Romana Extra Band 144

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

LIEBESSOMMER IN FLORENZ von ALICIA LEONARDI

Der berühmte Modedesigner Nevio Ajello überrascht Kellnerin Lilly mit einem Angebot: Sie soll den Sommer auf seinem Anwesen in Florenz verbringen – als seine Muse! Er garantiert ihr eine rein geschäftliche Beziehung, sie jedoch sehnt sich längst nach seinen Küssen …

DU ENTFLAMMST MEIN HERZ von JENNIFER TAYLOR

Von seinem Umzug in die idyllischen Yorkshire Dales erhofft sich Kinderchirurg Elliot Grey bloß eins: endlich mehr Ruhe und Zeit für seinen kleinen Sohn! Da passt es ihm gar nicht, dass die schöne neue Aushilfs-Nanny Polly sein Herz sofort in Flammen versetzt …

STÜRMISCHE ROMANZE AUF HAWAII von CARA COLTER

Als Bliss nach einer Hochzeitsfeier auf Hawaii in einen Tropensturm gerät, muss sie Schutz in einer einsamen Hütte suchen – ausgerechnet zusammen mit dem sexy Trauzeugen Lance. Der ist nicht nur unwiderstehlich verführerisch, sondern auch ein notorischer Frauenheld…


  • Erscheinungstag 16.03.2024
  • Bandnummer 144
  • ISBN / Artikelnummer 0801240144
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Alicia Leonardi, Jennifer Taylor, Cara Colter

ROMANA EXTRA BAND 144

1. KAPITEL

Verflixt! Eine Mücke hatte Lilly Appleton die halbe Nacht lang wachgehalten. Und nun verriet der Blick in den Badezimmerspiegel, dass diese ihr außerdem ein unschönes Andenken hinterlassen hatte: Ihr linkes Auge war völlig angeschwollen. Es sah schrecklich aus! Einen Schönheitswettbewerb würde sie so sicher nicht gewinnen. Sie stöhnte auf. Eins zu null für die Mücke.

Ausgerechnet heute. Sie war ohnehin schon spät dran. Routiniert steckte sie ihre hüftlangen rotblonden Haare zu einem strengen Dutt zusammen. Auch wenn sie sich nicht gern schminkte, in ihrem Job als Kellnerin in einem Londoner Edelrestaurant wurde gepflegtes Aussehen erwartet, und das bedeutete auch, dezentes Make-up aufzulegen. Sie presste mehr als üblich aus der Tube heraus, um das zerstochene Auge halbwegs abzudecken, aber das half nur bedingt. Die Mücke hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Auch Wimperntusche und Lidschatten konnten nur wenig bewirken. Sie würde sich damit abfinden müssen, heute wie ein Maulwurf auszusehen. Und sie wusste schon jetzt, dass ihre Chefin alles andere als begeistert darüber sein würde.

Tatsächlich, kaum hatte Lilly das „Chez Yvette“ betreten, stürmte diese mit zornfunkelnden Augen auf sie zu.

„Wie siehst du denn aus?“, tobte Yvette Lemaitre. Wie immer sah sie perfekt aus. Jedes Haar ihrer blonden Kurzhaarfrisur saß an der richtigen Stelle.

„Eine Mücke hat mich …“, begann Lilly.

„Mit diesem deformierten Gesicht kann ich dich doch nicht zu den Gästen lassen, was macht denn das für einen Eindruck?“, unterbrach Yvette sie unwirsch und gestikulierte Richtung Himmel, als wollte sie das Schicksal fragen, womit sie das verdient hätte. Das war typisch. Yvette war mit ihrem Personal chronisch unzufrieden, egal, wie gut die Leute arbeiteten. Man konnte es ihr im Grunde nie recht machen. Lilly litt schon seit geraumer Zeit unter der vergifteten Arbeitsatmosphäre und hatte bereits mehrmals überlegt zu kündigen. Andererseits gab es viele Stammgäste, an denen sie hing, und ihr Kollege Alec war inzwischen zu ihrem besten Freund geworden. Außerdem stimmte das Geld. Sie wurde überdurchschnittlich gut bezahlt.

„Am liebsten würde ich dich nach Hause schicken“, fuhr Yvette in anklagendem Ton fort. „Aber leider brauche ich dich heute dringend, ich habe niemanden, der für dich einspringen könnte.“ Sie machte eine wegscheuchende Handbewegung. „Also, los, mach dich an die Arbeit.“

Yvette drehte sich auf dem Absatz um und stürmte Richtung Küche.

Es gefiel Lilly ganz und gar nicht, wie ihre Chefin mit ihr umging, aber sie schluckte ihren Unmut herunter. Diskussionen mit Yvette führten, wie sie aus Erfahrung wusste, nur zu noch mehr Ärger. Während sie nach den blendend weißen Stoffservietten griff, um sie auf den Tischen zu verteilen, sprach Alec sie von hinten leise an. „Na, Lieblingskollegin, wohl nicht dein Tag heute“, flüsterte er mit sanfter, verständnisvoller Stimme.

„Das kannst du laut sagen“, entgegnete Lilly und sah ihn vielsagend an.

„Lieber nicht.“

„Was?“

„Na ja, laut würde ich das besser nicht sagen wollen.“

Sie lachten. Allerdings gemäßigt, um Yvette, die in Hörweite war, nicht noch weiter zu reizen.

„Tut’s weh?“, fragte Alec mit einem besorgten Blick auf Lillys geschwollenes Augenlid.

„Es juckt höllisch.“

„Ich kenne das, ich reagiere auch allergisch auf Mückenstiche.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann scherzhaft hinzu: „Aber nimm es mir nicht übel, ein bisschen siehst du schon aus wie Quasimodo.“

Lilly schlug gespielt empört mit einer Stoffserviette nach ihm. „Danke, das ist genau das, was ich jetzt hören will“, meinte sie ironisch.

„Ich weiß eben, wie man Komplimente macht.“

„Du alter Charmeur.“

Wieder lachten sie leise. Dann ging Alec zu den Salz- und Pfefferstreuern, um sie aufzufüllen, und Lilly stellte weiterhin sorgsam die Stoffservietten auf. Anschließend lief sie von Tisch zu Tisch und verteilte schlanke Vasen, in denen frische weiße Orchideen steckten. Sie blickte sich zufrieden um. Das „Chez Yvette“ sah wie jeden Abend perfekt aus. Edel, aber trotzdem gemütlich mit seinen bordeauxfarbenen Ledersitzen. Von der Stuckdecke hingen mehrere Kronleuchter, hoch genug, um den Raum nicht zu erdrücken. Die Gäste bekundeten regelmäßig und begeistert, dass sie sich hier ausgesprochen wohl fühlten. Kein Wunder, dass viele von ihnen Stammgäste waren. Ihnen gegenüber zeigte sich Yvette natürlich von ihrer allerbesten Seite. Fast schon übertrieben freundlich, gekünstelt, wie Lilly fand.

Trotz des schlechten Starts wurde es für sie ein guter Tag. Die Gäste waren in fröhlicher Stimmung, mehrere drückten Lilly ihr Mitgefühl aus, es sei sicher nicht angenehm, mit einem geschwollenen Auge zu arbeiten. Tatsächlich machte ihr aber weniger das Auge als ihre Müdigkeit zu schaffen. Dank der Mücke hatte sie höchstens drei Stunden geschlafen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, doch sie hatte nach gut zwei Jahren genug Routine, um nicht ins Schleudern zu kommen. Und sie ließ sich auch nicht davon irritieren, dass Yvette sie heute besonders kritisch zu beobachten schien. Innerlich gratulierte sie sich selbst dazu, dass ihr das gelang. Nein, von ihrer Chefin wollte sie sich die Laune bestimmt nicht verhageln lassen!

Kurz vor sechs Uhr abends, es herrschte gerade wenig Betrieb, begann Alec mit seinen üblichen Neckereien. „Na, schon aufgeregt?“

„Alec, fang bloß nicht schon wieder an.“

„Dein heimlicher Verehrer kommt gleich.“

„Können wir das Thema bitte lassen?“

„Ich bleibe dabei, der Typ will was von dir.“

„Du weißt, dass ich grundsätzlich nichts mit Gästen anfange.“

„Und wenn er kein Gast wäre?“

Lilly seufzte genervt. Dieses Gespräch führten sie seit bald eineinhalb Wochen, und zwar jedes Mal um genau diese Uhrzeit. Grund war der „Sonnenbrillenmann“, wie sie ihn nannten – sie hatten ihn noch nie ohne Sonnenbrille gesehen und keine Ahnung, wer er war. Vielleicht ein Prominenter, der anonym bleiben wollte. Was nicht ungewöhnlich wäre, das kam öfter vor.

