Weiter geht es nach der Werbung

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Gemeinsamkeiten oder Gegensätze - was ist die wichtigste Zutat für eine Beziehung?

Je mehr Gemeinsamkeiten ein Paar hat, desto besser läuft die Beziehung. Davon ist Paartherapeutin Taylor McGuire überzeugt. Ihr Ex-Lover, der erfolgreiche Psychologe Jonathan Kirby, behauptet mal wieder genau das Gegenteil - nur auf viel Sex kommt es an. In einer Talkshow fordert er Taylor heraus, um zu beweisen, dass er recht hat: Für eine Realityshow sollen Singles aus der kleinen Stadt Marriageville einen Monat lang zusammenleben. Dann wird sich schnell zeigen, was wichtiger ist: Verlangen oder Verständnis. Vor laufender Kamera bleibt Taylor nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Doch das Experiment droht, sich zu verselbständigen: Nicht nur die Einwohner von Marriageville werden hart von Amors Pfeil getroffen. Auch zwischen Taylor und Jonathan beginnt es wieder zu knistern.


  • Erscheinungstag 10.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495267
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Weiter geht es
nach der Werbung

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Stefanie Kruschandl

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Married for a Month
Copyright © 2001 by Susan Macias Redmond
erschienen bei: Pocket Books

Published by arrangement with
Pocket Books, a division of Simon & Schuster,
Inc., New York

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München / Tomwang112; lightpoet;
vita khorzhevska; art_of_sun / Shutterstock
Autorenfoto: annieb / STILLS Photography
ISBN ebook 978-3-95649-526-7

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Taylor, wir haben eine Überraschung für Sie“, verkündete Katrina Melon in ihrer ach so munteren Art.

Taylor McGuire warf einen Blick auf die Fernsehmoderatorin und blinzelte. Dann zwang sie sich zu einer Erwiderung, obwohl ihre Kehle so eng war, als hätte jemand Stahlbänder darumgeschlungen. „Nein“, stieß sie mühsam hervor und fuhr sich mit der Zunge über die staubtrockenen Lippen. „Keine Überraschungen.“

Katrina beugte sich vor. Die Frau war mindestens fünfzig. Was sie offenbar nicht davon abhielt, trotz ihrer grellblond gefärbten Haare ein pinkes Chanel-Kostüm zu tragen. Dazu hatte sie eine ordentliche Portion Make-up auf ihren seltsam straffen Gesichtszügen verteilt. „Keine Sorge“, flötete sie und tätschelte Taylor die Hand. „Das läuft doch alles ganz wunderbar.“

Aber sicher, dachte Taylor, während sie krampfhaft versuchte, der ganzen Sache etwas Lustiges abzugewinnen. Ihre Hände waren inzwischen nicht mehr nur feucht, sie begannen schon zu tropfen. Und ihre Beine zitterten wie verrückt, obwohl sie sich sicherheitshalber hingesetzt hatte. Wenn das hier ganz wunderbar war, wollte sie lieber nicht wissen, was passierte, wenn sie erst mal so richtig nervös wurde oder eine Panikattacke bekam.

Na gut. Positiv betrachtet würde sie in wenigen Sekunden wissen, wie sich eine Nahtoderfahrung anfühlte. Falls sie die ganze Sache überlebte, war das sicher eine sehr interessante Erkenntnis. Negativ betrachtet stand sie allerdings kurz davor, sich vor mehreren Millionen Fernsehzuschauern bis auf die Knochen zu blamieren. Und vermutlich saßen auch all ihre Freunde und ihre ganze Familie vor dem Bildschirm, um das Spektakel mitzuverfolgen.

Katrina legte ihre Notizen zur Seite und lächelte. Zumindest vermutete Taylor das. Ganz sicher konnte man sich bei diesen straffen Gesichtszügen nicht sein.

„Sind Sie bereit?“

Taylor ersparte sich eine Antwort. Wozu auch? Es war ja sowieso völlig sinnlos. Die Plastik-Prinzessin würde garantiert jede Form von Protest mit ihren sorgfältig manikürten Händen beiseitewischen. Also konzentrierte sich Taylor lieber auf ihre Atmung und versuchte sich daran zu erinnern, dass Neues aus der Psychologie eine sehr angesehene, professionell produzierte Show war. Kein Trash-Fernsehen mit seltsamen Kameraschwenks oder durchgeknallten Talkshowgästen. Nein, diese Sendung wurde von Ärzten und führenden Psychologen gesehen. Die Beiträge wurden in Fachzeitschriften diskutiert und an Universitäten besprochen. Sie selbst gehörte ebenfalls zu den Zuschauern und verpasste kaum eine der wöchentlichen Ausstrahlungen.

