Stürmische Eroberung auf Carlyle Castle

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Das kann unmöglich der neue Verwalter von Carlyle Castle sein! Philippa Kirkpatrick ist entsetzt darüber, wen der Anwalt ihrer geliebten Pflegemutter eingestellt hat, um sich um deren Anwesen zu kümmern. William Montclair sieht nicht aus wie ein Gutsverwalter, sondern wie ein Pirat! Außerdem ist er vorlaut, unkonventionell und – Amerikaner! Und er wagt es auch noch, der Duchess permanent zu widersprechen. Philippa fühlt sich verpflichtet, ihm bei der Arbeit genau auf die Finger zu schauen. Zu ihrer Überraschung hat sie bald den Eindruck, dass der faszinierende Will genau der Mann sein könnte, den Carlyle Castle dringend braucht … und sie selbst womöglich auch?


  • Erscheinungstag 13.01.2024
  • Bandnummer 399
  • ISBN / Artikelnummer 0871240399
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

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Für Gretchen und Fred.

Vive le HEA!

Prolog

1767

Carlyle Castle

Die Hochzeit war klein, so wie sie sein sollte. Immerhin hatte die Braut die Blüte ihrer Jugend schon hinter sich, und der noch ältere Bräutigam war Witwer.

Aber diese Braut liebte es zu feiern und ließ keine Gelegenheit aus, ein Fest auszurichten. Die Hochzeit mochte klein gewesen sein und im engsten Kreis stattgefunden haben, doch das darauffolgende Fest war weder klein noch privat.

Der Hof der einstigen Vorburg von Carlyle Castle war mittels Zelten und Sonnensegeln verwandelt worden, und eine Schar Zimmerleute hatte gar ein Tanzparkett geschaffen. Die üppige Auswahl an Köstlichkeiten wurde von den Gästen überschwänglich gepriesen, und unterhalb der Speisezimmerfenster spielte ein Streichquartett. Die Sonne schien warm von einem kristallklaren blauen Himmel, als wollte sie die Verbindung segnen, und eine leichte Brise schützte die Tanzenden davor, ins Schwitzen zu geraten. Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, machten sich die Lakaien daran, Dutzende Laternen an Bäumen und Zelten aufzuhängen, bis sie zahlreicher als die Sterne waren und den Hof in fast taghelles Licht tauchten.

Sophia Constance St. James, Duchess of Carlyle, wachte vom größten Zelt aus zufrieden über die Szene. Das Ganze glich mehr einem Dorffest als einem Londoner Ball, und genau das hatte sich ihre Tochter gewünscht. Auf der Burg hatte es kein Fest mehr gegeben seit ... Grundgütiger, seit vielen, vielen Jahren. Es tat gut, wieder Gelächter zwischen den Steinmauern erschallen zu hören.

Ihr liebevoller Blick fiel auf ihre Tochter, die inmitten der Menschen ihren frischgebackenen Gemahl anlächelte. Vom anderen Ende des Rasens her dröhnte Stephens ausgelassenes Lachen herüber. Vermutlich rief er zu einer Partie des Rasenkugelspiels Bowls oder gar zu einem Turnier im Bogenschießen auf. So war ihr jüngster Sohn. Er war federführend an der Planung der Feierlichkeiten beteiligt gewesen, und er hatte die gesamte Gemeinde St. Mary’s eingeladen, wo er demnächst das Amt des Pfarrers antreten würde. Jeder Lord, Squire, Kaufmann und Bauer im Umkreis von zehn Meilen war zugegen.

Während sie das Brautpaar betrachtete, drehte dieses sich um und kam auf sie zu. Der Duchess schwoll das Herz vor Mutterstolz. Ihre Tochter mochte alt für eine Braut sein – schon dreißig –, aber sie war immer noch schön und voller Lebensfreude. Sie trug ein silberfarbenes Kreppkleid, das im Abendlicht schimmerte, und rosa Rosen zierten ihr hoch aufgestecktes Haar. Doch es war das selige Lächeln auf ihrem Gesicht, das der Duchess vor Glück die Kehle eng werden ließ.

„Da bist du ja, Mutter“, sagte Jessica glücklich und setzte sich neben sie auf die Polsterbank. Sie streckte die Arme nach ihrem Bräutigam aus. „Gib sie mir, Miles.“

Miles Kirkpatrick war hochgewachsen und ernst und wirkte imposant in seiner Armeeuniform. Sein dunkles Haar war an den Schläfen ergraut. Aber in seiner Miene lagen Wärme und Zärtlichkeit, als er Jessica das kleine Mädchen reichte, das er hielt. Erst danach wandte er sich seiner neuen Schwiegermutter zu und verbeugte sich knapp. „Welch herrlicher Freudentag, Ma’am. Von ganzem Herzen danke.“

Sie hob die Brauen. „Ich richte das Fest lediglich aus, Oberst. Ihr und meine Tochter seid das freudige Element darin.“

Er lächelte, und Jessica lachte. „Ja, nicht wahr?“ Sie schaute sich um. „Wo steckt Johnny?“

„Er war müde und ist hineingegangen.“ Der Duke war entschlossen gewesen, der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen. Er hatte sie gar zum Altar geführt, war danach jedoch völlig erschöpft gewesen. Nach nur einer halben Stunde in den Zelten hatte er sich in die Burg zurückgezogen.

„Ah“, erwiderte Jessica. „Ich werde ihn morgen aufsuchen, um mich bei ihm zu bedanken.“ Als ein weiteres dröhnendes Lachen ertönte, sah sie auf und blickte hinüber zu ihrem jüngeren Bruder, der auf der anderen Seite des Rasens Hof hielt. „Und ich wäre Stephen sehr dankbar, wenn er keinen Tumult anzetteln würde!“

Die Duchess lächelte. „Das würde er niemals tun.“

„Nicht vor deinen Augen“, raunte ihre Tochter schelmisch.

Inzwischen hatte sie sich das kleine Mädchen auf den Schoß gesetzt, und bei ihrer letzten Bemerkung öffnete das Kind den Mund und gähnte herzhaft. Ihr Vater murmelte etwas Besorgtes, aber Jessica strich dem Mädchen nur übers Haar und lächelte. „Arme Pippa! Du warst lange genug draußen. Bist du sehr müde, Schatz?“

Das kleine Kinn wurde vorgereckt. Das Kind schüttelte den Kopf.

„Jetzt, Pippa, ist es Zeit fürs Bett. Wo ist Asmat?“, fragte sein Vater nach der indischen Ayah, dem Kindermädchen.

„Weiß nicht“, sagte seine Tochter und schlang Jessica die Ärmchen um den Hals. „Will bei Mama bleiben.“

Die Ehegatten tauschten einen Blick. Jenseits des Rasens waren die Musikanten von gesetzten Tänzen zu beschwingten Volksweisen übergegangen, die Jessica besonders mochte.

„Lasst sie bei mir“, meinte die Duchess. „Das Kindermädchen wird gewiss bald auftauchen.“

Jessica umarmte das kleine Mädchen inniglich und zögerte. „Bist du sicher, Mutter?“

Sie bedachte Jessica mit einem gestrengen Blick. „Als hätte ich nicht vier Kinder großgezogen. Da werde ich ja wohl in der Lage sein, es mit einem kleinen Mädchen aufzunehmen.“ Sie wedelte mit den Händen, um sie fortzuscheuchen. „Geht! Tanzt und seid fröhlich!“

„Wenn du darauf bestehst.“ Behutsam setzte Jessica das Kind auf den Platz, auf dem sie gesessen hatte. Sie neigte sich vor, um mit dem Mädchen zu sprechen, wobei ihre blonden Locken die dunklen des Kindes streiften. Nach einem kurzen geflüsterten Austausch richtete Jessica sich auf und hakte sich bei ihrem Bräutigam unter. „Wir sind gleich dort drüben“, sagte sie – ob an die Duchess oder das Kind gerichtet, blieb unklar.

„Ich weiß, wo ihr sein werdet“, entgegnete ihre Mutter spöttisch. „Keine Sorge, meine Liebe.“

Der Oberst sank auf ein Knie nieder und küsste seine Tochter auf die Stirn. Ihr Gesicht nahm sich winzig in seinen Händen aus. Das kleine Mädchen griff nach einem Knopf am scharlachroten Rock seines Vaters und hielt ihn fest. Er flüsterte ihr etwas zu, löste ihre Hand von seinem Rock und küsste ihr die Finger, ehe er sich erhob. „Habt Dank, Ma’am“, sagte er und verbeugte sich erneut, während Lady Jessica ihrer Mutter einen gespielt ungeduldigen Blick zuwarf. „Schickt nach Asmat, falls ...“

„Ja, ja.“ Abermals machte sie eine scheuchende Handbewegung. „Man könnte fast meinen, ihr traut mir nicht.“

Er schaute bestürzt drein, doch Jessica lachte auf. „Natürlich trauen wir dir! Wir wollen dir bloß keine Umstände machen. Aber da du darauf bestehst ...“ Sie winkte dem Kind fröhlich zu, nahm ihren Gatten bei der Hand und zog ihn mit sich fort, zurück zum Tanz.

