Und plötzlich Prinzessin?

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Um ihr Erbe antreten zu können, muss Matilda innerhalb eines Jahres vor den Altar treten. Absolut unmöglich! Sie ist längst verheiratet! Allerdings hat sie ihre geheimnisvolle Urlaubsliebe Henri nicht mehr gesehen, seit sie in der Nacht ihrer Blitzhochzeit überstürzt nach Hause reisen musste. Sofort macht sie sich auf die Suche – und spürt ihn in Südfrankreich auf. Doch Henri hat ihr verschwiegen, dass er ein Prinz ist! Obwohl er sie immer noch begehrt, würde er den Frieden seines Landes riskieren, wenn er sich zu ihr bekennt …


  • Erscheinungstag 01.10.2024
  • Bandnummer 202024
  • ISBN / Artikelnummer 0800240020
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

PROLOG

Garrison Downs, Juni

Es war der erste richtige Wintertag.

Doch das war nicht der Grund für die unnatürliche Kälte, die sich über die Rinderfarm Garrison Downs gelegt hatte. Vielmehr hatte die Verlesung von Holt Waverlys Testament damit zu tun.

Matilda Waverly saß zusammengekauert auf dem Samtsofa im großen Büro ihres Vaters. Das fliederfarbene Kissen, das sie sich fest an die Brust drückte, und der flauschige rosa Pullover, den sie über ihrer Jeans trug, waren die einzigen hellen Farbtupfer inmitten der dunklen, maßgefertigten Holzmöbel und der maskulinen braunen Ledersessel.

Sie spielte mit dem Ring an ihrer rechten Hand herum, um sich von der Anwesenheit der fremden Menschen abzulenken, die im Raum herumstanden. Anwälte, Buchhalter und … Wer wusste schon, wer die anderen waren? Sie wünschte, sie würden alle verschwinden, aber Rose, ihre älteste Schwester, hatte dieses Treffen leider arrangieren müssen. Denn auch wenn dieser Tag schmerzlich für sie beide war, so war Garrison Downs doch ein immenses Wirtschaftsunternehmen, und was in diesem Raum geschah, betraf mehr Beteiligte als nur die engste Familie.

Mit durchgedrücktem Rücken, den Blick fest nach vorn gerichtet und das hellbraune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, so als wäre sie gerade eben erst von der Kontrolle der Zäune drüben bei Devil’s Bend gekommen, verharrte Rose auf dem Besucherstuhl, der dem Schreibtisch ihres Vaters am nächsten war.

Eve, ihre mittlere Schwester, war auch irgendwie anwesend. Um genau zu sein, war sie per Videokonferenz aus dem PR-Büro, in dem sie im Zentrum Londons arbeitete, zugeschaltet. Allerdings konnte Matilda ihr Gesicht im Augenblick nicht sehen, weil sich der Bildschirm hinter ihr an der Wand befand.

Sie drückte das Kissen auf ihrem Schoß fester an sich, während George Harrington, der Familienanwalt, über Investitionen, Aktien, Treuhandfonds und die finanzielle Lage im Allgemeinen sprach. Ihr fiel auf, wie überfordert der ältere Mann hinter dem riesigen Schreibtisch ihres Vaters wirkte.

Dieses antike Monstrum von einem Möbelstück passte perfekt zu Holt Waverly. Ihr Vater war ein Unikum gewesen, eine mächtige Instanz in der modernen australischen Gesellschaft: hart, klug und landesweit sehr geachtet. Eine Ikone.

Papa. Alles ist vorbei. Ihre neue Realität war noch immer schwer greifbar. Der Unfall, bei dem er ums Leben gekommen war. Die Beileidsbekundungen aus der ganzen Welt. Die Ehre und die Last, die mit diesem Staatsbegräbnis verbunden waren. Im Familiengrab auf dem Prospect Hill im Schatten eines Flammenbaums. Neben ihrer Mutter, der Liebe seines Lebens.

