Verlobt mit dem falschen Prinzen?

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Eigentlich hat Lady Marrianne Daventry die Verlobung mit dem französischen Prinzen schon vor Jahren als gelöst betrachtet. Schließlich waren sie damals beide noch Kinder, und mittlerweile gilt der Prinz als verschollen. Als jedoch sein Erbe auftaucht und darauf besteht, Marrianne aufgrund des alten Verlöbnisses zu ehelichen, macht die resolute Lady sich kurzerhand auf die Suche nach dem Prinzen aus ihrer Kindheit. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein alter Brief, der sie tief in den Wald führt, zu dem mysteriösen Gabriel. Doch er ist kein Prinz, sondern ein Pferdeknecht – er kann unmöglich Lady Marriannes Verlobter sein! Nur ihr Herz ist da anderer Meinung …


  • Erscheinungstag 11.01.2025
  • Bandnummer 411
  • ISBN / Artikelnummer 0871250411
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Charis Michaels

Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.

1. KAPITEL

Savernake Forest

Wiltshire, England

August 1811

Der Schrei einer Frau zerriss die Nacht.

Der Laut, kurz und gellend, hallte über die Baumwipfel hinweg, rollte den Hang hinab und wurde vom Fels zurückgeworfen.

Tief im Wald glitt ein Mann aus dem Sattel, duckte sich in den Schatten eines Kalksandsteinfelsens und lauschte.

Gabriel Rein kannte die Laute des Waldes nach Einbruch der Dunkelheit. Er war vertraut mit den Tieren der Nacht, mit den in Höhlen hausenden Schmugglern, mit den betrunkenen Dorfbewohnern, die sich auf dem Heimweg verirrten. Aber eine Frau? Eine schreiende Frau?

Da Gabriels Leben sich größtenteils inmitten der Bäume und Felsen von Savernake abspielte, begegnete er selten, wenn überhaupt, Fremden. Er beschäftigte drei Männer, die ihm mit den Pferden halfen, sowie eine alte Gevatterin, die sich um das Lager kümmerte; ansonsten hatte er kaum Kontakt zur Außenwelt. Eine schreiende Frau war nicht nur unerwartet, sondern stellte ihn zudem vor ein moralisches Dilemma.

Nach zehn Herzschlägen schrie sie erneut; ein schriller Laut, der ihn regelrecht bei der Kehle packte und zurückschleuderte.

Fluchend schaute Gabriel zum Himmel auf. Er hatte wochenlang auf ein dräuendes Unwetter gewartet, ohne dass es regnete. Seit Neuestem arbeitete er mit einem jungen Hengst, der sich vor Gewittern fürchtete, und er wollte das Tier ganz allmählich daran gewöhnen. Es überraschte ihn nicht, dass auch Schreie das Pferd hinter ihm nervös stimmten. Es stampfte mit den Hufen auf, schnaubte und ruckte an den Zügeln. Er hatte das Tier vorsichtig einen steinigen Pfad entlanggelenkt, damit es sich mit dem Geruch des Regens und dem Wetterleuchten vertraut machen konnte. Sie waren noch nicht lange unterwegs, und das Pferd war willig vorwärtsgestrebt – bis zu dem Schrei. Nun legte der Hengst die Ohren an, blähte die Nüstern, stemmte die Hufe in den Boden und weigerte sich weiterzugehen.

Gabriel trat zu ihm und strich ihm über den Hals, wobei er besänftigend auf ihn einredete und leise schnalzte, wie er es stets tat, um verängstigte Tiere zu beruhigen.

„Nein?“, rief die Frau in der Ferne. Ein Wort diesmal. Sie betonte es eher fordernd als kleinmütig. Die schreiende Frau verhandelte.

Gabriels Stallburschen hatten berichtet, dass der Straßenräuber Channing Meade wieder sein Unwesen treibe. Meade lagerte im August am Rande des Savernake Forest, weil das Wetter angenehm, das Wild fett und der Wachtmeister faul war. Vielleicht war die schreiende Frau aus dem Dorf entführt worden, damit Meade sich mit ihr vergnügen konnte. Vielleicht war sie auch freiwillig hergekommen, nur um festzustellen, dass Meade ein Halunke und sein Lager ein Saustall war. Womöglich hatte der Räuber auch einer Kutsche aufgelauert, und die Passagierin nahm Anstoß daran, mit vorgehaltenem Messer ausgeraubt zu werden. Die Long Harry Road bestand aus kaum mehr als zwei Furchen, die im tunnelartigen zwielichtigen Grün verschwanden, und Reisende sollten es eigentlich besser wissen.

Ist mir einerlei, dachte Gabriel und streichelte das Pferd.

Der Wald war Gabriel seit jeher ein Zufluchtsort. Als Heranwachsender war er immerzu auf der Flucht gewesen, verfolgt von Spionen, Kopfgeldjägern und Söldnern. Reglos und still zu verharren war für ihn so selbstverständlich wie für andere Kinder Schulunterricht und Sport. Er war ein Meister darin, den Atem anzuhalten.

Nun war er ein Mann, und er wusste nicht recht, ob er sich aus Notwendigkeit im Wald versteckte oder weil es ihm einfach lieber war. Er lebte schon so lange hier, dass er nichts anderes kannte. Der Wald erlaubte ihm ein Dasein ohne Besitztum und Abhängigkeit. Er fühlte sich seinen Gehilfen und seinen Pferden verpflichtet, aber niemandem sonst. Die Arbeit, die er für seine Kunden erledigte, wurde über einen Mittelsmann ausgehandelt; von demselben Mann, der auch das Lager mit Vorräten belieferte. Dieses Höchstmaß an Zurückgezogenheit hielt Gabriel seit mehr als zehn Jahren am Leben. Es sorgte auch dafür, dass alle anderen in Sicherheit waren. Es bedeutete Überleben.

Und was war mit dem Überleben der schreienden Frau? Er hatte keine Ahnung. Abgesehen von einigen seltenen Zusammenkünften mit Frauen – mit Angehörigen des horizontalen Gewerbes, die flink und anonym zu Werke gingen –, hatte er kaum Erfahrung mit weiblicher Gesellschaft. Und diese schreiende Fremde interessierte ihn nicht.

Das geht mich nichts an, dachte er.

Das Pferd schnaubte und warf die Mähne zurück. Gabriel schnalzte beruhigend, straffte die Zügel und machte kehrt. Sie würden zum Lager zurückkehren. Der Regen würde nicht ewig auf sich warten lassen. Das Pferd sollte nicht Regen und Schreien ausgesetzt werden.

„Bitte!“ Ein weiterer Ruf der Frau. „Hilfe!“

Gabriel hielt inne. In ihrer Stimme schwang Dringlichkeit mit. Sie klang nachdrücklich, überlegt. Dies war kein kopfloses Wehgeschrei, sondern ein Appell. Sie rief nach jemandem. Der Laut ging ihm unter die Haut und brannte.

Hinter ihm riss der Hengst den Kopf hoch und zerrte an den Zügeln. Inzwischen war er vollkommen fahrig, tänzelte schnaubend rückwärts und stampfte mit den Hufen.

„Hilfe!“, schrie die Frau wieder.

Gabriel fluchte leise, eine Hand besänftigend am Pferdehals.

Ist mir egal, sagte er sich stumm.

Der Hengst wich zurück, ein knapp tausend Pfund schweres verschrecktes Tier, das sich in die Zügel legte. Gabriel fluchte abermals und ließ zu, dass das Pferd rückwärtsging und den Pfad verließ.

Ist mir egal.

Dort, wo das Gelände ebener war, wuchs Gras. Gabriel pflückte eine Handvoll süß duftender Halme und hielt sie dem Tier hin, um es zum Grasen zu verleiten.

Ist mir egal.

Gabriel sah sich um. In der Nähe ragte eine riesige Eiche auf, und er band das Pferd an einem niedrigen Ast an, im Windschutz des Stamms.

Ist mir egal.

Er hatte Scheuklappen am Zaumzeug des Hengstes befestigt, die er nun so ausrichtete, dass sie Zeus’ Sicht einschränkten. Dabei ging er bedächtig und behutsam vor, mit routinierten Bewegungen. Ein verängstigtes Pferd zu beruhigen war für ihn so natürlich wie zu atmen, über verängstigte Frauen hingegen wusste er so gut wie nichts. Und dennoch lauschte er angestrengt auf …

„Bitte helfen Sie mir!“, erscholl ein weiterer entsetzter Schrei.