Die Duchess schaute das kleine Mädchen an, das ihren Blick furchtlos erwiderte. Jessica hatte ihr erzählt, dass Oberst Kirkpatrick eine junge Tochter habe, aber sie war dem Kind nie zuvor begegnet. „Du bist Philippa“, stellte sie fest.

„Philippa Noor un-nisa Kirkpatrick“, lautete die erstaunlich selbstbewusste Antwort.

„Dein Vater nennt dich Pippa.“

Das Mädchen nickte. „Papa und Pippa.“ Kurz schwieg es. „Und nun auch Mama, da Ammi fort ist.“

Ammi musste die Mutter sein, die vor einem Jahr gestorben war. Ihre Gnaden nickte verständnisvoll. Sie wusste, wie es war, jemanden zu verlieren, der einem teuer war.

„Wie heißt du?

Ihre Gnaden hob die Brauen. „Sophia Constance St. James, Duchess of Carlyle.“ Das kleine Mädchen rümpfte abschätzig die Nase. „Vielleicht gibst du mir einfach einen anderen Namen“, schlug die Duchess amüsiert vor.

„Bist du eine Daadee?“, fragte Philippa neugierig.

„Was ist eine Daadee?“

„Die Ammi von Ammi. Sie hat mir das hier gegeben, bevor wir mit dem Schiff hierhergekommen sind.“ Philippa klopfte sich auf den Anhänger aus Gold und Jade, den sie an einer Perlenkette um den Hals trug. Ein viel zu kostbares Schmuckstück für ein Kind, aber Jessica hatte eifrig Bücher über Indien gewälzt und berichtet, dass es dort durchaus üblich sei, Kinder mit Kleinodien auszustatten.

„Aha.“ Die Duchess nickte, wenngleich die Worte ihr einen Stich versetzten. Sie war keine Großmutter – noch nicht. „Möchtest du mich Daadee nennen?“

Das kleine Gesicht erhellte sich. „Ja!“

Ihre Gnaden war hingerissen. „Dann werde ich deine Daadee sein.“

„Daadee“, echote Philippa glücklich.

„Freust du dich, eine Mutter zu haben?“

Philippa nickte. „Mamas Kleid ist schön.“

Die Duchess lächelte entzückt. „Ja, das ist es. So wie das deine.“

Philippa glitt von der Polsterbank, drehte sich um die eigene Achse und sah zu, wie ihre gelben Röcke sie glockenförmig umwogten. „Papa hat es mir geschenkt.“

„Das war sehr großzügig von ihm.“ Es war offenkundig, dass der Oberst seine Tochter vergötterte – überraschend für einen Mann seines Alters und seiner Profession. So viel Zartgefühl hätte die Duchess Soldaten nie zugetraut.

Philippa kletterte wieder auf die Polsterbank. „Dein Kleid ist auch schön, Daadee.“

Die Duchess betrachtete ihr eigenes Kleid aus tiefblauer Seide, aufwendig bestickt und mit reichlich Brüsseler Spitze besetzt. „Danke“, erwiderte sie, abermals erheitert.

Das Kind saß artig auf der Polsterbank und ließ die kleinen Füße baumeln. Ein weiteres Gähnen hätte es beinahe hinunterpurzeln lassen.

„Bist du müde?“, erkundigte sich die Duchess.

Philippa schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein!“ Sie strafte ihre Worte Lügen, indem sie neuerlich gähnte.

„Vielleicht möchtest du einen Becher Milch.“

Kurz musterte Philippa sie argwöhnisch, ehe sie langsam nickte. Die Duchess hob eine Hand, und ein Lakai, der in der Nähe stand, kam herbei. „Ein Becher Milch für Miss Kirkpatrick.“ Der Mann nickte und eilte davon, um nach wenigen Minuten zurückzukehren. Die Duchess reichte den Becher an das Kind weiter, das ihn mit beiden Händen ergriff und in einem Zug leerte. Es seufzte tief, und ihm wurden die Lider schwer.

Natürlich war das Mädchen müde. Es war gerade einmal drei Jahre alt, und dies war ein langer Tag gewesen. Alles in allem war die Duchess beeindruckt von seiner Ausdauer. In diesem Alter wäre Stephen inzwischen ein brüllender Dämon gewesen und hätte sich in einem Trotzanfall auf dem Boden gewälzt, und Johnny hätte vermutlich längst jemanden gebissen. Ihre Jungen waren wilde, lebhafte Kreaturen gewesen.

Unvermittelt stellte Philippa den Becher ab und kroch ihrer Gnaden auf den Schoß, sehr zu deren Erstaunen. Sie rückte sich zurecht, bis sie bequem lag, und drehte den Kopf so, dass sie die Duchess anschauen konnte. Der Anflug eines Lächelns legte ihre Pausbäckchen in Falten, ehe sie die großen dunklen Augen schloss und einschlummerte.

Für einen Moment war die Duchess wie erstarrt. Unwillkürlich hatte sie dem Kind die Arme umgelegt, obwohl es lange her war, dass jemand ihr auf den Schoß gekrochen war. Das kleine Mädchen stieß einen bebenden, schläfrigen Seufzer aus und schmiegte sich an sie, und ihre Gnaden umschloss es fester.

Eine Weile lang saß sie da und atmete den warmen Duft des kleinen Mädchens ein, derweil sie bewundernd feststellte, wie seidig sich die dunklen Locken anfühlten, die ihren Arm streiften. Wie tief und fest Philippa schlief, wie vertrauensvoll. Dann und wann bewegte sie den Mund, als nuckelte sie am Daumen, genau wie Jessica es als Kind getan hatte. Das ließ ihre Gnaden zärtlich lächeln. Es war gut, wieder ein Kind im Haus zu haben – und es würde hoffentlich weitere geben. Jessica war jetzt vermählt, und auch Stephen würde gewiss bald eine Familie gründen.

Nur allmählich drang das Getuschel in ihrem Rücken zu ihr durch. Dieses Zelt war das am opulentesten ausgestattete, aber auch das stillste, seit der Duke in die Burg zurückgekehrt war und die meisten Gäste sich um die Tanzfläche drängten. Die Haushälterin hatte die Dienstmädchen ausgesandt, um mit dem Aufräumen zu beginnen, und zwei von ihnen waren dabei, die Tische abzutragen, an denen sich die Gäste vorhin an Kalbsrouladen, Hummerpasteten und einem aromatischen Gericht namens Curry, zubereitet nach einem Rezept des Obersts, gelabt hatten.

„Braunes kleines Ding, hm?“, flüsterte eines der Dienstmädchen.

„Hab gehört, die Mutter war eine dieser indischen Konkubinen“, flüsterte das andere. „Ganz schön seltsam, dass ein Mann wie der Oberst einen Bastard mit heimbringt.“

Das erste Dienstmädchen kicherte. „Sie fällt auf, nicht wahr?“

„Ich frage mich, wie lange man sie behalten wird“, raunte das andere. „Wenn Lady Jessica erst ein eigenes Kind bekommt, schließlich sieht dieses so anders aus.“

„Ihr da“, herrschte die Duchess sie an. Porzellan klirrte, und die zwei Dienstmädchen verstummten. „Hierher, alle beide.“

Totenblass hasteten die zwei Mädchen herbei und knickten eilig vor ihr. Ihre Gnaden musterte sie von Kopf bis Fuß und machte keinen Hehl aus ihrem Missfallen. „Wie heißt ihr?“

„Sarah Wood, Ma’am“, murmelte das erste Mädchen mit zittriger Stimme und sank abermals in einen Knicks.

„Jane Carter, Euer Gnaden“, hauchte das zweite Mädchen. Es hielt seine weiße Schürze so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Habt ihr so wenig zu tun, dass ihr müßig herumstehen und lästern könnt?“ Die Duchess hob fragend die Brauen, als beide wild den Kopf schüttelten. „Offenbar haltet ihr euch für etwas Besseres als dieses Kind.“

„Nein, Euer Gnaden“, beteuerte das eine Mädchen kleinlaut. Das andere schüttelte erneut nur den Kopf, die Augen schreckgeweitet.

Abermals bedachte die Duchess die beiden mit einem langen kühlen Blick. „Gut. Das dulde ich nämlich in diesem Haus nicht. Sarah Wood, hol eine Decke für meine Enkelin. Jane Carter, bring diese Tischdecken in die Waschküche.“

Die Dienstmädchen stammelten Entschuldigungen, wobei sie immer wieder knicksten, und flohen schließlich. Sarah Wood kehrte einige Minuten darauf mit einer Decke zurück, die sie behutsam um das schlafende Mädchen herum feststeckte. Ihre Gnaden entließ das Dienstmädchen mit einem stummen Nicken, nach wie vor erzürnt über das Getuschel.