Matilda blinzelte, als sie feststellte, dass Harrington mittlerweile über das Anwesen ihres Vaters redete: Garrison Downs. Eineinhalb Millionen Hektar rote Erde, Hügel und Täler. Ein grüner Fluss im Osten, uralte schroffe Felsen und schattige Schluchten im Norden. Dazu ein riesiges Haus, das ihre Eltern gebaut hatten, als Matilda noch ein Kleinkind gewesen war. Hinzu kamen ein Dutzend Nebengebäude, Unterkünfte für das Saisonpersonal, Maschinen, Wartungsgeräte, Futterscheunen, Hunderte Eukalyptusbäume, Kookaburras, Kängurus und endlose Flächen mit erstklassigem Weideland für Rinder … Es war einfach ein herrliches, exotisches Zuhause.

Um etwas zum Knuddeln zu haben, schnippte Matilda mit den Fingern, damit ihr Border Collie River zu ihr kam. Der frühere Arbeitshund durfte inzwischen ein ruhiges Leben innerhalb des Haushalts führen.

Als River nicht sofort auftauchte, warf sie einen Blick über die Schulter und sah den Hund in der hinteren Ecke des Raumes bei einer jungen, dunkelhaarigen Frau sitzen, die gedankenverloren mit seinem Ohr spielte. Die Frau saß am Fenster mit Blick auf die lange Auffahrt. Es war der Lieblingssessel von Matildas Mutter gewesen.

Die Unbekannte wirkte etwas zu jung, um Anwältin zu sein, und auch nicht so aalglatt. Irgendwie kam sie Matilda bekannt vor. Ihre versöhnliche Natur siegte – selbst unter diesen Umständen – und sie lächelte der Fremden zu.

Die junge Frau erschrak, als sie Matildas Blick bemerkte, beugte sich hinunter und sagte etwas zu River. Daraufhin wandte sich der alte Hund ab und tapste zu Matilda hinüber, um freudig hechelnd neben ihr auf die Couch zu springen.

Matilda drückte ihr Gesicht in Rivers weiches Fell und sah erst hoch, als der alte Anwalt sich räusperte.

„Nun zum Wesentlichen“, verkündete Harrington mit leicht zittriger Stimme. „Meinen Töchtern hinterlasse ich alles oben Genannte und alle meine weltlichen Besitztümer, die hier nicht aufgeführt sind, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Gesamtheit von Garrison Downs.“

Seufzend atmete Matilda aus. Das war’s dann. Alles lief, wie es sollte.

Harrington fuhr fort: „Es ist mein Wunsch, dass meine älteste Tochter, Rose Lavigne Waverly, die volle Kontrolle über die Leitung des Anwesens übernimmt. Falls das auch ihr Wunsch ist. Wenn nicht, beuge ich mich ihrer Entscheidung.“

Rose zuckte zusammen und warf dann hektisch ihren Pferdeschwanz zurück – eine klassische Stressreaktion. Von nun an die Verantwortung zu übernehmen gab ihr zweifellos das Gefühl, dass alles absolut und unwiderruflich real war. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war.

Dabei ist sie nicht allein, dachte Matilda und fuhr mit den Fingern durch Rivers Fell. Denn sie würde ja da sein und für gute Laune sorgen. Nicht weil die Farmarbeit ihr sonderlich lag, sondern weil sie wusste, wie es sich anfühlte, jemanden im Stich zu lassen. Sie kannte die damit verbundenen Schuldgefühle und wollte sich nie wieder in eine solche Lage bringen.

„Nun …“ Der Anwalt seufzte, blickte über den Rand seiner Lesebrille und dann wieder in die Papiere vor ihm auf dem Schreibtisch. „Könnten jetzt bitte alle Anwesenden außer der engsten Familie den Raum verlassen?“

Allgemeines Gemurmel erhob sich, weil natürlich jeder der Anwesenden gern bleiben wollte, um kein saftiges Detail dieser Testamentseröffnung zu verpassen. Doch dann leerte sich der Raum allmählich.