Gabriel – dem das Ganze wirklich und wahrhaftig egal war – zog seine Axt aus dem Gürtel und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.

2. KAPITEL

Lady Marianne „Ryan“ Daventry neigte im Grunde nicht zum Schreien.

Ryan war vielmehr jemand, der mit Ratschlägen aufwartete. Mit schlichten Tatsachen. Eine Stimme der Vernunft, wenn Emotionen hochkochten und Temperamente durchgingen. Ihre nächstältere Schwester Diana war diejenige, die aufbrausend war und markerschütternd schreien konnte. Ihre jüngste Schwester Charlotte mit ihrer mädchenhaften Furcht vor Mäusen, Insekten und Zweigen, die über Fensterscheiben schabten, war ebenfalls berüchtigt für ihr Geschrei. Aber nicht Ryan. Genau genommen hatte sie, wenn sie sich recht entsann, in ihrem ganzen Leben höchstens ein-, zweimal geschrien.

Jetzt indes schrie sie, denn sie litt Todesangst und schrie diese mit der Verzweiflung eines Menschen hinaus, der seine Haut retten wollte.

Wenigstens war sie allein in den Wald geritten. Ihr einziger Trost. Ryan war wehrlos, ja, aber ihre Zofe Agnes saß wohlbehalten im Gasthof. Agnes hatte sie begleiten wollen, was Ryan abgelehnt hatte. Selbst ohne einen drohenden Hinterhalt wäre Agnes im Wald verloren gewesen. Sie fürchtete sich schon vor wohlerzogenen Männern in einem zivilisierten Umfeld; niemals hätte sie die Begegnung mit einem knurrenden Kerl überstanden, in dessen Augen kein Leben war.

„Schrei, so viel du willst“, zischte der Mann, der Ryans Kiefer mit einer Hand gepackt hielt. „Im Umkreis von fünfzig Meilen gibt es niemanden, der dich hört.“ Mit der anderen Hand presste er sie so fest an seine Brust, dass sie einen halben Fuß über der Straße schwebte.

Ryan vermochte nicht zu sagen, wie sie vom Sattel in der brutalen Umklammerung dieses übelriechenden, hämisch grinsenden Widerlings gelandet war. Sie war langsam durch den Wald geritten, die verängstigte Stute vorwärtstreibend, als sie gleich hinter einer Hügelkuppe auf mehrere Männer zu Pferde gestoßen war. Sie hatten so unbeweglich dagesessen, ihre Reihen so undurchdringlich, dass Ryan sie für Statuen gehalten hatte, welche die Straße versperrten. Doch es waren keine Statuen: Es waren Wegelagerer, und der Rohling, der sie festhielt, war ihr Anführer. Er war aus der Reihe hervorgebrochen wie eine Kanonenkugel, die in die Kammer einer Kanone rollte.

Trotz ihrer Angst hatte sie ihr Pferd gezügelt und gewendet. Aber er war erstaunlich schnell für seine Größe und hatte ihre Zügel erwischt, ehe sie davongaloppieren konnte. Sogleich hatte er sie gepackt und aus dem Sattel gezerrt wie einen Korb voll Wäsche.

„Glauben Sie mir, ich besitze nichts“, versicherte sie dem Mann wimmernd. „Kein Geld. Keinen Schmuck. Nicht einmal Essen. Ich bin vom Gasthof in Pewsey aus bis zum Waldrand geritten und habe mich verirrt.“

„Klar, dass du das behauptest.“ Der Mann ließ ihr Kinn so ruckartig los, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ryan versuchte, sich ihm zu entwinden, aber er hob erneut die Hand, und diesmal hielt er ein Messer darin und drückte ihr die flache Seite der stumpfen Klinge an die Wange. „Du hast ein Pferd, oder nicht?“

„Vom Gasthof geliehen“, beharrte sie. „Bitte tun Sie der Stute nichts zuleide. Sie ist nicht wertvoll. Man hat sie mir kostenlos zur Verfügung gestellt, aber man wird sie wiederhaben wollen. Man wird nach ihr suchen.“

Er nahm die Klinge fort, grub ihr die Finger ins Haar und riss ihren Kopf nach hinten. Der Schmerz und die hilflose Haltung verschlugen Ryan den Atem.

„Du willst mir frech kommen, hm?“, spöttelte der Mann. „Mal sehen, was dir das bringt.“

„Ich sage Ihnen nur die Wahrheit“, erwiderte sie mit Nachdruck. „Wenn Sie es auf Wertsachen abgesehen haben, werden Sie enttäuscht sein. Tut mir leid, ich habe schlicht nichts …“

„Dann deinen Körper“, verkündete er und zerrte ihr abermals den Kopf in den Nacken. „Ist auch leichter aufzuteilen. Alle Männer kommen zum Zug. Wir machen ein Spiel draus. Vielleicht finden wir dabei ja was, das du versteckt hast.“

Unwillkürlich schrie Ryan erneut.

3. KAPITEL

Im Rennen hielt Gabriel sich vor Augen, was er tun würde, wenn er die Quelle der Schreie erreichte.

Er würde sich nicht in diesen wie immer gearteten Konflikt einmischen.

Er würde ihn von einem Versteck aus beobachten. Windabwärts. Mit einem freien Fluchtweg.

Er würde das Wer, Wie und Warum ergründen – allein, um selbst Bescheid zu wissen. Schließlich betraf es den Frieden und die Ruhe des Waldes und sein abgeschiedenes Dasein. Dies war eine Aufklärungs- und keine Rettungsmission; eine Präventionsmaßnahme, keine Befreiungsaktion.

Für einen langen, hoffnungsvollen Moment waren die Schreie verstummt, doch nun erklangen sie neuerlich. Manchmal vernahm er Worte, manchmal bloß Laute. Immer schwang Angst darin mit. Solange sie schrie, wusste er, dass sie am Leben war. Je mehr sie schrie, desto besser war sie zu orten. Die Schreie kamen vom Pike Hill an der Long Harry Road. Das hatte er vermutet. Die Anhöhe war ideal für einen Hinterhalt; die Felskante verhinderte ein Entkommen. Gabriel schoss vorwärts.

Zwischen dem Pfad und der Straße war das Unterholz besonders dicht; Schlingpflanzen, stachelige Triebe und dicke, hüfthoch wuchernde Dornen. Im Dunkeln war es beschwerlich, aber Gabriel kannte das Terrain. Behände schlüpfte er durch unsichtbare Lücken, wich Sumpflöchern aus und setzte über Baumstämme. Geschickt überwand, umrundete und durchdrang er, ein lautloses Fragment der Nacht.

Als er die letzten Bäume vor dem Straßenrand erreichte, blieb er stehen, um zu Atem zu kommen und das Buschwerk nach versprengten Männern oder Wachen abzusuchen. Er entdeckte niemanden. Channing Meade war nachlässig. Nicht dass dies eine Rolle spielte. Gabriel war nur hier, um zu erkunden. Er pirschte sich voran. Noch ehe die Straße in Sicht kam, vernahm er etwas.

„Schrei, so viel du willst; im Umkreis von fünfzig Meilen gibt es niemanden, der dich hört“, knurrte ein Mann. Also war es tatsächlich Channing Meade. Gabriel war ihm nie begegnet, hatte ihn jedoch von diversen Beobachtungsposten aus verfolgt.

Er huschte von Baum zu Baum und näherte sich leise. Er hörte Pferde – vier, eventuell fünf. Stampfende Hufe, das Knarren von Sattel- und Zaumzeug. Die Augen zusammengekniffen, bemühte er sich, Gestalten von Schatten zu unterscheiden. Er erkannte eine Reihe Reiter, die ihm den Rücken zuwandten. Die Männer saßen aufrecht im Sattel, auf das konzentriert, was sich vor ihnen auf der Straße abspielte. Die Tiere wirkten träge, gelangweilt.

Langsam stahl er sich näher, wobei er den Axtstiel in der Hand rotieren ließ. Er würde die Waffe nicht brauchen, ermahnte er sich. Er wollte lediglich bereit sein. Es war leichter, sie zu werfen, wenn er sie schon in der Hand hielt.