Vor zehn Tagen war er zum ersten Mal im „Chez Yvette“ aufgetaucht, seither kam er jeden Abend. Er reservierte immer Tisch dreizehn, einen Ecktisch, der eher versteckt lag, auf den Namen Rossi. Er sprach kaum, bestellte jedes Mal die Pasta des Tages und trank manchmal ein, manchmal zwei Gläser Cabernet Sauvignon. Lilly wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte, während Alec überzeugt davon war, dass der „Sonnenbrillenmann“ ein Auge auf sie geworfen hatte. Nicht, dass sie davon nicht geschmeichelt gewesen wäre, wenn es denn stimmte. Sie hatte auch schon festgestellt, dass er sie manchmal länger anschaute als für einen Kontakt zwischen Gast und Kellnerin üblich, aber wegen der dunklen Brillengläser konnte sie das nicht mit Bestimmtheit sagen.

Fest stand jedoch, dass er ein äußerst attraktiver Mann war. Er hatte dunkle gewellte Haare, einen Dreitagebart und eine muskulöse Statur. Seine Kleidung war leger, aber trotzdem elegant und hochwertig. Ein Mann mit Stil und Charisma. Und er hatte etwas an sich, das sie in den Bann zog. In den vergangenen Tagen hatte sie sich bereits mehrmals dabei ertappt, dass ihre Gedanken um ihn kreisten. Nicht gut! Es kam schlichtweg nicht infrage, sich auf einen Gast einzulassen. Sie hatte bereits in der Vergangenheit einige Verehrer unter den Restaurantgästen gehabt, war aber nie auf deren Avancen eingegangen. Nicht nur, weil Yvette ihr das strikt untersagt hatte, sondern weil es ihr selbst wichtig war, Beruf und Privatleben voneinander zu trennen.

Punkt achtzehn Uhr betrat der „Sonnenbrillenmann“ das Restaurant. Lilly brachte gerade zwei Gläser Champagner auf die Terrasse, zu einem Paar, das innig miteinander turtelte – eindeutig zwei frisch Verliebte. Es war ein heißer Julimontag, die Luft flirrte regelrecht, und gegen Abend setzten sich die meisten Gäste gern nach draußen. Nicht so der „Sonnenbrillenmann“. Er nickte ihr kurz zu und nahm wie gewohnt an Tisch dreizehn Platz. Als Lilly wieder hineinging und auf ihn zusteuerte, um seine Bestellung aufzunehmen, merkte sie, dass ihr Herz schneller schlug. Was sie sich absolut nicht erklären konnte.

„Guten Abend“, begrüßte sie ihn lächelnd. Die Strahlen der frühen Abendsonne fielen durch das Fenster hinter ihm in ihr Gesicht.

„Guten Abend“, antwortete er mit seiner wohltuenden Stimme. Und lächelte zurück.

„Wie üblich, Sir?“

„Ja, bitte ein Glas Cabernet Sauvignon. Und die Pasta des Tages.“

„Linguine mit schwarzen Sommertrüffeln“, klärte sie ihn auf.

„Großartig.“ Wie immer antwortete er knapp. Ohne unfreundlich zu wirken.

Gerade als sie sich umdrehen wollte, berührte er sie leicht am Arm. Wie ungewöhnlich! Der „Sonnenbrillenmann“ hatte sich ihr gegenüber bisher äußerst zurückhaltend verhalten. Er hatte auch nie Gespräche angefangen, die über das Übliche hinausgingen. Und jetzt das!

Seine zarte Berührung ging ihr durch und durch. Ein wohliger Schauer durchströmte sie und hinterließ auf ihren Armen eine Gänsehaut, die man zum Glück nicht sehen konnte, da sie eine langärmelige weiße Bluse trug.

„Mücken sind schreckliche Biester“, sagte er teilnahmsvoll. „Tut mir leid, dass auch Sie nicht von ihnen verschont wurden.“

Lilly glaubte für einen Moment, sich verhört zu haben. Richtete der „Sonnenbrillenmann“ diese persönlichen Worte tatsächlich an sie? Und wieso wühlte sie das so auf? Schließlich hatten sie heute zig Gäste auf den Mückenstich angesprochen, ohne dass sie deswegen in Aufruhr geraten wäre. Doch nun hörte ihr Herz einfach nicht auf, wild zu schlagen. Sie beschloss, nach Dienstschluss mal ein ernstes Wörtchen mit ihrem Herzen zu reden, das so unerwartete Kapriolen schlug. Aber jetzt musste sie erst mal souverän durch die nächsten Stunden kommen. Wäre doch gelacht, wenn ihr das nicht gelänge! Nein, „Sonnenbrillenmann“, du bringst mich nicht aus der Fassung!

„Ich frage mich wirklich, warum diese Viecher erfunden wurden“, antwortete Lilly, ohne sich ihre Verwirrung anmerken zu lassen.

„Bestimmt nicht, um wunderschöne Frauen zu ärgern“, gab er zurück.

Flirtete er etwa mit ihr?

Lilly beschloss, nicht auf sein Kompliment einzugehen. Sie war mehr als überrascht, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. Es wäre besser, jetzt schnell einen Kurswechsel einzuschlagen.

„Der Wein kommt gleich“, sagte sie deshalb in professionellem Tonfall und ging geschäftigen Schrittes zur Kasse, um die Bestellung einzutippen.

Als sie vom Display aufsah, blickte sie in Alecs breit grinsendes Gesicht.

„Oh là là, ich spüre doch, dass da etwas zwischen euch in der Luft liegt.“

„So ein Quatsch“, wehrte sie ab.

Love is in the air …“, stimmte Alec leise den Oldie an.

„Du bist unmöglich.“ Lilly verdrehte die Augen.

Im nächsten Moment zuckten sie beide zusammen. Ihre Chefin hatte sich hinter ihnen aufgebaut und zischte sie an: „Was ist denn hier los? Ihr werdet nicht dafür bezahlt, ein Kaffeekränzchen abzuhalten.“ Trotz ihrer gemäßigten Stimmlage wurde deutlich, dass Yvette kurz vor der Explosion stand.

Warum ist sie nur immer so unentspannt? Ein paar Stunden Yoga würden ihr nicht schaden, dachte Lilly bei sich. Ohne ein weiteres Wort setzte sie sich in Gang und brachte das Glas Rotwein, das Marvin, der Barmann, bereits ausgeschenkt hatte, an Tisch dreizehn.

Der „Sonnenbrillenmann“ dankte ihr mit einem kurzen Nicken. Er war wieder zu seiner gewohnten Schweigsamkeit zurückgekehrt. Auch als sie ihm die Trüffelpasta servierte, brummelte er nur kurz irgendetwas.

Schade. Lilly ertappte sich dabei, dass sie sich gern näher mit ihm unterhalten würde. Aber wozu? Wohin sollte das führen? Er hatte sie schon genug durcheinandergebracht. Und sie täte wahrlich gut daran, sich nicht weiter mit ihm zu beschäftigen.

Da das Restaurant wie immer sehr gut besucht war, konnte sie sich ohnehin keine weiteren Gedanken an ihn erlauben. Sie hatte viel zu tun. Besonders die zwölfköpfige französische Tischgesellschaft, die wegen des vierzigsten Geburtstags ihrer Freundin Sylvie zusammensaß und viele Sonderwünsche hatte, hielt sie auf Trab. So sehr, dass sie Mr. Rossi fast schon vergessen hatte, als er nach der Rechnung fragte.

Wie immer zahlte er bar. Nachdem sie ihm das Wechselgeld gegeben hatte, wünschte Lilly ihm einen schönen Abend. Sie war freundlich, aber distanziert, genau so, wie sie es sich vorgenommen hatte. Nur schön Abstand halten! Keine Verbindlichkeiten!

Doch zu ihrem großen Erstaunen spielte er dabei nicht mit. Er wechselte erneut zu einem vertraulichen Tonfall. „Entschuldigen Sie, Ms., da gibt es etwas, das ich gerne mit Ihnen besprechen würde“, setzte er an. Es klang bedeutungsvoll.

Lilly war völlig perplex, versuchte aber, es zu überspielen. Ihre Neugierde war geweckt, trotzdem gab sie sich zurückhaltend. Zumal er sie nun bat, sich zu ihr zu setzen. Das kam auf keinen Fall infrage! Es war dem Personal strengstens untersagt, sich zu Gästen an den Tisch zu setzen. Yvette würde ausrasten. Doch er ließ nicht locker.

„Tun Sie mir bitte den Gefallen“, wiederholte er nachdrücklich und zugleich äußerst charmant. Er deutete auf den ihm gegenüberliegenden Stuhl. Und brachte sie damit in ein ziemliches Dilemma.

Durfte sie ihm das abschlagen? Schließlich lag ihr fern, ihn zu verärgern. Sie sah sich verstohlen um. Wenn sie Glück hatte, war Yvette gerade zu beschäftigt, um mitzubekommen, dass sie eine eiserne Regel brach. Tatsächlich! Yvette stand mit dem besten Freund des britischen Premierministers auf der Terrasse und schien sich prächtig mit ihm zu amüsieren. Immer wenn er zu Gast war, galt ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Schließlich lebte das Restaurant auch von dem guten Ruf, den es in prominenten Kreisen hatte.