Erneut verzog sich Katrinas Gesicht ein paar Millimeter. Diesmal sollte ihre Miene wohl Sympathie ausdrücken. „Also, wir hatten ja besprochen, dass Sie in den letzten zwei Minuten der Sendung auftreten, um den Zuschauern alles über Ihre spannende Theorie zu erzählen. Über diese, ähm … Wie war noch mal der Titel Ihrer Arbeit?“

„Kompatibilität als Schlüssel zu einer erfolgreichen Beziehung“, stieß Taylor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Ach ja. Natürlich. Aber wissen Sie, nachdem sich Dr. Bill gestern dummerweise eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hat, müssen wir nun etwas improvisieren. Es ist ja schließlich eine Live-Sendung.“ Es folgte erneutes Handgetätschel. „Dreißig Minuten. So lange ist das doch nicht. Denken Sie einfach an die Einschaltquoten. Und bestimmt winkt Ihnen danach eine Veröffentlichung bei einem großen Verlag.“

„Bestimmt“, murmelte Taylor, während sie sich verzweifelt wünschte, endlich nach Hause gehen zu können. Ruhm und Ehre, wer brauchte das schon? Das wurde doch sowieso völlig überbewertet.

Ein Mann, der im grellen Scheinwerferlicht nur verschwommen zu erkennen war, brüllte etwas von zehn Sekunden.

Aufmerksamkeit, rief Taylor sich ins Gedächtnis. Genau deshalb war sie hier. Um auf ihre Theorie aufmerksam zu machen. Weil ebendiese Aufmerksamkeit womöglich zu anhaltendem Interesse führen konnte und dann vielleicht sogar zu einem Buchvertrag. Und der Verkauf ihres Buchs würde … eine Menge für sie bedeuten. Zum Beispiel endlich etwas finanzielle Sicherheit. Und Anerkennung. Das Gefühl, eines der Ziele in ihrem Leben erreicht zu haben.

Sie hatte die letzten Monate damit verbracht, sämtliche Verlage, die sie kannte, anzuschreiben. Vergeblich. Niemand wollte ihr Buch veröffentlichen. Ein Teil des Problems war vermutlich, dass sie einfach nicht wie eine Expertin wirkte. Sie war eine alleinerziehende Mutter aus einer kleinen Stadt, von der kein Mensch jemals gehört hatte. Ihr Doktortitel war so frisch, dass er noch nicht mal in den Babyschuhen steckte – er glich eher einer Eizelle, die gerade erst befruchtet worden war. Und ihre Veröffentlichungsliste bestand gerade mal aus zwei kleinen Artikeln. Kein Wunder also, dass sie die Verlagswelt nicht zu wilden Begeisterungsstürmen inspirierte.

Oder die Fernsehzuschauer, dachte Taylor, während sie panisch zu überlegen begann, wie sie wohl ganz allein eine dreißigminütige Sendung füllen sollte.

„Fünf, vier, drei …“

Plötzlich wurde das Licht der Scheinwerfer noch greller, und Katrina wandte ihr stark geschminktes Gesicht einem unsichtbaren Publikum zu.

„Und da sind wir wieder, bei Neues aus der Psychologie, mit einem spannenden Studiogast. Neben mir sitzt Taylor McGuire, deren Theorie über Kompatibilität als Erfolgsgeheimnis einer Beziehung für Aufsehen in psychologischen Kreisen sorgt. Bitte erläutern Sie uns Ihre These doch mal etwas genauer, Dr. McGuire.“

Taylor nickte und versuchte, sich an den einzigen Yogakurs zu erinnern, den sie jemals in ihrem Leben besucht hatte. Danach hatte sie eine Woche lang nicht richtig gehen oder stehen können, weil ihr Körper offenbar nicht für derartige Verrenkungen geschaffen war. Aber die Atemübungen waren gar nicht so schlecht gewesen. Wie ging das noch mal? Genau. Tief einatmen. Und wieder ausatmen.