„Nun“, begann Harrington erneut und nahm sich einen Moment Zeit, um den Schwestern ein freundliches Lächeln zu schenken. „Es ist leider notwendig, die Einzelheiten des Testaments Ihres Vaters mit denjenigen zu besprechen, die Ihnen am besten dabei helfen können, den Betrieb und dessen Ansehen aufrechtzuerhalten. Da ist nur noch eine Sache …“

Er hielt inne und strich sich nervös mit dem Handrücken über die Stirn.

Rose lehnte sich vor. Wie immer reagierte sie höchst sensibel auf ihre Umgebung. Matilda spürte auch eine Veränderung der Atmosphäre, und zwar so sehr, dass sie River ein wenig näher an sich zog.

„Es gibt eine Bedingung für das Vermächtnis. Eine, die fest an das Anwesen geknüpft ist, seit es vor Jahren an Ihre Familie übertragen wurde.“ Harrington nahm seine Brille ab und legte sie auf die Papiere. „Wie Sie sicher wissen, ist die Geschichte von Garrison Downs etwas kompliziert, denn Ihre Ururgroßmutter hat das Land 1904 bei einem Pokerspiel von der Familie Garrison gewonnen.“

Dieses Pokerspiel war eine Legende in der Region. Die Waverlys und die Garrisons, die im Süden noch eine weitere Rinderfarm betrieben, die allerdings nicht annähernd so groß, bekannt und erfolgreich war wie Garrison Downs, waren ziemlich zerstritten.

„Jedes Mal wenn das Land seitdem vererbt wurde, mussten bestimmte Bedingungen erfüllt werden.“ Seine Hände zitterten ein wenig, als er seine Brille wieder aufsetzte und direkt aus dem Testament vorlas. „Jeder männliche Waverly-Erbe würde das Anwesen natürlich direkt erben.“

„Natürlich“, murmelte Rose verächtlich.

„Aber“, fuhr Harrington fort und hob den Zeigefinger. „Sollte es keinen direkten männlichen Erben geben, müssen alle Töchter im heiratsfähigen Alter innerhalb eines Jahres nach der Testamentseröffnung verheiratet werden, damit sie das Erbe antreten können.“

Matilda hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Und Eve lachte humorlos, als wäre das Ganze für sie keine Überraschung. Es folgte ein wildes Hin und Her. Unzählige Fragen wurden gestellt, aber Matilda, die Geschichtsfanatikerin der Familie, verstand nur zu gut, was da gerade vor sich ging.

„Das Land ist zuerst mal an Söhne vererbbar“, erklärte sie und ihre Worte übertönten das aufgeregte Gemurmel. „Wenn es keinen Sohn gibt, können die Waverly-Frauen erben: du, Eve und ich. Aber nur, wenn wir alle verheiratet sind.“

Ihre beiden Schwestern protestierten, während sich Matildas Gedanken überschlugen.

„Das ist recht seltsam, aber richtig“, stimmte Harrington zu. „Und soweit ich das beurteilen kann, ist der Letzte Wille eures Vaters rechtlich verbindlich.“

Rose, die inzwischen aufgestanden war und auf und ab ging, schüttelte den Kopf. „Wieso ist das bisher nie zur Sprache gekommen?“

„Die Waverlys hatten immer mindestens einen Sohn als Nachkommen“, überlegte Matilda laut. „Bis zu unserer Generation.“

Rose schaute zu ihr und wirkte ernsthaft erschüttert. Dabei war ihre Schwester normalerweise stark und beständig … ein Fels in der Brandung.

„Und was passiert, wenn wir uns weigern zu heiraten?“, fragte sie.