Parallel zur Straße lag ein umgestürzter Baum, und Gabriel ließ sich dahinter auf den feuchten, weichen Waldboden fallen. Von hier aus konnte er an den Reitern vorbeischauen und erspähte Channing Meade, unverwechselbar durch seine Größe. Er ging vor den Männern zu Pferde hin und her, die hilflos baumelnde Gestalt einer Frau mit Umhang an seinen feisten Bauch gepresst. Meade hätte die meisten Frauen klein wirken lassen, und diese hier bildete keine Ausnahme. Er hielt die Frau mit dem Rücken zu sich und drückte ihr einen Dolch gegen die Wange.

Gabriel schloss die Augen. Er stieß den Atem aus. Nun hatte er sie gesehen. Eine Frau, die festgehalten wurde. Ein Messer. Fünf Männer, die zuschauten.

Was habe ich erwartet? fragte er sich. Du bist Schreien gefolgt, die von Bedrängnis kündeten. Sie hat buchstäblich um Hilfe gerufen. Du hast es gewusst. Er fluchte im Stillen. Ihm zogen sich die Eingeweide zusammen wie ein straff gespanntes Seil, dessen Fasern unter dem Gewicht seiner Unentschlossenheit zu reißen drohten. Seine eigene Sicherheit oder ihre. Schwäche oder Stärke. Ein wehrloser Mensch in den Fängen eines skrupellosen. Ungehemmte Lust und Gier und niemand sonst im Umkreis von Meilen. Seine Zufluchtsstätte, entweiht.

Als er die Augen wieder aufschlug, schritt Meade auf und ab und präsentierte seinen Männern die verängstigte Frau. Blinzelnd versuchte Gabriel, sie zu erkennen. Ihr Profil, teils verdeckt von der Kapuze, dann ihr Haar, Meades rundliche Schulter. Endlich drehte sich der Räuber um, just in dem Moment, da der Mond hinter den Wolken hervorkam. Gabriel sah sie. Ihre blasse Haut und ihre riesigen Augen; ihre schreckensstarre Miene. Sie war jung, aber kein Kind mehr. Sie hatte Angst, war jedoch nicht außer sich. Meade hob ihr unsanft das Gesicht, und ihr fein geschnittenes Profil wirkte im Wald so fehl am Platz wie eine Teetasse.

Gabriel schluckte gegen etwas Bitteres, Heißes an. Plötzlich war er atemlos, angespannt, bereit zuzuschlagen. Er zwang sich, auszuatmen und den Blick abzuwenden. Er musterte die fünf Reiter, registrierte ihre Waffen. Er begutachtete die Pferde und versuchte einzuschätzen, wie alt und kräftig sie waren. Er schaute die Straße entlang nach Osten und anschließend nach Westen und prüfte den Stand des Mondes. Er erfasste alles, und was am deutlichsten hervortrat, war eine Frau in Nöten.

„Bitte, Sir“, sagte sie, ihre Stimme angstvoll, aber fest. „Glauben Sie mir, ich besitze nichts. Kein Geld. Keinen Schmuck. Nicht einmal Essen. Ich bin vom Gasthof in Pewsey aus bis zum Waldrand geritten und habe mich verirrt.“

„Klar, dass du das behauptest“, knurrte Channing Meade. „Du hast ein Pferd, oder nicht?“

„Bitte tun Sie der Stute nichts zuleide“, flehte sie. „Sie ist nicht wertvoll. Man hat sie mir kostenlos zur Verfügung gestellt, aber man wird sie wiederhaben wollen. Man wird nach ihr suchen.“

Meade brachte sie zum Schweigen, indem er sie beim Haar packte und ihr den Kopf nach hinten riss. Gabriel zuckte zusammen. In seiner Brust tat sich etwas auf. Kalte, frische Luft strich empfindlich über das, was sich darin befand, was immer es war.

„Du willst mir frech kommen, hm?“, blaffte Meade. „Mal sehen, was dir das bringt.“

„Bitte“, rief die Frau, „ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Wenn Sie es auf Wertsachen abgesehen haben, werden Sie enttäuscht sein. Tut mir leid, ich habe schlicht nichts …“

„Dann deinen Körper“, sagte Channing Meade und zerrte ihr mit einem Ruck den Kopf in den Nacken. „Ist auch leichter aufzuteilen. Alle Männer kommen zum Zug. Wir machen ein Spiel draus. Vielleicht finden wir dabei ja was, das du versteckt hast.“

Gabriel war aufgesprungen, ehe Meade seine Drohung beenden konnte. Er zog sich den Hut tief ins Gesicht, umklammerte die Axt und stürmte auf die Straße.

4. KAPITEL

Wie war es ihr bloß gelungen, in einer Nacht gleich von zwei Männern überfallen zu werden, fragte sich Ryan. Gewiss ein Rekord – vor allem, wenn sie den dritten Mann mit einbezog, der sie auf Guernsey angegriffen hatte. Jener Mann war der Grund dafür, dass sie überhaupt zum Savernake Forest gereist war. Insgesamt war sie dreimal innerhalb eines Monats überwältigt worden. Was marodierende Männer anging, war sie vollauf ausgelastet.

Angst hatte sie indes keine – nein, das stimmte nicht. Sie hatte Angst, aber sie war nicht panisch, nicht mehr. Der gegenwärtige Angreifer hatte sie sich über die Schulter geworfen und war losgerannt. Er trug sie fort von dem Hinterhalt und den wahllos umherirrenden, schreienden Männern. Ihr brannte die Kopfhaut von der fleischigen Faust des Wegelagerers, und auch die Wunde an ihrem Bein schmerzte, aber immerhin wurde sie nicht unmittelbar bedroht.

„Bitte, Sir“, flehte Ryan in der Hoffnung, im Rahmen der aktuellen Verschleppung einen gewissen Einfluss zu gewinnen. Ihre Stimme klang wie ein Keuchen. Bei jedem Schritt drückte ihr die Schulter des Mannes in den Bauch. Ihre Hüfte wurde gegen sein Ohr gepresst, unnachgiebig von dem Arm gepackt, den er ihr um die Rückseite der Oberschenkel geschlungen hatte. Sie hing kopfüber in seinem harten, breiten Rücken und prallte immer wieder mit dem Gesicht dagegen. Krampfhaft grub sie ihm die Hände in den Mantel, um sich festzuhalten. Die Wunde an ihrem Bein hatte angefangen zu pochen.

„Bitte“, versuchte Ryan es erneut, an den Rücken ihres Entführers gewandt. Sie drehte den Kopf zur Seite, um tief Luft zu holen. „Ich möchte an Ihren Anstand appellieren …“

„Still“, zischte der Mann atemlos. „Nicht reden. Meade wird nicht lange am Boden bleiben. Seine Männer werden uns schon auf den Fersen sein.“

„Ja, in Ordnung“, gab sie flüsternd zurück, „aber dürfte ich bitte laufen?“ Einer von ihnen musste das vorschlagen. Die Bisswunde an ihrem Bein war vier Wochen alt, und Ryan humpelte nicht länger.

„Nein“, stieß er rau aus.

„Vielleicht könnten Sie mich aufrichten und meine Beine so drehen, dass ich …?“

„Nein.“

Er lief stetig bergauf, schob sich an Bäumen vorbei, stieg über umgestürzte Stämme, watete durch Senken voller verrottender Vegetation. Mit jedem Schritt trat er eine Lawine aus Steinchen los. Ryan beobachtete, wie das Geröll den Hang hinabrieselte, einem Wasserfall aus Schotter gleich. Wie der Mann es schaffte, sich auf den Beinen zu halten, war ihr schleierhaft.

Nach einem fünfminütigen Anstieg erreichten sie eine Felskuppe, und der Mann lehnte sich schwer atmend gegen das Gestein.

Ryan räusperte sich, und sogleich hob er sich einen Finger an die Lippen. Schhh.

Sie senkte die Stimme. „Bitte? Wenn Sie mich einfach hinunterlassen würden …“

Die Schreie von Männern ließen sie verstummen – Stimmen, die von weiter unten den Hügel heraufdrangen. Dazu das Peitschen und Brechen von Zweigen, die Laute von Menschen, die sich durch den Wald schlugen.