Lilly entschied blitzschnell, es zu wagen. Dennoch konnte sie eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken. Sie setzte sich so auf den Stuhl, dass sie jederzeit ungehindert aufspringen könnte.

„Danke“, sagte der „Sonnenbrillenmann“ erleichtert. Er schien sich aufrichtig zu freuen.

Völlig unerwartet zog er die Sonnenbrille vom Gesicht.

Wow!

Lilly hatte zwar vermutet, dass er attraktiv war, aber ihn nun zu sehen, raubte ihr den Atem. Sein südländischer Teint, sein markantes Kinn, seine edel geschwungene Nase, seine vollen Lippen, seine dunklen funkelnden Augen – sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Doch das wurde ihr erst bewusst, als er sie mit einem amüsierten „Stimmt etwas nicht mit meinem Gesicht?“ aus ihren Gedanken schreckte.

Wie peinlich! Verlegen strich sie sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus der strengen Knotenfrisur gelöst hatte.

„Äh, nein, Ihr Gesicht ist …“, erwiderte sie hastig und stockte. Fast wäre ihr ein „toll“ herausgerutscht. Flirte bloß nicht mit ihm!

„Sie haben mich erkannt“, stellte er nüchtern fest.

Erkannt? Lilly wollte gerade den Kopf schütteln, da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ja, natürlich, sie kannte diesen Mann. Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Ein gefeierter italienischer Modedesigner. Sie hatte ihn bereits in diversen Klatschmagazinen gesehen. Hatte er nicht mal einen Burn-out gehabt? Sie glaubte, sich an entsprechende Schlagzeilen zu erinnern. Leider wollte ihr nicht einfallen, wie er wirklich hieß. Emilio? Antonio?

„Nevio Ajello“, stellte er sich zu ihrer Erleichterung vor. So ersparte er ihr eine nächste Peinlichkeit. Denn prominente Menschen waren meist alles andere als begeistert, wenn man ihren Namen nicht kannte.

„Lilly Appleton“, entgegnete sie und wunderte sich, dass sie sich in seiner Gegenwart fast schon schüchtern fühlte.

„Lilly!“, rief er aus. Und wiederholte nach einer kurzen Pause: „Lilly!“ Ein Leuchten lag auf seinem Gesicht. Ohne Zweifel schien er von ihrem Namen völlig angetan. Ihr wäre allerdings lieber gewesen, er hätte seine Begeisterung weniger laut kundgetan. Die Gäste an den Nebentischen drehten bereits die Köpfe zu ihnen herum.

Mit einem kurzen Seitenblick versicherte sie sich, dass Yvette immer noch auf der Terrasse stand und keine Notiz davon nahm, was drinnen gerade vor sich ging. Nur – was ging denn hier eigentlich vor sich? Lilly wusste es selbst nicht.

„Ich bin kein Mann der vielen Worte“, eröffnete Nevio ihr. Er unterbrach sich und schien nicht recht zu wissen, wie er fortfahren sollte. Unschlüssig sah er sie an. Dann holte er tief Luft und sagte: „Daher mache ich es kurz: Kommen Sie mit mir nach Florenz.“

Hatte sie richtig gehört? Nach Florenz? Wieso sollte sie das tun? Lilly krallte vor Aufregung die Finger in ihre lange weiße Schürze. Sie wusste nicht, ob sie das für einen Scherz halten sollte. Was wollte Nevio von ihr? Er war ein wildfremder Mann.

Bevor sie ihm auch nur eine Frage stellen konnte, und in ihrem Kopf purzelten die Fragen kreuz und quer durcheinander, erläuterte er ihr sein ungewöhnliches Anliegen. Dabei beugte er sich vertraulich über die Tischplatte zu ihr herüber. „Was ich Ihnen anbieten möchte, ist ein Job. Sie haben nichts weiter zu tun, als mit mir den Sommer in Florenz zu verbringen. Dafür zahle ich Ihnen hunderttausend Euro.“

Lilly schnappte hörbar nach Luft. Hunderttausend Euro! Das war unfassbar viel Geld! Meinte er das wirklich ernst?

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gab sie ehrlich zu und spürte, dass ihre Hände feucht wurden und Schweißperlen auf ihre Stirn traten. Es war inzwischen später Abend, die Luft hatte sich längst abgekühlt, trotzdem kam es ihr plötzlich heißer vor als zur Mittagsstunde.

„Sagen Sie einfach Ja“, schlug Nevio mit einem sanften Lächeln und einem hoffnungsvollen Blick vor.

Lilly war immer noch nicht klar, was er von ihr erwartete. „Was genau wäre überhaupt mein … Job?“, fragte sie und musterte ihn eindringlich.

„Sie sind meine Muse, Lilly“, erwiderte er in schwärmerischem Ton.

„Ihre Muse?“ Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

„Ich will jetzt nicht in die Details gehen, aber ich habe eine sehr schwere Zeit hinter mir. Monatelang war ich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Entwurf zu zeichnen. Es stand zu befürchten, dass ich meine Karriere als Modedesigner aufgeben müsste. Doch dann hat mich der Zufall zu Ihnen geführt … vielleicht war es auch das Schicksal.“ Er blickte ihr tief in die Augen – unglaublich, mit welcher Intensität er sie ansah, ihr wurde fast schwindelig dabei – und fuhr dann mit seiner Schilderung fort: „Seither kann ich wieder zeichnen, seither habe ich wieder Ideen für neue Entwürfe, es sprudelt nur so aus mir heraus. Endlich! Und ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass meine Schaffensphase abflaut, wenn ich wieder zurück in Florenz bin.“ Er fixierte sie. „Deshalb brauche ich Sie an meiner Seite.“

Lilly musste erst einmal verdauen, was er ihr da anvertraut hatte. Träumte sie das alles?

„Und Sie sind sich wirklich sicher, dass das mit mir zu tun hat?“, hakte sie ungläubig nach, während er den Blick keine Sekunde von ihr ließ.

Statt zu antworten, griff Nevio nach dem Kugelschreiber, mit dem er seinen Zahlungsbeleg unterschrieben hatte, und notierte etwas auf der Rechnung.

„Meine Handynummer“, sagte er augenzwinkernd und schob ihr den Bon zu.

Lilly griff gerade danach, als sie die Stimme von Yvette hörte. O nein! Die fehlte ihr gerade noch! Sie ärgerte sich, dass sie nicht aufmerksam genug gewesen war und den Moment verpasst hatte, in dem ihre Chefin das Gespräch auf der Terrasse beendet hatte. Blitzartig steckte sie die Serviette in ihre Rocktasche und erhob sich so ruckartig, als wäre ein Feuer unter ihrem Stuhl ausgebrochen.

Wie erwartet gab sich Yvette vor den Gästen keine Blöße. Stattdessen setzte sie ihr lieblichstes Lächeln auf, schnurrte wie ein Kätzchen und klimperte mit den falschen Wimpern. „Signor Ajello, welche Ehre, Sie in unserem Hause zu Gast zu haben“, begrüßte sie ihn überschwänglich.

Es überraschte Lilly nicht, dass sie ihn, da er sich nun ohne Sonnenbrille zeigte, sofort erkannt hatte – Yvette war süchtig nach Klatschmagazinen und erkannte so ziemlich jeden Prominenten auf diesem Planeten.

„Ist denn alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich, während ihr messerscharfer Blick zu Lilly wanderte und dann wieder zurück zu Nevio. Sie wirkte wie eine Schlange, die auf der Lauer nach ihrer Beute lag.

„Danke der Nachfrage, alles bestens“, versicherte Nevio und schenkte Yvette ein besonders charmantes Lächeln.

„Noch einen Drink auf unser Haus?“, bot diese ihm an und schraubte dabei ihre Stimme in die Höhe. Es sollte wohl besonders freundlich klingen, hörte sich aber völlig überdreht an.

Nevio lehnte dankend ab, er sei müde, er müsse nach Hause. Dann erhob er sich langsam und nickte Yvette zu, ehe er Lilly mit einem vielsagenden Blick bedachte. Wenn sie diesen richtig deutete, bat er sie darum, und zwar inständig, sich bei ihm zu melden.

Noch eine halbe Stunde bis Dienstschluss. Lilly, die gerade ihre letzten Gäste abkassiert hatte, zählte innerlich jede Sekunde. Sie war nicht nur hundemüde, sondern wegen des Angebots von Nevio Ajello derart unkonzentriert, dass sie nur noch Fehler machte. Sie verwechselte Tischnummern und Rechnungen, brachte den Gästen Brotkörbe ohne Brot, und auf ihrem Weg Richtung Küche wäre sie beinahe mit Alec zusammengestoßen, der zwei Käseplatten auf den Händen balancierte.

Love is in the air …“, stimmte er erneut an und zwinkerte ihr im Vorbeigehen zu.

Lilly hatte nicht mal eine schlagfertige Antwort parat. Sie wollte nur noch ins Bett. Müde, wie sie war, stieß sie die Tür zur Küche ungewohnt langsam auf. Dort putzte Jean-Pierre, der Koch, bereits die Arbeitsflächen. Hinter ihm stand Yvette, mit verschränkten Armen. Sie schien auf Lilly gewartet zu haben.

