auch bei ersten Dates?“, fragte Stéphane. Er bemerkte, wie Amy und Nathan sich einen Blick zuwarfen, ignorierte es aber.

Phoebe schluckte. „Warum nicht? Ich sehe keinen Sinn darin, so zu tun, als sei ich nach einem Salatblatt bereits satt.“

„Das gefällt mir. Das gefällt mir sogar sehr.“

Phoebe schien sich zu einem Lächeln zu zwingen, dann widmete sie sich ihrem Essen.

Sie zog sich in ihr Schneckenhaus zurück, ging auf Abstand. Stéphane begriff, dass er behutsamer vorgehen musste. Wenn er diese Frau um den Finger wickeln wollte – und das wollte er nur zu gern –, musste er vorsichtiger sein. Früher oder später würde sie ihr Schutzschild herunterlassen, und dann würde sie zu Wachs in seinen Händen werden. Das war bisher noch immer so gewesen. Die Frauen konnten ihm einfach nicht widerstehen, und er ihnen auch nicht.

2. KAPITEL

„Wer möchte noch einen Nachtisch?“, fragte Amy, die Marie auf dem Schoß hatte. „Ich habe weiße Mousse au Chocolat gemacht.“

„Da sage ich nicht Nein“, antwortete Phoebe. „Ich bin zwar satt, aber deiner Mousse au Chocolat kann ich einfach nicht widerstehen.“

Amy wollte das Baby Nathan geben, doch er winkte ab. „Lass nur, ich mach das schon.“ Er stapelte die leeren Teller.

„Warte, ich helfe dir“, meinte Stéphane und folgte Nathan mit zwei Salatschüsseln ins Haus.

Einen Moment sahen die Frauen den Männern hinterher. Die Sonne ging allmählich unter, sie verfärbte den Himmel. Sogar die Wolken am Horizont waren rosarot und sahen aus wie Zuckerwatte.

„Nathan ist wirklich toll“, sagte Phoebe schließlich. „Ich freue mich, dass es mit euch beiden doch noch geklappt hat. Das scheint ja alles andere als einfach gewesen zu sein.“

Amy seufzte. „Einfach war es wirklich nicht. Du weißt ja, dass Nathan mit meiner Cousine verheiratet war, bevor sie ums Leben gekommen ist. Dann war mein Onkel gegen uns, aber das ist jetzt zum Glück alles vorbei. Nathan und ich sind glücklich.“

„Das glaube ich dir aufs Wort. Ich glaube, so happy habe ich dich noch nie gesehen. Versteh mich nicht falsch, du warst immer ein lebenslustiger, positiver Mensch, aber jetzt … Ich will nicht philosophisch werden, aber du machst erst jetzt den Eindruck, als seist du komplett.“

Amy lächelte. „So fühle ich mich auch, endlich komplett. Was ist mit dir? Keine neue Liebe in Sicht?“

Phoebe klaubte einen imaginären Fussel von ihrem Kleid. Das war kein Thema, über das sie gerne sprach, aber sie hatte ja damit angefangen. „Nein, niemand.“

„Nicht einmal ein kleiner Flirt?“ Phoebe schüttelte den Kopf, und Amy griff über den Tisch nach ihrer freien Hand. „Ich weiß, wie du zu dem Thema stehst, aber vielleicht ist es an der Zeit umzudenken. Glaub mir, es ist schön, jemanden an seiner Seite zu haben, mit dem man alt werden will.“

Phoebe atmete tief aus. „Mag sein, aber zwischen wollen und werden liegt ein großer Unterschied.“

„Ach, Phoebe. Nur weil deine Mutter schlechte Erfahrungen gemacht hat, heißt das doch noch lange nicht, dass es bei dir genauso laufen wird. Hab ein bisschen Vertrauen. Nicht alle Männer sind schlecht.“

„Das nicht, aber zur Liebe gehört unweigerlich nun auch mal der Schmerz dazu. Wer liebt, der leidet, das hast du doch am eigenen Leib erfahren.“

Amy verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. „Jetzt wirst du aber wirklich philosophisch. Ja, ich habe gelitten, aber das war es wert, denn nun bin ich glücklicher als jemals zuvor. Und du siehst, was Wunderbares dabei herauskommen kann, wenn man sich liebt.“ Sie blickte auf Marie, die zufrieden an ihrem Schnuller nuckelte. „Möchtest du denn nicht auch mal Kinder haben?“

Phoebe zuckte mit den Schultern, sie wusste es nicht. Im Grunde war sie viel lieber in Gesellschaft als allein, und sie wollte im Alter nicht einsam sein. Aber im Moment war sie noch jung, und sie hatte einfach nur Angst davor, so sehr verletzt zu werden wie ihre Mutter.

„Aber so sehr ich dir eine Liebe wünsche, nimm dich vor Stéphane in Acht“, sagte Amy geradeheraus, nachdem sie kurz hinter sich gesehen hatte. Die Männer waren immer noch im Haus verschwunden. Was machten sie so lange dort?

Phoebe verschränkte die Arme vor der Brust. „Da mach dir mal keine Sorgen. Stéphane ist überhaupt nicht mein Typ.“

Amy lächelte in sich hinein. „Jetzt lügst du aber.“

„Ja, okay, er ist schon ziemlich attraktiv, aber zu oberflächlich.“

Amy seufzte. „Du machst dir ein falsches Bild von Stéphane. Er ist nicht nur Nathans bester Freund, sondern auch ein wunderbarer Mensch, auf den man sich zu einhundert Prozent verlassen kann. Ich mag ihn wirklich gern. Aber sobald eine Frau im Spiel ist, wird er zu einem anderen Menschen.“

Phoebe konnte das zwar nicht so ganz glauben, aber es spielte auch keine Rolle. Sie hatte nicht vor, sich während ihrer Zeit in Südfrankreich von einem Mann ablenken zu lassen. Denn sie hatte ihr Herz ganz sicher nicht all die Jahre lang geschützt, um es sich jetzt von einem französischen Filou brechen zu lassen.