Soweit Matilda wusste, hatte ihre Schwester noch nie einen Freund gehabt, geschweige denn einen Verlobten. Und Eve? Wer wusste schon, wie ihr Liebesleben aussah? Immerhin wohnte sie weit weg und war ständig beschäftigt.

Während sie selbst … Nachdenklich betrachtete sie den Ring an ihrer rechten Hand.

„Wenn die Bedingung nicht erfüllt wird …“, fuhr Harrington fort, „… geht das Land an das derzeitige Oberhaupt der Garrison-Familie zurück. An Clay Garrison.“

Da verlor Rose die Fassung. Denn sie hatte einiges über den alten Clay zu sagen und noch viel mehr über dessen Sohn Lincoln!

„Das wird nicht passieren“, schaltete Eve sich ein. „Niemals!“

Harrington räusperte sich. „Wenn nicht alle vier leiblichen Töchter von Holt Waverly innerhalb von zwölf Monaten nach der Verlesung dieses Dokuments verheiratet sind …“

„Zwölf Monate?“, unterbrach Rose den Anwalt mit schriller Stimme. „Aber ich kann nicht … Ich meine, keine von uns trifft sich im Moment mit jemandem. Eve? Tilly?“

Matilda schüttelte langsam den Kopf.

„Wartet mal!“ Matilda erstarrte. „Sie sagten: vier Töchter! Wir sind aber nur drei.“

Das Mitleid im Blick des Anwalts war nicht zu übersehen.

Irritiert drehte sich Matilda um und schaute über die linke Schulter, um festzustellen, dass die dunkelhaarige junge Frau von vorhin, die auf dem Lieblingssessel ihrer Mutter gesessen hatte, sich immer noch im Zimmer befand.

„Wer sind Sie?“, wollte Matilda wissen.

„Ana“, antwortete die Fremde, stand auf und rang die Hände. Ihre Stimme klang sanft, fast etwas unsicher.

Auf dem Bildschirm sah man Eve, die sich in ihrem Stuhl aufrichtete. „Mit wem sprichst du, Tilly? Ich kann nichts sehen.“

Seufzend stemmte sich Harrington aus dem Schreibtischsessel hoch und streckte den Arm aus. „Komm nach vorn, Mädchen.“

Die Fremde machte einen kleinen, zögerlichen Schritt.

„Anastasia, das hier ist Matilda Waverly“, stellte er vor. „Das da ist Rose. Und oben auf dem Bildschirm siehst du Evelyn. Mädels, dies ist Anastasia Horvath.“

Ana hob die Hand, um zu winken, und sagte: „Hallo.“

Aus reiner Gewohnheit winkte Matilda zurück. Als sie zu ihrer Schwester Rose blickte, sah sie, dass diese Ana anstarrte, als hätte sie einen Geist gesehen.

„Ana ist die Tochter eures Vaters“, erklärte der Anwalt. „Eure Halbschwester. Und deshalb steht ihr nach dem Willen des alten Herrn ein gleichwertiger Anteil am Erbe zu. Unter den gleichen Bedingungen.“

Die Stille, die sich über den Raum senkte, war erdrückend. Eine Halbschwester bedeutete … dass ihr Vater eine Affäre gehabt hatte?

Allein der Gedanke war lächerlich. Schließlich hatte er ihre Mutter angebetet. Ihre perfekte Partnerschaft war genauso legendär wie das Land, das sie gemeinsam bewirtschaftet hatten.

Ihre Ehe war einst aus einer stürmischen Urlaubsromanze entstanden. Liebe auf den ersten Blick zwischen dem kräftigen, ruppigen Viehbaron Holt und der brillanten, eleganten, adeligen Rosamund. Er hatte sie zu sich nach Hause geholt und dort hatten sie bis zu Rosamunds plötzlichem Tod einige Jahre zuvor glücklich zusammengelebt.

Und trotzdem sollte ihr Vater fremdgegangen sein?