„Bereit für die Abrechnung?“, fragte ihre Chefin in herrischem Tonfall. Natürlich meinte sie die Einnahmen, die Lilly gemacht hatte, doch es hörte sich fast so an, als ginge es darum, in einem Duell gegeneinander anzutreten.

Kaum hatten sie das Büro im ersten Stock betreten, lief es tatsächlich auf einen Zweikampf hinaus. Natürlich fiel Yvette nicht körperlich über Lilly her, aber mit harten Worten.

„Was erlaubst du dir eigentlich?“, begann Yvette, kaum hatten sie die Einnahmen abgerechnet, ihren vorwurfsvollen Monolog. „Du weißt ganz genau, dass ihr euch nicht zu den Gästen setzen dürft. Aber was macht Lilly Appleton? Kümmert sich einen Dreck um die Regeln unseres guten Hauses! Womit habe ich dieses unzuverlässige Personal verdient? Es ist schrecklich! Und du hast heute wahrlich den Vogel abgeschossen. Erst tauchst du hier mit einem hässlichen Maulwurfsauge auf und schmeißt dich dann hemmungslos an diesen italienischen Stardesigner ran …“

„Das stimmt nicht“, setzte Lilly entschieden dagegen.

„Was fällt dir ein, mir zu widersprechen, ich weiß doch, was ich gesehen habe.“

„Signor Ajello bat mich eindringlich, mich an seinen Tisch zu setzen“, erklärte Lilly mit größter Selbstbeherrschung. Sie wollte nicht die Fassung verlieren.

„Lächerlich! Warum sollte er das tun?“, schoss Yvette mit einem höhnischen Lachen zurück.

Was sollte sie nun antworten? Eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als ihrer Chefin anzuvertrauen, was sie mit Nevio besprochen hatte. Das ging Yvette rein gar nichts an. Wahrscheinlich hätte sie ihr ohnehin nicht geglaubt. Und überhaupt, Lilly hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen. Musste sie sich denn diese Attacken gefallen lassen? Es war ja nicht das erste Mal. Sie wusste, dass sie gute Arbeit machte, aber Yvette fand immer einen Grund, um an ihr herumzunörgeln.

Und einmal in Fahrt gekommen, war ihre Chefin nicht mehr zu bremsen. Während sie mit blecherner Stimme eine Beschuldigung nach der anderen von sich gab, hörte Lilly gar nicht mehr hin. Nein, so konnte es nicht weitergehen! Genug war genug! Es war Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Je mehr Yvette tobte, desto ruhiger wurde Lilly.

Bedächtig knotete sie ihre Schürze auf, faltete sie sorgsam zusammen und legte sie auf den Bürotisch. „Ich kündige“, eröffnete sie der völlig verdutzten Yvette, die gerade zu einer nächsten Beleidigung ausholen wollte. Entschlossen umfasste Lilly die Türklinke – und trat hinaus. Als sie die Treppenstufen nach unten ging, atmete sie tief durch. Sie fühlte sich erleichtert wie schon lange nicht mehr. Endlich frei!

2. KAPITEL

Am nächsten Tag dröhnte Lilly der Kopf, als hätte sie zu viel Alkohol getrunken. Dabei war sie völlig nüchtern. Ruhelos tigerte sie durch ihre kleine Wohnung, die gerade von der späten Morgensonne durchflutet wurde. Zweifel nagten an ihr. War es richtig gewesen, zu kündigen? Hatte sie überreagiert?

Sie schüttelte den Kopf. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Schließlich hatte sie schon länger mit diesem Gedanken gespielt. Sie wollte nicht länger Yvettes Fußabtreter sein.

Und sie hatte ja bereits einen neuen Job – und was für einen! Obwohl sie sich noch jedes Detail ins Gedächtnis rufen konnte, kam ihr die Begegnung mit Nevio Ajello unwirklich vor. Hatte er ihr tatsächlich hunderttausend Euro geboten, wenn sie mit ihm für einen Sommer nach Florenz gehen würde? Oder war das Ganze nicht vielleicht doch ein Traum?

Die Handynummer! Er hatte sie auf der Rechnung notiert. Sie zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche und öffnete es mit zittrigen Fingern. Ihr Herz machte einen Satz, als sie den leicht zerknitterten Bon zwischen mehreren Pfundnoten entdeckte. Sie starrte auf die Ziffern. Worauf wartete sie noch? Dieser Anruf könnte ihr Leben verändern. Endlich hätte sie genug Geld beisammen, um sich selbstständig zu machen. Schon seit ein paar Jahren träumte sie von einer eigenen Pizzeria, in der es – was sonst! – die allerbesten Pizzen der ganzen Stadt geben würde.

Aber war das wirklich der einzige Grund, warum sie mit dem Gedanken spielte, das außergewöhnliche Angebot anzunehmen? Nevio war ein schöner Mann. Seine sinnlich lodernden Augen, sein verführerischer Mund, seine wohlgeformten Hände – sie fühlte sich unglaublich zu ihm hingezogen. Du hast dich doch nicht etwa in ihn verliebt?

Anders als bei ihrer Zwillingsschwester Holly brauchte es dazu bei Lilly nicht viel. Gefiel ihr ein Mann, war sie schnell Feuer und Flamme. Die Aussicht, einen ganzen Sommer lang, Tag für Tag, an Nevios Seite zu verbringen, erschien ihr äußerst prickelnd. Auch wenn sie sich natürlich nicht auf mehr einlassen würde, denn er wäre ja dann sozusagen ihr neuer Chef.

Unbehagen bereitete ihr allerdings, dass sie damit wieder Kontakt zur Modewelt hätte. Ausgerechnet! Dabei hatte sie sich geschworen, nie wieder in der Branche tätig zu sein. Sie war früh als Model entdeckt worden und hatte über all die Jahre auch die Schattenseiten der Industrie kennengelernt. Besonders der hohe Druck und die Oberflächlichkeit hatten ihr zu schaffen gemacht. Dennoch hatte sie große Erfolge gefeiert – und war länger dabeigeblieben, als es ihr gutgetan hatte.

Mach dir keinen Kopf! Sie wischte ihre Bedenken beiseite. Niemand verlangte schließlich von ihr, sich wieder auf einem Laufsteg zu präsentieren. Sie sollte sich einfach nur in der Nähe von Nevio aufhalten, mehr wurde, wenn sie das richtig verstanden hatte, nicht von ihr verlangt. Wobei sie gern gewusst hätte, wie er sich das genau vorstellte. Aber vielleicht hatte er, wie Künstler nun mal waren, überhaupt keinen genauen Plan? Wie dem auch sei, das würde sich mit einem Telefonat alles klären lassen.

Vielleicht musste man ein bisschen verrückt sein, um sich auf diesen Deal einzulassen, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker packte sie die Abenteuerlust. Wann bekam man schon so ein Angebot? Höchstens ein Mal im Leben.

Trotzdem, sie musste herausfinden, was ihre Zwillingsschwester und ihr Vater davon hielten, die zwei Menschen, denen sie am meisten vertraute. Möglicherweise entdeckten sie einen Haken an der Sache, der ihr gar nicht aufgefallen war. Also wählte sie erst die eine, dann die andere Telefonnummer. Gleichermaßen überrascht ermunterten beide Lilly, die Reise anzutreten. Sicher, so was komme nicht alle Tage vor, aber es wäre dumm, diese Chance auszuschlagen. Ihr Vater meinte erfreut, sie könne dann Brooke, seine Schwester, die in einem Dorf nahe Florenz lebte, endlich mal wieder besuchen. Überhaupt, Florenz! Das „italienische Athen“! Welthauptstadt der Renaissance!

Es sei, hakte allerdings Holly nach, doch aber ein rein geschäftliches Arrangement?

Lilly beeilte sich, das zu versichern. Insgeheim musste sie sich allerdings eingestehen, dass sie das nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Es war nicht zu leugnen, dass es ein erotisches Knistern zwischen ihnen gab, oder bildete sie sich das nur ein? Das würde die Lage natürlich unnötig komplizieren.

In ihr wuchs die Ungeduld, alle Details mit Nevio zu besprechen. Dennoch brauchte sie noch eine Weile, um nach ihrem Handy zu greifen. Sie sah einer Biene zu, die durch das offene Fenster hereingeflogen war und um den zwei Tage alten Blumenstrauß auf dem Küchentisch ihre Kreise zog – und dann wieder in das Hellblau des strahlenden Sommertags verschwand.

Als sie Nevios Nummer wählte, klopfte ihr Herz so stark, dass sie glaubte, es würde ihr gleich aus der Brust springen.

Er nahm sofort ab, so als hätte er bereits sehnsüchtig auf ihren Anruf gewartet. „Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich“, begrüßte er sie. Es war ihm eine gewisse Anspannung anzuhören, was Lilly beruhigte, denn es ging ihr nicht viel anders.

