Romana Extra Band 130

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  • Erscheinungstag 14.02.2023
  • Bandnummer 130
  • ISBN / Artikelnummer 0801230130
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Lucy Foxglove, Michelle Douglas, Annie O’Neil

ROMANA EXTRA BAND 130

1. KAPITEL

Fürstentum Selvamar, Mittelmeer

„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Amador merkte, dass seine Stimme eine Spur zu aggressiv klang, und er wusste auch genau, was das nach sich ziehen würde. Innerlich stöhnte er über seinen Leichtsinn und seinen Mangel an Disziplin. Er ballte die Hände zu Fäusten, allerdings hinter dem Rücken. Es war keine gute Idee, seinen Vater, den regierenden Fürsten, noch mehr zu verärgern nach dieser unglücklich verlaufenen Woche.

„Es ist mein voller Ernst. Du bist der Thronfolger, für dich kommt nur eine standesgemäße Vermählung infrage. Serafina ist die geeignete Partie. Und tu nicht so, als wäre das eine Neuigkeit.“ Fürst Carlos III. knurrte die letzten Worte, und das war Beweis genug, dass Amador in der Tat zu weit gegangen war.

Ohne Verstand und Geschick. Er hätte am Vorabend nicht so lange auf dieser Party bleiben sollen. Auf einige der zahlreichen Cocktails zu verzichten, hätte ihm nun den Morgen gerettet. Sein Kopf dröhnte, und er wollte nichts anderes als seine Ruhe. Es war viel zu früh für dieses Gespräch. Ein letzter Funke Leichtsinn glomm in ihm auf. Doch Amador war zu müde und zu verkatert, um ihn auszulöschen.

„Ich bin viel zu jung, um zu heiraten.“ Schon war es raus. Dabei änderte es nichts. Natürlich war er längst im heiratsfähigen Alter, das sah selbst er ein, aber er war noch nicht so weit! Und er würde vermutlich nie so weit sein. Eine Ehe wäre nur dazu da, ihn einzuengen. Ihn vor „ungeeigneten“ Partys zu bewahren und ans Haus zu ketten. Selbst wenn es sich dabei um einen luxuriösen Palast handelte, konnte er sich nichts Schlimmeres vorstellen. Amador liebte seine Freiheit. Noch war er schließlich nicht Fürst, noch musste er sich nicht mit Staatsangelegenheiten herumärgern wie sein Vater. Er verfluchte innerlich wieder einmal das Schicksal, dass nicht sein Bruder der Erstgeborene war. Felipe hatte vermutlich sogar Lust, sich um diese Dinge zu kümmern.

Es war typisch, dass sein Vater sich Zeit ließ mit der Antwort. Fürst Carlos schaffte es immer, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Er musste nicht schreien, er hatte ohnehin das Sagen. In diesem Land und in dieser Familie. Amador knirschte mit den Zähnen und unterdrückte den nächsten Spruch. Über dieses Thema hatten sie in den letzten fünf Jahren viel zu oft gestritten. Sie drehten sich im Kreis, und sein Vater weigerte sich zu verstehen, wie sein Sohn wirklich war, dass er nicht geeignet war, in die Fußstapfen des Regenten zu treten.

Und erst recht nicht für eine Ehe mit Serafina, die er kaum kannte. Mochten sie einander auch hundertmal versprochen sein. Womöglich waren sie das sogar seit ihrer Geburt – jedenfalls viel zu lange schon. Aber weder Serafina noch er hatten ein großes Interesse daran, sich näher kennenzulernen und den unvermeidlichen Tag der Hochzeit auf diese Weise heraufzubeschwören.

Wenn es nach Amador ging, hätte er mindestens noch zehn Jahre warten können. Er versuchte sich Serafinas Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Sie war hübsch, keine Frage. Doch warum sollte er sein restliches Leben mit dieser einen Frau verbringen, die ihm darüber hinaus völlig fremd war?

Mit der Zeit lernt man, sich zu lieben, sagte seine Mutter immer. Vielleicht stimmte das. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass er unter diesem erzwungenen Leben leiden würde, das ihm vorherbestimmt war.

„Es ist mein letztes Wort. Du wirst ihr morgen Abend auf dem Ball einen offiziellen Heiratsantrag machen. Seit Wochen ist alles vorbereitet. Deiner Mutter würde es das Herz brechen, wenn all ihre Mühen umsonst gewesen wären.“

Dieses Mal verkniff sich Amador den Kommentar und beschränkte seine Reaktion darauf, grimmig zu gucken. Er würde keine Widerworte geben, stattdessen nickte er, verbeugte sich leicht. Dann ging er mit langen Schritten durch den Saal und verfluchte innerlich, dass sich die Flügeltüren mit den Schnitzereien wie von Geisterhand öffneten und die beiden Bediensteten sie auch hinter ihm leise wieder schlossen. Einmal mit den Türen knallen … Amador schüttelte den Kopf über diesen Gedanken. Er benahm sich wie ein verzogenes Kind. Die Sohlen seiner Reitstiefel trafen bei jedem Schritt laut und hart auf den Marmorboden, und das Klacken hallte von den Wänden wider. Durch die hohen Fenster schien die Sonne herein, draußen wogten Palmenwedel vor einem blauen Himmel. Keine schlechte Idee, sich im Meer etwas abzukühlen.

Er sprintete die Treppen hinauf in Richtung seiner Privatgemächer, nahm dabei zwei Stufen auf einmal und war froh, dass er zur Abwechslung allein war. Sein Bodyguard Eneas hatte Urlaub. Natürlich gab es noch weitere, aber denen würde er mit Sicherheit nicht sagen, wohin er gehen wollte. In der oberen Etage traf er das neue Zimmermädchen, das einen schnellen Knicks machte und mit gesenktem Blick weitereilte. Noch vor zehn Jahren waren alle Bediensteten älter gewesen als er, jetzt wurden auch junge eingestellt, die ihm vermutlich das Gefühl geben sollten, dass er erwachsen war. Natürlich war er erwachsen. Aber warum musste man dann auf den ganzen Spaß verzichten? Wieso musste der Thronfolger heiraten, und dann noch eine Frau, die er nicht kannte?

Um regierender Fürst zu sein, brauchte man doch keine Ehefrau. Natürlich hätte er keine Zeit mehr für die Partys, aber … wobei, warum eigentlich nicht? Zur Not würde er ein neues Gesetz erlassen. Er wäre ein moderner Fürst, Traditionen waren schön und gut, aber man musste auch mit der Zeit gehen, und man sollte sich nicht verbiegen. Beides hatte ihm seine Mutter von jeher eingetrichtert, und zumindest den Teil mit dem Verbiegen hatte er immer ernst genommen. Selbst wenn sie damit ganz sicher nicht seine ständigen Partybesuche gemeint hatte, die man ihm verbieten wollte, die ihm aber nun einmal wichtig waren. Ebenso wie seine Freiheit.

Ihm blieb nicht viel Zeit, schon seit Längerem vermutete Amador, dass die Bediensteten den Befehl erhalten hatten, ihn im Auge zu behalten. Solange er sich in seinen Privaträumen oder einem der unteren Salons aufhielt, war alles in bester Ordnung. Aber niemand würde es gutheißen, wenn er ohne Schutz ans Meer ging. Zu der verborgenen Bucht, die er vor Jahren zufällig entdeckt hatte.

Mit schnellen Handgriffen suchte er sich alles Nötige zusammen. Lag es nicht ebenso im Interesse aller, dass der zukünftige Fürst gesund blieb? Sport und Entspannung waren mindestens so wichtig wie die Staatsgeschäfte. Ein kranker Fürst konnte seinem Land wohl kaum von Nutzen sein.

Amador schulterte seine Tasche, ging zur Tür und hielt inne. Wenn er mit Gepäck das Schloss verließ, würde er auffallen. Keine gute Idee. Selbst wenn ihn niemand aufhielt, wovon er ausging, würde es jemand seinem Vater zutragen, und dann könnte er sich das nächste Donnerwetter anhören. Also beschloss er, die Badehose direkt unterzuziehen. Auf ein Handtuch verzichtete er – er würde so lange in der Sonne bleiben, bis er wieder trocken war. Ein Gefühl von Abenteuer erfasste ihn. Unglaublich, normale Leute taten so etwas andauernd, nur er musste bei allem auf Vernunft, Anstand und seine adeligen Wurzeln Rücksicht nehmen.

Leise verließ er seine Gemächer und ging in die entgegengesetzte Richtung, die ihn zu den Treppen der Bediensteten führte. Vermutlich war auf dieser Treppe öfter jemand unterwegs, aber er würde weder seinem Vater begegnen noch seiner Mutter oder Felipe. Der war mit den Jahren so furchtbar pflichtbewusst geworden, dass Amador manchmal den lebenslustigen Bruder vermisste, der er früher einmal gewesen war. Felipe hatte sich nicht zuletzt durch seine Ehe und das Vatersein so verändert. Er war zwei Jahre jünger als Amador, aber schlug vermutlich genau den Weg ein, der ihrem Vater gefiel.

Felipes Frau Amalia war eine Schönheit und in den besten Verhältnissen aufgewachsen, auch wenn sie keine Prinzessin war. Sie war anmutig und kümmerte sich liebevoll um ihren kleinen Sohn Romualdo, obwohl es natürlich einige Kindermädchen am Hof gab. Das hatten Amalia und Amador wohl gemeinsam – sie nahmen gerne wichtige Dinge selbst in die Hand. Dass sie vor einem Jahr erneut Mutter geworden war, entband sie für eine Weile von den offiziellen Aufgaben. Sie kümmerte sich nach wie vor um die Wohltätigkeitsarbeit, aber eben auch um ihre beiden Kinder. Amador respektierte den Weg, den sein Bruder und seine Schwägerin gewählt hatten, aber dennoch sehnte er selbst sich nicht nach einer Ehefrau oder einer eigenen Familie.

Wie durch ein Wunder begegnete er niemandem auf der Dienstbotentreppe und schlich ungesehen hinaus. Unter normalen Umständen läge es selbstverständlich unter seiner Würde, den Trakt der Dienstboten zu benutzen – so war es ihm zumindest beigebracht worden. Dabei hielt er das für ausgegorenen Unsinn. Als Kinder hatten Felipe und er so oft die Dienstbotengänge durchstreift und heimlich dort Verstecken gespielt, beinahe wie ganz normale Kinder.

Amador seufzte und schlug draußen den Weg zu den Ställen ein. Zu dieser Uhrzeit trainierte er üblicherweise eins der neuen Pferde – eine der wenigen Betätigungen, die man ihm gestattete. Bei den Ställen roch es wie immer nach frischem Stroh und Pferden, Sonne und etwas Staub. Amador liebte diesen Geruch.