Der Mann, der sie festhielt, fluchte in einer fremden Sprache (Französisch, wenn sie sich nicht täuschte) und stieß sich vom Felsen ab. Er beugte sich vor, zerrte sie kurzerhand von seiner Schulter und drehte sie herum. Plötzlich lag sie in seinen Armen wie eine besinnungslose Frau, das Gesicht nach oben gewandt. Über sich erblickte sie die Baumkronen, eine Kathedrale aus Blattwerk, und darüber den Nachthimmel. Ehe sie reagieren konnte, zog er sie abermals an sich und barg sie recht unsanft an seiner Brust, sodass sie gegen ihn prallte wie eine Kette aus Bojen. Langsam, vorsichtig umrundete er den Stein, Ryan fest an sich gedrückt. Er duckte sich und schmiegte sich eng an den Fels, sodass sie beide mit diesem zu verschmelzen schienen. Schließlich stieß er die Luft aus und verharrte vollkommen reglos, ohne auch nur zu atmen.

Ryan blieb nichts anderes übrig, als sich auf seinem Schoß zusammenzukauern, ein Ohr an seinem Schlüsselbein, ihre Hände in unbequemer Haltung an seine Brust gezwängt, ihre Knie in seinen Rippen. Sie hörte sein Herz, spürte seinen Bart und roch den Wind sowie Pferde und Männer. Sie konnte nichts tun, außer die Augen zu schließen und in seinen Armen zu liegen.

Eine Minute verstrich … zwei … Auf seiner Schulter hatte sie gefroren, aber nun wurde ihr rasch zu warm. Ihr knurrte der Magen. Die Wunde an ihrem Bein pochte. Sie wollte sich regen, aber er zog sie umso fester an sich. Sie zuckte zusammen und reckte das Kinn, um Luft zu holen. Dabei streifte sie mit dem Mund seinen Hals. Barthaare kratzten sie. Die Berührung war ebenso unerwartet wie intim – rau und warm und würzig; Ryan fühlte seinen Puls unter ihren Lippen. Einen ausgedehnten, benommenen Moment lang vergaß sie den Wald, die Verfolger und das Pochen in ihrem Bein. Sie drückte die Lippen an seinen Hals und atmete die Luft unter seiner Hutkrempe ein.

Weiter unten waren der Räuber und seine Handlanger zu hören, die sich durchs Unterholz kämpften. Nach einer Weile trat Stille ein, gefolgt von neuerlichem Geraschel; schließlich Murren und Flüche, die leiser wurden und von einem Rückzug kündeten.

Eine Ewigkeit später ließ er sie los. Er ließ sie einfach fallen und huschte davon.

Unvorbereitet landete Ryan auf dem feuchten, bemoosten Boden, zog scharf die Luft ein und beeilte sich, den Sturz mit den Händen abzufedern. Der Gegensatz zwischen seiner festen, warmen Umarmung und dem nassen Laub des Waldes war so drastisch, dass sie das Gefühl hatte, vom Pferd gefallen zu sein. Während sie sich aufrappelte, zog er sich an den Felsen zurück, sein Gewicht auf einem Knie.

„Sind sie fort?“, fragte sie flüsternd.

„Ja. Sie sind faul und unterbezahlt.“

„D…danke. Schätze ich. Das heißt, falls dies eine Rettung war, stehe ich in Ihrer Schuld. Falls nicht, nun – so ziemlich alles ist besser als dieser Wegelagerer. Ich wage kaum zu fragen, aber ich habe eine junge Stute geritten, als ich überfallen wurde. Haben Sie …?“

„Das Pferd gehört jetzt Channing Meade“, entgegnete er und erhob sich, ohne Anstalten zu machen, ihr aufzuhelfen. Ryan stützte sich am Felsen ab, um auf dem Abhang nicht den Halt zu verlieren.

„Sie kennen diesen Räuber?“, fragte sie.

„Nein, aber Räuber stehlen Pferde, und Ihres wurde ihm auf dem Silbertablett serviert.“

Er nahm den Hut ab, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und setzte ihn wieder auf. Die Wolken verzogen sich, sodass Ryan sein Gesicht ausmachen konnte. Seine Züge passten zu seinem Körper; markant, sehnig, hart. Dennoch erkannte sie, dass er jung war; kaum älter als sie selbst mit ihren vierundzwanzig Jahren; gewiss noch keine dreißig.

Außerdem war er recht attraktiv, trotz Bart und Schmutz und finsterem Blick. Sie betrachtete Attraktivität nüchtern, sah sie in der angeborenen Struktur eines Gesichts. Feine Kleider und Pomade waren reines Blendwerk. Dieser Mann hier wäre selbst in einem Sumpf schön.

Ryan selbst war weder hübsch noch unansehnlich. Sie bestach nicht durch ihr Aussehen, eine Tatsache, die sie schon vor Jahren akzeptiert hatte. Was sie auszeichnete, waren ihr Verstand, ihr Pragmatismus und ihre Zielstrebigkeit. Ihre Schwester Diana war auffallend schön, ihre Schwester Charlotte elfenhaft zart – eine jede von ihnen auf ihre Weise betörend. Die Schönheit der beiden definierte alles, was sie taten. Sie war wie ein Zusatz. Lady Charlotte, die zarte Elfe; Lady Diana, die strahlende Schönheit. Lady Ryan war diejenige, die alles zusammenhielt. Ihr Charakteristikum war ihre Zuverlässigkeit.

Vermutlich war auch die Attraktivität dieses Mannes fester Bestandteil seiner Persönlichkeit. Sein Gesicht hatte sie erst jetzt gesehen, aber die Schönheit seiner Gestalt hatte sie in dem Augenblick erfasst, als er sie sich über die Schulter geworfen hatte. Lange Beine, breite Brust, verwegener Hut und fescher Ledermantel. Das alles ließ ihn eher wie einen Retter und nicht wie eine Bedrohung erscheinen. Wobei sie sich vor Augen führte, dass Attraktivität zwar Geborgenheit vermitteln mochte, jedoch keine Garantie für selbige war.

„Ich gehe jetzt“, verkündete er jäh und stemmte sich hoch.

Gehen? dachte sie und erkannte, dass er vorhatte, sie allein zu lassen. Er mochte sie gerettet haben, aber wozu? Um sie im dunklen Wald auszusetzen?

„Oh.“ Sie schaute sich um. „Gut. Ja, natürlich.“

„Es wird bald regnen. Ich habe ein nervöses Pferd an einem Baum angebunden zurückgelassen.“

„In Ordnung. Tut mir leid, aber könnte ich mich Ihnen anschließen, um … um …“

Sie musterte die Bäume ringsumher. Die Landschaft sah überall gleich aus: düster, steil, abweisend. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht war dieser Mann nicht bedrohlich, doch der Wald war es durchaus.

„Ich werde Sie in mein Lager mitnehmen müssen“, sagte er. „Wir haben keine andere Wahl. Können Sie laufen?“

„Ihr Lager“, echote sie, während sie auf die Füße kam. „Wie überaus …“, sie suchte nach dem passenden Wort, „… freundlich.“

Gewiss, sie war erleichtert, aber der Anschein von Sicherheit, den sein gutes Aussehen geweckt hatte, begann zu schwinden. Sein Lager. Unbehagen durchrieselte sie. Nicht einmal den Namen dieser Person kannte sie.

„Verzeihung“, setzte sie an, „aber dürfte ich fragen … also, würden Sie mir verraten …? Haben Sie …? Wird Ihre Familie auch dort sein? In diesem Lager? Werden wir …“

„Ich lebe allein mit meinen Pferden.“

Ryan sah ihn verwirrt an. Er wandte sich ab und schritt davon, an einer Felskante entlang.

Er lebt allein mit seinen Pferden.

Aber würde er tatsächlich einfach fortgehen …?

Ja. Ja, das würde er. Er tat es bereits.

Vorsichtig setzte Ryan einen Fuß auf den Untergrund vor den Felsen – sie machte einen Schritt, dann einen weiteren, dann noch einen. Der Waldboden war schlüpfrig und uneben, aber sie war auf den sturmgepeitschten Klippen von Guernsey aufgewachsen. Die Insel war steil und felsig, unablässig gebeutelt von den starken Böen, die vom Meer her kamen. Sie kannte schwierige Pfade. Sie kannte Stürme. Sie verstand sich aufs Überleben.