„Sagen wir so: Ich kann das Geld, das Sie mir anbieten, ziemlich gut gebrauchen. Aber ich weiß immer noch nicht richtig, was Sie von mir erwarten. Habe ich feste Arbeitszeiten? Von wie vielen Wochen sprechen wir? Wo bin ich untergebracht?“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir das noch nicht genau überlegt. Ich brauche Sie einfach in meiner Nähe. Insofern wäre es sicher am besten, wenn Sie in meiner Villa wohnen. Sie ist riesig, man kann sich fast darin verlaufen, es gibt mehrere Gästezimmer.“ Er machte eine kurze Pause.

Lilly schluckte. Sie hatte vermutet, in einem Hotel untergebracht zu sein. Nie hätte sie damit gerechnet, mit ihm in seiner Villa zu wohnen. Das bedeutete sehr viel Nähe.

„Wissen Sie, ich arbeite auch nicht nach festen Zeiten, ich bin Künstler, und ich freue mich, wenn Sie sich darauf einlassen. Ich kann nur wiederholen, mir genügt, dass Sie da sind“, fuhr er fort.

Sie spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, um ihn auf die Art ihres Verhältnisses anzusprechen. Das war natürlich heikel. Sie schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft. „Wir reden natürlich von einer rein geschäftlichen Beziehung?“, erkundigte sie sich und sprach so schnell sie konnte, um die Frage hinter sich zu bringen.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.

Hatte sie ihn etwa gekränkt? Er sollte auf keinen Fall denken, dass sie ihn für übergriffig hielt.

Nevio räusperte sich und sagte schließlich mit fester Stimme: „Das garantiere ich Ihnen.“

„Nicht, dass ich das bezweifelt hätte“, erwiderte sie nicht ganz wahrheitsgemäß.

„Es spricht für Sie, dass Sie darüber Klarheit wollen. Wir können alles, was wir vereinbaren, gern auch in einem schriftlichen Vertrag festhalten, ich lasse Ihnen die Papiere zuschicken.“

„Einverstanden.“ Das hörte sich seriös an. Lilly war erleichtert.

„Und zur Dauer des Auftrags: Zehn Wochen dürften ausreichend sein, so lange brauche ich erfahrungsgemäß, um eine Kollektion zu entwerfen. Die Hälfte des Geldes überweise ich Ihnen als Vorschuss, die andere nach Beendigung unseres Arbeitsverhältnisses“, erläuterte er in einem geschäftsmäßigen Tonfall.

Gab es noch etwas dagegen einzuwenden? Lilly kramte sowohl in ihrem Kopf als auch in ihrem Herzen nach einem Argument, mit dem sie eine Absage hätte begründen können – aber sie fand keines.

Nevio legte mit einem Lächeln auf. Er konnte sein Glück kaum fassen. Lilly würde tatsächlich mit nach Florenz kommen. Seine Muse! Oder war sie etwa mehr als das? Er spürte, dass sein Herz bei dem Gedanken an sie schneller schlug. Was für eine umwerfend hübsche Frau! Mittelgroß, lange Beine, weibliche Rundungen, rotblonde Haare – wie sie wohl offen getragen aussahen? –, verführerische Lippen, ein Grübchen am Kinn, tiefgrüne Augen mit Goldsprenkeln darin. Sie hätte eines der Models sein können, die er kannte. Im Vergleich kam ihm deren Schönheit allerdings oberflächlich vor. Lilly hingegen hatte einen besonderen Zauber. Und genau damit hatte sie ihn aus seiner künstlerischen Blockade befreit. Das war mehr, als eine Frau je zuvor bei ihm bewirkt hatte. Und es hatte gerade erst angefangen! Was sie beide wohl noch erwartete?

Nein, das zwischen ihnen wäre keine banale Liebesgeschichte, es wäre so viel mehr. Zumindest von seiner Seite aus. Er war natürlich Realist genug, um zu erkennen, dass der finanzielle Anreiz den entscheidenden Ausschlag gegeben haben musste, sie hatte ihm das schließlich deutlich gesagt – aber eine gewisse Sympathie war auch bei Lilly vorhanden, dessen war er sich sicher.

Er musste sich eingestehen, dass er nicht recht wusste, wie er mit den widerstreitenden Gefühlen, die sie in ihm auslöste, umgehen sollte. Einerseits hatte er sich schon bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl wäre, Lilly sanft in seine Arme zu ziehen, sie zu küssen, ihren Mund, ihr Grübchen, jeden Zentimeter ihrer Haut. Andererseits erschien ihm genau das falsch, fast schon verboten. Als wäre sie eine Heilige, die man nicht anrühren durfte, auch wenn sich das albern anhören mochte. Außerdem hatte er ihr versichert, dass es sich um eine rein berufliche Unternehmung handelte …

Diese Zerrissenheit forderte ihn ziemlich heraus. Doch eines war gewiss: Er brauchte Lilly um sich. Durch sie inspiriert, würde er eine Kollektion entwerfen, die in der Modewelt für Furore sorgen würde. Seine bisherigen Entwürfe waren bereits vielversprechend.

Fünf Tage später bestiegen Lilly und Nevio den Flieger, der sie von London nach Florenz bringen sollte. Lilly fühlte sich so aufgeregt, als würde sie zum ersten Mal eine Flugreise unternehmen, dabei war sie in ihrer Modelzeit ausgesprochen viel geflogen. Sie ließ sich auf dem breiten Ledersitz in der Business Class nieder, einem Fensterplatz.

Nevios wohltuende Stimme drang an ihr Ohr. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte versonnen. „Ich kann es kaum erwarten, in Florenz anzukommen.“

„Ihr erstes Mal?“ Er warf ihr ein charmantes Lächeln zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich war bereits dreimal dort, meine Tante lebt seit einigen Jahren in einem toskanischen Dorf, etwa fünfzig Kilometer von Florenz entfernt.“

„Sie machen den Eindruck, als würden Sie nicht oft fliegen“, meinte er und musterte sie von der Seite.

Sie lachte. „Das täuscht.“

Ihre Nervosität war ihm also nicht verborgen geblieben. Die, wie sie sich eingestehen musste, ausschließlich an seiner Gegenwart lag. Allerdings konnte sie ihm das wohl schlecht sagen. Zumindest nicht, ohne dabei rot zu werden.

Kaum hatten sie die Flughöhe erreicht, verlor Lilly sich mit ihren Blicken in den Wolken – so wie sie es bereits als Kind gern getan hatte. Sie wirkten, als könnte man sich in sie hineinkuscheln. Wie Wattebausche im azurblauen Himmel. Märchenhaft!

Ab und zu, nämlich immer dann, wenn Nevios Arm ihren streifte, durchfuhr sie ein heißer Schauer. Wenn er nur wüsste, was er in ihr auslöste! Ob es ihm vielleicht ähnlich erging? Sie redeten nur wenig, aber es brauchte auch nicht viele Worte, sie fühlte sich in seiner Nähe so wohl, dass sie stundenlang mit ihm hätte schweigen können. Zwischen ihnen bestand eine Vertrautheit, als würden sie sich schon seit Jahren kennen.

Als die Flugbegleiterin sich nach ihrem Getränkewunsch erkundigte, antworteten sie beinahe gleichzeitig: „Bitter Lemon – mit viel Eis, aber ohne Zitrone.“

Sie grinsten sich an, ziemlich verdutzt.

„Sie auch?“, fragte Lilly überflüssigerweise.

„Wer weiß, vielleicht entdecken wir ja noch mehr Gemeinsamkeiten“, antwortete Nevio und sah sie vielsagend an.

„Ja, vielleicht“, sagte sie mit einem leisen Lächeln und entzog sich rasch seinem intensiven Blick, der sie schon wieder verlegen machte.

Lilly starrte ungeduldig auf den Rundlauf der Gepäckausgabe, der sich nach und nach leerte. Die meisten Passagiere hatten bereits ihre Koffer vom Band gezogen und waren Richtung Ausgang unterwegs. Auch Nevio hatte sich seine kaffeebraune Reisetasche längst umgehängt. So langsam wurde es Zeit, dass auch ihr Koffer erschien. Er war hellrot, man konnte ihn auf keinen Fall übersehen. Doch leider warteten sie vergebens. Ihnen blieb nur, den Verlust beim „Lost & Found“-Schalter zu melden.

Lilly runzelte die Stirn. „Kein gutes Omen“, raunte sie.

Nevio lächelte. „Sind Sie denn abergläubisch?“

Sie nickte. „Das habe ich wohl von meiner Großmutter. Sie hätte sich beispielsweise niemals an Tisch dreizehn gesetzt – so wie Sie.“

„Also mir hat Tisch dreizehn Glück gebracht“, entgegnete er und zwinkerte ihr zu. „Was ich damit sagen will, ist, dass Sie sich keine großen Gedanken über diesen Vorfall machen sollten. Mein Koffer ist auch schon mal verlorengegangen, das passiert eben.“

„Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.“ Schön, dass er sie so aufmunterte. Das tat ihr gut.