Die vier saßen noch lange zusammen und unterhielten sich über Gott und die Welt. Inzwischen war es dunkel und recht kühl geworden. Amy hatte Marie schlafen gelegt und sich eine dicke Strickjacke geholt, die sie über ihrem Pullover trug, doch Phoebe fror nach wie vor nicht. Für ihren Geschmack war es immer noch mild, und obwohl von den Wiesen ringsherum Feuchtigkeit aufstieg, hatten die Steine auf der Terrasse die Wärme des Tages gespeichert. Jolie lag mittlerweile dort und nicht mehr im Gras. Motten flatterten um das Terrassenlicht, und Amy hatte Kerzen angezündet, die einen dezenten Lavendelduft verströmten.

Phoebe legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel. Die wenigen Wolken waren verschwunden, und unendlich viele Sternen funkelten wie Diamanten. Im Radio lief ein Lied von Édith Piaf, und Phoebe summte eine Weile leise mit. „So einen wunderschönen Sternenhimmel habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Das ist richtig romantisch.“

„Reitest du?“, fragte Stéphane.

„In London komme ich nicht oft dazu, aber ja, ich reite sehr gern.“

„Wenn du das hier schon romantisch findest, solltest du mal in der Abenddämmerung Richtung Strand ausreiten. Die untergehende Sonne, später die Sterne, die Brandung … Vielleicht können wir das ja mal machen, solange du hier bist.“

Phoebe bekam nur am Rande mit, dass Amy sich an ihrer Zitronenlimonade verschluckte. Sie wandte den Kopf und sah direkt in Stéphanes grüne Augen, die in diesem schummerigen Licht fast etwas Mystisches ausstrahlten. „Vielleicht“, antwortete sie und fragte sich, worauf er aus war.

„Seit wann reitest du?“, fragte Nathan seinen Freund mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Hey, wir leben immerhin in der Camargue. Außerdem bin ich früher schon geritten, mit meinem Vater. Vielleicht sollte ich es mal wieder versuchen. Man hat mich so oft gebeten, die berittenen Kollegen bei den verschiedenen Festivitäten zu unterstützen. Und demnächst ist es ja schon wieder so weit.“

Oh, là, là. Was für ein Sinneswandel! Bisher kannte ich dich nur als eingefleischten Pferdeignoranten.“ Amy unterdrückte ein Kichern. „Nathan macht dir sicher einen Sonderpreis, wenn es um Reitstunden geht.“

„Aber klar doch. Louise unterrichtet dich mit Sicherheit gern“, sagte Nathan. Er lachte, und nun fiel auch Amy mit ein.

„Ja, ja, lacht ihr nur“, meinte Stéphane. „Ihr werdet schon sehen. So, ich mache mich jetzt lieber auf den Weg, bevor ihr mich noch mehr blamiert.“ Er stand auf, aber er schien den Gekränkten nur zu spielen, denn seine Augen funkelten amüsiert und blickten nun zu Phoebe. „Es war sehr nett, dich kennenzulernen, Phoebe. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

„Bestimmt“, antwortete sie und stand ebenfalls auf. „Ich denke, ich gehe jetzt auch ins Bett. Es war ein langer Tag.“

Nun erhoben sich auch Amy und Nathan. Sogar Jolie stand auf und wedelte mit dem Schwanz, während sie von einem zum anderen sah. „Brauchst du noch etwas?“, wollte Amy von Phoebe wissen.

„Lieb von dir, aber die Ferienwohnung ist ja bestens ausgestattet. Und wenn etwas sein sollte, melde ich mich.“

„So machen wir’s. Dann schlaf gut, und vielen Dank noch mal, dass du hier bist. Das ist großartig.“

„Ist doch Ehrensache“, erwiderte Phoebe. „Du bist schließlich meine Freundin.“

Nachdem beide sich verabschiedet und für das Essen bedankt hatten, legte Stéphane ganz leicht seine Hand auf Phoebes Rücken, um ihr den Vortritt zu lassen. Sie fragte sich, warum sie nicht ein paar Minuten gewartet hatte, aber gleichzeitig kam sie nicht umhin, zu registrieren, dass sich seine Hand auf ihrem Rücken gut anfühlte.

Der Bewegungsmelder schaltete das Licht an, als sie um das Haus herumliefen. Wie selbstverständlich begleitete er sie zu ihrer Haustür. Es war so still, wie es in London selbst mitten in der Nacht nicht wurde. Man hörte keine vorbeifahrenden Autos, kein Hundegebell. Ihre Schritte auf dem Kies waren das einzige Geräusch.

„Darf ich fragen, warum deine ehemalige Praxis in London nicht mehr existiert?“ Er warf Phoebe einen Seitenblick zu.

Sie war überrascht, dass er sich das gemerkt hatte und genauer nachfragte. Sie spürte die Leere in sich, als sie antwortete: „Der Praxisinhaber ist leider vor zwei Wochen ganz unerwartet verstorben.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Ja, mir auch. Dr. Taylor war schon älter, aber das hat es trotzdem nicht einfacher gemacht.“ Phoebe schluckte. Im Laufe der Jahre, die sie in der Praxis gearbeitet hatte, war Dr. Taylor zu einem Vertrauten geworden. Oft hatte er ihr väterliche Ratschläge gegeben, die sie von ihrem eigenen Vater nie bekommen hatte. „Von seinen Söhnen ist leider keiner in seine Fußstapfen getreten, deshalb haben sie die Praxis verkauft. Ich glaube, es kommt jetzt ein Schönheitschirurg hinein. Oder war es ein Metzger?“

„Was ja auch irgendwie dasselbe ist“, bemerkte Stéphane.