Kurz blieb er stehen und nahm sich vor, später noch einmal herzukommen. Natürlich hatten die Pferde auch so genug Bewegung, dafür gab es schließlich genügend Angestellte, aber wenigstens sein Lieblingspferd würde er nachher besuchen. Er umrundete das letzte Gebäude und fiel dahinter in einen leichten Laufschritt, bis er die Bäume erreicht hatte. Vermutlich hätte er sich Sportkleidung anziehen sollen. Etwas Lauftraining an der frischen Luft konnte ihm schließlich niemand verwehren, aber dann wäre womöglich ein Bodyguard oder zumindest ein anderer Bediensteter mitgekommen, und sei es nur, um ihm eine Flasche Wasser oder ein Handtuch während des Trainings zu reichen. Ohne sich umzudrehen, lief er weiter, steuerte auf die Stelle zu, an der die Schlossmauer am niedrigsten war.

Zum Glück war das Gelände viel zu groß, als dass es jeder permanent im Auge behalten konnte, und diejenigen, die hier an den Mauern Wache schoben, nahm Amador regelmäßig mit zu den exklusiven Partys, die er besuchte. Ein sicherer Deal. Die Videoaufnahme, die zeigte, wie er über die Mauer in seine kurzweilige Freiheit sprang, würde in wenigen Minuten gelöscht sein, darauf konnte er sich verlassen.

Ein Glück, dass gleich hinter den Mauern des Schlossgartens der Wald begann. Ein lichter Kiefernwald zwar, dennoch fühlte sich Amador hier sicherer als auf der offenen Straße. Er pfiff eine Melodie, die er irgendwo aufgeschnappt hatte, lief seinen Geheimweg entlang und kletterte dann den steilen Pfad hinunter bis zum Meer. Es duftete nach Kiefern, Sonne und Sommer.

Die kleine Bucht lag direkt vor ihm. Schnell streifte er seine Kleidung ab, legte sie auf einen niedrigen Felsen und ging über den heißen Sand auf den Wassersaum zu. Eine flache Welle schäumte auf, als sie an den Strand rollte. Langsam schritt er ins Wasser, spürte, wie seine Beine eine Gänsehaut überzog, die bei jedem seiner Schritte höher kroch, bis er ganz untertauchte. Unter Wasser öffnete Amador die Augen. Ein kleiner Schwarm silberner Fische schwamm ganz dicht über dem sandigen Meeresboden.

Er tauchte wieder auf und ließ sich auf dem Rücken treiben. Die Beine und Arme von sich gestreckt wie ein Seestern blinzelte er in den strahlend blauen Himmel. Zwei Möwen flogen vorüber. Wenn er den Kopf etwas zur Seite neigte, konnte er die Klippen sehen, die hinter dem kleinen Strand aufragten. Der helle Stein reflektierte das Licht, nur unterbrochen von einigen dickfleischigen grünen Pflanzen, die gerade violett blühten. Ein piepsender Vogelschrei erklang, und Amador suchte nach dem Verursacher. In den Felswänden entdeckte er einige Löcher, und es sah beinahe so aus, als würde aus der einen Öffnung ein kleiner schwarz-weißer Kopf lugen.

Nachdem er eine Weile geschwommen war, legte er sich auf die warmen Felsen und nickte ein. Als er erwachte, hatte die Sonne das Meer bereits in goldenes Licht getaucht. Bestimmt war sein Verschwinden schon aufgefallen. Zeit, aufzubrechen. Aber vorher würde er sich noch eine letzte Erfrischung gönnen. Der Himmel war gefärbt wie ein perfekter Pfirsich, orange und rot und rosa. Das Meer schien so unendlich, so weit – man sah niemanden, der etwas von einem verlangte, man konnte sich alles vorstellen, konnte alles tun. Man konnte sein, wer man wollte. Genau genommen konnte er eine neue Identität annehmen und einfach das Schloss und seine Aufgaben hinter sich lassen. Wer wollte ihn daran hindern, wenn er es heimlich tat? Für den Thron war er ohnehin nicht der Richtige. Das Amt des Fürsten brachte viel zu viel Verantwortung mit sich.

Da draußen wartete die ganze Welt auf ihn. Auf einen Mann, der noch viel zu jung war, um eine Frau zu heiraten, von der er nur langweilige Fakten kannte. All das machte keinen Sinn. Er war der Prinz, er sollte leben können, wie er wollte.

Amador sprang mit einem Kopfsprung ins Meer, schwamm mit kräftigen Zügen durch das glitzernde Wasser, ein kleines Stück in Richtung Palast, dann wieder zurück und weiter, bis er die Inselhauptstadt sehen konnte. Die Fassaden der weiß getünchten Häuser schimmerten rosafarben im Licht der untergehenden Sonne. Alles wirkte fremd, aber nicht fremd genug.

Er wandte sich in die andere Richtung. Sein Blick fiel auf die Segelboote. Der Fürstenfamilie, seiner Familie, gehörten sieben davon. Die größten im Hafen und ein paar kleinere, die er gelegentlich für Ausflüge nutzte. Ausflüge mit Bewachung natürlich. Aber Amador wusste, dass er auch alleine segeln konnte. Er sah zum Himmel hinauf und suchte nach dem Mond. Voll und rund, aber noch blass hing er im Blau des frühen Abends. Perfekt. Ein Vollmond würde das Meer ausreichend erhellen für eine Reise …

Ein letztes Mal betrachtete er die Boote, dann schwamm er zurück zu der kleinen Bucht, stand noch eine Weile am Ufer und verfolgte das Licht der Sonne, das allmählich hinter dem Horizont verschwand. Sobald die warme Abendluft seine Haut getrocknet hatte, zog er sich an und kehrte leise pfeifend zum Palast zurück. Der Horizont rief nach ihm, und er würde seinem Ruf folgen.

Beim Abendessen mit der Familie saß Amador besonders gerade, bemühte sich um höfliche Konversation, lachte im richtigen Maß über amüsant gemeinte Bemerkungen und sah, dass es seine Wirkung nicht verfehlte. Sein Vater glaubte vermutlich, dass er den Nachmittag genutzt hatte, um über seine Zukunft nachzudenken, und zu dem Schluss gekommen war, dass die Heirat mit Serafina tatsächlich das Richtige für seinen Weg wäre. Der Einzige, der normalerweise etwas bemerkt hätte, war sein Bruder. Aber Felipe war mit seinem Sohn beschäftigt, der mit dem Besteck überfordert schien.

Amalia lächelte, während sie die Szene ebenfalls beobachtete. Die kleine Tabita schlief bereits oben, unter Aufsicht des Kindermädchens. Dies war erst die zweite Woche, in der Romualdo am abendlichen Familienmahl teilnehmen durfte, seit er nun seinen sechsten Geburtstag gefeiert hatte. Er war sehr stolz darauf, dennoch sah man ihm hin und wieder die Scheu vor seinen Großeltern deutlich an. Amador hätte seinem Vater gerne ein paar Takte dazu gesagt, aber dieser liebte es, streng zu wirken. Vermutlich freute er sich über die Schüchternheit seines Enkels. Wenigstens einer am Tisch, der ihm den gebührlichen Respekt entgegenbrachte.

Amador war klar, dass er seine Familie vermissen würde. Aber länger als ein paar Monate wollte er gar nicht fort. Und ohnehin war es fraglich, ob er es so lange schaffen würde, nicht gefunden zu werden. Gleich am nächsten Morgen würde man nach ihm suchen, aber bis jemand bemerkte, dass ein Boot fehlte, würde sicher noch eine Weile vergehen. Vermutlich würden sie denken, dass er nur einen kurzen Tagestrip unternahm. Dass es nicht so war, würde erst am nächsten Tag auffallen. Zwei Tage Vorsprung, damit sollte es nicht allzu schwer sein, irgendwo anzukommen, wo man ihn nicht gleich erkannte und seine Fotos der Presse zuspielte.

Es gelang ihm ungewöhnlich gut, seine Ungeduld zu überspielen. Am Ende des Mahls verabschiedete er sich höflich von allen und zog sich in seine Gemächer zurück. Dort packte er. Draußen dämmerte es bereits – dies war die beste Zeit, um sich ungesehen fortzuschleichen. Sobald es richtig dunkel war, beleuchteten die Scheinwerfer jede Bewegung im Palastgarten.

Zufrieden zog Amador den Reißverschluss seiner zweiten Tasche zu, schulterte den Rucksack und warf einen Blick in den Korridor vor seiner Tür. Es war niemand zu sehen. Die meisten Bediensteten waren mit ihren Aufgaben anderswo im Palast beschäftigt, und seine Familie hielt sich in den Salons oder ihren eigenen Gemächern auf.

Eine Viertelstunde später hatte er den Palastgarten verlassen, ohne dass er jemandem begegnet war. Es lief alles genau nach Plan. Er wählte den Küstenpfad zwischen den knorrig gewachsenen Kiefern und hellen Felsen, die das Licht des Mondes reflektierten, und lauschte auf jedes Geräusch. Grillen zirpten. Aus Richtung der Stadt hörte er lachende Menschen, jemand sang und rief etwas. Auf Amadors Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, und in seinem Herzen wurde es warm. Er fühlte sich frei, wie ein normaler Mann, kein Prinz. Jemand, der alleine eine Reise unternehmen würde, um sich selbst zu finden und Dinge auszuprobieren, die ihm Spaß machten.

Das sanfte Klacken der Taue an den Booten ließ sein Herz hüpfen. Kleine Wellen schlugen gegen die Schiffsrümpfe, das Mondlicht malte Muster auf das Wasser. Am Hafen war alles hell erleuchtet, aber niemand beachtete ihn, als er den Steg hinunterging und auf das kleinste der Flotte zulief. Ein paarmal war Amador bereits allein gesegelt, aber meistens hatte sich eins der anderen Boote in der Nähe befunden. Um ihn zu beschützen. Heute nicht. Das Meer lag groß, dunkel und vollkommen einsam vor ihm, als er das Boot beinahe lautlos aus dem Hafen lenkte. Der Wind hatte aufgefrischt, aber es war immer noch angenehm mild. Amador hatte keine Route ausgearbeitet wie sonst, er konnte nicht nach Sicht fahren, denn von Selvamar aus sah man kein anderes Land. Also fuhr er der eigenen Nase nach, änderte den Kurs irgendwann leicht und genoss die Stille, das tanzende Mondlicht auf den Wellen und das erhabene Gefühl von Freiheit.

Niemand wusste, wo er war. Er hatte kurz überlegt, ob er seiner Familie einen Hinweis dalassen sollte, zumindest eine Nachricht, dass es ihm gut ging und er aus freier Entscheidung eine Reise unternahm und nicht entführt worden war. Stattdessen würde er eine Ansichtskarte schicken. Kurz bevor er den nächsten Hafen wieder verließ, damit man ihn auch danach nicht finden konnte. Er hatte vor, viele Städte zu sehen, ganz in Ruhe, ohne Medienrummel. Am besten würde er sich im nächsten Hafen neu einkleiden.