Niemand verspottete oder beleidigte ihre Gäste, erst recht kein unschuldiges Kind, das nunmehr zur Familie gehörte. Ihre Gnaden betrachtete das engelsgleiche kleine Gesicht, das auf ihrem Arm ruhte, und spürte ihr Herz dahinschmelzen. Daadee. Sie war keine Großmutter, aber es fehlte nicht viel. Sie rückte sich bequemer zurecht, sorgsam darauf achtend, ihre schlafende Last nicht zu wecken.

Schließlich kam das Brautpaar zurückgehastet. Jessicas silberfarbenes Kleid war zerknittert, und die Rosen in ihrem Haar hatten sich halb gelöst, aber ihr Gesicht war vor Glück gerötet. Das Lächeln des Obersts erstarb, als er sah, wo Philippa lag.

„Oh, das arme kleine Ding“, rief Jessica leise.

„Es tut mir unsäglich leid, Ma’am“, sagte der Oberst und wollte seine Tochter hochheben. „Ich werde sie Euch abnehmen.“

„Wieso?“

Er wurde rot. „Ich hätte Asmat suchen und ihr auftragen sollen, sie ins Bett zu bringen.“

„Sie ist bei mir.“ Die Duchess hob eine Braue und schaute vom einen zum anderen. „Geht und amüsiert euch, meine Lieben. Nutzt euren Hochzeitstag. Sorgt euch nicht um sie – oder um mich.“

Jessica lächelte. Mit einer Hand fuhr sie Philippa federleicht über die dunklen Locken. „Danke, Mutter.“

„Zu gütig, Ma’am“, murmelte ihr Gemahl.

„Es ist mir eine Freude“, erwiderte die Duchess heiter. „Ich werde gut auf sie aufpassen, solange es nötig ist.“

1. Kapitel

1787

London

„Du hast was getan?“

William Montclair grinste über die fassungslose Miene seines jüngeren Bruders. „Dich dazu bewogen, deinen Blick von den Hauptbüchern zu lösen“, sagte er augenzwinkernd.

Die Hauptbücher waren ein ewiger Zankapfel zwischen ihnen. Jack grämte sich ihretwegen wie ein altes Weib und prüfte jede Spalte zweimal. Will hingegen zog es vor, seine Nase gar nicht erst in die Geschäftsbücher zu stecken, vor allem nicht jetzt, da sie solch schlechte Nachrichten bargen.

Jack schlug das Buch zu und sprang auf. „Verdammt, Will, hör auf, mich auf den Arm zu nehmen!“

„Ich nehme dich nicht auf den Arm.“ Er lehnte sich zurück, schwang eines seiner bestiefelten Beine auf eine Schreibtischecke und nahm sich eine Walnuss aus der Schale, die auf dem Schreibtisch stand. „Mir ist eine Stelle angeboten worden.“

Sein Bruder starrte ihn an. „Du hast eine verdammte Stelle! Diese hier!“

Will hob eine Schulter und knackte die Walnuss. „Aber die andere Stelle ist lukrativ. Das Gehalt ist gut, und ich werde einflussreiche Leute kennenlernen.“ Er nickte seinem Bruder vielsagend zu. „Du hast gedacht, ich würde mich bloß amüsieren, hm?“

Jack funkelte ihn aufgebracht an. „Das hast du.“

„Warst du nicht derjenige, der mir neulich beschieden hat, unsere Konten seien bedenklich leer?“ Will runzelte versonnen die Stirn, während er die Kerne aus der zerbrochenen Nussschale pulte. „Oder war das ein anderer Bruder von mir?“

Gereizt hob Jack eine Hand. „Selbstredend sind wir knapp bei Kasse, immerhin sind wir seit fast vier Monaten hier. Aber der beste Weg, die Schatullen zu füllen, besteht darin, dieses Unternehmen zu fördern, nicht darin, sich bei einem Engländer zu verdingen.“

„Der schnellste Weg, an Geld zu gelangen, besteht darin, jemanden zu finden, der es uns gibt“, konterte Will.

„Statt zu tun, was Vater uns aufgetragen hat?“

„Alles, was ich tun muss, ist, ein Anwesen zu verwalten“, entgegnete Will und steckte sich die Walnuss in den Mund.

Jack musterte ihn erstaunt. „Wie gut kann das bezahlt werden?“

„Besser, als du denkst“, antwortete Will und wich der Frage so aus. „Ich werde es nicht bis in alle Ewigkeit tun, nur bis wir uns eine bessere Basis hier geschaffen haben.“ Sein Bruder schüttelte den Kopf, vor sich hin murmelnd. Will spielte seinen Trumpf aus. „Außerdem dachte ich, du würdest dich freuen, mich aus dem Weg zu haben.“

Das längere Schweigen, das folgte, sagte Will, dass er ihn am Haken hatte. Jack war es, der den Scharfsinn für dieses Geschäft besaß, gepaart mit Leidenschaft und Tatkraft. Offiziell hatte Will die Leitung inne, doch in Wahrheit fand er keinen Gefallen daran.

In Boston war das anders gewesen. Dort hatte sein Vater ihn mit der Wartung der Schiffe betraut, und Will hatte die Aufgabe geliebt – er hatte jedes Schiff persönlich vom Vorder- bis zum Achtersteven überprüft, war in die Takelage gestiegen und hatte den Rumpf inspiziert. Er war einige Jahre bei einem Schiffsbauer in die Lehre gegangen, während Jack bei einem Kaufmann die Buchhaltung erlernt hatte. Beides war eine weise Wahl gewesen, denn in ihrem jeweiligen Gewerbe waren sie ganz in ihrem Element gewesen. Und danach hatte ihr Vater sie nach London entsandt, um eine Reederei zu gründen.

Theoretisch hätten sie ein ideales Gespann abgeben müssen, doch aus unerfindlichen Gründen war ihnen eine harmonische Zusammenarbeit nicht gelungen. Jack fand, dass er stets auf den langweiligen Aspekten sitzen blieb, obgleich er sich nichts daraus machte, sich auf Schiffsdecks herumzutreiben. Und Will hatte das Gefühl zu ersticken, wenn er den lieben langen Tag am Schreibtisch hockte.

Nach vier Monaten voller Reibereien und verletzter Gefühle hatte er einen Ausweg gefunden, der ihnen beiden dienen würde.

„Aber es ist nicht das, was Vater uns befohlen hat.“ Sein Bruder wirkte noch immer unschlüssig.

Will winkte ab. „Woher hätte Vater wissen sollen, wie es in London laufen würde? Wir organisieren uns lediglich neu. Du wirst dich um dieses Unternehmen kümmern, und ich werde uns bis auf Weiteres finanziell über Wasser halten.“

Jack trommelte mit den Fingern gegen seine Hüfte. Er stand kurz davor einzuknicken, verführt von der sirenengleich lockenden Aussicht darauf, hinsichtlich Montclair and Sons frei schalten und walten zu können. „Wie lange hast du vor, dieses Anwesen zu verwalten?“

Will schnitt eine Grimasse. „Wie lange brauchst du, um uns florieren zu lassen? Vermutlich nicht länger als ein paar Monate. Höchstens ein Jahr.“

„Ein Jahr!“

„Mach uns schneller reich, und ich kündige.“ Will lächelte breit.

Jack blickte finster drein. „Was, wenn ich Hilfe benötige? Vater hat uns beide hergeschickt, weil es ein großes Unterfangen ist, Will.“

„Such dir einen Angestellten. Der wird für weniger Geld arbeiten als ich.“

Sein Bruder schnaubte. „Und vermutlich auch besser.“

„Vermutlich“, pflichtete Will ihm bei, weil es seinen Zwecken diente. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, seine Fertigkeiten zu verteidigen.

Eine Weile starrte Jack aus dem Fenster hinab auf den Kai, der von Matrosen und Schauerleuten wimmelte, welche die vielen Schiffe im Hafen be- und entluden. In London blühte der Handel, und sie beide wussten, dass Montclair hier gute Erfolgsaussichten hatte. Der lange Krieg gegen England war vorüber, und der Groll, der hier und da noch schwelen mochte, ließ sich am besten mit reichlich Profit auf beiden Seiten beschwichtigen.

„Das gefällt mir nicht“, murmelte Jack schließlich.

„Was genau?“, wollte Will wissen. „Plötzlich über ein regelmäßiges Einkommen zu verfügen? Nicht länger wegen jeder Ausgabe zu streiten?“ Er schnippte mit den Fingern. „Gewiss der Verlust meiner ständigen Gesellschaft und die grauenvolle Aussicht darauf, unsere Behausung ganz für dich allein zu haben.“

Jack sah ihn finster an. Seit sie Boston verlassen hatten, hockten sie aufeinander, zuerst an Bord des Schiffs und nun in dem beengten Quartier, das sie sich in Wapping teilten. „Weshalb willst du das unbedingt tun?“

Nun war es an Will, den Blick abzuwenden. Er nahm sich eine weitere Walnuss aus der Schale. „Mir ist nach einem Tapetenwechsel.“

„Ist es so furchtbar, mit mir zusammenzuarbeiten?“, fragte sein Bruder mit leiser, gepresster Stimme.