„Unmöglich“, flüsterte Matilda und merkte erst, dass sie es laut gesagt hatte, als Ana sichtbar zusammenzuckte.

Ihre angebliche Halbschwester wirkte ein bisschen jünger als sie. Ihr Haar war dunkler als ihres und das von Rose und Eve. Aber ihre Augen – dieses leuchtende, durchdringende Blau –, das waren definitiv die Augen ihres Vaters.

Matildas Hand, mit der sie gerade zurückgewunken hatte, fühlte sich schwer wie Blei an.

„Rose, Eve und Matilda, euch bleiben immer noch die Treuhandfonds eurer Mutter“, beschwichtigte Harrington die drei und setzte sich auf die Lehne von Matildas Couch.

Er wirkte erschöpft. Als ob die vergangenen Wochen, die zu diesem erkenntnisreichen Tag geführt hatten, auch für ihn schwer gewesen waren.

„Sie unterliegen nicht den eben vorgelesenen Bedingungen. Macht euch also keine Gedanken darüber. Aber das Land selbst, die Station Garrison Downs und alle anderen Besitztümer, werden der Familie Garrison gehören – es sei denn, ihr alle vier heiratet innerhalb der nächsten zwölf Monate.“

Diese verrückte Bedingung war also tatsächlich rechtswirksam. Das bedeutete, Matilda musste sich schnellstens auf ihre Stärken besinnen. Als Jüngste der Familie war es ihre Aufgabe, kreativ zu sein und einen Weg zu finden, um die allgemeine Stimmung aufzuhellen. Aber alles, woran sie denken konnte, war, dass sie Informationen hatte, die diese verzwickte Situation vielleicht ein wenig entschärfen könnten.

„Rose?“

„Warte mal!“, wehrte ihre Schwester ab. „Evie, wusstest du das etwa? Ist das der Grund, warum …?“

„Ich muss los“, unterbrach sie Eve und sah so blass aus wie die weißen Wände um sie herum. Dann wurde der Bildschirm schwarz.

„Ähm, Rose?“

Doch die stürmte schon auf die Bürotür zu. „Ich habe keine Zeit für so was. Immerhin muss ich eine Farm leiten. Ana wird ja vermutlich sowieso eine Weile hierbleiben, oder?“ Und dann war sie weg.

Matilda wusste, dass Rose nicht selbstherrlich klingen wollte. Ihr Tonfall war ihrer verständlichen Anspannung geschuldet.

Also schluckte Matilda die Worte herunter, die sie hatte aussprechen wollen: das Geheimnis, das sie mehrere Jahre lang gehütet hatte.

Von irgendwo im Haus hörten sie Rose rufen: „Lindy! Kannst du bitte dafür sorgen, dass das gelbe Gästezimmer für Anastasia hergerichtet wird?“

Anastasia wirkte genauso niedergeschlagen wie der Rest von ihnen. Und sie war hier ganz auf sich allein gestellt. Das war die Schuld ihres Vaters.

Für Matilda war das Ganze immer noch unvorstellbar. Und die Uhr hatte bereits zu ticken begonnen. Ihr blieb nur ein Jahr. Nach Ablauf dieser Frist wäre sie entweder verheiratet oder würde das Land verlieren, das seit ihrer Geburt ihr Lebensinhalt und ihr sicherer Rückzugsort war.

Auch für Rose bedeutete Garrison Downs die Liebe ihres Lebens.

Eve hingegen war nicht gerade dafür bekannt, dass sie sich am Familienleben orientierte, und Ana …

Aus dem Augenwinkel sah Matilda das Mädchen an, das wie Espenlaub zitterte, während Harrington ihm behutsam auszureden versuchte, einfach zu verschwinden.

Papa, dachte Matilda wütend. Wie konntest du nur? Warum hast du das getan? Wusste Mum es? Oh, die Arme! Wie konntest du es wagen, ihr das anzutun – oder uns?