Nach einigen Stunden auf offenem Meer, als er langsam an seiner Idee zweifelte, schaukelte das Boot immer mehr, und Amador bemühte sich, den Kurs anzupassen, aber es half nichts. Er musste das Segel gut sichern, damit der Wind es ihm nicht aus der Hand schlug. Wo kamen auf einmal diese starken Böen her? Er warf einen Blick in den Himmel, aber der Mond war verschwunden. Dicke Wolken versteckten auch die Sterne. Das Boot lag schräg am Wind, und Amador hatte alle Mühe, sich in dem stürmischen Wellengang festzuhalten. Kurz lenkte ihn eine Leine ab, die sich freigezurrt hatte. Im nächsten Moment traf ihn etwas am Kopf. Alles um ihn wurde schwarz. Noch schwärzer als die sternenlose, mondlose Nacht.

2. KAPITEL

Costa Brava, Spanien

Sophie drückte ihre Mutter noch einmal fest an sich. Eine Woche lang würden sie sich nicht sehen, aber Mum war bei ihrer Freundin Marta gut aufgehoben. Sophie hatte mit den beiden zu Mittag gegessen, um sich nach der langen Hinfahrt zu stärken. Jetzt musste sie sich beeilen, um vor dem Abend zu Hause in Girona zu sein. Auch Marta drückte sie noch einmal.

„Pass gut auf Mum auf“, flüsterte sie, und Marta zwinkerte verschwörerisch, als sie sich voneinander lösten. Sie wussten beide, dass dies nicht einfach nur Urlaub in den Bergen für Sophies Mutter war, denn die alte Trauer hatte sie schon wieder eingeholt. Zum Glück konnte Marta helfen. Sie war nicht nur Mums älteste und engste Freundin in Spanien, sie hatte auch noch eine Ausbildung zur Therapeutin.

„Pass mir gut auf Joey auf, ja?“, rief ihre Mutter, als ihr kleiner Jack Russell Terrier auf den Beifahrersitz hüpfte und Sophie die Tür hinter ihm zuklappte.

„Natürlich, Mum. Wir melden uns, wenn wir wieder zu Hause sind. Bis in einer Woche!“ Sie winkte, stieg dann auf der Fahrerseite ein und schnallte sich an. Als Nächstes widmete sie sich dem Autoradio, wo sie die Musik aus Rücksicht auf Joeys gute Ohren zwar etwas leiser stellte als sonst, aber lauter als eben. Wenn ihre Mutter in einer depressiven Phase steckte, ertrug sie die wenigsten Lieder, aber Sophie brauchte die Musik beim Fahren.

Die Landschaft wirkte noch malerischer und mediterraner, wenn sie dabei die Gitarrenklänge von Santana im Ohr hatte. Mittlerweile stand die Sonne tief am Himmel und warf goldenes und rötliches Licht auf die Felsen. Sophie ließ das Fenster ein winziges Stückchen nach unten, sobald sie wieder in den Pinienwald kamen. Sie warf einen Blick zu Joey, ob er genau wie sie in die Luft schnupperte, aber der kleine weiße Terrier mit den drei milchschokoladebraunen Flecken hatte sich auf dem Sitz eingerollt und schlief.

„Du hast es gut“, murmelte Sophie. Sie hatte noch gut drei Stunden Fahrt vor sich, aber immerhin wusste sie, dass ihre Mutter in guten Händen war. Dafür lohnte sich diese lange Fahrt, und immerhin würde Marta sie nächstes Wochenende nach Hause bringen, wie die vergangenen Male auch.

Sophie überlegte, was sie alles noch für den nächsten Tag vorbereiten musste. Für den Unterricht gab es nichts mehr zu tun, aber für den Nachmittag wollte sie noch ein paar Bücher zusammensuchen.

Jeden Montag bot Sophie nach der Schule ihren Leseclub in der alten Bücherei an. Zehn Kinder waren fest angemeldet, aber manchmal kamen noch ein paar weitere dazu. Es gab erstaunlich viele Kinder, die nicht gut lesen konnten, obwohl sie bereits in der fünften oder sechsten Klasse waren. Sie hielt die Lesestunden immer abwechselnd auf Spanisch und auf Englisch ab, weil die Kinder beide Sprachen vom Unterricht in der internationalen Schule kannten. Sie liebte diese ehrenamtliche Aufgabe, und es kam ihr nicht einmal wie Arbeit vor, auch wenn ihre Mutter fand, dass sie schon genug mit ihrer Stelle als Lehrerin an der Schule zu tun hatte.

Aber Sophie kannte das Gefühl, nicht im Unterricht mitzukommen, weil man nicht gut genug lesen konnte. Sie selbst hatte als Kind sehr darunter gelitten, dass sie so langsam war, hatte es aber lange geheim halten können. Seit sich ihre Lehrerin damals ihrer angenommen hatte und ihr das Lesen und Schreiben nach der Schule beigebracht hatte, hatte Sophie sich geschworen, so etwas eines Tages auch zu tun.

Sophie verstand die Kinder und freute sich mit ihnen, wenn sie nach einigen Wochen freudestrahlend durch die Tür hereinliefen und ihr ein eigenes Lieblingsbuch vorzeigten. Sie lächelte, als sie daran dachte, dass neulich jemand ein altes englisches Kinderbuch mitgebracht hatte, das sie in ihrer eigenen Kindheit geliebt hatte. Sie hatte große Teile des Buchs vorgelesen und es dann weitergereicht, sodass jeder ihrer Clubmitglieder eine Seite vorlesen konnte.

Joey fiepte im Schlaf, und seine Pfoten kratzten leise über den Stoff des Beifahrersitzes. Am liebsten hätte sie ihn gestreichelt, aber sie wollte ihn nicht wecken und sollte sich ohnehin mehr auf die Straße konzentrieren. Es waren wenig Autos unterwegs an diesem Samstagabend, die meisten Leute waren wohl zu Hause, hielten Siesta und bereiteten sich auf irgendeine Feier vor – und sei es nur mit der eigenen Familie. Das liebte Sophie an Spanien, diese Lebensfreude, den Sonnenschein, die Wärme. Aber sie vermisste das englische Wetter trotzdem oft, auch wenn es ihr nie jemand glaubte.

Die englische Sonne war milder, meist ging ein leichter Wind, und selbst die Stürme fehlten ihr. Ein Spaziergang bei einem leichten Sturm konnte ihre Gedanken ordnen, sie fühlte sich lebendig, und meist kamen ihr dann die besten Ideen für den Unterricht.

Ein überraschend starker Windstoß pfiff durch den Spalt im Fenster, und sie musste es wieder schließen, als die Böe nachsetzte und ihr zum zweiten Mal die Haare vor die Augen wehte. Sophie warf einen besorgten Blick zum Himmel. Je weniger Kilometer sie von Girona trennten, desto höher türmten sich die dunklen Wolken. In den zehn Jahren, in denen sie mittlerweile an der wilden Küste Spaniens wohnte, hatte sie nur eine Handvoll solcher Unwetterwolken gesehen. Für sie gehörte der blaue Himmel über die Stadt.

Wahrscheinlich würde das Gewitter einfach weiterziehen. Jetzt freute sie sich erst einmal auf den Spaziergang mit Joey. Sie würde am Haus ihrer Mutter anhalten, das auf dem Weg lag, und eine Runde unten am Strand drehen. Danach konnte sie dann ganz entspannt die letzten fünfunddreißig Minuten zu ihrer Wohnung in Girona fahren. Oder sollte sie heute ausnahmsweise im Haus ihrer Mutter übernachten? Eigentlich hatte sie keine große Lust mehr, noch länger hinter dem Steuer zu sitzen. Auf den Spaziergang am Wasser hingegen freute sie sich schon den ganzen Tag. Danach würde sie dann entscheiden, wo sie heute schlafen wollte.

Sie liebte den Duft von Wind. Am Meer ganz besonders. Die frische, wilde Brise erinnerte sie an ihre Kindheit in Devon an der englischen Südküste. Der Verkehrsfunk schaltete sich zwischen die Musik, und Sophie lauschte der Wettervorhersage. Sie hatte sich nicht getäuscht, es waren starke Stürme an den Küsten angesagt, noch heute Abend. Okay, sobald sie beim Haus ihrer Mutter ankam, würde sie sich Joey schnappen und gleich zu ihrem Spaziergang aufbrechen. Aber in der Regel trafen Stürme die Costa Brava nicht so stark.

Joey verschlief auch die restliche Fahrt, bis Sophie ihren Wagen in der Einfahrt vor dem winzigen Haus ihrer Mutter parkte. Es war das kleinste Haus im Ort, den man eigentlich kaum so nennen konnte, schließlich standen hier nur eine Handvoll Häuser, und das ihrer Mutter war auch noch am weitesten von allen anderen entfernt. Dafür hatte man aber den kürzesten Weg zum Strand. Sobald sie den Motor ausschaltete, wachte Joey auf und freute sich so überschwänglich, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihm die Leine anzulegen, aber bei diesem Wetter waren vermutlich ohnehin wenig Leute unterwegs.

„Na, dann komm. Auf geht’s!“

Das ließ sich der kleine Terrier nicht zweimal sagen und sprang über ihren Schoß durch die geöffnete Tür ins Freie. Sophie lachte, schnappte sich seine Leine und ihre Handtasche und folgte ihm im Laufschritt über den sandigen Pfad zwischen den Felsen, den dunkelgrünen flach wachsenden Sträuchern und vereinzelten Feigenkakteen hinunter zum Strand.

Sie war dankbar, dass ihre Mutter das kleine Häuschen behalten hatte, obwohl ihr Ex, dessen Namen sie nie mehr aussprachen, es damals gekauft hatte. Warum er das getan hatte, war Sophie noch immer ein Rätsel. Schließlich hatte er es kaum ein Jahr dort mit ihrer Mum ausgehalten. Er war gegangen und hatte nur eine kryptische Nachricht hinterlassen. Wenig später war Sophie hergezogen. Mittlerweile hatte sie wieder eine eigene Wohnung oben in Girona, weil ihre Mutter die Trauer über die zerbrochene Beziehung überwunden hatte. Zumindest war sich Sophie so sicher gewesen, dass ihre Mum nun endlich mit ihrem Leben weitermachen konnte. Die Wahrheit war allerdings, dass sie immer wieder traurige Phasen überfielen, wie ihre Mum es nannte. Sophie vermutete, dass es sich bereits um eine ausgewachsene Depression handelte, aber so genau kannte sie sich damit nicht aus. Deswegen war sie umso dankbarer für Martas Hilfe, die sich in den nächsten Tagen wieder einmal um Mums Seelenleben kümmern würde.