„Nein!“ Will fuhr hoch und verzog das Gesicht ob Jacks beklommener Miene. „Das ist es nicht. Sondern ... dies.“ Mit einer Hand wies er auf das winzige Büro. „Es gefällt mir nicht, eingesperrt zu sein. Tag für Tag hier zu sitzen, über Geschäftsbüchern zu brüten und jeden Penny zweimal umzudrehen, all das treibt mich noch dem Alkohol in die Arme. Ich möchte etwas tun.

Langsam kehrte Jack zu seinem Stuhl zurück. „Was wirst du Vater erzählen?“

„Ich sehe keinen Grund, ihm überhaupt davon zu erzählen. Es geht auf den Winter zu, und ich werde mich erst im Frühjahr auf dem Anwesen niederlassen müssen.“

„Also wirst du vorerst hierbleiben?“

Will nickte. „Aber ich werde in der Lage sein, uns eine bessere Wohnung zu besorgen. Und bei Bedarf für Montclair zu arbeiten.“

Jack sah ihn flüchtig an. „Doch die Kontrolle würdest du an mich abtreten?“

Bei den Worten durchrieselte Will ein seltsames Gefühl. Er war immer der Rädelsführer, der Initiator gewesen, der bei allem das Sagen gehabt hatte, ob in Kindertagen beim Einschmuggeln eines Welpen ins Haus oder heute beim Gründen einer Niederlassung des Familienunternehmens in London. Er war nur ein knappes Jahr älter als Jack, aber die Hierarchie war nie infrage gestellt worden. Wie würde es sein, Anweisungen von Jack entgegenzunehmen, statt selbst welche zu erteilen?

„Ja“, antwortete er und rang seine Bedenken nieder.

Sein Bruder seufzte schwer. „Ich kann dich nicht aufhalten, oder? Also kann ich ebenso gut mitspielen.“

„Ganz recht“, bekräftigte Will.

„Sollte es nicht funktionieren, werde ich es Vater erzählen“, warnte Jack.

Will verzog das Gesicht. „Damit er den Ozean überquert und uns beiden das Fell gerbt? Wenn wir beide tun, was wir zu tun haben, wird alles reibungslos laufen. Er wird es gar nicht erfahren müssen.“

„Du willst nicht, dass ich es ihm verrate.“ Jack verengte die Augen, erneut misstrauisch. „Will, was hast du vor?“

Will griff nach seinem Hut, der an der Stuhllehne hing. „Genau das, was ich dir gesagt habe. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass es gelingt, verstehst du? Was, wenn mir die Landwirtschaft nicht liegt und ich entlassen werde?“ Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Also genieße die Aussicht nicht allzu überschwänglich. Mir wäre wohler, wenn du es nicht in die Welt hinausposauntest. Sollte man mich tatsächlich feuern, werde ich mit eingeklemmtem Schwanz und angemessen gedemütigt zurückkommen.“

Jack lachte auf. „Gedemütigt! Du?“

Will drohte ihm mit dem Finger. „Doch wenn mir Erfolg beschieden sein sollte ...“ Er setzte sich den Hut auf den Kopf. „Dann wird Montclair schuldenfrei sein, und ich werde zurückkehren, hoffentlich mit einer Vielzahl neuer Kontakte. So lautete Vaters Auftrag, nicht wahr?“

„Nun ... Ja ...“

Grinsend breitete Will die Arme aus und wartete.

Nach einem Augenblick seufzte Jack abermals. „Also schön. Ich verrate es niemandem. Aber ich nehme dich beim Wort – nicht länger als ein Jahr.“

„Ich gelobe es bei meiner heiligen Ehre.“ Will verneigte sich schwungvoll. „Au revoir, mon frère.“

Jacks skeptischen Blick auf sich spürend, schloss Will die Tür hinter sich und lief polternd die Treppe hinunter.

Das Büro, das sie gemietet hatten, lag in Rufweite des Hafenanlegers, in einer der vielen kleinen Straßen, die das Hafenviertel wie ein Labyrinth durchzogen. Forsch schritt Will die gewundene Gasse entlang, wobei er den zerlumpten Bengeln auswich, die ihn zu bestehlen trachteten, und über den Rinnstein sprang, der das Kopfsteinpflaster furchte. Zu seiner Linken ragten Schiffsmasten wie ein Wald aus kahlen Bäumen über den Dächern auf, darunter die Masten der Mary Catherine, auf der er und Jack den Atlantik überquert hatten. Hinter ihm schimmerte die golden glänzende Kuppel der St. Paul’s Cathedral, und während er die Bridge Street überquerte, dräute im Norden düster das Fleet-Gefängnis. Man hatte sie gewarnt vor dem Fleet, in dem Schuldner landeten. Im Süden lag der Fluss, auf dessen silbriger Oberfläche sich gleißend das Sonnenlicht brach. Auf dem Wasser herrschten Betriebsamkeit und reger Handelsverkehr.

London gefiel ihm besser, als er erwartet hatte. Er hatte gehört, es sei eine schmutzige, überlaufene Stadt, in der Elend und Verbrechen bis an die eleganten Domizile der Dukes und Prinzen schwappten. Das war nicht ganz falsch; die Hafengegend war verdreckt, beherbergte zu viele Menschen und war nicht immer ungefährlich. Doch Will hatte seine freie Zeit damit verbracht, durch die Stadt zu streifen, und fand sie beeindruckend. So pulsierend Boston auch sein mochte, es war nichts verglichen mit London, wo die Straßen allabendlich von Laternenanzündern erleuchtet wurden und wo bis tief in die Nacht das Rattern von Kutschenrädern auf Kopfsteinpflaster zu vernehmen war. Es gab Konzerte und Theater und Lustgärten und Museen, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Er und Jack hatten ihre zwei Shilling entrichtet, um die Waffenkammer und die Menagerie des Tower zu besichtigen, und beide waren sie auch vom siebenhundert Jahre alten Tower selbst überwältigt gewesen.

Er ging die Fleet Street entlang und bog erst in die Chancery Lane und schließlich in einen kleinen Hof ein. Die Häuser hier waren mindestens so alt wie die in Hafennähe, doch ihre Mauern bargen Geld und Macht. Ihnen haftete weder der Staub der Seilereien noch der Gestank des Fischmarkts an.

Er trat durch eine Tür und nickte dem Sekretär zu. „Ich würde gern mit Mr. Edwards sprechen. Er erwartet mich.“

„Jawohl, Sir.“ Der Sekretär nahm seine Karte entgegen und verschwand durch eine Tür. Will war zu rastlos, um sich zu setzen. Er hängte seinen Hut an einen Haken hinter der Tür und schritt auf und ab. Der Raum war hochwertig ausgestattet mit Holztäfelung, zwei eleganten Stühlen vor dem Kamin und dem hohen Pult des Sekretärs am Fenster. Damit war er um einiges prachtvoller als das schäbige Büro, mit dem er und Jack aufwarten konnten.

Ja, was hatte er vor? fragte er sich zum zehnten Mal. Trotz der Zuversicht, die er seinem Bruder gegenüber an den Tag gelegt hatte, war er sich nicht ganz sicher.

Er war überhaupt nur aus einer Laune heraus hier gelandet. Er war über den nahe gelegenen Platz geschlendert und hatte sich die Häuser und Bürogebäude angeschaut, als er buchstäblich in Roger Edwards hineingelaufen war. Nach mehrmaligem Entschuldigen hatte der Anwalt sich nach seinem Akzent erkundigt. Wills Bericht über Amerika hatte ihn gefesselt. Ehe Will gewusst hatte, wie ihm geschah, hatten sie mehrere Runden im Lincoln’s Inn hinter sich gehabt, und anschließend hatte Edwards ihn in ein nahes Kaffeehaus eingeladen. Dort hatten sie eine weitere Stunde lang gesessen und geredet, zuerst über Wills Unternehmen und schließlich über Mr. Edwards’ Tätigkeit.

Edwards war der Anwalt einer alten Adelsfamilie und weilte in London, um nach einem neuen Verwalter zu suchen, da der ehemalige aufgrund seines hohen Alters und seiner schlechten Gesundheit gezwungen gewesen war, in den Ruhestand zu gehen. Edwards sprach recht freimütig, ja gar liebevoll von Anwesen und Familie, als gehörten beide ihm. Nach mehreren Tassen Kaffee war Will fasziniert von dem ländlichen Idyll gewesen, welches der Advokat gezeichnet hatte, und als der Mann sich seufzend darüber beklagt hatte, wie schwer es sei, einen geeigneten Verwalter zu finden, waren Will die Worte einfach so entschlüpft.

Klingt nach etwas, das ich tun könnte.

Nach wie vor konnte er nicht fassen, dass er das gesagt hatte. Noch unglaublicher war, dass Edwards ihn einen Moment lang gemustert hatte, um anschließend zu nicken und ihn zu fragen: „Also würdet Ihr die Stelle gern annehmen?“

Und aus unerfindlichen Gründen hatte Will entgegnet: „Ich denke schon.“

Die Tür hinter ihm wurde geöffnet. „Hier entlang, Mr. Montclair.“ Der Sekretär führte ihn über einen kurzen Korridor zu einem größeren, noch eleganter eingerichteten Zimmer.