Phoebe lachte, die getrübte Stimmung war so schnell fort, wie sie gekommen war. „Na, jedenfalls habe ich nicht lange gezögert, als Amy mich bat, eine Weile für sie einzuspringen. Ich hab zwar schon eine neue Stelle, aber die trete ich erst im neuen Jahr an, und vermutlich hätte ich mich bis dahin ohnehin bloß zu Tode gelangweilt.“

„Dann hast du niemanden, der zu Hause auf dich wartet?“

Phoebe forschte in seinem Gesicht. Da war er wieder, der Hintergedanke. „Nein, ich bin Single.“

Mittlerweile hatten sie ihre Haustür erreicht. Phoebe steckte den Schlüssel ins Schloss. „Komm gut nach Hause.“

Bevor sie die Tür aufschließen konnte, trat er einen Schritt auf sie zu, sodass sie ziemlich nah voreinander standen. „Das war ein sehr schöner Abend, Phoebe“, sagte er leise.

Seine Augen waren direkt auf sie gerichtet und sahen sie intensiv an. Obwohl er sie nicht berührte, bekam sie allein von seinem Blick eine Gänsehaut. Oje! Sie hatte geglaubt, immun zu sein gegen seinen Charme, aber die Reaktion ihres Körpers bewies ihr das Gegenteil. „Gute Nacht, Stéphane.“

Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, spürte aber die Tür im Rücken. Er stand direkt vor ihr, schob ihr eine Strähne ihres blonden Haars hinter das Ohr. „Was würdest du sagen, wenn ich dich jetzt küssen würde?“

„Was …?“

Ihre Stimme versagte, und sein Mund verzog sich zu einem sexy Lächeln. Sein Blick hypnotisierte sie fast, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Er ließ seine Hand in ihren Nacken wandern, während er sich mit der anderen neben ihrem Kopf an der Tür abstützte. Ihr Körper war ein einziges Kribbeln. Sie spürte seinen Atem, so nah war er ihr. Er roch gut, herb und männlich, gleichzeitig aber auch irgendwie süßlich. Ihr Blick wanderte zu seinem geschwungenen Mund. Sie nahm seinen leichten Bartschatten wahr, doch sie konnte ihren Blick nicht von seinen Lippen nehmen.

Wie in Zeitlupe beugte er sich zu ihr, und sie schloss instinktiv die Augen. Sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten, doch sie konnte sich nicht aus dieser gefährlichen Situation befreien. Plötzlich wollte sie wissen, wie sich diese Lippen anfühlten.

Aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und berührte dabei fast ihren Mundwinkel, aber nur fast. Sie öffnete die Augen, er grinste sie an. Sein Gesicht hatte sich wieder von ihrem entfernt. Sie brachte keinen Ton heraus. Stéphane stieß sich von der Tür ab.

„Bis dann“, sagte er, während er schon über den Kies auf sein Auto zulief. Ganz kurz drehte er sich noch einmal zu ihr um, dann stieg er in seinen BMW und fuhr leise vom Hof.

Lange sah Phoebe ihm hinterher. Sie spürte immer noch seine warme Hand in ihrem Nacken, seinen Atem an ihrer Wange. Was war da gerade passiert? Irgendwann löste sie sich aus ihrer Starre, schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie musste wirklich aufpassen. Stéphane wusste, wie man eine Frau verführt. Sie hatte geglaubt, er sei keine Gefahr für sie, aber da hatte sie sich offensichtlich gründlich getäuscht. Wenn sie nicht Acht gab, war sie ihm schneller verfallen, als sie Cheers sagen konnte, und das durfte unter keinen Umständen geschehen.

Stéphane konnte sich nur schwer auf seine Arbeit konzentrieren. Vor ihm auf dem Schreibtisch türmte sich ein Stapel Akten, er musste Berichte schreiben, aber ihm wollten diese karamellfarbenen Augen einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er war verwirrt, weil es ausgerechnet ihre Augen waren, an die er immerzu denken musste. Das war untypisch für ihn.

Als er sich erinnerte, wie er sie gereizt hatte, stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Allerdings nur so lange, bis er sich an das Gefühl erinnerte, ihr so nahe zu sein. Einen Moment überlegte er, wie es wohl gewesen wäre, sie wirklich zu küssen. Sie hatte unglaublich sinnliche Lippen, weich und voll. Vielleicht hätte er es einfach tun sollen, denn er wollte unbedingt wissen, wie sich diese Lippen auf seinen anfühlten.

Er war sich sicher, dass sie ihn nicht weggestoßen hätte, zumindest nicht sofort, aber nun fragte er sich, ob er noch einmal die Chance dazu haben würde. Sie war auf der Hut, und obwohl sie in keiner festen Beziehung war, machte sie auf ihn nicht den Eindruck, als ob sie sich auf ihn einlassen würde.

Aber das spielte ohnehin keine Rolle. Er musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Sie war Amys Freundin, und da er von vorneherein wusste, dass er nur auf ein bisschen Spaß aus war, ließ er lieber die Finger von ihr. Trotzdem stellte er sich vor, wie seine Handfläche den Saum ihres Kleides ein Stückchen nach oben schob, wie er über ihren nackten Oberschenkel strich …

„Du bist zum Arbeiten hier, nicht zum Träumen“, rief Philippe, ein Arbeitskollege. Er war Mitte vierzig und hatte einen Bierbauch. In der einen Hand hielt er eine Akte, in der anderen einen Kaffeebecher.