Joey rannte ein Stück, wartete dann auf sie, um erneut loszusprinten und über die fleischigen Blätter der Agaven zu springen. Sophie lachte und lief ihm nach, sie liebte diesen Weg. Der helle Sand leuchtete umso mehr vor dem grauen Himmel. Der Wind zupfte an ihren Haaren, und der lange Rock flatterte ihr um die Beine. Je weiter sie ging, desto öfter musste sie über Strandgut steigen, dicke Äste, blank gewaschen von Wellen, lagen auf dem Weg. Es musste unglaublich stürmisch gewesen sein heute, während sie mit ihrer Mutter in die Berge gefahren war. Gut, dass sie schon so früh aufgebrochen waren.

Vor ihr tollte Joey durch das Gestrüpp neben dem Weg, stöberte einen kleinen Strandvogel auf, der hektisch davonflatterte, und sprang bellend über die Kiesel, die sich unter Sophies Schritten gelegentlich lösten. Endlich gelangten sie an den Strand. Der Sand war fest und nass – das Meer war wohl bis hier oben gekommen, oder es hatte viel geregnet. Sophie blieb einen Moment stehen und genoss den Anblick. Seit ihre Mutter ihr einmal das Märchen von der kleinen Meerjungfrau vorgelesen hatte, hatte sie sich vorgestellt, wie schön es wäre, wenn es diese magische Unterwasserwelt wirklich gäbe. Ein verwunschenes Königreich, Nixen und Meermänner …

Eine Melodie pfeifend folgte Sophie dem kleinen Hund, warf ein Stöckchen für ihn und atmete tief die salzige Luft ein. Möwen schrien über den Wellen, die weiter draußen beachtliche Schaumkronen trugen. Hinter ihr donnerte das Wasser gegen die Felsen, und Sophie beeilte sich, von der schroffen Felswand wegzukommen. Je weiter sie ging, desto trockener und weicher wurde der Sand, und sie zog ihre Schuhe aus.

Der Sand war kühl an ihren Füßen, noch immer war der Himmel bewölkt, und die Möwen wurden vom Wind umhergepustet. Sophie lief ein kleines Stückchen, um Joey zu jagen, wie er es liebte, und blieb dann abrupt stehen. Wenige Meter vor ihr lag ein großes Stück Holz, es sah aus wie … ein abgebrochenes Segel. Und der Stoff, der daran hing, wirkte nicht, als wäre er lange im Meer herumgetrieben. Dieser Mast musste erst vor Kurzem abgebrochen sein.

Langsam ging sie weiter und stieß auf ein weiteres Bootsteil. Dieses Mal ein Seitenstück. Joeys Bellen jagte ihren Herzschlag in die Höhe. Sie entdeckte ihn an einer Stelle, an der noch mehr Holz lag und dazwischen … ein Körper! Für einige Sekunden bewegten sich ihre Füße keinen Millimeter, der Schock hielt sie an Ort und Stelle – aber dann rannte sie los. Joey hüpfte um die Gestalt auf dem Sand herum, bellte, doch auch das hatte keinen Erfolg. Der Mann bewegte sich nicht.

3. KAPITEL

Leise Töne schlichen sich in Amadors Ohr, und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass bis eben nur Stille geherrscht hatte. Wo war er? Das Geräusch sprang von rechts nach links und wieder zurück, eine Art … Bellen? Er wollte die Augen aufschlagen, sich aufsetzen, aber alles tat ihm weh. Er stöhnte leise. Vorsichtig bewegte er die Hände, versuchte erneut den Kopf zu heben. Er musste husten und schmeckte trockenes Salz. Ein dröhnendes Rauschen überlagerte seine Gedanken, ein schrilles Pfeifen. Wind. Das Meer?

„Hallo? Können Sie mich hören?“ Eine Stimme. Eindeutig weiblich und ganz nah. Dieses Mal gelang es ihm, den Kopf ein kleines Stück zu heben. Etwas Nasses, Kaltes wischte ihm über die Nase.

„Aus, Joey. Bei Fuß! Hallo? Geht es Ihnen gut?“ Die Stimme kam noch näher, und dann endlich sah er die dazugehörige Frau. Ihr Haar leuchtete golden, aber ihr Gesicht lag im Schatten. Er versuchte sich zu räuspern und zu verstehen, was er hier machte und … wo er war.

„Ich weiß nicht.“ Er war sich schon nicht mehr sicher, ob das ihre Frage beantwortete.

„Na, zum Glück sind Sie wach! Warten Sie, ich helfe Ihnen hoch. Joey, sitz.“ Sie schob eine Hand unter seinen Arm und zog ein bisschen, dann ließ sie wieder los. „Vielleicht sind Sie verletzt, ich rufe besser einen Arzt.“

Amador schaffte es, mit dem Kopf zu schütteln. Warum sollte er verletzt sein? Andererseits, warum nicht? Ihm tat schließlich alles weh. Er versuchte aufzustehen, dieses Mal schaffte er es, sich auf Hände und Knie zu stützen. Sand. Ein Strand und … Er sah sich um. Neben ihm saß ein kleiner weißer Hund, der freundlich hechelte. Und vor ihm kniete eine junge Frau, ihre Haare waren mittelblond und leuchteten doch nicht. Sie hatten wohl nur eben in der untergehenden Sonne so golden gewirkt. Kein Engel, er war also nicht tot. Andererseits, was wusste er schon darüber? Irritiert inspizierte er seine Hände, sein Hemd, seine Hose.

Der Stoff war zerrissen und klatschnass. Was zum Teufel machte er hier draußen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er musste heute … ja, was? Der ganze Tag lag im Nebel, noch mehr als das, alles war unter einer dicken Decke aus Nichts begraben. Er hustete und spuckte einen Schwall Salzwasser auf den Sand. Seine Lunge schmerzte, seine Muskeln waren seltsam steif, als er versuchte aufzustehen.

„Wie ärgerlich, ich habe leider keinen Empfang.“ Die Frau kam ein Stück näher. Sie steckte ihr Handy in die Handtasche. „Fühlen Sie sich verletzt? Sind Sie mit einem Schiff verunglückt? Wie lange liegen Sie schon hier? Ach, entschuldigen Sie, das wissen Sie vermutlich selbst nicht.“ Sie strich sich hektisch die Haare aus dem Gesicht.

Irgendwo in der Nähe donnerte es furchtbar laut. Und nein, er wusste überhaupt keine Antwort auf ihre vielen Fragen.

„Ein Schiff?“, fragte er. „Ich … weiß es nicht.“

„Da zieht ein Unwetter auf. Wir müssen vom Wasser weg und vom Strand auch …“ Sie wirkte für einen kurzen Moment nachdenklich, dann schien sie sich einen Ruck zu geben. „Kommen Sie, bis der Sturm sich gelegt hat, brauchen wir einen Unterschlupf.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er kam auf recht wackligen Beinen zum Stehen. Wieder donnerte es über ihren Köpfen, ein ohrenbetäubendes Grummeln ertönte, dann leuchtete der Himmel auf. Ein Gewitter. In diesem Moment setzte der Regen ein. ¡Carajo! Und was für ein Regen! Er konnte sich nicht erinnern, einmal in so ein Wetter gekommen zu sein.

Vorsichtig liefen sie los. Es fiel ihm schwer, mit der jungen Frau mitzuhalten. Der Himmel schwankte viel mehr als er sollte, erst nach einem Moment merkte er, dass ihm schwindelig war. Kein Wunder vermutlich, alles tat weh, nicht so, als wäre etwas gebrochen, und er konnte auch auftreten, aber … ihm fehlte wohl einfach die Kraft.

Zum Glück merkte sie es sofort und stützte ihn, so gut es ging. Auch wenn er sich scheute, zu sehr auf ihren schmalen Schultern zu hängen, es ging nicht anders. Viel zu langsam kamen sie vorwärts, der Wind nahm zu, und immer wieder zerriss ein Blitz die Dunkelheit. Es klang nah, viel zu nah.

„Wir sind bald da“, sagte die junge Frau und deutete auf ein kleines Haus am Ende des Weges. Neben ihnen lief der Terrier, rannte immer wieder ein Stück vor und wartete, bis er schließlich weiter zur Haustür trottete. Um sie herum konnte man kaum noch etwas erkennen, die ganze Welt schien zu verschwimmen vor Regen, Wolken und Wind.

Die junge Frau achtete darauf, dass Amador sicher stand, und schloss die Tür auf. Es begann zu hageln. Er hob schützend die Hände über den Kopf, bis sie endlich die Tür aufgestemmt hatte und ihn ins Trockene zog.

„Geschafft.“ Sie lächelte unsicher. „Moment.“ Sie verschwand in einem angrenzenden Raum und kam mit einem Stapel Handtücher zurück, eins gab sie Amador und befahl dem kleinen Hund, sich zu setzen, dann eilte sie davon und kam mit einem Holzstuhl zurück, den sie hinter Amador platzierte. Dankbar ließ er sich darauf sinken, während die hübsche junge Frau das Fell des Hundes trocken rubbelte. Er knurrte dabei, obwohl es eher vergnügt und somit nach einer Art Schnurren klang.

Erst als sie mit dem Jack Russell fertig war und mit dem anderen Handtuch über ihre Haare rubbelte, bemerkte Amador, dass er selbst noch immer unbeweglich dasaß, das Handtuch in einer Hand, den Blick auf Frau und Hund gerichtet. Er schüttelte sich leicht und trocknete sich ab, dabei drehte er den Kopf zum Fenster. Es regnete so stark, dass das Meer im dichten Grau nur noch zu erahnen war. Merkwürdigerweise löste diese Beobachtung keine besondere Empfindung in ihm aus. Denn er konnte sich nicht mehr erinnern, an den Strand gegangen zu sein, und er wusste auch nicht, was er dort gewollt hatte.

„So, dann mache ich uns erst mal einen Tee“, sagte die Frau in seine Gedanken hinein und ging zu einer kleinen Küchenzeile neben dem Fenster. „Geht es Ihnen so weit gut? Ich helfe Ihnen gleich aufs Sofa.“

„Ja, danke“, murmelte er. „Ist das hier Ihr Haus?“ Amador versuchte, sie nicht die ganze Zeit zu betrachten. Ihre Bewegungen hatten so viel Energie, dabei wirkte sie dennoch zerbrechlich, und nicht nur ein Mal kam ihm der Gedanke, dass er sie gerne in den Arm nehmen würde, sich bedanken, sie beruhigen, dass das Wetter bald umschwingen würde. Woher kamen diese Ideen? Er kannte sie doch überhaupt nicht! Und wenn man es genau nahm, sah sie nicht aus, als würde sie sich allzu viele Sorgen machen.

„Was? Nein, es gehört meiner Mutter, sie ist … gerade nicht da. Mögen Sie Darjeeling oder lieber einen Kräutertee?“

„Ich probiere gerne den ersten.“ Amador konnte sich nicht erinnern, je einen Tee dieses Namens getrunken zu haben, aber das war unwichtig. Statt über solche Nebensächlichkeiten nachzugrübeln, sollte er lieber herausfinden, wo er hier war und wie er hierhergekommen war. Schon die ganze Zeit versuchte er, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden – vergeblich.