Der Anwalt stand hinter seinem Schreibtisch. Er war ein großer, hagerer Mann Ende fünfzig mit schütter werdendem braunem Haar, ganz in Schwarz gekleidet und mit einer Drahtbrille auf der Nase. Bei Wills Eintreten verbeugte er sich höflich. „Mr. Montclair.“

„Mr. Edwards.“ Will verbarg sein wachsendes Unbehagen, indem er sich ebenfalls formvollendet verneigte. „Da bin ich, wie versprochen.“

Der Anwalt lächelte verhalten. „Das freut mich ungemein. Bitte, nehmt Platz.“

Will ließ sich auf den Stuhl sinken. In den Regalen hinter dem Anwalt drängten sich hohe Kladden und dicke juristische Schwarten. Will führte die Bücher für Montclair and Sons allenfalls widerwillig. Herr im Himmel, würde er in einem solchen Büro sitzen müssen, umgeben von Wälzern wie diesen? Was hatte er sich bloß dabei gedacht, diese Idee in Betracht zu ziehen?

„Habt Ihr eine Antwort für mich?“ Mr. Edwards ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Das Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster neben ihm hereinfiel, spiegelte sich in seiner Brille, sodass seine Augen nicht zu erkennen waren. Seine Miene gab nichts preis.

Will hämmerte das Herz gegen den Brustkorb. Noch konnte er ablehnen und gehen, zu Jack zurückkehren und ihm erklären, dass er es sich anders überlegt habe.

„Ich hätte da einige Fragen.“ Seine Hände waren feucht, und er presste sie gegen seine Oberschenkel, ehe er seine Knie umklammerte. „Was meine Unterbringung auf dem Anwesen betrifft ...“

Edwards nickte. „Natürlich. Dem Verwalter wird ein kleines Landhaus zur Verfügung gestellt. Es ist nicht groß, eignet sich jedoch perfekt für einen alleinstehenden Mann.“ Er verstummte und lächelte erstaunt. „Allerdings habe ich Euch nie danach gefragt, richtig? Ob Ihr Frau und Kinder habt.“

Will schüttelte den Kopf. „Habe ich nicht.“

„Somit dürfte es Euren Ansprüchen vollauf genügen. Zudem gibt es einen Gig, der dem Verwalter vorbehalten ist, sowie die zugehörigen Pferde aus den Stallungen seiner Gnaden. Und ein Kontingent der Gutserträge. Ich nehme an, Ihr verfügt nicht über eigenes Personal?“ Als Will knapp den Kopf schüttelte, fuhr Edwards fort. „Ich bin sicher, dass Ihr die Dienstboten, die Ihr benötigen werdet, auf der Burg oder in der nahe gelegenen Stadt anwerben könnt, was insofern vorteilhaft ist, als diese mit der Gemeinde vertraut sind.“

Will räusperte sich. „Das alles klingt akzeptabel.“ Es klang überaus großzügig, um genau zu sein. „Aber Ihr habt angedeutet, der Verwalter werde zunächst in London bleiben müssen. Warum das?“

Wieder lächelte Edwards. „Ich verwalte das Anwesen der Carlyles seit nunmehr fast zwei Jahren, seit der ehemalige Verwalter erkrankt ist. Leider habe ich meine ganz eigenen Methoden und Präferenzen entwickelt und wünsche, dass sie fortgeführt werden. Nach einigen Monaten der Einweisung dürftet Ihr bereit sein, alles selbst zu verwalten.“

Will rieb mit einem Finger über eine abgewetzte Stelle seitlich an seinem Stiefel. Bedurfte er wirklich einer monatelangen Einweisung? „Wäre es nicht besser, gleich vor Ort anzufangen?“

Der Anwalt betrachtete ihn einen ausgedehnten Moment lang. Will wünschte, die Sonne würde sich rascher bewegen, damit er die Augen des Mannes sähe. „Bedaure. Ich komme nicht umhin, den Gutteil des Winters in London zu verbringen. Daher ist es günstiger für mich, Euch hier zu haben.“

Daran führte also kein Weg vorbei. Will ließ das Thema ruhen. „Ich nehme an, der Winter dient als eine Art Probezeit, damit Ihr herausfindet, ob Ihr zufrieden mit mir seid.“

Mr. Edwards senkte das Kinn, sodass sich das Licht nicht länger blendend in seinen Brillengläsern brach und Will seine dunklen Augen erkennen konnte, eindringlich und abwägend. „Solltet Ihr Eure Meinung geändert haben, Sir ...“

„Nein.“ Er räusperte sich und setzte sich aufrechter hin. „Aber ich möchte ungern in wenigen Wochen wieder auf der Straße sitzen. Es dauert, ein neues Metier zu erlernen, und ich hätte gern einige Garantien.“

„Ah.“ Abermals huschte ein verhaltenes Lächeln über das Gesicht des Anwalts. „Sollen wir einen Vertrag über ein sechsmonatiges Beschäftigungsverhältnis schließen? Falls Ihr die Stellung früher aufzugeben wünscht, werde ich Euch keine Steine in den Weg legen.“

„Nein“, wandte Will ein, noch ehe der Mann ausgeredet hatte. „Keine Sorge. Sechs Monate, so soll es sein.“

Er ging, nachdem Mr. Edwards zugesichert hatte, einen Vertrag über Gehalt und Konditionen aufzusetzen. Nachdem Will sich Jack gegenüber damit gebrüstet hatte, einige Monate lang für Solvenz zu sorgen, wollte er gewährleisten, dass er das auch konnte. Bis zum Frühjahr sollte es Jack gelingen, pünktlich zur Hauptsaison der Schifffahrt ein paar Aufträge an Land zu ziehen und in London Fuß zu fassen. Bis dahin würde Will voraussichtlich genug davon haben, ein herzogliches Anwesen zu verwalten, und wieder zur See fahren wollen.

Und falls nicht ... Nun, seine Neugier zumindest hätte er gestillt.

Und das würde reichen.

2. Kapitel

1788

Carlyle Castle

„Der neue Verwalter ist endlich eingetroffen“, berichtete die Haushälterin Mrs. Potter, während sie in ihrer privaten Speisekammer Kräuter und Salben durchsuchte.

Philippa Kirkpatrick lächelte. Die Sage vom neuen Verwalter für Carlyle Castle hatte melodramatische Züge angenommen. Der frühere Verwalter war vor zwei Jahren krankheitsbedingt aus dem Dienst ausgeschieden. Mr. Edwards, der Anwalt der Carlyles, hatte sich dringend Unterstützung bei der Verwaltung des Anwesens erbeten und ihrer Gnaden monatelang zugesetzt, ehe diese im vergangenen Sommer widerstrebend zugestimmt hatte, jemanden einzustellen. Der Anwalt hatte keine Zeit verloren und gleich auf seiner nächsten London-Reise einen gewissen Mr. Montclair unter Vertrag genommen. Den gesamten Winter über hatte der Mann unter Mr. Edwards’ Führung in London gearbeitet, um ab dem Frühjahr auf der Burg das Kommando zu übernehmen.

Und nun war er hier. Neuankömmlinge waren auf Carlyle so selten, dass Mr. Montclairs anstehende Ankunft von den Burgbewohnern seit Wochen gespannt erwartet worden war – offenbar auch von der Haushälterin.

„Ach? Welchen Eindruck habt Ihr von dem Mann?“, fragte Philippa sie.

„Meiner Vorstellung entspricht er nicht“, antwortete die Frau steif. Sie nahm getrockneten Lavendel und Bittersalz und machte sich daran, beides im Mörser zu zerstoßen. Der Duke of Carlyle hatte sich erkältet, und der Arzt hatte heiße Bäder empfohlen. Die Dienstboten füllten gerade die Wanne. „Ich frage mich, was ihre Gnaden von ihm halten wird.“

Philippa drehte sich erstaunt um. „Was soll das heißen? Inwiefern ist er nicht wie erwartet?“

Mrs. Potter schüttelte knapp den Kopf. „Dazu möchte ich mich lieber nicht äußern, Miss Kirkpatrick. Das müsst Ihr selbst entscheiden.“

Das sagte Mrs. Potter gern. Entscheidet selbst, drängte sie, wobei Ton und Gebaren keinen Zweifel daran ließen, auf welche Schlussfolgerung sie spekulierte. Die Duchess meinte, Mrs. Potter suche schlicht ihren eigenen Eindruck zu bestätigen, aber die Duchess war zugleich die Einzige, die der Haushälterin zu widersprechen wagte.

„Natürlich, das werde ich“, erwiderte Philippa. „Ist er bereits ihrer Gnaden vorgestellt worden?“

Mrs. Potter schnaubte. „Nur sofern Mr. Edwards ein Narr ist, und das ist er nicht.“

Philippa legte ihre Schürze ab. Ihre Neugier war geweckt. „Nein, das ist er sicherlich nicht. Bitte lasst die Mixtur sogleich ins Zimmer seiner Gnaden bringen, wenn sie fertig ist.“ Sie ging hinaus und begab sich auf die Suche nach dem Anwalt.