Stéphane zuckte ertappt zusammen. „Tut mir leid, ich war mit den Gedanken woanders.“

„Wo auch immer du warst, da wäre ich auch gerne. Du sahst ziemlich zufrieden aus.“

Stéphane räusperte sich. „Wie kann ich dir helfen?“

Philippe warf die Akte auf den vollen Schreibtisch, mit einem Knall landete sie vor Stéphane. „Der Pferdedieb hat erneut zugeschlagen.“

Seufzend stand Stéphane auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine, um sich auch noch eine Tasse zu holen. „Wieder ein männliches Jungpferd von der Weide?“

Sein Kollege nickte. „Das ist schon das zweite Mal. Allmählich werden die Pferdebesitzer unruhig.“

Stéphane kehrte zurück zu seinem Schreibtisch, ließ sich auf seinen Stuhl sinken und warf einen kurzen Blick in die Unterlagen. „Ich verstehe das nicht. Draußen in der Sumpflandschaft gibt es genug Wildpferde. Warum macht er sich die Mühe und stiehlt die Pferde von der Weide?“

„Lösegeld?“

Stéphane runzelte die Stirn. „Glaube ich nicht, außerdem hätte das erste Opfer dann schon etwas vom Täter gehört. Immerhin ist es bereits zwei Wochen her. Nein, es muss etwas anderes sein.“

„Lass uns doch erst mal zum zweiten Opfer fahren und die Aussage aufnehmen. Vielleicht ist ihm ja etwas aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte.“

Stéphane nahm noch einen großen Schluck Kaffee und griff nach seiner Jacke, die hinter ihm über der Stuhllehne hing. „Das bezweifele ich zwar, aber da wir ohnehin mit ihm werden sprechen müssen, können wir es auch gleich hinter uns bringen.“

„Guten Morgen“, begrüßte Nathan Phoebe, als sie hinaus in die Sonne trat.

Bonjour. Du bist ja schon fleißig.“

Er stand in Arbeitskleidung vor ihr, in der Hand einen Eimer. Offensichtlich war er auf dem Weg zum Stall. Auf dem Übungsplatz sah Phoebe eine Frau, wahrscheinlich eine Reitlehrerin, die eines der weißen Pferde für den Unterricht fertig machte.

Nathan lachte. „Ich bin bereits seit zwei Stunden auf den Beinen.“

„Seit zwei Stunden?“

Er nickte. „So ein Reiterhof macht viel Arbeit. Also, ich wünsche dir viel Erfolg für deinen ersten Tag.“

Phoebe bedankte sich und lief über den Hof auf das Haupthaus zu. Jolie lag neben den Stufen auf einem kleinen Fleckchen Rasen und schien das Haus zu bewachen.

Ein wenig aufgeregt war Phoebe schon, aber sie freute sich auch auf die neue Aufgabe. Sie hatte sich immer auf Pferde spezialisieren wollen, aber in London bisher nicht die Möglichkeit dazu gehabt. Nun war sie seit drei Tagen hier in der Camargue. Amy hatte sie eingewiesen und ihr die Gegend gezeigt, außerdem hatte sie Amys Onkel und die Praxis kennengelernt. Aber heute ging es zum ersten Mal zu den Patienten. Ein Bauer hatte angerufen, weil eines seiner Pferde lahmte.

Phoebe atmete die frische Morgenluft ein. Sie kraulte Jolie kurz hinter den Ohren, bevor sie die Haustür zum Haupthaus öffnete. Sie hatte sich sofort in die Camargue verliebt. Zwar mochte sie ihr Leben in London, doch London war nun mal eine Großstadt. Hier konnte sie die Ruhe und die Natur genießen.

Leichte Nebelschwaden hingen über den Wiesen, und die Sonne hatte noch nicht so viel Kraft wie zur Mittagszeit. Aber es würde wieder ein schöner Tag werden.

„Bonjour“, rief sie gut gelaunt. „Bist du fertig?“

Amy kam aus dem Wohnzimmer in den Flur, Marie auf dem Arm. „Guten Morgen. Na, schon aufgeregt?“

„Wenn ich ehrlich bin: ja, bin ich.“

Amy winkte ab. „Ach, das ist normal. Was meinst du, wie aufgeregt ich war, als ich in der Praxis meines Onkels angefangen habe? Aber die Pferdebesitzer hier in der Gegend sind alle sehr nett.“ Sie deutete auf einen schwarzen Arztkoffer, der unter einer Garderobenbank stand. „Das ist ab sofort deiner.“

Phoebe bückte sich und zog den Koffer hervor. „Du brauchst aber wirklich nicht mitzukommen, Amy. Ich komme schon klar, und das Navi wird mir den Weg weisen.“

„Das weiß ich doch. Ich komme auch eher mit, weil ich die Arbeit ein bisschen vermisse, und es macht sich auch gut, wenn wir den Wechsel offiziell vollziehen. Aber ich werde dir nicht reinreden, ich muss ja ohnehin auf Marie aufpassen.“

Gemeinsam verließen sie das Haus und gingen auf den schwarzen Jeep zu. Amy reichte Phoebe die Autoschlüssel. Da Amy und Nathan zwei Autos hatten, stand der Jeep Phoebe zur Verfügung, solange sie hier war. Sie schloss auf und verstaute die Arzttasche, während Amy Marie in die Babyschale legte und anschnallte. Nathan, der gerade aus dem Stall kam, winkte ihnen zu. Nachdem Phoebe die Adresse ins Navi eingegeben hatte, lenkte sie den Wagen auf die Straße. Nach wie vor fand sie es ungewohnt, auf der falschen Seite im Auto zu sitzen und vor allem auf der anderen Straßenseite zu fahren.

„Ich hätte dir den Weg auch sagen können“, meinte Amy.