„Ich bringe immer welchen mit, wenn ich wieder einmal in meine alte Heimat reise.“ Sie holte Tassen und eine Porzellankanne aus dem Hängeschrank und stellte den Wasserkocher an. Während sie den Tee zubereitete, pfiff sie ein Lied, das Amador nicht kannte.

„Sie sollten sich umziehen“, riet ihm die junge Frau mit dem charmanten Akzent. Woher kam sie wohl? Sie klang nicht so, als würde sie hier aus der Gegend stammen. Alte Heimat, hatte sie gesagt. Natürlich hätte er daran anknüpfen können, aber jetzt fiel ihm auf, wie kalt ihm war. Es war eine gute Idee, sich umzuziehen. Da gab es nur ein Problem: Er hatte nichts anderes.

„Ja, da haben Sie sicher recht.“ Amador sah ratlos an sich hinunter.

„Ich finde bestimmt etwas Trockenes für Sie.“ Bedächtig füllte sie heißes Wasser in die vorbereitete Kanne. Dann verließ sie die Küche, den Geräuschen nach zu urteilen gab es irgendwo dahinter eine Holztreppe. Ihre Schritte verschwanden nach oben, Türen klappten, dann das Geräusch von Hundepfoten auf der Treppe, und wenig später stand der kleine Terrier hechelnd vor Amador. Zum Glück schien er freundlich zu sein, wedelte mit dem Schwanz und leckte über Amadors Finger, als er sich hinunterbeugte, um den Hund am Kopf zu streicheln.

Als er aufblickte, stand die Frau wieder vor ihm, ein paar Kleidungsstücke im Arm. „Sie könnten sich diese Sachen ausleihen, denke ich. Ich glaube, das sind alte Joggingsachen, die dem Ex-Freund meiner Mutter gehört haben. Wenn Ihre Sachen getrocknet sind, können Sie die ja wieder nehmen. Wobei …“ Ihr Blick fiel auf sein Hemd und seine Hose, die an manchen Stellen so große Risse aufwiesen, dass sie eher einem Fetzen glichen. „Vielleicht auch nicht“, murmelte sie. „Wenn der Sturm vorbei ist, kann ich Sie ja nach Hause fahren, dann bringen Sie die Sachen einfach irgendwann zurück.“ Sie drückte ihm die Kleidung in den Arm und wollte an ihm vorbeigehen.

„Ich bedanke mich sehr“, sagte Amador. „Sie kümmern sich wunderbar.“

Die Frau lächelte, und ihre Augen funkelten wie Meerwasser in einer Lagune und so lebendig, dass auch er breit lächeln musste. Zusammen mit ihrem noch nassen Haar sah sie aus wie eine Meerjungfrau. Wunderschön und geheimnisvoll.

„Ich konnte Sie ja nicht da draußen zurücklassen. Was ist denn eigentlich passiert?“

„Sie haben mich gefunden.“

„Ja, natürlich, da war ich ja dabei.“ Ihr Lachen perlte durch den Raum. „Davor, meinte ich eigentlich. Hatten Sie nichts von dem Sturm gehört?“

„Nein“, sagte Amador wahrheitsgemäß. „Ich war … ich wollte …“ Er brach ab. Dieses Stammeln war ja fürchterlich! Aber der Rest des Satzes wollte einfach nicht über seine Lippen. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. „Ich erinnere mich nicht. Vielleicht der Schock des kalten Wassers?“

„Oh? Na klar, Sie waren bestimmt eine Weile bewusstlos. Vielleicht hat Sie eine Welle getroffen oder eins dieser großen Bootsteile, die da am Strand lagen. Mein Name ist übrigens Sophie.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Amador schüttelte sie. „Sehr erfreut“, murmelte er.

Ihr Lächeln verrutschte ein bisschen. „Sie arbeiten bestimmt für den Geheimdienst und dürfen mir Ihren Namen nicht verraten, richtig? Haben Sie keinen Decknamen für solche Fälle?“ Sie zwinkerte ihm zu, aber sobald er ihre Hand losließ, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Der kleine Hund setzte sich zu ihren Füßen und musterte ihn scharf. Oder bildete er sich das ein?

„Felipe“, sagte Amador. Der Name fühlte sich irgendwie richtig an, es war der erste, der ihm in den Sinn gekommen war, deshalb war es doch mit Sicherheit sein eigener Name, oder? Er seufzte. „Ehrlich gesagt weiß ich meinen Namen gerade nicht. Ich erinnere mich an nichts. Weder warum ich am Meer war, noch wo ich wohne oder … wie ich heiße.“

Einmal ausgesprochen, traf ihn die Wucht dieses Geständnisses. Er wusste nicht, wer er war!

Sophie starrte ihn an.

„Eine Amnesie? Wie im Film?“, flüsterte sie und musterte ihn erneut, diesen großen Mann mit den breiten Schultern, dem dunklen Haar, das etwas zu lang war, seine sehnigen Arme, mit denen er die Joggingsachen umklammerte, als wäre es das Letzte, das er noch verstand. Sie schluckte. Seine dunklen Augen sahen so ehrlich aus … Natürlich war ihr bereits der Gedanke gekommen, dass dieser Mann etwas vorhaben könnte. Obwohl er so attraktiv war – oder vielleicht gerade deswegen? Möglicherweise war er ein besonders heimtückischer Dieb, der sich ins seichte Wasser gelegt hatte, einen Schiffbrüchigen mimte, um eins der Häuser hier auszurauben.

Nein, das war Blödsinn. Woher hätte er wissen sollen, dass sie vorbeikommen würde? Außerdem war es lächerlich zu denken, dass er bei ihrer Mutter einbrechen wollte. Das Häuschen sah nicht gerade so aus, als würde hier jemand haufenweise neuste Technik oder andere Reichtümer horten. Genau genommen besaß ihre Mutter nur ein Radio, nicht mal einen Fernseher hatte sie.

„Meine Mutter wird nichts dagegen haben.“ Sie deutete auf die Kleidungsstücke in seinem Arm. Es war sicher am besten, die Situation so normal wie möglich zu gestalten, vielleicht half das ihrem unverhofften Gast, zu sich selbst zurückzufinden. „Sie können auf jeden Fall hierbleiben, solange der Sturm tobt und … wir finden bestimmt heraus, wo Sie herkommen, und dann können wir jemanden anrufen, damit man Ihnen weiterhelfen kann.“

„Gut“, sagte er.

„Felipe.“ Sie wog den Namen kurz auf der Zunge. „Soll ich Sie einfach so nennen, bis Ihnen Ihr richtiger Name wieder einfällt?“

Er nickte und sah dabei so verloren aus, dass sein Blick sie mitten ins Herz traf.

„Ich werde die Polizei verständigen. Sie werden bestimmt schon vermisst. Von Ihrer Familie oder Ihrer Frau.“ Der Gedanke fühlte sich für Sophie seltsam an, als wäre sie irgendwie … eifersüchtig? Das war ja lächerlich. Sie kannte diesen Mann doch überhaupt nicht, es konnte ihr also völlig egal sein, ob er verheiratet war. Vielleicht hatte er sogar Kinder. Er war maximal ein paar Jahre älter als sie.

„Oder einen Arzt?“ Sie warf einen Blick durchs Küchenfenster, aber die Wellen waren immer noch so hoch, und der Hagel hatte wieder eingesetzt. Normalerweise hatte sie hier nur bei gutem Wetter Handyempfang. Das Festnetztelefon! „Moment!“ Sie lief zu der kleinen Kommode an der Wand. Mit zittrigen Fingern hob sie den Hörer des altmodischen Telefons hoch und lauschte. Nichts. Sie drückte auf die Gabel. Noch immer nichts. Die Leitung war tot. Mit einem Schlag wurde ihr klar, in was für einer brenzligen Situation sie sich befand. Wenn dieser Mann ihr etwas antun wollte, es auf das wenige Bargeld abgesehen hatte … oder Schlimmeres?

Sie trat einen Schritt zurück und sah sich unauffällig im Zimmer um. Zur Not würde sie einfach eins der schweren Bücher nach ihm werfen. Joey winselte leise. „Oh, du hast bestimmt Hunger …“ Als sie das Wort aussprach, knurrte ihr Magen ebenfalls. „Ziehen Sie sich gerne um, da vorne ist das Bad. Ich werde nachschauen, ob es auch für uns etwas Essbares gibt. Haben Sie Hunger?“

Felipe, oder wie er hieß, nickte. Ein scheues Lächeln erhellte sein Gesicht, und dieses Mal hüpfte Sophies Herz. Lächerlich, sie benahm sich wie ein Mädchen, das zum ersten Mal seinen Schwarm aus nächster Nähe sah. Einen Filmstar, den sie schon seit Monaten verehrte, zum Beispiel. Ja, er sah wirklich aus wie ein Filmstar. Jemand, der einen Meermann spielen konnte – schließlich war er ja sogar aus den Wellen gestiegen. Und für einen Meermann war es natürlich normal, an Land nicht sofort klarzukommen, die ungewohnte Luft in den Lungen …

Sophie schüttelte den Kopf, dennoch ließ sie ein Gedanke nicht los: Er besaß keinerlei Erinnerungen mehr. Es war wie in dem Märchen von Hans Christian Andersen, nur ein wenig abgewandelt. In der Originalgeschichte verkaufte die kleine Meerjungfrau, die aus einem Unterwasserreich stammte, ihre Stimme an die böse Meerhexe, um Menschenbeine zu bekommen und damit ihrem geliebten Prinzen nahe sein zu können. In ihrer modernen Version hatte nun der Meermann sein Gedächtnis eingebüßt, um mit ihr zusammen sein zu können. Sie suchte seinen Blick. Diese geschwungenen Lippen … der Ausdruck in seinen Augen …

„Schön“, sagte sie energisch und verließ die kleine Diele, gefolgt von Joey. Mums Küche kam ihr heller vor als sonst, dabei war der Himmel noch immer fast schwarz. Sie schaltete eine weitere Lampe an und prüfte ihr Handy. Natürlich noch immer kein Empfang. Am besten erinnerte sie den Fremden nicht daran. Sobald das Wetter besser wurde, konnte sie nach Hause fahren oder direkt zur Polizei.

Im Kühlschrank fand sie ein Glas Oliven, ein großes Stück Ziegenkäse und im Vorratsschrank eine Packung Eier. Zum Glück hatte ihre Mutter mal wieder vergessen, alles aufzubrauchen. Vermutlich hatte sie in letzter Zeit wieder so wenig Appetit gehabt und den Kühlschrank nicht einmal geöffnet … Sophie seufzte. Wenn ihre Mum wieder zurück war, würde sie sich wieder mehr um sie kümmern. Ein paar Vorbereitungen für die Schule konnte sie ja auch hier machen.