Philippa war längst die inoffizielle Hausherrin. Sie besprach mit Mrs. Potter den Speiseplan und bestimmte über die Küche. Sie bewilligte den Haushaltsetat und überwachte nach einem schweren Wasserschaden die Renovierung von Musik- und Speisezimmer. Sie beaufsichtigte die Gärtner und vergaß nicht, die Gemälde turnusmäßig umhängen zu lassen, damit nicht immer dieselben dem Sonnenlicht ausgesetzt waren. Sie besaß die Schlüssel für die Silber- und Teetruhen. Nur als Gastgeberin fungierte sie nicht, da es auf der Burg kaum je Gäste gab.

Es war eine ungewöhnliche Position für sie, doch sie liebte sie. Carlyle Castle war das einzige Heim, an das sie sich erinnern konnte, und außer der Familie St. James hatte sie keine Verwandten mehr. Der Duke, sanftmütig und gebrechlich, war ihr wie ein gütiger Onkel. Die Duchess hatte sie von Anfang an wie eine geliebte Enkeltochter behandelt. Philippa erwiderte diese Liebe und Hingabe in gleichem Maße und vermutete, dass niemand die Duchess besser verstand als sie.

Und sie wusste, dass diese dem neuen Verwalter schon jetzt Argwohn entgegenbrachte.

Mr. Edwards hatte Lobeshymnen auf ihn gesungen, seit er ihn im Vorjahr eingestellt hatte, und die Aussicht darauf, ihn endlich im hiesigen Verwalterhaus namens Stone Cottage unterzubringen, stimmte ihn fast euphorisch. Je begeisterter seine Berichte ausfielen, desto überzeugter war indes ihre Gnaden davon, dass Mr. Edwards irgendetwas Grässliches an dem Mann zu kaschieren trachtete. „Ich habe nie zuvor erlebt, dass Mr. Edwards irgendwen dermaßen über den grünen Klee lobt“, klagte sie Philippa gegenüber. „Man kann nur mutmaßen, welche Makel er zu vertuschen sucht!“

Wie üblich, machte die Duchess, was ihre Befürchtungen anging, aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Philippa war zu Ohren gekommen, dass bereits darauf gewettet wurde, wie lange sich der Verwalter halten würde. Die Duchess rechnete also damit, ihn auf der Stelle entlassen zu müssen, derweil alle von den Wäschemägden bis hin zum Butler darauf brannten, ihn endlich kennenzulernen. Somit war nicht auszuschließen, dass der arme Mann sogleich wieder die Flucht ergreifen würde, ganz gleich, wie inbrünstig Mr. Edwards ihn willkommen hieß.

Wie mochte dieser Montclair wohl sein? Philippa bezweifelte sehr, dass Mr. Edwards nachlässig gewählt hatte. Schließlich hatte er quasi mit Engelszungen reden müssen, um überhaupt die Erlaubnis zu erhalten, einen Verwalter einzustellen.

In der Galerie traf sie auf Emily Calvert. Miss Calvert war mit Lord Stephen verlobt gewesen, bevor dieser auf tragische Weise und viel zu früh zu Tode gekommen war. Da sich das Unglück bald jährte, hatte die Duchess die arme Frau für einige Tage auf die Burg eingeladen, damit sie sein Grab besuchen konnte.

Philippa mochte Miss Calvert. Noch immer trug sie Schwarz für Lord Stephen, und seit seinem Hinscheiden vor einem Jahr kümmerte sie sich um jene, denen das Leben übel mitgespielt hatte. Lord Stephen war Pfarrer der Gemeinde St. Mary’s gewesen, und Emily hätte die ideale Pfarrersfrau abgegeben. Sie war gutherzig, geduldig und einfühlsam, und nie war Philippa eine teilnahmsvollere Zuhörerin begegnet.

„Habt Ihr Mr. Edwards gesehen?“, fragte sie Philippa. „Ich habe gerade einen Brief von meiner Mutter erhalten. Ein Baum ist auf die Schule in Kittleston gestürzt und hat ein großes Loch ins Dach gerissen. Ich möchte niemanden behelligen“, fügte sie hastig an. „Es ist nur ... Vielleicht weiß er noch nicht, was im Dorf vorgefallen ist, aber seine Gnaden hat bislang stets großzügig Hilfe geleistet.“

„Natürlich“, versicherte Philippa ihr. „Er wird es erfahren wollen, und gewiss wird es seiner Gnaden ein Anliegen sein zu helfen. Er wird nicht vergessen haben, wie aufopfernd sich Lord Stephen um die dortigen Schüler bemüht hat.“

Jeder tat so, als träfe der Duke sämtliche Entscheidungen. In Wirklichkeit hatte die Duchess das letzte Wort. Sie würde sich daran erinnern, wie leidenschaftlich Lord Stephen den Kindern seine Lieblingsklassiker nahegebracht hatte. Wie er auf einen Stuhl gestiegen war und gen Zimmerdecke gebrüllt hatte wie ein umnachteter König Lear. Oder wie er, einen Umhang über dem Kopf, hinter einer Tür hervorgeschlichen war, um die Versuchung des Doktor Faustus zu verkörpern. Er war im Dorf Kittleston allseits beliebt gewesen, besonders bei den Kindern.

Emily schmolz vor Dankbarkeit schier dahin. „Das hoffe ich von Herzen. Seine Gnaden ist die Güte selbst, so wie Mr. Edwards.“

Philippa lächelte. „Ich bin ebenfalls auf der Suche nach ihm. Wenn ich ihn finde, werde ich ihm ausrichten, dass Ihr ihn zu sprechen wünscht.“

„Danke, Miss Kirkpatrick.“

Ein Lakai geleitete sie zum südlichen Rasen. Vor Jahrhunderten war dies die Vorburg gewesen, doch die Duchess hatte sie in einen ummauerten Garten verwandelt, in dessen Mitte sich ein sonniger Rasen erstreckte. Früher hatte Philippa hier mit ihrer Stiefmutter und anderen Kindern des Anwesens unter Sonnensegeln gepicknickt.

Sie beschattete ihre Augen mit einer Hand, ließ den Blick schweifen und entdeckte zwei Männer, die um die Glyzinien herum auf sie zukamen. Einer war Mr. Edwards, ernst und vertraut. Sein Brillengestell blitzte im Sonnenlicht. Der andere musste der neue Verwalter sein.

Und sein Anblick ließ Philippa innehalten.

Den Befürchtungen der Duchess zum Trotz, hatte der neue Verwalter kein übermäßig abschreckendes Bild in Philippas Fantasie heraufbeschworen. Ein großer, stämmiger Bursche, so hatte sie gemutmaßt, die Art Mann, die man unwillkürlich respektierte. Wahrscheinlich ein Brillenträger, weil er den ganzen Tag lang Geschäftsbücher wälzte. Eine braune Gewandung – vielleicht auch grau, aber von diesem Detail war Philippa fest überzeugt. Er mochte steif und scharfsichtig oder korpulent und onkelhaft sein, aber er würde sich trist und schlicht kleiden.

Dieser Mann sah aus wie ein Pirat. Das lange dunkle Haar, durch seinen Hut gebändigt, fiel ihm offen bis auf die Schultern. Er trug einen leuchtend blauen Gehrock mit weißem Besatz sowie die Stiefel eines Schiffskapitäns. Seine Weste aus sattgelbem Brokat wäre auch am französischen Hof keineswegs fehl am Platze gewesen. Er hatte gar – fast hätte sie gekeucht – einen goldenen Ring in einem Ohrläppchen.

Und er war jung, viel jünger, als sie erwartet hatte. Die Duchess hatte gemurrt, Mr. Edwards habe einen „verlotterten Jungspund“ eingestellt, aber für die Duchess bedeutete „jung“ vierzig, vielleicht fünfundvierzig. Dieser Mann hingegen konnte nicht älter als dreißig sein.

Mr. Edwards erblickte sie und hob eine Hand, was seinen Begleiter veranlasste aufzuschauen. Philippa stockte der Atem, als sie einen ungehinderten Blick auf sein Gesicht erhaschte. Schmale, sonnengebräunte Wangen, eine lange Nase, ein sinnlicher, bereits zu einem spitzbübischen Grinsen verzogener Mund und braune Augen, mit denen er sie ungeniert musterte.

Er war gut aussehend. Auf verwegene, diabolische, gefährliche Weise attraktiv.

Oh, die Duchess würde ihn nicht ausstehen können.

„Miss Kirkpatrick“, grüßte Mr. Edwards, während die beiden sich ihr näherten. „Erlaubt mir, Euch Mr. William Montclair vorzustellen, Carlyles neuen Verwalter. Montclair, dies ist Miss Kirkpatrick, eine enge Vertraute und Gefährtin ihrer Gnaden.“

Nervös knickste Philippa. „Es ist mir ein Vergnügen, Sir.“

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Miss Kirkpatrick“, murmelte er, zog den Hut und verneigte sich schwungvoll.