Andererseits durfte sie sich wohl kaum ein hartes Urteil erlauben, wenn es um Familiengeheimnisse ging. Sie drehte den Ring an ihrem Finger und schloss die Augen.

Dann atmete sie tief durch, schenkte Ana ein aufmunterndes Lächeln und nickte ihr zu. Um sie wissen zu lassen, dass alles in Ordnung kommen würde.

1. KAPITEL

Chaleur, einen Monat später

Matilda winkte dem Taxifahrer zu.

„Viel Glück!“, rief er und grüßte fröhlich zurück, bevor er davonfuhr. Sein Grinsen rührte zweifellos von dem großzügigen Trinkgeld her, das sie ihm zusätzlich zu den horrenden Kosten für die Fahrt vom Flughafen Nizza Côte d’Azur nach Côte de Lapis, einem Küstenort im malerischen Fürstentum Chaleur, gegeben hatte.

Oder es lag an der Tatsache, dass sie nicht mehr bei ihm im Auto saß und permanent auf ihn einredete.

„Was wollen Sie in Côte de Lapis?“, hatte er unterwegs nachgefragt. „Wir haben hier in Frankreich ja wirklich sehr schöne Strände.“

„Mir steht nicht der Sinn nach einem Sonnenbad“, hatte Matilda geantwortet. „Ich bin auf der Suche nach einem Mann.“

„Auch die gibt es in Frankreich.“ Er hatte ihr im Rückspiegel zugezwinkert.

„Es geht um einen ganz bestimmten Mann“, hatte sie erklärt und gelächelt.

Dabei war ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute. Innerhalb von wenigen Monaten war das Leben der Waverly-Schwestern zu einem einzigen Chaos geworden.

Rose trauerte noch immer um ihren Vater. Vor allem um den Verlust des Mannes, für den sie ihn gehalten hatte. Gleichzeitig versuchte sie verzweifelt, in seine Fußstapfen zu treten.

Eve, die immer noch entschlossen in London ausharrte, erwies sich als noch sturer als sonst. Sie leugnete rundheraus, dass die Bedingung des Vermächtnisses gültig war, und tat dabei so, als gäbe es Ana gar nicht.

Ihre Halbschwester war nach der Testamentseröffnung tatsächlich eine Weile auf der Farm geblieben, und es hatte sich schnell herausgestellt, wie überfordert sie mit der ganzen Situation war – und mit ihren Schwestern, die sie nie kennengelernt hatte und die alle den Verrat ihres Vaters in ihr sahen, auch ohne den Druck des Testaments.

Hinzu kam die Notwendigkeit, die Konditionen des Erbes unter Verschluss zu halten, damit die Geier nicht zu kreisen begannen. Anas Existenz sollte so lange wie möglich geheim bleiben.

„Aha“, hatte der Taxifahrer gesagt. „Ein Dating-App-Szenario? Oder sind Sie eher eine verschmähte Geliebte?“ Er klang eher neugierig als unverschämt.

„Nein, nichts dergleichen. Es geht um einen Mann, mit dem ich vor langer Zeit mal zusammen war.“

Doch nach zwei Wochen der Suche verlor sie nun langsam die Hoffnung, Henri überhaupt noch zu finden.

Damals war sie im letzten Jahr ihres Geschichtsstudiums gewesen und auf der Suche nach einem berüchtigten, verschwundenen handgeschriebenen Liebesbrief, den ihr Lieblingsprofessor schon seit Jahren hatte authentifizieren wollen, nach Wien geflogen. Um in seine Fußstapfen zu treten und selbst eine renommierte Graphologin zu werden, hatte sie beschlossen, seinen Traum zu verwirklichen.

Aber in Wahrheit hatte sie schon seit Jahren nach einer Ausrede gesucht, um endlich etwas Wildes und Wunderbares zu unternehmen. Als kleines Mädchen hatte ihr ihre weit gereiste Mutter anstelle von Gutenachtgeschichten immer wieder von ihren exotischen Abenteuern erzählt.