„Schon, aber in den nächsten Wochen muss ich ja auch allein zurechtkommen. Deshalb tue ich jetzt so, als wärst du überhaupt nicht hier.“

Amy lachte. „Dann willst du nach deinem ersten Einsatz keinen Café au lait mit mir trinken gehen?“

„Das ist etwas anderes“, erklärte Phoebe. „Ist eigentlich immer so wenig los wie im Moment?“

Amy schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil, normalerweise habe ich immer gut zu tun. Aber jetzt konnte ich ja ein paar Wochen nicht praktizieren. Es spricht sich erst allmählich herum, dass wir endlich eine Vertretung gefunden haben.“

Phoebe warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Es ist wirklich schön in der Camargue, aber es ist doch bestimmt nicht so einfach, hier zu leben.“

Amy zuckte mit den Schultern. „Das würde ich so nicht sagen. Klar, in jungen Jahren ist das ein anderes Thema, wobei es herrlich war, hier aufzuwachsen. An den Wochenenden konnten wir ausreiten, in den Sommerferien jeden Tag schwimmen gehen. Nur große Einkaufstouren mussten gut geplant werden, aber wenn man älter ist und ein Auto hat, ist das alles kein Thema mehr. Montpellier ist ja nicht so weit, und dort gibt es alles. Nach Arles ist es sogar bloß eine halbe Stunde, und auch dort kann man gut bummeln oder ausgehen.“

„Das klingt nett und tatsächlich schöner als meine Jugend in London. Ich wollte ja auch immer ein Pferd haben, aber meine Mutter konnte sich nicht einmal den Reitunterricht leisten.“

Amy legte ihrer Freundin eine Hand auf den Arm. „Jetzt bist du hier, und du darfst dir jederzeit ein Pferd nehmen. Nathan hat nichts dagegen.“

„Danke, das ist lieb“, sagte Phoebe und versuchte, die traurigen Gedanken an früher zu verdrängen.

„Wir können gerne mal zusammen ausreiten, oder du nimmst Stéphanes Angebot an.“ Die Belustigung in Amys Stimme war deutlich zu hören.

Phoebe erwiderte nichts. Zwar überlegte sie kurz, ob sie Amy von dem Kuss erzählen sollte, doch sie tat es nicht. Im Grunde war ja auch nichts passiert. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie es überhaupt so weit hatte kommen lassen.

Wenn Stéphane es darauf angelegt hätte, hätte sie in jenem Moment all ihre Vorsicht über Bord geworfen und sich von ihm küssen lassen. Der Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht, obwohl er ihr gleichzeitig eine Gänsehaut bereitete. Das war doch nicht normal.

Schon bald hatten sie den Bauernhof erreicht. Phoebe stutzte, als sie ein Polizeiauto mitten auf dem Hof stehen sah. „Nanu, was ist denn hier los?“

„Hoffentlich nichts Schlimmes“, meinte Amy.

Vorsichtig fuhr Phoebe um den Polizeiwagen herum und parkte den Jeep seitlich. Dann stiegen sie aus und sahen sich um, Phoebe die Arzttasche in der Hand, Amy Marie auf dem Arm. Als sie Stimmen hörten, gingen sie in diese Richtung.

Wie bei Nathan war der Hof auch hier mit Kies ausgelegt, jedoch nicht so weitläufig. Linker Hand war Wald, rechter Hand eine Wiese mit Obstbäumen und parallel zur Straße ein gelb gestrichenes Haus mit Schieferdach. Doch als sie dem Weg zwischen Gebäude und Wiese gefolgt und um das Gebäude herumgelaufen waren, kamen die Stallungen und eine Koppel in Sicht. In der Mitte tat sich ein weiterer Innenhof auf, und dort standen drei Männer, die sich unterhielten, zwei davon in Gendarmuniform.

Phoebe musste zweimal hinsehen, doch sie meinte tatsächlich, Stéphane zu erkennen. Auch er entdeckte die Frauen in diesem Moment. Überrascht sah er ihnen entgegen.

Irritiert registrierte Phoebe, dass ihr Herz bei seinem Anblick ein bisschen schneller schlug. Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so unvernünftig.

Der Bauer drehte sich zu ihnen herum. „Ah, Madame Hill. Bitte entschuldigen Sie, ich bin gleich bei Ihnen.“

„Kein Problem“, sagte Amy und zeigte auf Phoebe. „Das ist übrigens Phoebe James, meine Vertretung. Darf ich fragen, was passiert ist?“

„Man hat mir heute Nacht ein Jungpferd von der Weide gestohlen“, erklärte der Bauer. „Noch dazu mein Bestes. Elendes Diebesgesindel!“

„Schon wieder?“, fragte Amy bestürzt. „Das ist nun schon das zweite Mal, dass in der Gegend ein Pferd gestohlen wurde.“

„Ein Pferdedieb in der Camargue?“ Phoebe sah nur kurz zu Stéphane. „Habt ihr schon eine Spur?“

Er schüttelte den Kopf und stellte ihr seinen Arbeitskollegen vor, einen Mann mittleren Alters, der Philippe hieß. „Der Dieb ist clever, aber wir werden ihn schon kriegen.“

„Na hoffentlich“, maulte der Bauer.

„Denkst du, er wird wieder zuschlagen?“, fragte Amy.

Stéphane verzog nachdenklich den Mund. „Vermutlich ja, wir müssen mit allem rechnen. Sag Nathan, er soll auf seine Pferde achtgeben, besonders auf die Jungtiere. Aber zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nichts Genaues sagen – weder, ob der Dieb noch mal zuschlagen wird, noch, ob er sich wirklich nur auf jüngere Pferde konzentriert.“

„Nathan wird nicht begeistert sein. Magst du eventuell heute Abend zum Abendessen vorbeikommen? Er hat sicher noch ein paar Fragen an dich, und es gibt Flammkuchen.“

Stéphane nickte. „Gern, ich bin so gegen sieben Uhr bei euch.“

„Sind wir dann hier fertig?“, fragte der Bauer. „Oder haben Sie noch Fragen an mich?“

Philippe schüttelte den Kopf. „Melden Sie sich bitte, wenn Ihnen doch noch etwas einfällt. Ansonsten erst einmal vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Die Männer verabschiedeten sich voneinander, dann schlenderte Philippe Richtung Auto, während Amy und der Bauer bereits zum Stall gingen.