„Ich habe Mr. Montclair einen Teil des Grundstücks gezeigt“, fuhr Mr. Edwards fort. „Die Pläne des Anwesens kennt er natürlich längst, aber nichts geht über eine persönliche Besichtigung.“ Er wirkte höchst selbstzufrieden.

„Ah.“ Sie bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Anwalt zu richten, doch immer wieder sah sie ungewollt zurück zu Mr. Montclair. Starr ihn nicht an, ermahnte sie sich gestreng – etwas, das auch ihm anscheinend entfallen war, nach seinem unverhohlenen Blick zu urteilen. „Wie findet Ihr die Burg, Sir?“

Er kräuselte einen Mundwinkel, als hätte sie einen Scherz geäußert, den nur sie beide verstanden. „Prachtvoll, natürlich. Mr. Edwards’ Schilderungen werden ihr kaum gerecht.“ Seine Stimme war ein kräftiger, melodischer Tenor mit einem Anklang von französischem Akzent.

Er kleidete sich wie ein Pirat, sah aus wie ein Wüstling und klang wie ein Franzose. Die Duchess würde ihn ganz und gar nicht ausstehen können.

„Ihr werdet hinreichend Gelegenheit haben, Euch ein eigenes Bild zu machen“, erwiderte sie lächelnd und verdrängte den alarmierenden Gedanken.

„Darauf freue ich mich.“ Er zwinkerte ihr zu.

Zwinkerte.

Sie riss sich von seinem Anblick los und konzentrierte sich auf Mr. Edwards. „Miss Calvert würde sich gern mit Euch unterhalten.“

Er hob die Brauen. „Ach, ja?“

„Ja.“ Philippa spürte Mr. Montclairs Blick auf sich, und ihr wurden die Wangen heiß. Das bemüßigte sie weiterzureden, obwohl sie es bei dem einen Wort hätte belassen sollen. „Ich habe sie gerade in der Galerie getroffen, und sie hat Euch gesucht. Wegen einer dringlichen Angelegenheit.“

„Aha“, meinte Mr. Edwards erstaunt und wandte sich dem Mann an seiner Seite zu. „Montclair, würdet Ihr mich entschuldigen? Dem sollte ich nachgehen.“

Philippa errötete umso heftiger, als ihr bewusst wurde, dass sie Miss Calverts Anliegen wie einen Notfall dargestellt hatte. „Ich bin mir nicht sicher, wohin sie von der Galerie aus gegangen ist“, fuhr sie hastig fort. „Vielleicht in den Garten oder zur ...“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippe. Zur Gruft, hätte sie fast gesagt. Wo Lord Stephen beigesetzt war.

„Natürlich“, entgegnete der Anwalt nach kurzem Schweigen. Inzwischen wirkte er leicht verwirrt. „Ich werde an beiden Orten nachsehen.“ Er lächelte kurz, verbeugte sich und ging davon.

„Kein Liebchen, nehme ich an“, bemerkte Mr. Montclair in die Stille hinein.

„Liebchen?“, wiederholte sie überrascht.

Er bedachte sie mit einem versonnenen, vertraulichen Grinsen. „Für Edwards’ Verhältnisse war das ein geradezu heißblütiges Gebaren. Einen Moment lang habe ich insgeheim gedacht: Es muss sein Liebchen sein, das er unbedingt sehen will. Der Mann hat doch ein Herz.

Sie versteifte sich. „Selbstverständlich hat er ein Herz! Er ist ein gütiger und mitfühlender Mann, äußerst pflichtbewusst ...“

Er zuckte mit den Achseln. „Er ist Anwalt.“

Philippa sah ihn ungnädig an.

„Ist Miss Calvert die Haushälterin?“ Anscheinend gefeit gegen ihr Missfallen, hielt er mit ihr Schritt, als sie zurück zum Haus ging.

„Nein. Sie ist ein Gast.“ Sie schaute nicht auf. Sein bestürzend attraktives Äußeres stach, aus der Nähe betrachtet, umso stärker hervor, und in seinen Augen erkannte sie ein schalkhaftes Funkeln.

„Ein Gast!“ Er gab einen leisen Laut des Erstaunens von sich. „Mir wurde gesagt, die Burg sei nach außen hin praktisch abgeschottet.“

„Wer hat Euch das erzählt?“

„Edwards.“

„Unmöglich!“, entfuhr es ihr. „So etwas würde er niemals sagen ...“

„Nicht direkt“, räumte er ein, „aber verstanden habe ich es trotzdem.“

Ungeachtet dessen, was die Duchess von ihm halten würde, glaubte Philippa nicht, dass sie selbst Mr. Montclair ausstehen konnte. „Dann habt Ihr etwas falsch verstanden, Sir. Die Burg ist schlicht abgelegen. Seine Gnaden empfängt keine Besucher, und ihre Gnaden bevorzugt ein beschauliches Leben.“

„Und?“, fragte er.

Wieder runzelte Philippa die Stirn. „Und was?“

„Was ist mit Euch? Empfangt Ihr Besucher? Oder lebt Ihr ebenfalls lieber zurückgezogen?“

Sie hielt inne, und der finstere Blick, mit dem sie ihn bedachte, hätte die Duchess mit Stolz erfüllt. „Was tangiert das Euch?“

Arglos lächelte er sie an. „Ich frage aus reiner Neugier. Der Duke und die Duchess sind nicht die einzigen Menschen, die hier leben. Ich trage die Verantwortung für das Anwesen, wie Ihr wisst, und dazu zählt auch die Instandhaltung der dazugehörigen Straßen und Gebäude. Wie stark werden diese beansprucht?“

Einen Augenblick lang konnte sie ihn nur anstarren. Diese Impertinenz.

Unkenntnis, entschied sie, war die einzige Erklärung – hochgradige Unwissenheit, die kein gutes Zeichen war. Er war kein Engländer und wusste nicht, wie die Dinge hier gehandhabt wurden. Er war gerade erst auf der Burg eingetroffen, über die er erst recht nichts wusste, und steckte seine Nase bereits in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Sie schüttelte nur den Kopf, dachte, dass er sich tatsächlich nicht lange halten werde, und ging weiter.

Er blieb an ihrer Seite. „War das ungebührlich?“

Sie schwieg.

Erneut ließ er sein Piratenlächeln aufblitzen. „Ich bitte vielmals um Vergebung, Miss Kirkpatrick. Ich wollte Euch nicht brüskieren. Ich war lediglich überrascht.“

„Was hat Euch überrascht?“, konnte sie sich nicht verkn‍eifen zu fragen.

„Nun ... Ihr.“

Erschrocken blieb sie stehen und starrte ihn abermals an, die Augen weit aufgerissen. „Ich, Mr. Montclair? Was um alles in der Welt findet Ihr an mir überraschend?“

Wieder diese bescheidene Unschuldsmiene, von der Philippa sich längst nicht mehr blenden ließ. „Mr. Edwards hat mir nur erzählt, dass Miss Kirkpatrick die Gesellschafterin der Duchess sei.“

Sie versteifte sich. „Und Ihr habt mich für mangelhaft befunden.“

Er hob beide Hände. „Ganz und gar nicht! Ihr seid ... nur nicht wie erwartet.“

Ah. „Natürlich. Wahrscheinlich habt Ihr eine ältere, reifere und würdevollere Person erwartet.“

Schon während sie sprach, nickte er leicht, um schließlich ebenso breit wie erleichtert zu lächeln. „Ganz recht.“

„Das verstehe ich“, erwiderte sie. „Ebendiese Erwartungen habe ich bezüglich des neuen Verwalters gehegt.“ Er sah sie verständnislos an, und sie lächelte triumphierend. „In der Tat irritierend. Willkommen auf Carlyle, Mr. Montclair.“ Sie deutete einen Knicks an, schritt davon und ließ ihn allein im Garten zurück.

3. Kapitel

Mr. Edwards stieß am anderen Ende des Gartens wieder zu Will. „Bitte entschuldigt, Sir“, sagte er, während er über den einstigen Hof der Vorburg auf ihn zugeeilt kam.

Will lächelte höflich. Edwards tat recht daran, sich dafür zu entschuldigen, dass er ihn Miss Kirkpatrick ausgeliefert hatte. Es war lange her, dass ihn jemand so vornehm wie gnadenlos in seine Schranken gewiesen hatte – und noch länger, dass ihm dies durch eine solch schöne Frau widerfahren war.

Oh, sie konnte ihn nicht ausstehen.

„Miss Kirkpatrick hat mir Gesellschaft geleistet“, entgegnete er.

Sonnenlicht spiegelte sich gleißend in Edwards’ Brille, als er sich der Burg zuwandte. Die betreffende Frau war längst fort.