„Lassen Sie uns gleich in die Altstadt fahren und alles besorgen, was Sie brauchen“, schlug er vor. „Einwände lasse ich übrigens nicht gelten“, schob er grinsend nach.

Anders als die anderen Fluggäste, die in Massen hinausströmten, mussten sie sich nicht um ein Taxi bemühen. Nevio hatte einen eigenen Fahrer, der in einem dunkelgrünen Jaguar auf sie wartete, als sie aus dem Flughafengebäude in die unbarmherzige Mittagshitze hinaustraten, die in Florenz herrschte. Doch kaum hatte sie mit Nevio auf der cremefarbenen Rückbank Platz genommen, fror sie wie an einem kalten Herbsttag in London – die Klimaanlage war anscheinend auf Höchststufe gestellt. Lilly schlüpfte rasch in ihre Strickjacke, die ihr immerhin noch geblieben war, genauso wie ihr Handgepäck. Der Fahrer, er stellte sich als Tommaso vor, sah sie im Rückspiegel an und fragte, ob er die Temperaturen anders einstellen solle, doch Lilly versicherte ihm, es sei alles in bester Ordnung.

„Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, halten Sie sich bloß nicht zurück“, sagte Nevio. Er machte eine kurze Pause und stellte dann klar: „Ich möchte, und darauf lege ich allergrößten Wert, dass es Ihnen an nichts fehlt.“

Es rührte Lilly, wie besorgt er um sie war. Das machte es wahrlich nicht einfacher, keine weiteren Gefühle für ihn zu entwickeln. Steckte sie nicht ohnehin bereits emotional viel zu tief drin? Sie wischte die Frage schnell beiseite. Bloß nicht weiter darüber nachdenken.

Sie unterdrückte ein Seufzen und sah zum Fenster hinaus, um sich abzulenken. Florenz machte es einem nicht gerade schwer – die atemberaubende Kulisse, die sich ihr bot, die zahlreichen kunstvoll verzierten Gebäude waren eine Einladung, sich in längst vergangene Zeiten hineinzuträumen. In der Renaissance hatte sich Florenz, durch die einflussreiche Dynastie der Kaufmannsfamilie Medici, zu einer der florierendsten Metropolen Europas entwickelt. Der majestätische Glanz von einst war auch nach all den Jahrhunderten noch zu spüren. Es war unmöglich, sich dem historischen Charme der toskanischen Hauptstadt zu entziehen.

Zugleich entdeckte sie niedliche Häuser mit Puppenstubencharakter. Wie winzig die vielen Balkone doch waren, wie fröhlich die knallbunten Fensterläden und die gestreiften Stoffmarkisen, die im Wind flatterten!

Tommaso hielt in einer ruhigen Seitenstraße. So konnten Lilly und Nevio ohne Hektik aussteigen. Sie schlenderten zunächst ohne festes Ziel durch mal mehr, mal weniger geschäftige Gassen. Um nicht erkannt zu werden, hatte sich Nevio wieder eine überdimensional große Sonnenbrille aufgesetzt und zusätzlich seine dichten Haare unter einem dunkelblauen Bandana-Tuch versteckt.

Die Sonne brannte so gnadenlos vom Himmel herab, dass man den Eindruck hatte, in einem riesigen Backofen unterwegs zu sein. Es roch nach heißem Asphalt, aber auch nach Cappuccino und Holzöfen, je nachdem, welche Läden sie gerade passierten. Vor vielen Restauranttüren standen große Tafeln, auf denen die Tagesempfehlungen notiert waren. Drinnen und draußen saßen Einheimische und Touristen, aßen Pizza oder Pasta und unterhielten sich in den unterschiedlichsten Sprachen, mitunter gestikulierten sie wild. Lilly sog alle Eindrücke begierig auf. Sie wollte das alles genießen, so gut sie konnte.

Die wenigen Kosmetikartikel, die sie benötigte, hatte sie zügig eingekauft. Auch in der Unterwäsche-Boutique beeilte sie sich, während Nevio draußen auf sie wartete – es wäre ihr unpassend vorgekommen, in seiner Gegenwart Dessous anzuprobieren.

Bei der Auswahl des Parfüms brauchte sie etwas länger, was daran lag, dass Nevio sie zu einem exklusiven, versteckt liegenden Parfümladen führte, in dem jedem Kunden eine individuelle Beratung zuteilwurde. Die hochgewachsene Verkäuferin, deren Haut so blass und ebenmäßig wie feines Porzellan wirkte, gab sich allergrößte Mühe, Lilly in die hohe Kunst der Düfte einzuweihen. Schließlich entschied sie sich für eine Parfummischung aus den Herznoten Mandarine, Zitrone, Pfirsich und Bergamotte – die Basisnoten bestanden aus Tonka, Sandelholz und Vanille.

Kaum hatten sie den Laden verlassen, tupfte sie sich ein paar Parfumtropfen hinter das Ohrläppchen. Nevio beugte sich langsam zu ihr herunter und legte seine Hand sanft an ihre Taille. „Darf ich mal schnuppern?“, fragte er, wobei seine Nase ohnehin schon ziemlich nahe an ihrem Hals war. So nahe, dass er ihre Haut mit seinem zarten warmen Atem streifte.

Lilly durchfuhr ein Schauer der Erregung. Was geschieht nur mit mir? Mit einem Mal stieg in ihr der nur schwer zu bezwingende Wunsch auf, sich in seine Arme fallen zu lassen. Jede Zelle ihres Körpers sehnte sich nach seiner Nähe.

Beruhige dich! brachte sie sich selbst zur Raison.

Die Realität meldete sich wieder, als jemand Nevios Namen rief. Mehrmals hintereinander. Doch statt darauf zu reagieren, tat er so, als hätte er nichts gehört, fasste Lilly bedächtig am Unterarm und dirigierte sie in eine Seitengasse und von dort in eine nächste und übernächste. Ohne jede Erklärung. Sie hätte gern gefragt, was eigentlich los sei, begriff aber intuitiv, dass es kein guter Zeitpunkt war. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Es war deutlich, dass er schnell vorankommen wollte, sich aber bemühte, nicht in Hektik zu verfallen.

Schließlich zog er sie in eine dunkle Einfahrt. Dann drückte er sich mit dem Rücken gegen eine Hausmauer und blieb regungslos stehen. Lilly tat es ihm instinktiv gleich.

Eine Szene wie aus einem Krimi.

Und was nun? Sie fand, dass sie nun wirklich genug Geduld bewiesen hatte. Und dass sie ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was hier eigentlich vor sich ging.

3. KAPITEL

Arme Lilly. Sie wirkte ziemlich irritiert. Kein Wunder, dachte Nevio. Er hatte sie ohne eine Erklärung herumgescheucht. Ob sie ahnte, warum? Vermutlich nicht. Sie führte schließlich kein Leben in der Öffentlichkeit. Für ihn hingegen gehörte es längst zum Alltag, auf der Flucht vor der Presse zu sein. Seit seinen ersten Erfolgen als Modedesigner brannten Klatschreporter darauf, ihn in die Schlagzeilen zu bringen. Je reißerischer, desto besser. Mit seiner zunehmenden Bekanntheit hatte sich das weiter verstärkt. Und in seiner Heimatstadt waren die Paparazzi besonders lästig. Am liebsten wollten sie alles über die Frauen wissen, die er datete – und die entsprechenden Schnappschüsse schießen. Doch seit der Trennung von seiner großen Liebe, dem Topmodel Carla Monroe, hatte er sich völlig von den Frauen zurückgezogen.

Das war nun zweieinhalb Jahre her. Sicher hatte das auch mit seinem Burn-out zu tun gehabt. Er hatte monatelang kaum die Kraft besessen, durch den Tag zu kommen, wie hätte er da eine Beziehung führen sollen?

Wenn er sich nicht täuschte, musste der Mann, der nach ihm gerufen hatte, der Klatschreporter Pietro Ravello sein. Eigentlich kein unangenehmer Mensch, er hatte mit Carla und ihm, in der Zeit ihrer ersten Verliebtheit, ein ganz passables Interview geführt. Dass Nevio trotzdem vor ihm geflüchtet war, hatte einen ganz einfachen Grund: Er wollte unbedingt vermeiden, Lilly in die Arme der Presse zu treiben. Es stand zu befürchten, dass man sie für seine neue Freundin halten würde. Auf derartige Schlagzeilen hatte er keine Lust – und sie sicher auch nicht.

Lilly stand immer noch neben ihm, dicht an die Wand gedrückt. Sie sah ihn mit großen Augen an. „Was machen wir eigentlich hier?“, fragte sie schließlich im Flüsterton.

„Willkommen in meinem Leben“, gab er schmunzelnd zurück.

„Geht’s vielleicht ein bisschen genauer?“

„Die Presse ist uns auf den Fersen“, klärte Nevio sie auf.

„Immerhin kein Mörder“, scherzte sie.