„Ich komme sofort nach“, rief Stéphane seinem Kollegen hinterher. Er zwinkerte Phoebe zu. „Dein erster Einsatz?“

„Genau, ein lahmendes Pferd.“ Ihre Stimme klang ein wenig zittrig, weil Stéphane schon wieder so nah vor ihr stand. Sie war nervös, seinetwegen, und das wusste er ganz genau. Phoebe blickte in die Richtung, in die Amy mit dem Bauern verschwunden war. „Ich sollte langsam mal.“

Stéphane seufzte. „Ja, ich muss auch los, Philippe kann ziemlich ungeduldig werden.“ Prompt hörte man eine Hupe, und die beiden grinsten sich an. Doch das Grinsen wich aus ihrem Gesicht, als er noch einen Schritt auf sie zutrat und ihr sanft über den Arm strich. „Wir sehen uns ja sicher heute Abend. Ich freue mich schon. Vielleicht können wir ja da weitermachen, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben.“ Mit diesen Worten ließ er sie los und wandte sich zum Gehen.

Einen Moment sah Phoebe ihm sprachlos nach, dann rief sie: „Das werden wir ganz sicher nicht tun!“ Doch Stéphane drehte sich nicht mehr zu ihr um, sie hörte ihn nur leise lachen.

Sie wandte sich ab und ging in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer, wenn sie daran dachte, Stéphane heute Abend erneut zu begegnen. Sie war wirklich komplett verrückt geworden. Ihre Mutter war das beste Beispiel, was dabei herauskam, wenn man sich auf einen Frauenhelden einließ. Und Phoebe wollte diesen Fehler ganz gewiss nicht wiederholen.

3. KAPITEL

Stéphane fuhr extra noch mal nach Hause, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor er sich auf den Weg zu Amy und Nathan machte – und Phoebe. Nachdem er sie am Vormittag zufällig gesehen hatte, war sie ihm erst recht nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Warum nur? Vielleicht sollte er sie heute Abend wirklich einfach küssen, in der Hoffnung, dass er sich dann nicht unentwegt fragen würde, wie sie wohl schmeckte. Aber im Grunde wusste er, dass es nicht viel ändern würde. Es würde ihn lediglich dazu bringen, sich zu fragen, wie sie sich anfühlte …

Er schüttelte den Kopf und parkte den BMW schwungvoll neben dem schwarzen Jeep. Er sollte sich nichts dergleichen fragen. Phoebe war Amys Freundin und damit tabu für ihn. Sein Blick wanderte über den Hof, doch Phoebe war nirgends zu entdecken. In ihrer Wohnung brannte kein Licht, und auch sonst war es ruhig auf dem Anwesen. So ging er zielstrebig auf das Haupthaus zu. Da es bereits dämmerte und er nicht wusste, ob sie wieder auf der Terrasse essen würden, klingelte er dieses Mal. Es dauerte nicht lange, und Nathan öffnete ihm, eine Flasche Roséwein in der Hand, die er offensichtlich gerade aufmachen wollte.

„Komm rein, das Essen ist schon fertig.“

Nathan ging voraus, und Stéphane folgte ihm in die Küche, wo der Tisch bereits gedeckt war. Phoebe saß auf einem der Stühle, Amy holte gerade den Flammkuchen aus dem Ofen, und das Labrador-Weibchen lag wie immer mitten im Weg. Stéphane streichelte es kurz, dann stieg er über Jolie hinweg, um Amy mit Wangenküsschen zu begrüßen.

„Kann ich noch irgendwie helfen?“

Amy schüttelte den Kopf. „Ach was, setz dich und mach es dir gemütlich.“

Stéphane nahm neben Phoebe Platz. „Salut.“

Nur kurz sah sie ihn mit einem Lächeln an, bevor sie sich wieder dem Treiben in der Küche zuwandte. Amy stellte den Flammkuchen auf einem rustikalen Holzbrett auf den Tisch, während Nathan die Weingläser füllte.

Stéphane war sich sicher, dass Phoebe ebenso wie er in diesem Moment an ihren Beinahe-Kuss dachte, doch offensichtlich schien es ihr unangenehm zu sein. „Wie war dein erster Tag?“

„Gut“, antwortete Phoebe, ohne ihn anzusehen.

Stéphane nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Amy und Nathan gerade nur Augen füreinander hatten, also beugte er sich etwas näher zu Phoebe und fragte leise: „Woran denkst du?“

Seufzend wandte sie sich ihm zu. „Stéphane, ich halte es für keine gute Idee, wenn wir beide …“

Er war überrascht, dass sie so offen und ehrlich mit der Situation umging und wusste in diesem Moment nicht, wie er selbst reagieren sollte. Doch das war auch gar nicht mehr nötig, da Amy nun neben ihrem Mann am Tisch Platz nahm.

„Bon appétit!“

„Das riecht köstlich“, sagte Stéphane zu Amy. „Wie immer. Nathan hat es wirklich gut mit dir getroffen, vor allem, weil er selbst nicht kochen kann.“

„Weil du ja so viel besser kochst“, erwiderte Nathan spöttisch.

„Ich sag nicht, dass ich gut bin, aber besser als du bin ich allemal.“

Nathan ging nicht weiter darauf ein. „Wie sieht’s denn mit dem Pferdedieb aus? Weißt du schon mehr?“

Stéphane stieß einen Seufzer aus. „Eigentlich darf ich ja nicht über laufende Fälle reden. Aber wir haben nichts, rien, keinen einzigen Anhaltspunkt.“

„Ihr wisst aber, dass es sich um einen Serientäter handelt?“, fragte Amy.