„Ihr hättet mich vorwarnen können“, fügte Will an. „Ich fürchte, ich habe nicht den besten Eindruck auf sie gemacht.“

„Wieso das, Mr. Montclair?“ Edwards verschränkte die Hände im Rücken und wirkte ganz wie ein Lehrer, erpicht darauf, von ihm die Deutung einer Cicero-Passage zu vernehmen.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Gesellschafterin der Duchess so jung ist.“ Er lächelte schuldbewusst. „Ich habe mein Erstaunen darob nicht hinreichend verbergen können.“

Einen Moment lang sah Edwards ihn nur an. „Tja, nun.“ Er hüstelte und räusperte sich. „Miss Kirkpatrick ist nicht einfach nur die Gesellschafterin der Duchess. Als sie noch klein war, hat ihr Vater Lady Jessica geheiratet, die einzige Schwester des Dukes. Miss Kirkpatrick ist hier auf der Burg aufgewachsen und liegt sowohl dem Duke als auch der Duchess sehr am Herzen.“

Will hörte die unmissverständliche Botschaft heraus. Miss Kirkpatrick gehörte zur Familie, und Will täte gut daran, sie dementsprechend zu behandeln, falls er zu bleiben wünschte.

Was er tat. Doch nach wie vor nagte die Neugier an ihm, und besser, er stillte sie gleich, solange man es ihm noch nachsah.

„Sie hat ihre Eltern verlassen, um hierzubleiben? Das zeugt von einer ungewöhnlich tiefen Zuneigung. Die Duchess muss auch ihr sehr am Herzen liegen.“

Mr. Edwards blieb abermals stehen. „Ja. Lady Jessica ist vor acht Jahren verblichen. Oberst Kirkpatrick kam ein Jahr darauf in Indien ums Leben.“

„Grundgütiger“, erwiderte er bestürzt. „Wie furchtbar.“

Edwards beobachtete ihn. „Ja. Sie und ihre Gnaden waren einander in jenen bitteren, bitteren Jahren ein großer Trost und sind es immer noch.“

Betroffen nickte Will. „Gehört Miss Calvert ebenfalls zur Familie?“

Nun wandte sich Edwards ab. „Sie war mit Lord Stephen verlobt, als dieser starb. Somit steht sie der Familie naturgemäß nahe, und man könnte sie fast als eine Anverwandte betrachten.“

„Natürlich“, murmelte Will, vollauf ernüchtert. So viel Tod.

Edwards schritt rascher aus. Sie gingen durch ein Tor und folgten einer gewundenen Straße. „Dort geht es zu den Stallungen.“ Der Anwalt wies auf einen Weg, der nach rechts abzweigte. „Früher befanden sie sich im Innern der Burgmauern, doch der dritte Duke hat sie verlegen und erweitern lassen. Er hat ein beachtliches Gestüt aufgebaut.“

„Es gibt ein Gestüt?“ Das verwunderte Will. Monatelang hatte er die Carlyle-Geschäftsbücher sowie die Grundstückspläne studiert, aber über eine Pferdezucht hatte er nichts gefunden.

„Nein.“ Edwards seufzte. „Es ist vor über zwanzig Jahren verkauft worden. Doch die Stallungen existieren noch. Ich werde Euch das Gig nach Stone Cottage bringen lassen, damit es Euch zur Verfügung steht.“

Will ließ den Blick auf dem Lüftungstürmchen des Stalldachs ruhen, das hinter der Anhöhe zu sehen war. Offenbar waren weite Teile des Anwesens im Laufe der letzten zwanzig Jahre veräußert oder verkleinert worden. Er hatte die Geschäftsvorgänge gesehen, wusste jedoch nicht, was es damit auf sich hatte. Er hätte gedacht, dass Engländer dafür lebten, ihren Besitz zu mehren, statt ihn zu mindern.

Stone Cottage lag fast eine Meile entfernt. Verglichen mit der Burg war das Haus winzig, aber für Wills Belange gerade richtig. Breit und gedrungen und aus honigfarbenem Stein erbaut, fügte es sich harmonisch in die Landschaft ein. Zwei spitze Giebel ragten zu beiden Seiten der Haustür auf, ein jeder mit drei Fenstern im ersten Stockwerk. Vor dem Haus erstreckte sich ein großzügiger Garten, in dem es bereits üppig wucherte.

„Mrs. Grimes, die Frau des ehemaligen Verwalters, hat diesen Garten geliebt“, erklärte Edwards, während er die Pforte in der Steinmauer öffnete. „Ich habe ihr versprochen, ein gutes Wort für seine Pflege einzulegen.“

Will betrachtete bekümmert die Pflanzen, die zwar den Eindruck von Wildnis vermittelten, jedoch ordentlich gestutzt und kultiviert waren. „Ich habe keine Ahnung von Gartenarbeit.“

Edwards lächelte flüchtig. „Vielleicht wird Miss Kirkpatrick sich auch fürderhin des Gartens annehmen. Sie hat ihn gepflegt, seit die Grimes’ fortgegangen sind.“

Der Name ließ Will aufhorchen. „Bitte versichert ihr, sie möge damit fortfahren, solange es ihr beliebt. Ich wäre ihr ungemein dankbar und gelobe feierlich, ihr nicht ins Gehege zu kommen und keiner Pflanze auch nur ein Blättchen zu krümmen.“

Abermals zeigte Edwards dieses merkwürdige verhaltene Lächeln. „Das könnt Ihr ihr selbst ausrichten, morgen beim Tee.“

„Tee?“

„Ja. Ihre Gnaden wünscht Euch zu sehen. Um ein Uhr.“

Will hatte erwartet, seiner Herrschaft früher oder später gegenüberzutreten, stellte nun allerdings fest, dass er eher später als früher damit gerechnet hatte. Was töricht war, denn immerhin stand er seit über sechs Monaten in den Diensten des Dukes. „Ich werde da sein“, versprach er in zuversichtlichem Ton, um seine plötzlichen Bedenken zu überspielen.

Edwards blieb stehen, eine Hand an der massiven Holztür. „Seid pünktlich und untadelig“, sagte er leise und ernst. „Solltet Ihr keinen guten Eindruck auf sie machen ...“

„Soll ich meinen Koffer besser noch nicht auspacken, nur für den Fall?“, scherzte Will.

Edwards presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen.

Wills Grinsen erstarb. „Jawohl, Sir.“

Der Anwalt zögerte. „Ich bin mit Euren bisherigen Fortschritten äußerst zufrieden“, bekannte er, und es war ihm anzuhören, dass er jedes Wort mit Bedacht wählte. „Ihre Gnaden weiß das, und sie schätzt mein Urteilsvermögen. Sie ist eine scharfsinnige, intelligente Frau. Allerdings wäre ihr ein älterer, erfahrenerer Verwalter lieber gewesen, und solltet Ihr unbesonnen und unzuverlässig auf sie wirken ...“

„In Ordnung.“ Will nickte. „Ich verstehe.“

„Sie wird Euch auf Herz und Nieren prüfen“, setzte Edwards beschwörend hinzu und fuhr nach einer nachdenklichen Pause fort: „Bereitet Euch vor, als würdet Ihr den Vater Eurer Herzensdame treffen, den Ihr mit allen Mitteln davon überzeugen wollt, seine Einwilligung zur Hochzeit zu geben.“

Will sah ihn schief an. So ernst stand es? „Verstehe.“

Einen Moment lang musterte Edwards ihn, ehe er seufzte. „Das hoffe ich.“

Mit dieser ermutigenden Bemerkung öffnete er die Tür und trat ein.

Will folgte. Ihm war banger zumute als an jenem Tag vergangenen Sommer, da er die Stelle angenommen hatte.

Das Häuschen war schlicht, sauber und hell. Der Flur verlief von der Vorder- bis zur Rückseite, wo es von der Küche aus direkt in den Küchengarten ging. Linker Hand befand sich die Wohnstube, rechter Hand das Esszimmer. Hinter der Wohnstube lag ein behagliches Arbeitszimmer, eine Wand von Bücherregalen und Schränken gesäumt. Edwards überreichte ihm einen Schlüsselbund für Schreibtisch und Schränke. Oben fanden sich drei Schlafkammern, eine große und zwei kleinere; nur das große Zimmer war möbliert. Alle Fenster waren geöffnet worden, und Seifenduft hing in der Luft.

„Das wäre alles“, sagte Edwards, nachdem sie ihren kleinen Rundgang beendet hatten. „Nun da Ihr vor Ort seid, werde ich Euch die Geschäftsbücher sowie die übrigen Unterlagen herbringen lassen. Mrs. Blake und ihre Nichte Camilla werden Euch aufwarten, bis Ihr eigenes Personal eingestellt habt.“

Will nickte. Die Frauen waren noch dabei, die Küche zu putzen, und beide hatten geknickst und ihn überrascht angesehen. Vermutlich hatten auch sie jemand Älteren erwartet. Allmählich zeichnete sich ab, dass er sich ordentlich ins Zeug würde legen müssen, um das Vertrauen der Bewohner von Carlyle zu gewinnen. „Vielen Dank, Mr. Edwards. Morgen früh werde ich ausreiten und das Anwesen erkunden.“

Das freute den Anwalt offenkundig.

Autor

Caroline Linden
Caroline Linden studierte Mathematik in Harvard und arbeitete als Programmiererin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und gewannen zahlreiche Preise, unter anderem den Daphne-du-Maurier- und den renommierten RITA-Award. Die Autorin lebt in Neuengland.
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