„Also dann …“, sagte sie zu sich selbst und folgte ihm, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Sie trat auf einen herabgefallenen Ast, der mit einem Knacken zerbarst. Ryan fuhr zusammen, stolperte zur Seite und stützte sich an einem Baum ab.

Der Mann schaute sich um, schwieg jedoch, wandte sich wieder nach vorn und ging weiter. Ryan kniff die Augen zusammen. Was blieb ihr anderes übrig, als ihm nachzulaufen? Sie raffte die Röcke und stapfte ihm hinterher.

Nach einer Weile fragte er: „Wieso sind Sie im Dunkeln allein im Wald?“

„Ein törichter Fehler, wie ich fürchte“, rief sie ihm zu. „Ich bin ausgeritten und habe mich verirrt. Meine Zofe und ich haben uns ein Zimmer im Gasthof von Pewsey genommen, und ich habe mir ein Pferd geliehen, um mir den Wald anzuschauen. Auf einer Lichtung habe ich die Orientierung verloren und den Weg nicht mehr gefunden. Schließlich bin ich auf die Straße gestoßen, aber die Sonne ist untergegangen, bevor ich das Ende erreicht habe. Also habe ich mich bei Mondlicht durchgeschlagen.“

„Bei einem aufziehenden Gewitter.“

„Ja. Das Gewitter, die Dämmerung, der Wald – übrigens wurde mir von mehr als einer Person versichert, dass es hier spuke. Das alles war recht unbesonnen.“ Sie schaute zum Himmel empor. „Ehrlich gesagt bin ich in einer dringlichen Angelegenheit von London aus zum Savernake Forest gereist. Weder das Wetter noch Geister können mich abschrecken.“

Falls sie damit gerechnet hatte, dass er sich erkundigen würde, worum es sich bei dieser dringlichen Angelegenheit handele, wurde sie enttäuscht. Ebenso wenig gratulierte er ihr zu ihrem Mut. Er ging wortlos weiter.

Natürlich veranlasste sein Schweigen sie, die Sache zu erklären. „In Wahrheit stellt der Weg von London hierher nur die Hälfte der Strecke dar, die ich gereist bin. Genau genommen komme ich von den Kanalinseln. Vor zwei Wochen bin ich von Guernsey aus aufgebrochen.“

Endlich fragte er: „Was wollen Sie im Savernake Forest?“

„Ich suche nach einem Mann.“ Weshalb ihm nicht die Wahrheit eröffnen? Sie hatte vor, nichts unversucht zu lassen.

Als er darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Mir wurde mitgeteilt, dass er in diesem Wald hause. Ich muss gestehen, ich bin verzweifelt genug, Sie nach ihm zu fragen. In Anbetracht Ihres … äh, Lagers nehme ich an, dass Sie hier leben. Vielleicht kennen Sie ihn. Gabriel d’Orléans? Er ist Franzose – das heißt, er hat Frankreich schon als Junge verlassen, und aufgewachsen ist er in England. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort ist …“, naserümpfend spähte sie in den nebelverhangenen, mondbeschienenen Wald, „… hier. In diesem Wald. Irgendwo. Leider habe ich keine genaue Adresse.“

Der Mann blieb stehen, so abrupt und unvermittelt, dass Ryan fast gegen seinen Rücken geprallt wäre. Sie schrie leise auf und sprang beiseite. Ob er eine Schlange entdeckt hatte? Oder ein Sumpfloch? Die Räuber?

„Sir?“, fragte sie behutsam.

Reglos stand er vor ihr, die Schultern gestrafft, die herabhängenden behandschuhten Hände zu Fäusten geballt. Schließlich setzte er sich wieder in Bewegung, ohne sich umzuschauen.

„Ich habe irrtümlich angenommen, mein Lager sei angemessen für eine Frau“, sagte er über die Schulter hinweg. „Stattdessen werde ich Sie zum Dorfrand bringen. Von dort aus können Sie zum Gasthof gehen.“

„Oh.“ Sein unverhofftes Entgegenkommen erstaunte Ryan. „Na schön. Wenn Ihnen das lieber ist. Ich stehe in Ihrer Schuld – wirklich.“

Er entgegnete nichts. Schweigend lief Ryan ihm nach und beobachtete, wie er die Fäuste öffnete und schloss. Blitze zuckten über den Himmel, aber er schaute nicht auf, sondern hielt den Blick auf den Horizont geheftet. Er wurde schneller. Ryan beeilte sich, ihm zu folgen. Sie schlug nach Zweigen und zerrte an ihrem Umhang. Wenn sie nicht mit ihm Schritt halten konnte, würde er sie zurücklassen – daran hegte sie keinerlei Zweifel. Er war schon zuvor nicht gerade zugänglich gewesen, aber jetzt wirkte er aufgebracht, ja fast wütend. Sofern sie sich nicht irrte, rannte er vor ihr davon.

Ryan räusperte sich. „Verzeihen Sie, aber ich möchte nicht versäumen, Sie nochmals zu fragen. Kennen Sie diesen Mann, diesen Gabriel d’Orléans? Falls nicht, haben Sie von ihm gehört? Und falls ja, wissen Sie, wo er zu finden ist?“

„Nein“, antwortete er.

„Nein, Sie kennen ihn nicht, oder nein, Sie wissen nicht, wo er ist?“

„Gabriel d’Orléans“, sagte der Mann, „ist tot.“

5. KAPITEL

Die Worte waren heraus, ehe Gabriel sich bremsen konnte. Steine, die er geworfen hatte und nicht zurücknehmen konnte.

„Tot?“, wiederholte die Frau hinter ihm. „Sind Sie sicher? Sie kannten ihn? Sie kannten Gabriel d’Orléans?“

Sie gelangten zum Grat oberhalb des Flusses Kennet. Gabriel erwog, sich hinabzulassen – sich einfach über die Kante zu schwingen und hinunter zum Wasser zu steigen. Im Schutz des Nebels könnte er zu seinem Lager schwimmen. Diese Frau mit ihren Fragen und Schreien könnte ohne ihn weiterleben. Sie wäre verängstigt und verwirrt, aber irgendwann würde irgendwer sie finden. Er hatte sie vor Meade gerettet, das sollte genügen.

„Aber wann ist er gestorben?“, hakte sie nach, ihr Tonfall mit einem Mal scharf wie ein Rasiermesser.

Er ignorierte die Frage und wog seine Chancen ab. War es möglich, dass sie nicht die einzige Person war, die nach Gabriel d’Orléans suchte? Sie mochte allein sein, aber ebenso gut könnte eine verfluchte Menschenjagd im Gange sein. Jahrelang hatte sich Gabriel den Spürhunden der Obrigkeit, den Palastspionen und selbst seiner eigenen Schwester entzogen.

„Wie ist er gestorben? Und wann?“, bestürmte sie ihn.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte er. „Es ist Jahre her.“

Nein …“, hauchte sie.

„Doch.“

Lügen über d’Orléans waren ihm immer leicht über die Lippen gekommen, so mühelos, wie eine Tür zu verschließen. Diese Lüge indes fühlte sich fadenscheinig und unerprobt an. Ja, er hatte die Tür verschlossen, aber was, wenn es der Frau gelänge, durch ein Fenster einzusteigen?

„Falls Gabriel d’Orléans tot ist“, murmelte sie, „nun … dann … bin ich umsonst hergekommen. Wie kann ich zurückkehren und ihnen sagen, dass mein Weg vergebens war? Dies war unsere beste und praktikabelste Lösung. Oh mein Gott – was soll nur aus uns werden?“

Gabriel blieb stehen und drehte sich um. Das schmeckte nach einer Fangfrage. Wer waren „sie“? Wohin zurückkehren?

Einerlei. Er zwang sich, sämtliche Verpflichtungen zu verdrängen, die er nicht hatte – nicht gegenüber dieser Frau, nicht gegenüber sonst irgendwem.

„Was wollen Sie von Gabriel d’Orléans?“, fragte er. Sofern er denn irgendetwas verpflichtet war, so diesem Namen.

„Ihre französische Aussprache ist makellos“, stellte sie fest. „Sprechen Sie Französisch, Sir?“

Gabriel fluchte stumm. Er hatte den Namen so perfekt betont wie ein Muttersprachler, wie jemand, der seinen eigenen Namen aussprach.