„Das kann man so nicht sagen. Ja, es wurden nachts zwei männliche Jungpferde von den Weiden gestohlen, aber wir wissen weder hundertprozentig, ob es sich um ein- und denselben Täter handelt, noch, ob er wieder zuschlagen wird.“

„Das wird er, weil er es kann“, erwiderte Nathan grimmig. „So ein Mist, was soll ich denn jetzt machen? Topolino passt genau ins Beuteschema.“

Amy legte ihm eine Hand auf den Arm. Stéphane wusste, wie viel ausgerechnet Topolino ihm bedeutete. Das Pferd von Nathans verstorbener Frau hatte das Fohlen letztes Jahr zur Welt gebracht, Amy hatte bei der Geburt geholfen. Sie und Nathan waren sich in jener Nacht näher gekommen. Stéphane fühlte sich hilflos, weil er seinem besten Freund in dieser Situation nicht helfen konnte, obwohl er Polizist war.

„Es tut mir leid, aber wir können nicht jede Weide in Saintes-Maries-de-la-Mer bewachen. Bring das Pferd über Nacht am besten im Stall unter, und besorg dir eine Überwachungskamera. Mehr kann ich dir im Moment leider auch nicht raten.“

Nathan nickte. „Ich weiß, Mann, ich mache mir nur Sorgen. Keine Ahnung, ob es etwas bringt, die Junghengste in den Stall zu sperren, aber ich kann auch nicht jede Nacht aufpassen.“

„Wir könnten uns doch abwechseln“, mischte Phoebe sich das erste Mal ins Gespräch ein.

Nathan lächelte ihr zu. „Das ist nett, aber du brauchst deinen Schlaf. Glaub mir, als einzige Tierärztin in Saintes-Maries-de-la-Mer wirst du schon bald jede Menge zu tun haben, und es ist ja auch keine Dauerlösung.“

„Wir werden den Dieb schon schnappen“, sagte Stéphane, obwohl er sich da selbst nicht so sicher war. Wenn er wenigstens wüsste, wo er mit seiner Suche anfangen sollte, aber im Moment war der Täter besser versteckt als die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. „Ihr habt doch Ahnung von Pferden. Vielleicht könnt ihr mir ja helfen. Warum macht sich jemand die Mühe und stiehlt die Tiere von der Weide? Wir leben in der Camargue, hier gibt es überall Wildpferde. Und warum nur Hengste, die noch nicht ausgewachsen sind?“

Nathan nahm sich noch ein Stück Flammkuchen, bevor er antwortete. „Also, das mit den Wildpferden stimmt so nicht ganz. Die Pferde, die man in der Sumpflandschaft oder bei den Seen sieht, gehören in den meisten Fällen zu einem wilden Gestüt. Du weißt, dass sich meine Pferde auch nicht alle auf der Weide aufhalten. Diejenigen, die nicht für den Reitunterricht ausgebildet wurden, sind wesentlich wilder und stromern umher. Das können sie auch, weil man sie am nächsten Tag ja nicht wieder braucht.“

„Verstehe“, murmelte Stéphane. „Jetzt müsst ihr mich für ganz schön dumm halten.“ Doch niemand sagte etwas dergleichen, ganz im Gegenteil.

„Das ist mir auch neu“, bemerkte Phoebe.

Stéphane sah sie kurz von der Seite an. Er lächelte ihr zu, bevor sie sich wieder ihrem Teller widmete. „Und was hat es mit den Jungpferden auf sich?“

„Camarguepferde sind erst mit sieben oder acht Jahren ausgewachsen“, erklärte Amy. „Sie werden braun oder schwarz geboren. Vollkommen weiß werden sie erst mit etwa zehn Jahren.“

„Und was hat das zu bedeuten?“, wollte Stéphane wissen. „Sind die Pferde wertvoller, solange sie noch nicht weiß sind?“

„Das kann man so nicht sagen“, meinte Nathan. „Es kommt darauf an, zu welchem Zweck man die Pferde braucht.“

„Ich tippe jetzt mal darauf, dass sich junge Hengste gut zur Zucht eignen“, wagte Stéphane einen Versuch.

Nathan nahm einen Schluck Wein. „Theoretisch schon, allerdings könnte der Dieb auch direkt die Zuchthengste stehlen, wenn es ihm darum ginge. Die sind schließlich dafür prädestiniert, während sich die jungen Hengste erst noch beweisen müssen.“

„Die müsste er aber erst einmal ausfindig machen“, bemerkte Phoebe. „Ich nehme nicht an, dass sie nur zu bestimmten Anlässen herausgelassen werden und sonst das ganze Jahr über in einer Box verbringen, auf der groß Zuchthengst steht.“

Nathan grinste. „Das ist wohl wahr. Meine Pferde befinden sich in der Regel auf der Weide oder im angrenzenden Gebiet. Ich lasse der Natur ihren Lauf und greife nicht ein, indem ich eine bestimmte Stute mit meinem besten Hengst paare. Aber ich kann da nur für mich sprechen, andere Pferdebesitzer handhaben das sicher anders, vor allem diejenigen, die die Tiere später verkaufen.“

Stéphane winkte ab. „Lassen wir das. Ich langweile euch nur mit meiner Arbeit. Irgendwann wird der Dieb einen Fehler machen, und dann bin ich zur Stelle.“ Er sah zu Amy. „Darf ich mir noch ein Stückchen Flammkuchen nehmen?“

„Jetzt frag doch nicht, bedien dich einfach.“

„Möchtest du auch noch etwas?“, fragte er Phoebe.