Womit Matilda nicht gerechnet hatte, war die Begegnung mit einem Jungen namens Henri. Nachdem sie in der überfüllten Bar in Wien seinen Blick aufgefangen hatte, war es um sie geschehen gewesen. Henri hatte sie vom ersten Moment an fasziniert. Die Art, wie ihm das dichte dunkle Haar in die Stirn fiel, irgendwie makellos und ungekämmt zugleich. Die haselnussbraunen Augen. Die perfekt geschwungenen Lippen. Und dann war da noch seine hohe, oft gerunzelte Stirn gewesen, die ihn gleichzeitig zutiefst nachdenklich, übermäßig maskulin und tragisch erscheinen ließ.

Wie den Helden aus einem Gedicht, hatte Matilda immer gedacht.

Oft hatte er ihr aus dem abgegriffenen, ledergebundenen blauen Buch mit Briefen und Gedichten vorgelesen, das sie ihm in einem Antiquariat in Paris gekauft hatte. All diese Romantik war noch verlockender gewesen, weil er zu einer Gruppe junger, aufgeweckter Menschen gehörte, die außer ihren Namen nichts voneinander wussten.

Es war eine Abmachung zwischen ihnen gewesen. Etwas, das Henris Cousin André spaßeshalber als Regel aufstellte, nachdem er bemerkt hatte, wie sie und Henri sich auf den ersten Blick ineinander verknallt hatten.

Sie waren eine Gruppe von fröhlichen Weltenbummlern gewesen, die sich einen Sommer der Freiheit gegönnt hatte, bevor sie sich wieder der Verantwortung und den Pflichten des echten Lebens stellen musste.

Die Bedingungen waren: keine Nachnamen und kein Wort über Heimat oder Familie. Keine Selfies oder Gruppenfotos. Keine Vergangenheit.

Jeder, der gegen diese Regeln verstieß, war sofort raus. Aus der Gruppe der Freigeister verstoßen.

Von außen betrachtet hatte das Ganze beinahe Merkmale einer Sekte gehabt, aber Matilda kannte diese Art von Menschen schon aus dem Internat. Gelangweilte, reiche Kinder, die verzweifelt aus ihrem vorherbestimmten Leben ausbrechen wollten.

Sie selbst hatte ihrem Vater geholfen, Pferde zu zähmen und Kälber zur Welt zu bringen, und sie hatte griesgrämige alte Viehzüchter zurechtgewiesen, wenn sie vor ihrer Oma geflucht hatten. Sie hätte es mit jedem aufnehmen können, ohne ins Schwitzen zu kommen!

Und die Verlockung der Anonymität und des Abenteuers war aufregend gewesen. Genauso wie Henri. Überwältigend genug, dass sie eines Nachts vor der Küste von Gibraltar vor dem Kapitän, der mit ihnen dort hingesegelt war, geschworen hatte, Henri bis in alle Ewigkeit zu lieben.

Eine Blitzhochzeit, eine märchenhafte Romanze. Genau wie bei ihren Eltern. Es war wie vorherbestimmt gewesen. Erst später in derselben Woche hatte sie erfahren, dass ihre Mutter im Sterben lag, und als sie es endlich nach Hause geschafft hatte, war es zu spät gewesen.

Ihr Vater war am Boden zerstört gewesen, Rose nur noch ein Schatten ihrer selbst, und es war kein guter Zeitpunkt, über heimliche Ehemänner zu sprechen. Es hatte sich grausam angefühlt, glücklich zu sein, während alle anderen litten.

Genauso grausam wie die Tatsache, dass Henri sich nicht mehr gemeldet hatte, obwohl sie die Regeln gebrochen und ihm eine Nachricht hinterlassen hatte. Da es keine Möglichkeit gab, ihn zu kontaktieren, hatte sie ihn logischerweise nie wiedergesehen. Die Blitzehe war eine Schnapsidee gewesen.