Als das Olivenöl in der Pfanne brutzelte und sie die geschlagenen Eier dazugegeben hatte, hörte sie, wie die Badezimmertür geöffnet wurde, und positionierte sich so, dass sie Felipe nicht den Rücken zuwandte. Man wusste ja nie. Bisher war er ihr sehr freundlich vorgekommen. Dennoch musste sie daran denken, dass er leider eher ein Krimineller sein könnte als ein Meermann. Aber womöglich hatte er wirklich alles vergessen, und sollte er normalerweise ein Dieb sein, wusste er das vielleicht jetzt auch nicht mehr.

„Das riecht wunderbar. Kann ich … helfen?“

„In dem Schrank am Fenster finden Sie Teller, und das Besteck ist in der obersten Schublade dort.“ Sophie deutete mit dem Holzlöffel in die Richtung. Als er sich nicht rührte, sah sie sich verwundert um. Ihr Gast stand wie zur Palme erstarrt da und musterte den Schrank, als ob er nicht wüsste, was er damit anfangen sollte. Sophie seufzte leise. Konnte er sich nicht einmal mehr erinnern, wie man einen Tisch deckte? Gab es so etwas?

Joey bellte leise und freundlich. Das schien ihren Gast aufzuwecken. Felipe gab sich einen Ruck, ging zum Schrank und suchte zwei ähnliche Teller heraus, in der Schublade kramte er lautstark, bis er das Richtige gefunden zu haben schien. Sophie beobachtete ihn fasziniert. Er legte alles auf den Tisch, richtete die Löffel, Gabeln und Messer aus wie in einem Fünf-Sterne-Hotel. Aus einer anderen Schublade zog er Stoffservietten hervor und faltete sie konzentriert, um sie als kunstvolle Türme auf die Teller zu stellen.

„Wow“, sagte Sophie anerkennend. „Vielleicht sind Sie Koch und arbeiten normalerweise in einem Sterne-Restaurant.“

Er sah sie verständnislos an und nickte dann langsam. „Vielleicht. Oder Kellner.“

„Oder Kellner.“ Sie nickte und bemerkte seine aufrechte Haltung. Er sah jedenfalls aus, als wäre er stolz auf das, was er war und wer er war. „Wir sollten das ausprobieren, vielleicht können Sie hervorragend kochen. Oder backen?“

Seine Augen leuchteten, als würde ihm ihre Idee gut gefallen. „Ja, sehr gerne. Ich möchte alles ausprobieren, dann finde ich sicher wieder zu mir. Und wenn der richtige Beruf dabei ist, werde ich mich bestimmt erinnern. So machen wir es.“ Er trat auf sie zu und streckte ihr seine Hand hin.

Sie schlug lachend ein. „So machen wir es.“

Wenig später brachte sie das Essen an den Tisch und richtete alles auf den beiden Tellern an. Sie gab sich besonders Mühe, verzog am Ende aber das Gesicht. „Ich fürchte, so ein Gericht wird es in Ihrem Restaurant nicht geben.“

Felipe sah sie erstaunt an. „Mein Restaurant … das klingt …“ Er überlegte, schloss dabei die Augen, ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Das klingt gut. Aber ich fürchte, es hat keine Erinnerungen losgetreten. Und außerdem, das Gericht, das Sie hier aus ein paar Zutaten gezaubert haben, riecht wunderbar. ¡Que bién! Einfach perfekt.“ Er zwinkerte ihr zu und kraulte Joey hinter den Ohren, der seinen Kopf auf Felipes Oberschenkel gelegt hatte.

Sophie betrachtete den kleinen Jack Russell Terrier ihrer Mutter. Normalerweise war er Fremden gegenüber nicht so offen. Er war nie aggressiv, aber zurückhaltend. Ein kurzes, freundliches Schwanzwedeln war meist das einzige Zeichen, das auf seine Meinung gegenüber Menschen schließen ließ. Jedenfalls ging er nie von sich aus auf sie zu, sondern setzte sich normalerweise neben Sophie oder ihre Mutter. Ihr wurde ganz warm ums Herz, weil ihr das Bild so gefiel: Felipe blickte liebevoll zu Joey hinunter, der sich angestrengt an seinen Stuhl gestellt hatte, um den Kopf auf die Beine des schönen Fremden zu legen.

Sie stockte. Schöner Fremder? Ihr Herz hüpfte aufgeregt. Das klang nach Abenteuer, und es klang fast so, als würde ihr die Tatsache gefallen, hier mit einem fremden, gut aussehenden Mann zu Abend zu essen. In Mums abgelegenem Haus, während draußen ein Sturm tobte. Sie war wohl nicht recht bei Trost! Andererseits war es so gemütlich hier drin, und Joey schien den Mann ebenfalls ins Herz geschlossen zu haben. Das musste doch bedeuten, dass Felipe – oder wie er wirklich hieß – ein guter Mensch war.

„Ich glaube, Sie brauchen wirklich keinen Krankenwagen“, platzte sie heraus und griff dann schnell nach ihrem Besteck, um sich ihrem Essen zu widmen.

„Nein, bestimmt kann ich mich nach ein paar Stunden gutem Schlaf wieder an alles erinnern. Ich fühle mich dank Ihrer Hilfe mittlerweile wohlauf und unverletzt. Sie müssen sich nicht solche Mühe machen.“ Er lächelte, das konnte Sophie an seiner Stimme hören.

Merkwürdigerweise wurden ihre Ohren ganz heiß, dabei tat sie doch nur, was wohl jeder in ihrer Situation tun würde. Sie konnte ja schlecht einen bewusstlosen Mann am Strand liegen lassen. Bei einem üblen Gewitter.

„Aber Sie müssen mir versprechen, selbst zum Arzt zu gehen, wenn der Sturm nachgelassen hat. Sie waren immerhin bewusstlos, und diese Amnesie … Bestimmt kann man Ihnen dort helfen. Falls es sich nicht von selbst erledigt, meine ich.“

„Natürlich“, sagte er.

„Und vielleicht sollten Sie sich dann auch bei der Polizei melden. Bestimmt wird bereits nach Ihnen gesucht.“

„Ich danke Ihnen.“ Er führte bedächtig eine Gabel voller Ei und Oliven zum Mund, kaute langsam und genießerisch. „Wirklich vorzüglich. Das sind hervorragende Oliven, und mir sagt Ihre Wahl der Kräuter sehr zu.“

Sophie lächelte. Er sprach jedenfalls nicht wie ein Verbrecher, eher wie ein Prinz aus dem Meer, sein Akzent und seine Wortwahl waren genau das kleine bisschen anders, um ihre Fantasie verrücktspielen zu lassen. Sie war wirklich unverbesserlich! Hing mit dem Herzen noch immer in ihrem Märchen fest. Aber es war alles genau so, wie sie es sich als kleines Mädchen vorgestellt hatte: der Prinz aus dem Meer, der kam, um sie zu lieben. Und auch jetzt war es sicher besser, sich an diese Tagträume zu klammern, als über den Ernst der Situation nachzudenken. Im Moment konnte sie ohnehin nichts tun, sie waren durch den Sturm von der restlichen Welt abgeschnitten. Zur Not konnte sie immer noch zu einem der Nachbarn rennen. Das musste reichen. Doch es sah nicht so aus, als würde der Sturm sich bald legen. Die paar Minuten, in denen sie mit Joey zum Strand gegangen war, hatte das Unwetter wohl eine kurze Verschnaufpause eingelegt, um danach umso wilder weiter zu wüten.

„Ein scheußlicher Sturm“, sagte er mitten in ihre unangemessenen Gedanken hinein. „Ich bin sehr froh, dass Sie mich rechtzeitig gefunden haben. Und natürlich Ihr süßer Hund, Joey.“ Er kraulte ihn wieder hinter den Ohren, und Sophie staunte, wie gut dem kleinen Energiebündel das gefiel. So gut, dass er einfach still hielt, und das war ganz und gar nicht seine übliche Art. Sie lächelte und beobachtete die beiden eine Weile, während sie auf einer Olive kaute.

„Ja, wirklich und so ungewöhnlich für diese Jahreszeit.“ Sophie dachte an die Reportage, die sie neulich erst gesehen hatte.

„Es wird vermutlich in den nächsten Jahren noch zunehmen. Ich habe kürzlich eine Reportage zu dem Thema gesehen. Der Klimawandel.“

Sophie nickte, aber dann fiel ihr etwas ein. „Sie erinnern sich, dass Sie diese Reportage gesehen haben? Wo haben Sie sie gesehen? Vielleicht können wir so herausfinden, wo Sie herkommen!“ Sie beugte sich vor und beobachtete jede seiner Regungen.

Leider war ihre Aufregung nicht auf ihn übergesprungen, er wirkte eher … resigniert. Sophie sank zurück auf ihren Stuhl.

„Ich erinnere mich leider nur an diese Informationen, und dass ich es im Fernsehen gesehen habe. Ein kleiner Erinnerungsfetzen nur.“ Er brach ab und sah aus dem Fenster. Sie folgte seinem Blick und dachte daran, dass sie diese Reportage vermutlich gleichzeitig gesehen hatten. Eine Gemeinsamkeit. Seltsam, dass man immer nach so etwas suchte, wenn man jemanden kennenlernte. Oder machte nur sie so etwas? Sie versuchte sich Felipe in seinem Wohnzimmer vorzustellen. Wie das wohl aussah? Nun ja, wie sollte sie es wissen? Er wusste es ja selbst nicht. Kurz schob sich das Bild vor ihre Augen, wie sie beide gemeinsam fernsahen, während Felipe den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Was? Wie kam sie denn jetzt darauf?

Ihre letzte Beziehung war viel zu lange her. Robert hatte sie noch in England verlassen, und trotzdem hatte diese Beziehung sie auch seit ihrem Umzug nach Spanien weiterhin verfolgt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich mit einem Mann wohlfühlte. Na und? Das stand doch jetzt überhaupt nicht zur Debatte. Sie hatte hier kein Date, sie hatte diesen Mann vor dem Sturm gerettet, und nun saßen sie hier gemeinsam fest. Das war alles.

Für Romantik hatte sie keine Zeit, und sie war auch nicht die Richtige dafür. Sie hatte sich geschworen, nie von einem Mann abhängig zu sein. Niemals durfte ihr das Gleiche passieren wie ihrer Mutter. Ihr Stiefvater hatte sie vollkommen in der Hand gehabt. Genau wie ihr Vater davor. Seit Sophie das Muster kannte, konnte sie es einfach vermeiden und damit hoffentlich niemals so unglücklich werden wie ihre Mum. Sophie würde immer ihr eigenes Geld verdienen, ihre eigene Wohnung haben. Da hatte kein Mann etwas verloren, auch mit Robert war sie nie zusammengezogen.