Sie nickte. „Gern.“

Nach wie vor gefiel Stéphane, dass Phoebe einfach aß, so viel sie wollte und worauf sie Lust hatte. Was wohl passieren würde, wenn sie ihren Gelüsten auch in anderen Lebensbereichen nachgab? Zwischen ihnen bestand eindeutig eine sexuelle Spannung, das spürte Phoebe sicherlich auch, aber sie wehrte sich dagegen. Und das war auch gut so, denn er selbst konnte einfach nicht aufhören, mit Phoebe zu flirten, obwohl er sich immer wieder sagte, dass sie tabu für ihn war.

Er reichte ihr noch ein Stück Flammkuchen. „Und, hast du dich mittlerweile eingelebt? Wie gefällt es dir hier in der Camargue?“

Sie nickte. „Es ist toll hier. Ich kann nicht sagen, ob es auf Dauer etwas für mich wäre, da ich das Stadtleben gewöhnt bin. Aber für den Moment ist es genau das Richtige.“

„Kann ich gut verstehen. Und die Arbeit?“

„Phoebe macht sich hervorragend“, mischte Amy sich ein. „Zumindest der Bauer vorhin war sehr zufrieden.“

„Dann lahmt das Pferd nicht mehr?“, fragte Stéphane.

Phoebe lachte. Es war ungewohnt, dass sie auf einmal so entspannt war. „So schnell geht das nicht, aber in ein paar Tagen ist sicher wieder alles beim Alten.“ Sie griff nach ihrem Weinglas und schwenkte den gekühlten Rosé. „Mir war gar nicht bewusst, wie sehr mir die Arbeit mit Pferden gefehlt hat.“

„Dann hast du schon mal mit Pferden gearbeitet?“, wollte Stéphane wissen. „Ich hatte es so verstanden, dass du in London in einer Kleintierpraxis angestellt warst.“

Sie nickte. „Das war ich auch, aber ich habe direkt nach dem Studium ein längeres Praktikum auf einem Gestüt gemacht. Englischer Landadel mit eigenem Tierarzt“, erklärte sie. „Sonst hätte Amy mich gar nicht als ihre Vertretung einstellen können.“

„Das wäre in der Tat schwierig geworden“, antwortete Amy und wandte sich an Nathan, der immer wieder aus dem Fenster in die dunkle Nacht hinaussah. „Wie wäre es, wenn du Topolino in den Stall bringst? Vorher hast du doch eh keine Ruhe.“

Er gab ihr einen Kuss auf die Nase. „Du kennst mich schon viel zu gut. Ihr entschuldigt mich?“

Stéphane nickte. „Nur zu. Ich glaube zwar nicht, dass der Dieb vor Mitternacht zuschlagen würde, aber wenn es dich beruhigt …“

Nathan stand auf. „Es dauert sicher nicht lange“, sagte er, schon halb aus der Küche.

Amy griff nach der Weinflasche. „Möchte noch jemand? Phoebe?“ Sie nickte, und noch während Amy ihrer Freundin nachgoss, ertönte ein Knacken im Babyfon, das auf der Arbeitsfläche stand. Kurz darauf hörte man Marie weinen. Entschuldigend erhob Amy sich. „Die Kleine hat bestimmt Hunger. Bedient euch, macht es euch gemütlich. Und lasst um Himmels willen alles stehen, darum kümmere ich mich später. Ich bin sofort zurück.“

Plötzlich waren Stéphane und Phoebe allein in der Küche. Phoebe klammerte sich an ihrem Weinglas fest. Mit Amy und Nathan als Puffer zwischen sich und Stéphane hatte sie sich endlich mal entspannt, aber nun wurde sie wieder nervös.

Doch Stéphane tat so, als würde er ihre Anspannung nicht bemerken. Lässig fuhr er mit dem Gespräch fort: „Und auf dem Gestüt hat es dir damals gefallen? Warum bist du nicht dort geblieben?“

„Das wäre ich gern, aber es ging leider nicht. Es war wirklich schön dort, und der Tierarzt mochte mich. Vielleicht hätte er mich sogar fest angestellt, aber …“ Sie zögerte. „Meine Familie war in London, und ich hatte sie schon lange genug allein gelassen. Erst das Auslandssemester in Paris, dann noch das Praktikum. Sie brauchten mich.“ Ganz kurz blickte sie zu ihm und versuchte zu lächeln, doch es wollte ihr nicht gelingen. Schnell senkte sie den Blick.

Gerne hätte Stéphane mehr gewusst, aber da er spürte, dass sie ihm ohnehin keine Antwort geben würde, hakte er nicht weiter nach. Als Phoebe aufstand und begann, das Geschirr aufeinanderzustapeln, fragte er geradeheraus: „Phoebe, warum hast du Angst vor mir?“ Er legte ihr eine Hand auf den Arm.

Phoebe lachte nervös. „Ich hab doch keine Angst vor dir.“ Doch ihre Reaktion hatte sie verraten. Sie war zusammengezuckt.

...

Autor

Teresa Carpenter
<p>Teresa Carpenters Familie lebt seit fünf Generationen in Kalifornien. Auch sie selbst wohnt dort: in San Diego an der Küste. Teresas große Verwandtschaft unterstützt sie in allem und gibt ihr Kraft. Besonders stolz macht es sie, ihre Nichten und Neffen zu beobachten, die allesamt klug, sportlich und für eine strahlende...
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Margaret Way
<p>Mit mehr als 110 Romanen, die weltweit über elf Millionen Mal verkauft wurden, ist Margaret Way eine der erfolgreichsten Liebesroman-Autorinnen überhaupt. Bevor sie 1970 ihren ersten Roman verfasste, verdiente sie ihren Unterhalt unter anderem als Konzertpianistin und Gesangslehrerin. Erst mit der Geburt ihres Sohnes kehrte Ruhe in ihr hektisches Leben...
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