Nach diesem romantischen Fiasko hatte sie sich abgeschottet, den Kopf eingezogen und ihr Studium durchgepaukt, ihre ganze Liebe in die eigene Familie gesteckt und so gelebt, als wäre nichts von dem Drama in Wien real gewesen.

Bis George Harrington die Bedingungen des verdammten Testaments verlesen hatte.

„Die Sache ist die, dass ich jetzt schon seit ein paar Wochen auf der Suche bin“, hatte sie dem Taxifahrer erzählt. „Ich habe Orte abgeklappert, an denen wir zusammen gewesen sind, bin dort aber keinen Schritt weitergekommen. Meine heißen Spuren kühlen immer mehr ab und mir gehen langsam die Ideen aus.“

„Gibt es eine Adresse von Ihrem Märchenprinzen oder seinen Angehörigen?“

„Alles, was ich habe, ist sein Name. Das war so ein Insiderwitz von uns …“

Beinahe väterlich schüttelte der Taxifahrer den Kopf. „Wie heißt er denn?“

„Henri. Henri Gallo.“

Doch der Fahrer hatte ihr nicht weiterhelfen können. Nun stand sie hier auf dem Strandweg neben ihrem kleinen Reisekoffer, atmete tief durch und erkundete dann Côte de Lapis. 

An den pastellfarbenen Stuckfassaden der jahrhundertealten Gebäude, die sich auf der anderen Seite der kurvenreichen Küstenstraße aneinanderschmiegten, rankten sich zahlreiche Bougainvilleen. Tische, Stühle und Töpfe mit farbenfrohen Blumen nahmen jeden freien Zentimeter des Fußwegs ein und ein Café neben dem anderen nutzte die Aussicht auf die gestreiften Sonnenschirme, den weißen Strand und das glitzernde Mittelmeer dahinter.

Die Umgebung war exquisit. Und so geschichtsträchtig. Am liebsten hätte Matilda sich diesem Zauber hingegeben, aber sie war nicht hier, um sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen, sondern um Henri zu finden.

Um ihn davon zu überzeugen, noch ein Jahr mit ihr verheiratet zu bleiben, zumindest auf dem Papier, damit die Bestimmungen des Testaments erfüllt wurden. Anschließend konnten sie sich die Hände reichen und ihr Leben ungestört weiterleben.

Falls sie keinen anderen Ausweg fanden, würden ihre Schwestern hoffentlich auf magische Weise wunderbare Männer treffen, die sie lieben und heiraten konnten – und alles würde gut werden. Das musste es einfach. Jede andere Möglichkeit war undenkbar.

Wie aufs Stichwort klingelte ihr Handy.

„Rose!“, sagte sie zur Begrüßung. „Alles in Ordnung?“

„Ich wollte mich bloß melden“, erwiderte ihre Schwester. „Bist du immer noch in Paris?“

„Nein. Ich bin gerade in Chaleur angekommen.“

„Oh. Und wo genau ist das?“

„Ein winziges Fürstentum in einem Winkel von Südfrankreich.“ Matilda lachte. „Lass mich raten: Solange es kein Waverly-Rindfleisch importiert, könnte es genauso gut nicht existieren?“

„Stimmt.“ Roses Tonfall wurde ernst. „Tilly, denk daran! Auch wenn du dich zweifellos mit jedem Menschen, dem du begegnest, anfreunden wirst, bleib bitte diskret! Wenn irgendwas über das Testament oder über Ana rauskommt …“

„Dann ziehe ich das T-Shirt, das ich mir extra gemacht habe und auf dem steht: Heirate mich oder ich verliere die Farm, wohl lieber aus?“

„Das würde ich zu schätzen wissen“, murmelte Rose und klang zumindest ein wenig belustigt.

Nach ein paar weiteren ermunternden Worten legten die Schwestern auf.

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