Er zwinkerte ihr zu. „Trotzdem schlimm genug“.

Einen Moment lang lauschte er angestrengt. Dann trat er aus dem Schatten der Einfahrt ins Taghelle zurück. Nachdem er sich umgesehen hatte, winkte er Lilly zu sich. „Die Gefahr ist gebannt“, verkündete er erleichtert.

Lilly kam zögernd auf ihn zu. Sie blinzelte, weil ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien.

„Finden Sie das nicht ein bisschen …?“, setzte sie an, nachdem sie ein paar Schritte schweigend nebeneinander hergegangen waren.

„Was?“

„Na ja, mir kommt das übertrieben vor.“

Er atmete betont langsam aus. Natürlich musste sie so denken. Er hatte volles Verständnis für ihre Bemerkung. Wer nicht im Rampenlicht stand, hatte ja keine Ahnung, wozu Klatschreporter fähig waren.

„Wir sprechen uns wieder, wenn Sie berühmt sind“, sagte er, während sie in eine schattige und recht belebte Gasse einbogen.

„Das habe ich auf gar keinen Fall vor“, entgegnete Lilly energisch. „Ich will ein ganz normales Leben führen. So wie Millionen andere Menschen auch.“

„Den Eindruck habe ich nicht von Ihnen.“

„Haben Sie nicht?“

„Wären Sie sonst hier bei mir?“ Er blieb stehen, schob seine Sonnenbrille bis zur Nasenspitze herunter und blickte ihr in die Augen. Dieses unergründliche Grün … Wie gern er sich darin verlor!

Kann bitte jemand die Zeit anhalten? Nevio vergaß die Welt um sich herum. Es gab nur noch sie beide.

Doch das penetrante Klacken einer Fotokamera riss ihn abrupt aus seinen Träumereien. Er fuhr herum. Ein Paparazzo! Er stand auf einem Mauervorsprung und hielt das Objektiv direkt auf sie gerichtet. Ob Pietro Ravello ihn informiert hatte? Egal. Bloß weg von hier.

Mit einem „Achtung, Presse!“ fasste er Lilly bei der Hand und zog sie eilig hinter sich her. Dieses Mal war er viel zu genervt, um noch Ruhe bewahren zu können.

Lilly schnappte nach Luft. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie war zwar körperlich in guter Form, aber die drückende Hitze erschwerte ihr das Atmen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass Nevio nun auf ein freies Taxi zusteuerte. Er riss die Autotür auf, mit einem derartigen Schwung, als würde er sie ausreißen wollen, und sie rutschte in Windeseile hinter ihm auf die Rückbank.

Als er dem Taxifahrer die Adresse nannte, antwortete der sofort: „Ach, Sie sind es, Signor Ajello.“

„Ja, ich bin es“, erwiderte Nevio leicht erschöpft und schob sich die Sonnenbrille ins Haar. Ein paar Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Kein Wunder, im Taxi schien es noch heißer als draußen zu sein.

„Könnten Sie bitte runterkühlen?“, bat Nevio.

„Entschuldigen Sie, Signor Ajello, die Klimaanlage ist vor zwei Stunden kaputtgegangen.“

Nevio seufzte. „Scheint ja heute mein Glückstag zu sein.“

„Tut mir leid.“ Der Taxifahrer wirkte ehrlich zerknirscht.

Lilly beugte sich kurz zu Nevio. „Vielleicht hatte ich ja doch recht.“

Er sah sie irritiert an. „Wovon sprechen Sie?“

„Na, der verlorene Koffer“, erinnerte sie ihn. „Ich sagte doch, das ist ein schlechtes Omen.“

Nevio stutzte, ehe er breit grinste. „Dann sollten wir schleunigst dafür sorgen, dass wir den bösen Fluch brechen.“

Bei dem Gebäude, das langsam hinter den ausladenden knorrigen Bäumen zum Vorschein kam, handelte es sich um eine der prachtvollsten Villen, die Lilly jemals gesehen hatte. Ein architektonisches Juwel, wahrscheinlich um das Jahr 1900 erbaut, wie sie schätzte.

Sie hielten vor einem verschnörkelten weißen Eisentor. Nachdem Nevio die Taxifahrt bezahlt hatte, gab er auf einer Tastatur, die am Gemäuer angebracht war, einen Code ein, woraufhin sich das Tor langsam öffnete. Als Lilly hindurchschritt, hatte sie das Gefühl, eine Prinzessin zu sein. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut „Wow!“ auszurufen.

Während sie auf die Villa zugingen, bot Nevio ihr seinen Arm an, und sie hakte sich bereitwillig bei ihm unter. Seltsamerweise kam es ihr vor, als wäre sie nicht das erste Mal hier, mehr noch, als wäre sie auf diesem traumhaften Anwesen zu Hause. Am liebsten wäre sie gleich in den riesigen ovalen Pool gesprungen, der von alten Zypressen und Olivenbäumen umrahmt war und ihr in seinem erfrischenden Hellblau entgegenfunkelte.

Über eine ausladende Steintreppe erreichten sie das goldverzierte Eingangsportal, das von einem hochgewachsenen Mann mit zurückgekämmtem weißem Haar geöffnet wurde.

„Signora Appleton, Signor Ajello“, begrüßte er sie.

Lilly freute sich, dass er sie so selbstverständlich mit ihrem Namen ansprach. So als ginge sie hier regelmäßig ein und aus. Trotzdem war sie leicht eingeschüchtert. Niemand, den sie kannte, hatte eigene Dienstboten. Wozu auch? Sie selbst lebte in einem winzigen Apartment in London, um das sie sich selbst kümmern konnte. Aber es war natürlich etwas ganz anderes, dieses riesige Anwesen in Schuss zu halten.

„Federico“, begrüßte Nevio ihn. „Schön, wieder zu Hause zu sein.“ An Lilly gewandt sagte er: „Was immer Sie brauchen, Sie können sich jederzeit an Federico wenden, er ist die gute Seele unseres Hauses.“

„Zu Ihren Diensten“, bekräftigte Federico und sah Lilly freundlich an.

„Schön, Sie kennenzulernen“, entgegnete sie und lächelte zurück.

Der Hausdiener nahm ihnen die Tüten ab, mit denen sie beladen waren, und ging mit einem kurzen Nicken davon.

Lillys Blick fiel auf den außergewöhnlichen Steinboden, in dessen Mitte die Florentinische Lilie eingearbeitet war – das Wappen von Florenz. Es war ihr von ihren vergangenen Florenz-Besuchen bestens vertraut, daher erkannte sie es sofort wieder. Die Wände waren in warmen hellen Farben gestrichen, weiße und gelbliche Töne, die Mitte der Eingangshalle wurde von einem Gemälde dominiert, das einen Engel zeigte, der eine weiße Lilie in der Hand hielt.

Noch während Lilly überlegte, um welchen Engel es sich handeln könnte, erklärte Nevio: „Das ist der Erzengel Gabriel. Er hat der Gottesmutter Maria die Geburt Jesu verkündigt.“

„Und warum hält er eine Lilie in der Hand?“, fragte sie, während sie den Blick nicht von dem Gemälde lassen konnte – es ging ein tiefer Frieden davon aus.

„Sie ist das Symbol für Marias Jungfräulichkeit“, antwortete Nevio. Er war von hinten an sie herangetreten und sprach sanft in ihr Ohr. Wieder spürte sie seinen streichelnden Atem. Es war ein seltsamer Moment. Sie sprachen hier über eine biblische Geschichte, und es gab überhaupt keinen Anlass, verlegen zu sein. Dennoch war Lilly es.

Schnell lenkte sie seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema. Sie deutete auf eine weiße Flügeltür, die weit offen stand und den Blick auf einen mit Terrakotta-Fliesen ausgelegten Raum freigab. Das musste das Wohnzimmer sein. „Wohin geht es da?“, fragte sie und rückte schnell von Nevio ab.

„Zum Herzen der Villa“, erwiderte er und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Lilly war völlig angetan von der besonderen Wohlfühlatmosphäre, die in dem riesigen Raum herrschte. Eine samtrote Liegelandschaft mit überdimensional großen flauschigen Kissen, mehrere Regale mit Büchern, ein alter Kamin, daneben aufgeschichtete Holzscheite. Auch wenn momentan nicht das passende Wetter für ein Kaminfeuer herrschte, konnte sie sich gut vorstellen, hier an langen Winterabenden zu sitzen. Unter eine Decke eingekuschelt. In Nevios Armen. Er würde zärtlich an ihrem Ohr knabbern, ehe sie schließlich in leidenschaftlichen Küssen versinken würden.

Was sind denn das für Fantasien? Sie befahl sich, sofort damit aufzuhören. Die Vereinbarung zwischen Nevio und ihr war rein geschäftlich. Und dabei sollte es auch bleiben.

Er schob die Fenstertüren auf, und sie betraten eine herrliche Panoramaterrasse. Von hier aus konnten sie ganz Florenz überblicken. Lilly stockte der Atem. Was für eine Aussicht!