Sie holte ihn ein, trat vor ihn und versperrte ihm den Weg. Ihre Augen waren das Bemerkenswerteste an ihrem Gesicht. Groß und ausdrucksstark; von einem dunklen Graublau. Er bemühte sich, ihre Augen nicht anzusehen. Er bemühte sich, nichts an ihr anzusehen.

Als er nicht antwortete – als er den Blick abwandte –, sagte sie leise: „Vielleicht verraten Sie es mir ein andermal.“

Sie hatte ihren Hut auf der Straße verloren, und ihr Haar hing schlaff und feucht herab und umrahmte ihr Gesicht. Im Mondlicht wirkte es dunkel, ein auffälliger Kontrast zu ihrer hellen Haut.

Nach einem Moment fügte sie an: „Verzeihung – Sie haben mich gefragt, was ich von ihm wolle, richtig? Ich kann es Ihnen ebenso gut erzählen.“ Sie atmete tief durch. „Gabriel d’Orléans war mein Verlobter. Wirklich. Falls Sie mir das abnehmen. Es war eine arrangierte Ehe. Die Verlobung wurde von unseren Vätern beschlossen, als wir noch in den Windeln lagen.“

„Verlobter?“, fragte er rau. Ihm war, als wäre er jäh von festem Grund ins Bodenlose getreten.

Die Frau nickte. „Ich bin hier, um nach ihm zu suchen. Weil ich seine Hilfe brauche.“

Gabriel steckte so tief in seinem Abgrund, dass er sie kaum hörte.

„Sir?“, fragte sie.

Blinzelnd sah er sie an. Er schüttelte nachdrücklich den Kopf – Nein. Abrupt machte er kehrt und marschierte davon. Genau genommen rannte er.

„Warten Sie – Sir?“ Er hörte Schritte hinter sich, blieb jedoch nicht stehen.

Lief er etwa vor ihr davon? Ja – ja, genau das tat er.

Erinnerte er sich an sie? Ja – ja, mochte Gott ihm beistehen, das tat er. Er wurde regelrecht von Erinnerungen überflutet: die Tochter eines Earls, die Verlobung, die Briefe, sein verblichener Vater, sein einstiges Leben.

Im Geiste sah er ein braunhaariges Kind mit gelben Schleifen vor sich, das ihn mit großen Augen musterte.

Er sah seinen Vater, der einem alten Freund zuprostete.

Und er sah, wie sein Vater ihn zu sich in das riesige Studierzimmer im Palais Royale rief.

Er vernahm die Worte Pflicht und Tradition und Bündnis; ein Band zwischen zwei Familien.

Aber wie hatte sie …?

„Bitte bleiben Sie stehen, Mr. …?“, rief sie ihm nach. „Tut mir leid, ich kenne Ihren Namen gar nicht!“

Er hatte sich vor seiner eigenen Schwester Elise versteckt. Jahrelang hatte er sich versteckt. Er hatte sich so erfolgreich verborgen, dass nicht einmal sie ihn aufgespürt hatte. Oh, sie war ihm dicht auf den Fersen gewesen; ihre Ermittler hatten Gabriels Mittelsmann auf einem Pferdemarkt in Haymarket gestellt. Sie hatten so viele Beweise vorgelegt und so viele gute Absichten beteuert, dass es unmöglich gewesen war, ihnen zu entgehen. Als feststand, dass Elise die Suche nach ihm nicht aufgeben würde – und wenn sie sich höchstpersönlich durch den Wald schlagen musste –, hatte er ihr geschrieben. Er hatte sie gebeten, seine Privatsphäre und das Leben zu respektieren, das er sich aufgebaut hatte, und ihn in Ruhe zu lassen. Es war eine harsche Bitte gewesen, und er hatte sie mit dem Vorschlag abzumildern versucht, dass sie einander schreiben könnten. Elise hatte dies nicht verstanden, aber sie hatte nachgegeben. Sie und ihr Gatte hatten ein Anwesen unweit des Savernake Forest erstanden. Sie hatten sich in Wiltshire niedergelassen in der Hoffnung, dass er sich eines Tages zu einem Treffen bereit erklären werde.

Doch das würde er nicht. Eine Kollision zwischen seinem alten und seinem neuen Dasein würde er nicht überstehen. Er wollte nicht, dass seine Schwester sah, was aus ihm geworden war – er wollte von niemandem gesehen werden. Es war leichter, schmerzloser und sicherer für alle Beteiligten, wenn er einfach allein blieb.

Ich will allein sein, dachte er.

Hinter ihm rief die Frau: „Ich kann nicht mit Ihnen Schritt halten, Sir.“

Gut, dachte er.

„Normalerweise bin ich nicht so langsam.“ Sie klang außer Atem. „Aber meine Beine sind nicht so lang wie Ihre. Und ich habe nicht geschlafen. Und nichts gegessen. Und ich habe mich im Wald verirrt. Und – ich wurde überfallen. Sie selbst haben mich verschleppt, und jetzt laufen Sie ironischerweise vor mir davon.“

„Ich bringe Sie ins Dorf“, rief er, ohne sich umzusehen.

Eine weitere Lüge. Er hatte keine Ahnung, wohin er sie brachte. Womöglich liefen sie im Kreis. Oder würden über die Felskante in den Fluss stürzen. Oder in einen Sumpf. Gabriel hatte sich verirrt, war gefunden worden und fiel. Er war dabei, zu ertrinken und seinen verdammten Verstand zu verlieren.

Er hielt inne und wandte sich um. Entschlossenen Schritts holte sie zu ihm auf, wobei ihr Umhang sich hinter ihr bauschte.

„Warum“, verlangte er zu wissen, „sollte die Verlobte von Gabriel d’Orléans den weiten Weg von … von …“ Er brach ab und versuchte, sich an die Details der Verlobung zu erinnern.

„Guernsey“, half sie ihm auf die Sprünge und trat zu ihm. „Ich bin von Guernsey aus hergekommen. Mein Name ist Lady Marianne Daventry. Diejenigen, die mich kennen, nennen mich Ryan.“

Sie atmete so schwer, dass ihre Schultern sich hoben und senkten. Als sie seitwärts taumelte, streckte er unwillkürlich eine Hand aus.

Statt danach zu greifen, schüttelte die Frau sie. „Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. …?“

Gabriel runzelte die Stirn. „Weshalb sind Sie von Guernsey aus hergereist, um einen toten Mann zu treffen?“

„Oh, richtig. Das.“ Sie nahm ihre Hand fort. „Nun, ich bin hergekommen, weil ich natürlich nicht wusste, dass er tot ist; und ich hatte die ungemein große Hoffnung, dass er sich der – gelinde gesagt – äußerst beunruhigenden Sache mit seinem Cousin annehmen würde.“

„Seinem Cousin?“

„Genau.“

„Welches Problem stellt er dar?“

Sie seufzte. „Tja, der Cousin des Prinzen …“

Sie schwieg. Sie schluckte. „Ich kann es Ihnen ebenso gut verraten. Dieser Mann, den ich suche, Gabriel d’Orléans, ist ein französischer Adliger. Zumindest war er das, als Frankreich noch von einer Königsfamilie regiert wurde. De facto ist er ein waschechter Prinz. Sein Titel lautet – lautete …“

Sie verstummte und schaute empor wie jemand, der etwas aus dem Gedächtnis rezitierte. „Ich glaube, sein vollständiger Titel lautet ‚Seine Durchlaucht, Gabriel d’Orléans, Prinz von Geblüt‘. Er war ein Neffe von König Louis XVI. Er verschwand in den Wirren der Französischen Revolution und wurde seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.“

Sie hob die Brauen, als wollte sie sagen: Ist das zu glauben?

Gabriel sagte nichts. Er konnte es tatsächlich nicht glauben – konnte ihr nicht glauben. Und dennoch …

„Prinz Gabriels Vater wurde während der Revolution hingerichtet“, erklärte sie. „Seine Mutter floh außer Landes. Und er und seine Schwestern wurden getrennt und zu ihrer Sicherheit ins Exil nach England gebracht. Er war damals noch ein Junge. Ich war ein Jahr jünger – vielleicht neun? – und bin in dem Wissen aufgewachsen, dass mein Verlobter, der vermisste französische Prinz, sich praktisch in Luft aufgelöst hatte.“

„Haben Sie um ihn getrauert?“, fragte Gabriel vom Grund seines tiefen Lochs aus.