„Ich bin Lehrerin“, platzte sie heraus und verzog den Mund. Eine vernünftige Unterhaltung konnte sie ja dennoch mit Felipe führen. Ohnehin, was wollte ihr Herz ihr mit diesen merkwürdigen Gedanken sagen? Sobald der Sturm abgeflaut war, würden sie sehen, dass sie herausfanden, wer er war und wohin er gehörte. Dann würden sich ihre Wege trennen.

„Das ist schön“, sagte Felipe. „Ich würde Ihnen gerne meinen eigenen Beruf nennen, aber ich kann mich auch daran leider nicht erinnern.“

Er wirkte richtig geknickt, aber auch irgendwie … erleichtert? Vielleicht hatte er sonst eine große Verantwortung oder einen anstrengenden Job. Dennoch war es wichtig, dass er sich erinnerte. Er konnte schließlich nicht für immer hierbleiben.

„Ich dachte, es wäre gut, wenn wir uns ein bisschen kennenlernen, wo wir jetzt ein paar Stunden zusammen verbringen müssen“, plapperte sie weiter. „Auch wenn ich wohl das meiste von mir erzählen werde.“

„Man weiß ja nie, vielleicht erinnere ich mich ja durch etwas, was Sie erzählen. Ich bin jedenfalls sehr gerne bereit, Sie näher kennenzulernen.“ Er sagte das höflich, und auch an seinem Gesichtsausdruck konnte Sophie keine Hintergedanken erkennen. Oh, aber hatte er gesagt, er sei bereit dazu? Wie großzügig. Sie wollte sich ja nicht aufdrängen. Aber zu schweigen kam definitiv nicht infrage, wenn sie in dem kleinen Haus so nah aufeinander hocken mussten. Außerdem erschien es ihr durchaus ratsam, den Fremden im Auge zu behalten.

„Natürlich.“ Sie war sich der Pause vor ihren Antworten überdeutlich bewusst. Was musste er von ihr denken? Aber das war eigentlich ohnehin egal. Sie würden sich nach diesem Tag vermutlich nie wiedersehen. „Ich fände es auch schön, wenn Sie sich wieder erinnern können. Man weiß ja nie …“, rutschte es ihr heraus. „Wo Sie zu Hause sind, meine ich. Vielleicht kennen wir uns um fünf Ecken, Ihre Tante ist am Ende eine Mutter von einem meiner Schulkinder.“

„Oder sie putzt an Ihrer Schule.“ Felipe schien das Gespräch immer mehr Spaß zu bereiten. Seine Augen blitzten belustigt. „Vielleicht habe ich ja selbst Kinder, die auf Ihre Schule gehen.“

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Sophie. „Ich kenne alle Eltern meiner Kinder. Meiner Schüler“, verbesserte sie sich.

„Vielleicht sind wir neu hergezogen?“, spekulierte Felipe.

„Oder Sie sind im Urlaub hier.“

„Auch möglich.“ Er streichelte Joey, der das kurz duldete und dann zu Sophie hinüberkam, um auf ihren Schoß zu springen.

„Eigentlich darf er das nicht.“ Trotzdem war Sophie in diesem Moment dankbar für den kleinen warmen Körper an ihrem Bauch und streichelte über Joeys Rücken.

„Hunde sind Rudeltiere, vermutlich braucht er einfach die Nähe.“

Sie kraulte Joeys kurzes Fell, fuhr über seine weichen Ohren und sah erst nach einer Weile wieder auf. Felipes Blick traf sie unvorbereitet. Seine dunklen Augen waren genau auf sie gerichtet, er lächelte leicht, und Sophie war sich nicht sicher, ob sie eventuell nicht gehört hatte, was er gesagt hatte, wollte aber auch nicht fragen. Was sie ganz sicher wusste, war, dass ihr Herz bei diesem Blick hüpfte und tanzte.

Sie atmete irritiert ein und besonders langsam wieder aus. Was war das nur mit diesem Mann? Vermutlich war sie immer noch aufgeregt, weil sie mit einem Fremden in Mums Häuschen saß, während draußen dieses Unwetter tobte und …

Ein Krachen ließ sie gleichzeitig aufspringen. Sie rannten zum Fenster, von wo das Geräusch gekommen war.

„Die alte Kiefer“, wisperte sie. Der große Baum stand nicht mehr dort, wo er all die Jahre gestanden hatte. Der Stamm lag auf der Böschung, die Wurzeln ragten in die Höhe, aber auch davon sahen sie nur die Umrisse durch den grauen Regen. Im nächsten Moment riss eine Böe den Baum fort, die Böschung hinab. Der Sturm hatte noch viel mehr Kraft, als Sophie gedacht hatte.

Felipe machte neben ihr ein bedauerndes Geräusch, und erst jetzt spürte sie seine Wärme durch ihre dünne Bluse. Sie standen dicht beieinander. Die feinen Härchen auf ihrem Arm stellten sich auf, und in ihrem Bauch kribbelte es. Bilder von wärmenden Kaminfeuern schoben sich vor die triste und beunruhigende Aussicht, die sich ihr draußen vor dem Fenster bot. Und der Duft seiner Haut ließ ein neues Bild entstehen. Nackte Haut an nackter Haut … Sophie schnappte nach Luft, als ihr klar wurde, dass sie die ganze Nacht zusammen in Mums Häuschen verbringen mussten. Nur ihr Meermann und sie … Im nächsten Moment flackerte die Lampe, bevor sie ausging. Stromausfall?

Sophie tastete sich zum nächsten Lichtschalter und drückte ihn. Nichts passierte. Ihr Herzschlag setzte aus. Es war schlimm genug, keinen Strom zu haben – aber offensichtlich hielt der Sturm sie nun auch noch hier gefangen. Eingesperrt mit einem fremden Mann und ihren völlig albernen Tagträumen.

4. KAPITEL

Draußen war es immer noch finster, als Amador erwachte. Die Sonne musste längst aufgegangen sein, doch die grauen Sturmwolken schirmten jedes Licht ab. Er rieb sich über den schmerzenden Nacken, den er sich offenbar in der Nacht verlegen hatte, und dachte an den gestrigen Abend. Kurz nachdem der Strom ausgefallen war, waren sie zu Bett gegangen, seine Gastgeberin und er. Sie oben im Schlafzimmer, er unten auf dem Sofa. Es gab nur eine Taschenlampe, die hatte Sophie ihm trotz seiner Proteste überlassen und selbst eine Kerze mit nach oben genommen. Im Kerzenschein hatte er die Sorge in ihren Augen gesehen, aber ihm waren nicht die richtigen Worte eingefallen, um sie zu trösten. Wenn er doch nur wüsste, wer er war!

Er richtete sich auf und hörte den Hund aus der oberen Etage leise jaulen. Gerne hätte er seine Retterin ausschlafen lassen und wäre an ihrer Stelle mit Joey nach draußen gegangen, damit der Terrier an irgendeiner windgeschützten Stelle kurz das Bein heben konnte. Der Wind toste noch immer um das Haus und pfiff durch die Ritzen am Fenster über der Spüle. Durch die Scheibe konnte man kaum etwas erkennen, immer wieder stoben Wolken aus Sand empor, verdeckten die grauen Wolken und das aufgepeitschte Meer. Niemand war unterwegs, nicht mal Möwen konnte Amador am dunkelgrauen Himmel entdecken.

Testweise drückte er auf den Knopf am Radio. Nichts. Er probierte, die kleine Lampe auf der Kommode einzuschalten, aber auch hier hatte er kein Glück. Der Strom war immer noch weg. Aus Reflex warf Amador einen Blick auf seine Armbanduhr, aber auch sie war zu nichts zu gebrauchen. Sie war stehen geblieben, das Glas gesprungen. Die Uhr sah teuer aus, ein goldenes Gehäuse, fein ziseliertes Zifferblatt. Ob sie ihm jemand geschenkt hatte? Oder war sie ein Erbstück? Er wusste es nicht. Es war egal, wie lange er darüber nachdachte, wie seine eigene Wohnung aussehen mochte, wie seine Familienmitglieder hießen – all das war wie ausgelöscht.

Er schreckte hoch, als draußen etwas klirrte. Etwas, das lauter war als der Sturm. Vorsichtig stand er auf, als das Klirren erneut ertönte. Ein Dachziegel zerschellte an einem flachen Felsen zur Linken des Hauses, die Szene wurde kurz erhellt durch einen Blitz. Dann war es wieder finster. Er wusste nicht, wie spät es war, vielleicht war es doch noch Nacht? Aber nein, er hatte mit Sicherheit einige Stunden geschlafen. Ob er hochgehen und nach Sophie sehen sollte? Es wäre ihm wohler, wenn sie hier unten wäre, genau wie Joey. Wenn der Sturm das Dach abdeckte, war es sicher nur eine Frage der Zeit, bis er sich einen Weg durch die Ritzen bahnte. Zum Glück standen im Garten keine weiteren Bäume, soweit Amador das durch die drei Fenster hier unten erkennen konnte.

Im winzigen Badezimmer zog er sich aus und duschte kurz. Als er sich abtrocknete, fiel sein Blick auf den Stapel mit den Sachen, die er gestern getragen hatte, als Sophie ihn gefunden hatte. Die Taschenlampe leuchtete sie genau an. Die Kleidung war steif von dem Salzwasser, und der Stoff fühlte sich unangenehm an, als Amador die Hand in die Hosentaschen schob. In einer fand er ein zusammengeknülltes Stückchen Stoff, das er vorsichtig auseinanderzupfte und in den Schein der Taschenlampe hielt. Ein altmodisches Taschentuch. Jemand hatte kunstvoll einige Buchstaben in den weißen Stoff gestickt. A. F. J. M.

Wofür mochten diese Buchstaben stehen? Für die Initialen seiner Mutter? Seiner Eltern? Oder waren es am Ende seine eigenen und die seiner Frau? Oder die Anfangsbuchstaben seiner vier Kinder … Es konnte alles sein! Das F könnte immerhin für Felipe stehen, den Namen, der ihm als Erstes eingefallen war. Die anderen Buchstaben weckten keinerlei Erinnerungen in ihm. Amador tastete auch in den anderen Taschen nach irgendetwas, das ihm vielleicht einen Hinweis geben könnte. Doch sie waren leer. Auch die Kleidungsstücke selbst kamen ihm vollkommen unbekannt vor. Ein ehemals weißes Poloshirt und eine hellblaue Hose mit einer kleinen goldenen Stickerei an der Tasche. Irgendein Wappen, vermutlich das der Herstellermarke.

Das war doch wirklich zum Verrücktwerden! Wie konnte man sich stundenlang nicht an seinen eigenen Namen erinnern? Nicht wissen, wo man herkam?

Er legte die Kleidungsstücke wieder zusammen.