„Das ist … wunderschön“, meinte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.

Nevio deutete auf verschiedene Gebäude, die sich in der Skyline der Stadt abhoben, und erklärte wie ein Reiseführer: „Das ist die Kathedrale Santa Maria del Fiore, und dort drüben ist der Palazzo Vecchio.“ Dann sah er sie prüfend an. „Sie haben bestimmt Hunger?“

Sie nickte. „Vorher würde ich mich gern kurz frischmachen.“

„Kein Problem. Ich zeige Ihnen die Gästezimmer. Und Sie suchen sich einfach eines aus.“

Als sie erneut die Eingangshalle durchquerten, stand Federico an der offenen Haustür und nahm gerade einen Koffer entgegen – Lillys Koffer!

Erleichtert stürzte sie auf Federico zu. Als sie nach dem Koffer greifen wollte, wehrte er allerdings ab.

„Signora, das ist soeben für Sie angekommen, vom Flughafen-Service“, erklärte er ihr. „Wohin darf ich das Gepäckstück bringen?“

Lilly schaute zu Nevio.

„Sobald Signora Appleton sich ein Zimmer ausgesucht hat, gebe ich Ihnen Bescheid“, erläuterte Nevio. Dann legte er kurz den Arm auf ihre Schultern und dirigierte sie sanft in Richtung Treppe.

„Ist ja doch noch gut gegangen“, meinte er schmunzelnd, während sie die Marmorstufen ins Obergeschoss hinaufstiegen.

„Ja, das könnte ein gutes Omen sein“, entgegnete Lilly und lächelte zurück.

Lilly genoss die erfrischende Kühle des Wassers, das aus allen Richtungen kam. Anders als bei ihr zu Hause – sie hatte nur eine gewöhnliche Handbrause – waren mehrere Duschköpfe in den Wänden angebracht. Dadurch fühlte es sich fast so an, als stünde sie unter einem Wasserfall. Luxus pur!

Am liebsten hätte sie noch Stunden unter der Dusche verbracht, doch sie war mit Nevio auf der Terrasse zum Abendessen verabredet. Während sie sich mit dem wunderbar weichen Handtuch abtrocknete, ließ sie die Ereignisse des Tages Revue passieren. Ob sie das alles nur träumte? Es erschien ihr irgendwie unwirklich. Zugleich fühlte es sich fantastisch an. Sie summte fröhlich vor sich hin. Dann flocht sie ihre Haare zu einem Seitenzopf und schlüpfte in ihr smaragdgrünes Chiffonkleid.

Doch dann fiel ihr plötzlich wieder der Paparazzo ein, und ihre Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Womit würde sie rechnen müssen? Doch hoffentlich nicht mit Fotos und Schlagzeilen in den Klatschblättern? Allein die Vorstellung war ihr ein Graus. Nein, sie wollte nicht in die Öffentlichkeit! Auf gar keinen Fall! Ihr war es immer schon ein Rätsel gewesen, warum Menschen davon träumten, ein Star zu sein.

Natürlich, Nevio war ein Promi. Was das bedeutete, hatte Lilly gar nicht auf dem Schirm gehabt. Reichlich blauäugig von ihr! Er wurde auf der Straße von Fremden erkannt und war es gewohnt, dass die Klatschpresse ihn verfolgte. Doch sie hatte diese Routine nicht – und wollte da unbedingt rausgehalten werden. Daher beschloss sie, ihn auf den unangenehmen Vorfall anzusprechen.

Das war allerdings gar nicht so einfach, denn er war derart gut gelaunt, dass sie ihm die Stimmung nicht verhageln wollte. Er strahlte von innen – und sah blendend aus. Die Ärmel seines schwarzen Hemds hatte er lässig hochgekrempelt, seine dunklen Haare sahen wilder aus als sonst – zugleich wirkte er so noch sexyer. Lilly stöhnte innerlich. Warum tat er ihr das nur an? Es wäre wahrlich einfacher, wenn er einer dieser durchschnittlich aussehenden Typen wäre, einer, den man leicht übersah und an den man keinen zweiten Blick verschwendete.

Als sie sich zu ihm auf die feierlich illuminierte Terrasse setzte, bat er sie, noch einmal aufzustehen.

„Dieses Kleid steht Ihnen fantastisch. Bitte drehen Sie sich. Ich muss es in seiner ganzen Pracht sehen.“

Während sie ihm den Gefallen tat, applaudierte Nevio begeistert. Für einen Moment fühlte sich Lilly in ihre Zeit als Model zurückversetzt, was gemischte Gefühle in ihr auslöste. Gerade in den letzten Monaten, bevor sie den Job aufgegeben hatte, war der Druck unerträglich groß gewesen. Man hatte sie spüren lassen, dass ihr Typ nicht mehr gefragt war – und überhaupt hatte man ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr die Jüngste wäre. Wie sehr hatte sie damals an sich gezweifelt!

Sie schüttelte die scheußlichen Erinnerungen ab und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, kam sie zum Glück schnell auf andere Gedanken. Der lange Tisch, an dem mindestens zwölf Gäste Platz gehabt hätten, war mit Hunderten Rosenblättern und einem Meer aus Kerzen geschmückt. Auf einem silbernen Tablett waren verschiedene Antipasti angerichtet. Der Menge nach für deutlich mehr als zwei Personen ausreichend.

„Wer soll das alles essen?“, fragte Lilly erstaunt.

„Ich dachte, Sie haben Hunger“, gab Nevio schmunzelnd zurück.

„Danach werde ich wohl nicht mehr in mein Kleid passen“, meinte sie, halb scherzhaft, halb ernst.

„Wie gut, dass Sie mich an Ihrer Seite haben.“

„Wieso?“

„Ich kann es Ihnen sofort umnähen.“

Sie lachten und stießen mit ihren Bellini-Gläsern an.

„Auf einen unvergesslichen Abend!“, rief Nevio freudestrahlend. Er machte einen übermütigen Eindruck; und Lilly ließ sich nur allzu gern davon anstecken. Einfach nur den Moment genießen! La Dolce Vita!

So unbeschwert, wie Nevio wirkte, konnte sie sich kaum vorstellen, dass er noch vor Kurzem unter einer depressiven Phase gelitten hatte. Er hatte zwar bisher kaum davon erzählt, aber sie hatte deutlich gespürt, dass diese Zeit ihm schwer zugesetzt hatte.

Nach der Hauptspeise – Fächerkartoffeln mit Auberginen, Mozzarella und karamellisierten Tomaten – servierte Federico das Dessert, Panna Cotta auf einem Himbeerspiegel.

„Ich glaube, ich schaffe das nicht mehr“, meinte Lilly und konnte doch nicht widerstehen, eine kleine Löffelspitze zu naschen. „Hm, himmlisch.“

Nevio deutete nach oben. „Wie klar man heute die Sterne sieht.“

„Zum Greifen nah“, stimmte sie zu.

„Ich habe schon als kleiner Junge nachts stundenlang wachgelegen und die Sterne beobachtet. Und studiert.“

„Sie kennen die Sternbilder?“

„Alle“, erwiderte er nicht ohne Stolz in der Stimme. Er sah Lilly kurz an, seine Augen hatten einen faszinierenden Schimmer, und blickte dann wieder gen Himmel. „Die Sterne zeigen uns, wie klein wir Menschen doch sind – plötzlich erscheinen die eigenen Sorgen gar nicht mehr so groß.“

Von welchen Sorgen sprach er? Verstohlen musterte sie sein Profil. Es war zwar gerade alles andere als passend, aber aus irgendeinem Grund war ihr wieder eingefallen, dass sie ihn eindringlich darum bitten wollte, von der Klatschpresse in Ruhe gelassen zu werden. Doch wie sollte sie beginnen? Meistens kam der richtige Moment nie, wenn man darauf wartete. Also beschloss sie, keine Umschweife zu machen.

„Das, was wir heute erlebt haben, wird sich hoffentlich nicht wiederholen. Ich will mein Leben nicht damit verbringen, mich vor aufdringlichen Paparazzi zu verstecken“, erklärte sie mit fester Stimme.

Zunächst schien Nevio gar nicht zu wissen, wovon sie sprach. Kein Wunder, sie hatte das Thema wirklich sehr abrupt gewechselt. Es dauerte eine Weile – die ihr unfassbar lang vorkam –, bevor er antwortete. „Mir gefällt das auch nicht, glauben Sie mir“, sagte er seufzend.

„Es wird doch morgen keinen Bericht über uns geben?“

„Hoffentlich nicht.“

„Was heißt das?“

„Dass ich es nicht weiß“, gestand er. Es war nicht zu überhören, dass er sich über das, was an diesem Nachmittag passiert war, sehr ärgerte.

Lilly bedauerte plötzlich, die Sache überhaupt angesprochen zu haben, denn seine Unbeschwertheit war mit einem Schlag verflogen. Andererseits war ihr wichtig, ihm klarzumachen, dass sie da nicht mitspielte. ...

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
Mehr erfahren
Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
Mehr erfahren