„Um den Prinzen?“ Sie legte die Stirn in Falten. „Nun, das habe ich tatsächlich. Wenn ich ehrlich bin. Ich bin ihm nur zweimal begegnet, und da war er ein Junge und ich ein kleines Mädchen, aber er …“, sie atmete tief durch, „… er hat mir in den Jahren vor seinem Verschwinden Briefe geschrieben. Nicht viele, jedoch genug, dass ich eine gewisse Zuneigung zu ihm entwickelt habe. Ich habe seine Briefe beantwortet, und …“ Wieder hielt sie inne, wie um sich zu sammeln. „Nun, schon als Kinder fanden wir eine arrangierte Ehe merkwürdig. Doch er schien der Vorstellung nicht abgeneigt, ebenso wenig wie ich. Er wirkte sehr pflichtbewusst, was das anging. Er hatte etwas Ernstes an sich, das mir gefiel; ich hatte nie etwas für Zyniker übrig. Und ich lebte zwar auf einer entlegenen Insel, war aber mit einem charmanten Prinzen verlobt – was daran hätte mir missfallen sollen? Sehr wenig, wenn Sie mein neunjähriges Ich gefragt hätten. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich mich nicht um ihn gesorgt hätte, als er aus Frankreich geflohen ist; oder dass ich nicht tieftraurig war, als keine Briefe mehr von ihm kamen. Vielleicht war es bloß eine mädchenhafte Schwärmerei, doch damals fühlte es sich höchst tragisch an. Es war ja auch tragisch.“

Gabriel atmete ein und aus, während er ihre Worte auf Kritik oder Gleichgültigkeit prüfte. Auf den Wahrheitsgehalt.

Sie streifte einen Handschuh ab und strich sich mit ihrer kleinen blassen Hand das Haar aus dem Gesicht. „Inzwischen fehlt mir die Kraft, der Vergangenheit nachzutrauern – vor dem Hintergrund der überaus besorgniserregenden Gegenwart. Die Trauer um den verschwundenen Prinzen ist zweitrangig angesichts des falschen Prinzen.“

„Welcher falsche Prinz?“, fragte Gabriel, wütend auf den Mann, wer immer er war. Er hatte mehr über ihre mädchenhafte Zuneigung zu dem charmanten Prinzen erfahren wollen.

„Sein Cousin“, rief sie ihm ins Gedächtnis und klang gereizt.

„Wieso bezeichnen Sie ihn als falsch?“, wollte Gabriel wissen.

„Prinz Gabriels Cousin ist vor meiner Haustür erschienen und hat behauptet, dass er in Abwesenheit des verschollenen Gabriel den Titel geerbt habe und der neue Prinz d’Orléans sei. Als solchem würden ihm nunmehr sowohl die Schatullen als auch der Grundbesitz der d’Orléans gehören – und er gedenke, sich auch meiner zu bemächtigen.“

„Sich Ihrer zu bemächtigen?“

„Ja. Mich zur Frau zu nehmen. Aufgrund meiner langjährigen Verlobung mit dem vermissten Prinzen. Ich soll anstelle des echten Prinzen diesen falschen heiraten. Ob ihm der Titel nun zusteht oder nicht. Unabhängig davon, was ich dabei empfinde, nämlich Grauen.“ Sie holte tief Luft.

Gabriel starrte zu Boden. Die Bestürzung traf ihn wie ein Hieb gegen den Kopf. Winzige Lichter flackerten am Rande seines Sichtfelds. Er schwankte. Er hatte kaum mehr geatmet, seit sie das Wort Verlobter geäußert hatte.

„Soll ich fortfahren?“, fragte sie.

Er schaute sie verwirrt an.

„Ich werte Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit als Ja.“ Ein Lächeln. „Nun strebt der falsche Prinz also danach zu … zu … kassieren. Mich. Um sich das Anwesen meiner Familie anzueignen, ein altes Herrenhaus namens Winscombe, mitsamt dem dazugehörigen Land. Mein Vater ist schwer krank, und wir durchleben harte Zeiten. Aber wir haben das Haus und die Ländereien und Schafe. Um die Wahrheit zu sagen, ist er nicht gerade erpicht auf mich, aber durch mich fällt ihm alles Übrige zu.“

Sie seufzte, ehe sie weitersprach. „Wie gesagt, es ist eine tragische Geschichte, mit der ich gemeinhin keinen Fremden behelligen würde. Doch Sie haben gefragt. Und ich suche verzweifelt nach einer Spur des echten Prinzen Gabriel d’Orléans. Daher …“

„Was erwarten Sie von Prinz Gabriel?“ Seine Stimme klang belegt.

„Nun, ich habe von ihm erwartet, sich zu zeigen. Diesem Hochstapler zu beweisen, dass er in Wahrheit nicht tot ist. Schließlich kann es nur einen Prinzen d’Orléans geben. Nehme ich an. Selbst in Frankreich.“

„Welcher Cousin behauptet, der neue Prinz d’Orléans zu sein?“

„Wie bitte?“ In ihrer Miene spiegelte sich Verwirrung. „Wollen Sie wissen, wie der Name des Hochstaplers lautet?“

Gabriel wartete. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, einem glühenden Kohlestück gleich.

„Er heißt Maurice Emile … Soundso.“ Sie schaute verdrießlich drein. „Und er ist Furcht einflößend. Wahrhaftig. Ich hätte Guernsey nicht verlassen, um aufs Festland überzusetzen, in einen finsteren Wald vorzudringen und nach einem Prinzen im Exil zu fahnden, wenn die Alternative nicht wahrhaft Furcht einflößend wäre.“

Gabriel wich zwei Schritte zurück. Maurice. Der verschlagene, kleinliche, selbstsüchtige Maurice; ein Ekel schon, als sie noch Kinder gewesen waren.

„Aber woher wussten Sie, wo Sie nach ihm suchen mussten?“, bohrte er nach, darum bemüht, ruhig zu sprechen. „Im Savernake Forest? Was hat Sie …“, er verstummte kurz, „… hierhergeführt?“

„Ich habe einen Brief.“ Sie kramte in ihren Röcken, griff tief in eine Tasche und zog einen Lederbeutel hervor. Sie zog ihn auf, um ihm ein Stück Pergament zu entnehmen, das mehrmals gefaltet war.

„Erinnern Sie sich, dass ich sagte, Prinz Gabriel und ich hätten miteinander korrespondiert? Der einzige Hinweis, den ich hatte, war der letzte Brief, den er mir geschrieben hat.“ Sie entfaltete das Pergament, darauf bedacht, das weiche Material vor dem auffrischenden Wind zu schützen. „In seinen Briefen vor der Revolution hat er von seinem Familienleben im Pariser Palast berichtet. Vom französischen Hof, von seinem Schulunterricht – von Dingen, die typisch für einen Zehnjährigen sind. Als das Volk von Frankreich sich erhob, hörten die Briefe auf. Bis dieser hier eintraf.“

Gabriel starrte auf den fahlen Brief in ihrer Hand. Das Pergament war abgegriffen, sein Alter selbst im Dunkeln erkennbar.

Es war sein Brief.

Sie hielt seinen Brief, vor über einem Jahrzehnt verfasst. Die Verzweiflungstat eines verängstigten, einsamen, verunsicherten Knaben fern seiner Heimat. Sein kindliches Bemühen, sich bis zum Ende ehrenhaft zu verhalten; alles wieder ins Lot zu bringen.

Alter Kummer überkam ihn, drehte ihm den Magen um und erfüllte ihn mit Furcht. Er wich einen weiteren Schritt zurück und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, um die Erinnerungen ebenso zu verscheuchen wie das Bild der Frau, die da vor ihm stand. Er erwog, sich abzuwenden und sie einfach stehen zu lassen. Er könnte im Wald untertauchen, der seit Jahren seine einzige Zufluchtsstätte war.

„‚Zudem wäre es unklug, meinen genauen Aufenthaltsort preiszugeben‘“, zitierte sie aus seinem Brief, „‚aber verraten kann ich, dass ich mich in der Grafschaft Wiltshire im Süden Englands befinde, in einem alten Wald namens Savernake.‘“

Sie ließ das Pergament sinken. „Das hat er mir im Jahr …“, wieder konsultierte sie den Brief, „… 1799 geschrieben. Also … vor fast zwölf Jahren? Sein letzter Brief, wie gesagt. Es ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe. An ihm habe ich meine Suche ausgerichtet, so sinnlos sie erscheinen mag.“

Gabriel stand im Begriff, ihr zu bescheiden, dass sie in der Tat sinnlos erscheine; dass sie den falschen Mann befrage; dass er nicht das Geringste wisse. Die Worte lagen ihm auf der Zunge. Er brauchte die Lüge nur auszusprechen.