„Huch!“, rief Sophie, die in diesem Moment die steile Treppe hinunterkam und genau in ihn hineinlief. Amador fasste automatisch nach ihrem Arm, bevor sie die letzte Stufe hinunterstolperte. Ihr Duft stieg ihm in die Nase, und sein Herz flatterte auf einmal aufgeregt wie ein junger Vogel bei den ersten Flugversuchen. Joey hüpfte fröhlich bellend zwischen ihnen hoch und unterbrach so den Moment. Amador schüttelte irritiert den Kopf.

„Entschuldigung, ich … habe geduscht.“

„Schön.“ Sophie lächelte. „Danke. Sie können mich jetzt loslassen, ich bin heil unten angekommen.“ Ihr Lächeln verrutschte etwas, und Amador wurde bewusst, dass er ihren Oberarm noch immer fest umklammert hielt. Schnell ließ er los.

„Haben Sie gut geschlafen?“, fragte er. „Ich fürchte, da sind ein paar Dachziegel heruntergefallen. Aber wenn der Sturm nachgelassen hat, helfe ich Ihnen mit der Reparatur.“

„Der Strom ist leider immer noch weg. Tee und Kaffee fallen also leider aus. Ich sehe mal nach, was ich zum Frühstück noch finde. Vielleicht Kuchen? Davon hat Mum eigentlich immer etwas im Haus oder Shortbread.“

„Sehr gerne.“

Sophie sah zum Fenster. Die Kerze flackerte in ihrer Hand. „Ich fürchte, Joey muss kurz vor die Tür, aber …“

„Das übernehme ich. Sie sollten da auf keinen Fall raus. Sie fliegen mir noch weg.“ Amador zwinkerte ihr zu, als wäre es ein Scherz, aber er merkte, dass es sein Ernst war. Diese Wärme in seinem Bauch konnte er nicht ignorieren. Was machte er hier? Es fühlte sich an, als würde er mit Sophie flirten. Dabei kannten sie sich gar nicht, und … nein, eigentlich war es kein Flirten. Es war mehr eine Art … Gefühl, als ob sie zusammengehörten. Er wollte sie in Sicherheit wissen. Weil, nun ja, vermutlich einfach, weil sie ihm das Leben gerettet hatte, als sie ihn am Strand bei diesem Jahrhundertsturm aufgelesen hatte. Das musste es sein.

Sophie ging an ihm vorbei, stellte die Kerze in ihrem altmodischen Halter auf das Fensterbrett und holte Geschirr aus den Schränken. „Ha!“, rief sie plötzlich und tauchte aus einem Schrank weiter hinten mit einer Metalldose auf. „Alajú“, freute sie sich. Sobald sie den Deckel der Dose geöffnet hatte, breitete sich der süße Geruch nach Mandeln und Gewürzen in der Küche aus. Der typische Honigkuchen aus Spanien zählte definitiv zu Amadors Leibspeisen. 

„Das kenne ich!“, rief er erfreut. „Ich liebe das Zeug.“

Sophie lächelte. „Ich auch. Mum hat wohl doch in letzter Zeit mal wieder gebacken.“ Sie holte noch eine weitere Metalldose aus dem Schrank. Aus einer Schale nahm sie einige Orangen und schnitt diese auf. Der Duft ließ Amadors Magen laut knurren, und er wandte sich schnell an den Hund. „Komm, Joey, wir beeilen uns besser. Umso schneller sind wir wieder drin und können frühstücken.“

Der kleine Terrier winselte und warf einen Blick zu Sophie, die ihm aufmunternd zunickte, obwohl auch um ihre Lippen ein angespannter Zug lag. Amador überprüfte noch einmal, dass Leine und Halsband fest miteinander verbunden waren, schlang sich die Leine mehrfach ums Handgelenk und drückte die Haustür auf.

„Wünschen Sie uns Glück“, sagte er halb im Scherz, aber seine Worte wurden ihm sofort von den Lippen gerissen und Richtung Meer gewirbelt. „Wir schaffen das“, sprach er sich selbst und dem kleinen gefleckten Hund Mut zu. Er zwängte sich durch die Tür und zog Joey an der kurzen Leine mit sich. Ein Schwall kalte Luft gemischt mit winzigen Tröpfchen Gischt, einer Wolke Sand und möglicherweise auch einer Ladung Hagel erwischte sie, und Amador zog die Tür hinter sich ins Schloss. Prompt drückte ihn der Wind an die Hauswand. Joey bellte vermutlich, zumindest öffnete er sein Maul, hören konnte Amador nichts außer dem Pfeifen und Brüllen des Sturms. Mühsam kämpfte er sich mit dem kleinen Hund um die Hausecke herum und fand eine geschützte Stelle neben einem Schuppen, in die wenigstens Joey passte.

Der Hund verstand sofort, schlüpfte in den Windschatten und erleichterte sich. Er schien zu wissen, dass sie keinen ausgedehnten Spaziergang machen konnten, und offenbar hatte nicht einmal der Terrier Lust dazu. Sobald er fertig war, schnüffelte er kurz an der Häuserecke, dann schlüpfte er an Amadors Beinen vorbei, immer dicht an der Wand entlang.

„Schlauer kleiner Kerl“, murmelte Amador. Im Nu waren sie wieder an der Tür angelangt. Er öffnete sie so weit, dass Joey hineinlaufen konnte, dann traf ihn ein Windstoß, der ihn mit voller Wucht gegen die Tür warf und er fiel buchstäblich mit der Tür ins Haus. Fluchend rappelte er sich auf und drückte sie hastig von innen zu.

„Meine Güte, so einen Sturm habe ich lange nicht erlebt. Glaube ich.“ Er merkte, dass sein Lächeln etwas schief ausfiel, und ärgerte sich darüber, dass er nicht einmal vernünftigen Small Talk mit Sophie führen konnte, weil er sich an nichts aus seinem bisherigen Leben erinnerte.

Sie schien seine Gedanken zu erraten und berührte sanft seinen Arm. „Danke.“ Sie räusperte sich. „Das Frühstück ist auch fertig. Joey hat schon angefangen.“ Sie deutete auf den kleinen Hund, der seinen Napf offenbar in diesem Moment geleert hatte und die beiden musterte, während er sich über die Schnauze leckte.

Sie lachten und setzten sich an den Tisch. Der Duft von frisch gepresstem Orangensaft ließ Amadors Magen erneut laut knurren. Die Süße des Kuchens passte perfekt zu dem fruchtigen Getränk. Sophie hatte außerdem einen Obstsalat aus Aprikosen und Äpfeln zubereitet, eine kleine Schale mit Oliven gefüllt und einen Teller mit englischem Shortbread hingestellt. Es war wie ein perfektes Picknick am Tisch, während der Wind noch immer ums Haus heulte, an den Dachziegeln klapperte und den Hagel lautstark gegen die Fenster warf. Wieder drückte eine besonders starke Böe gegen die Tür, und kurz darauf erklang draußen ein Klirren. Die Kerze auf dem Tisch flackerte. Durch den Sturm war es noch immer nicht richtig hell geworden, und im Raum lagen überall Schatten.

„Wenigstens halten die Fenster bisher“, murmelte Sophie und trank einen weiteren Schluck Saft. „Sobald es geht, würde ich gerne die Fensterläden schließen. Im Moment wäre das wohl reine Glückssache. Der Wind könnte mir glatt einen Holzladen aus der Hand reißen.“

„Da hast du sicher recht. Wenn das Wetter besser wird, helfe ich dir bei den Reparaturen“, wiederholte Amador sein Angebot von vorhin. Es war ihm wichtig, dass sie das wusste. Diese Sorge konnte er ihr immerhin nehmen. Dann fiel ihm auf, dass er Sophie geduzt hatte. Hatte sie es auch bemerkt? Es fühlte sich einfach zu seltsam an, sich in dieser Nähe weiterhin zu siezen. Schließlich hatten sie bereits die Nacht zusammen … in diesem Haus verbracht.

Sie nickte lächelnd, sagte aber nichts dazu, stattdessen sprang sie auf und holte ein kleines Radio aus einem Schrank. „Daran habe ich mich vorhin erinnert, und dann fiel mir gerade ein, dass es auch mit Batterien laufen müsste!“ Sie ging zu einer Schublade und kramte lautstark darin herum, bis sie eine Packung passender Batterien fand. Mit zittrigen Fingern setzte sie sie in das Gerät und schaltete es ein. Kurz knisterte es im Lautsprecher. Sophie drehte an einem Knopf, bis eine leicht blecherne, aber definitiv weibliche Stimme ertönte.

„Das Sturmtief hat nun die gesamte Küste erreicht. Die Küstenwache hat drei Schiffbrüchige gerettet, allesamt Fischer, die bei Sturm offenbar eine bestimmte Art von Fisch am besten fangen können. Ich hoffe, es sind nicht noch mehr da draußen.“ Die Moderatorin klang ehrlich betroffen und spielte schnell den nächsten Song an. Amador war dankbar dafür. Irgendwie schaffte es die Musik, ihm gleich ein wenig der bedrückenden Angst zu nehmen, bei diesem unwirklichen Wetter tatenlos an das Haus gefesselt zu sein.

„Vielleicht bin ich Fischer“, überlegte Amador laut, aber Sophie schüttelte den Kopf.

„Du riechst weder nach Fisch, noch bist du gekleidet wie die örtlichen Fischer“, antwortete sie und war dabei auch wie selbstverständlich zum Du übergegangen.

„Stimmt.“

Sophie beobachtete ihren Gast, während er aß. Nein, ein Fischer war er mit Sicherheit nicht. Vielleicht ein Tourist? Sein Spanisch klang vertraut, er verwendete allerdings hin und wieder Ausdrücke, die sie nicht kannte. Doch das sagte noch nicht viel aus – Spanien war groß, und es gab noch andere Länder, in denen die Sprache gesprochen wurde.

Auf jeden Fall hatte er eine gute Haltung, saß aufrecht, verhielt sich höflich ihr gegenüber und schien auch Joey sehr zu mögen. Sobald sie am Tisch Platz genommen hatten, war der Hund gleich zu Felipe gelaufen und hatte sich unter dessen Stuhl zusammengerollt. Er schien ihm vollkommen zu vertrauen. Natürlich würde sie trotzdem vorsichtig bleiben, und sollte sie doch noch eine weitere Nacht mit ihm hier im Haus verbringen müssen, würde sie wieder ihre Tür abschließen. Aber … es fiel ihr schwer, ihn nicht zu mögen.

Autor

Lucy Foxglove
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Michelle Douglas
Das Erfinden von Geschichten war schon immer eine Leidenschaft von Michelle Douglas. Obwohl sie in ihrer Heimat Australien bereits mit acht Jahren das erste Mal die Enttäuschung eines abgelehnten Manuskripts verkraften musste, hörte sie nie auf, daran zu arbeiten, Schriftstellerin zu werden. Ihr Literaturstudium war der erste Schritt dahin, der...
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Annie Oneil
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