Sie musterte ihn, den Kopf zur Seite geneigt. „Aber Sie behaupten, ich hätte die weite Reise auf mich genommen, nur um nach einem Toten zu suchen?“

Blinzelnd blickte er auf sie hinab, froh über eine Frage, die er mit Ja oder Nein beantworten konnte. Es war leichter, sich kurzzufassen, wenn man log. Doch er konnte nicht sprechen, zu sehr damit beschäftigt, Erinnerungen niederzuringen. Gesichter, Gerüche, Gesprächsfetzen – Briefe, all das umschwärmte ihn wie Insekten. Wie lange war es her, dass er an das Mädchen von einst oder an die Frau gedacht hatte, die sie werden mochte? Wie lange war es her, dass er an ihre Briefe gedacht hatte? Bilder und Empfindungen stürmten von allen Seiten auf ihn ein. Natürlich war er der Prinz. Er war als Kind verlobt worden. Er hatte ihr geschrieben, närrischer Jüngling, der er gewesen war. Er hatte einen abscheulichen Cousin namens Maurice.

Gerade wollte er ihr beipflichten – ihr sagen: Ja, Himmelherrgott, der Prinz ist tot –, als ein Blitz aufflackerte. Donner grollte, und der Himmel öffnete seine Schleusen. Ein eisiger Sturzregen ging auf den Wald nieder. Die Frau gab einen spitzen Laut von sich, faltete eilig den Brief zusammen und verstaute ihn im Lederbeutel. Den Kopf eingezogen, nestelte sie an der Kapuze ihres Umhangs.

Jäh fiel Gabriel der verängstigte Hengst ein, den er am Baum angebunden hatte.

„Zeus“, stieß er leise aus. Er sah sich um und überlegte, wie rasch er zu dem Tier gelangen konnte.

„Was ist?“, rief sie über das Prasseln des Regens hinweg.

„Eines meiner Pferde! Es fürchtet sich vor Regen! Ich muss es holen! Können Sie …?“

Er schaute zum Himmel auf. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Er konnte die Frau schwerlich mitten in einem Unwetter zurücklassen. Zuerst würde er sie zu seinem Lager bringen müssen, ehe er Zeus holte.

„Können Sie rennen?“, schrie er.

„Was? Rennen? Ich denke schon … ja.“

Er nahm sie bei der Hand und stürmte los.

6. KAPITEL

Ryan bemühte sich mitzuhalten – wirklich. Sie hatte all ihre verbliebene Kraft aufgebracht und den Schmerz im Bein ebenso ignoriert wie ihre Müdigkeit und ihre mangelnde Trittsicherheit auf dem dunklen, schlüpfrigen, ungewohnten Untergrund. Aber seine Schritte waren länger, und er kannte den Weg. Er hatte sie nur eine kurze Strecke weit hinter sich hergezogen, bevor er sich umgedreht hatte, um sie abermals hochzuheben und sich über die Schulter zu werfen.

Ryan hatte dies mit einem gedämpften Aufschrei quittiert, aber wenn sie ehrlich war, verspürte sie Erleichterung. Vor die Wahl gestellt, durch aufgeweichtes Gelände gezerrt oder getragen zu werden, bevorzugte sie Letzteres. Eine wenig bekannte Tatsache: Es war gar nicht so schlimm, von einem großen, breitschultrigen Mann hochgehievt und umhergetragen zu werden. Nach der Nacht, die sie hinter sich hatte. Und angesichts des Regens. Und zudem von diesem großen, breitschultrigen Mann.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht baumelte sie kopfüber in seinem Rücken, ihre Beine gegen seine Brust gepresst. Ihr Hinterteil ragte himmelwärts, und der Mann hielt sie sicher umklammert, indem er ihr einen Arm gegen die Kniekehlen drückte. Dabei verfehlte er nur knapp die Wunde an ihrem Bein. Inzwischen war sie versierter darin, sich festzuhalten. Sie umfasste seine Taille mit beiden Händen und barg eine Wange an seinem Rücken.

Sie hielt die Augen geschlossen, spürte jedoch das Auf und Ab des Terrains, hörte die dumpfen Tritte seiner Stiefel, roch nasse Blätter. Platschend trat er in eine Pfütze, sodass ihr kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Sie hielt ihr Haar mit einer Hand gerafft, damit es nicht durch den Schlamm schleifte.

Er sagte etwas über die Schulter hinweg – gab irgendeine geknurrte Anweisung, die sie nicht verstand.

„Was?“, fragte sie.

„Schließen Sie die Augen“, befahl er abermals.

„Sie sind geschlossen!“, gab sie zurück.

Jetzt allerdings schlug Ryan sie blinzelnd auf und fragte: „Wieso?“

„Mein Lager liegt voraus“, erwiderte er, „und es ist … es ist streng geheim. Es wäre mir lieber, wenn es verborgen bliebe.“

Verborgen? wiederholte sie im Stillen. Als würde sie freiwillig in diesen grässlichen Wald zurückkehren und absichtlich in das Lager dieses Mannes eindringen.

„Sie sind geschlossen“, versicherte sie ihm – nun indes dazu verleitet, das rechte Auge einen Spaltbreit zu öffnen. Nicht dass es einen Unterschied machte; die Welt war ein verschwommener Schemen, bestehend aus triefender Vegetation und dem flatternden Mantelzipfel des Mannes.

Fünf Minuten später brummte er: „Da.“ Er neigte sich zur Seite und lehnte sich gegen etwas Hartes, Unnachgiebiges.

Die Regentropfen, die unerbittlich auf sie eingeprasselt waren, versiegten. Ryan hörte sie gegen einen Vorsprung über ihrem Kopf trommeln. Irgendetwas schirmte auf einer Seite den Wind ab. Sie schlug die Augen auf und schaute sich um. Der Mann lehnte an einer Wand aus grob behauenen Balken, deren Zwischenräume verputzt worden waren.

„Können Sie stehen?“, erkundigte er sich und ließ sie langsam hinunter.

„Wahrscheinlich“, brachte sie heraus und wurde sanft auf dem Boden abgesetzt. Ihre Füße waren taub, und die Wunde an ihrem Bein schmerzte. Sie wankte. Große Hände schlossen sich um ihre Taille und stützten sie. Ihr durchtränktes Haar klebte ihr im Gesicht, und sie strich es zurück, um etwas sehen zu können.

„Legen Sie eine Hand an die Wand“, riet er ihr.

„Danke.“ Sie streckte eine Hand aus und versuchte, sich möglichst verhohlen umzuschauen.

„Sehen Sie sich ruhig um“, bemerkte er. „Es ist ein Lager – nichts weiter. Ich habe keine Zeit für einen Rundgang, und ehrlich gesagt gibt es auch nichts …“

Er stieß die Luft aus, ohne den Satz zu beenden.

„Gehen Sie“, forderte sie ihn auf. „Ihr Pferd – bitte gehen Sie. Ich warte gern …“, sie ließ den Blick schweifen, um zu ergründen, wo er sie abgesetzt hatte, „… hier.“

Wie aus dem Nichts tauchten zwei riesige Hunde aus dem Nebel auf und trotteten auf sie beide zu. Ryan reagierte, ohne nachzudenken, und drückte sich keuchend gegen die Wand.

„Vorsicht“, mahnte er, die Stirn ob ihrer Scheu gerunzelt. Er schnalzte mit der Zunge und hob eine Hand. Beide Hunde verharrten und setzten sich schwanzwedelnd. „Haben Sie Angst vor Hunden?“

„Nein“, stieß sie mühsam aus, das Gesicht zur Wand gedreht. „Das heißt, nicht bis vor Kurzem. Tut mir leid. Ich bin nicht …“ Sie atmete tief durch, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. „Sie sind doch nicht gefährlich – Ihre Hunde?“

„Nein. Sie helfen mir bei den Pferden und leisten mir Gesellschaft.“

Ryan nickte in Richtung Wand, bemüht, sich zu sam...

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