„Ich arbeite seit einigen Jahren als Psychologin“, erklärte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu zittrig klang. „Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt dabei auf der Paar- und Eheberatung. In den Gesprächen mit meinen Klienten ist mir ein Muster aufgefallen, das sich in allen erfolgreichen Beziehungen zeigt – egal welcher Art: Je mehr zwei Menschen gemeinsam haben, desto besser kommen sie auf Dauer miteinander klar.“

Katrina nickte und lächelte. „Sie wissen aber, dass diese Theorie von führenden Psychologen bestritten wird?“

„Natürlich“, entgegnete Taylor und überlegte, ob sie jetzt sagen sollte, dass diese Psychologen sich leider allesamt irrten.

„Einer der Gegner Ihrer Theorie ist ein beliebter Gast in unserer Show. Wir freuen uns, ihn auch heute Abend hier bei uns begrüßen zu dürfen. Dr. Kirby ist bekanntlich der Ansicht, dass Gegensätze sich anziehen. Es wird also eine spannende Debatte. Meine Damen und Herren: Bitte begrüßen Sie mit mir … Dr. Jonathan Kirby!“

Bisher hatte Taylor das Studio durch eine Art Nebel wahrgenommen. Doch nun fing es leider auch noch an, sich wild um die eigene Achse zu drehen. Jonathan Kirby war hier? Jetzt? Höchstpersönlich? Nein, unmöglich. So grausam konnte das Schicksal doch nicht sein.

Es konnte, wurde ihr gleich darauf klar, als ein großer, dunkelhaariger Mann ins Studio geschlendert kam. Er war schlank, aber muskulös und bewegte sich mit einer Lässigkeit, die zeigte, dass er sich vor den Kameras wohlfühlte. Genau wie im Bett. Oder sonst wo – splitterfasernackt. Jonathan hatte nie ein Problem damit gehabt, sich von seiner schönsten Seite zu präsentieren. Und das war nur eines der ca. fünfzig Millionen Bilder, die plötzlich durch ihren Kopf schossen. Begleitet von einer schrillen Stimme, die sie daran erinnerte, dass dieser Mann sie siebzehn Jahre zuvor aus seinem Leben gestrichen hatte. Er hatte sie sitzen gelassen und war gegangen, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen.

Das ist so unfair, dachte Taylor. Und ja, okay, das Leben war eben nicht fair. Aber das machte es auch nicht besser. Im Grunde war sie nicht mal überrascht. Das war doch wieder typisch. Kaum hatte sie ihr Leben ansatzweise im Griff, kam ein Geist aus der Vergangenheit vorbeispaziert und zerstörte alles. Und zwar live und in Farbe. Vor Millionen von Zuschauern.

„Und aus!“, rief eine körperlose Stimme, die von irgendwo hinter den Kameras zu kommen schien. „Eine Minute Pause, Leute. Bleibt bitte auf euren Plätzen!“

Das Licht wurde schwächer. Katrina schnellte von ihrem Stuhl empor, umrundete den Tisch und eilte auf Jonathan zu.

„Dr. Kirby. Jonathan. Danke, dass Sie gekommen sind“, gurrte sie und platzierte eine schmale Hand auf seinem Arm. „Als ich gehört habe, dass Dr. Bill krank ist und wir nur die liebe Taylor hier bei uns in der Sendung haben, wäre ich ehrlich gesagt vor Schreck fast gestorben.“ Sie drehte sich um und schenkte Taylor ein wohlgefälliges Lächeln. „Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel, Schätzchen. Aber niemand hat je von Ihnen gehört. Und Ihre Ideen sind auch nicht so weltbewegend neu, dass wir eine halbe Stunde Primetime damit füllen könnten.“

Nein, dachte Taylor. Sie nahm hier niemandem irgendetwas übel. Sie fühlte sich nur wie Humphrey Bogart in Casablanca: Von allen Psychologen und allen Talkshows der Welt … kommt er ausgerechnet in meine.

Jonathan ignorierte Katrina. Stattdessen richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf Taylor. Ganz plötzlich fühlte sie sich, als wäre sie das schönste Wesen auf Erden. Das ist nur einer dieser berüchtigten Jonathan-Tricks, rief sie sich scharf ins Gedächtnis, während sie prompt darauf hereinfiel.

„Ich gratuliere“, sagte er. „Zu deiner Doktorarbeit und den beiden Artikeln.“

Diese Stimme. Diese verdammte schokoladensamtige Kommmit-mir-ins-Bett-und-ich-zeige-dir-den-Himmel-Stimme. Nein, dachte Taylor. Das hier lief absolut nicht so, wie es sollte. Es war ja eine Sache, sich selbst zu versichern, dass man immun gegen diesen Mann war. Aber eine ganz andere, das plötzliche Verlangen nach ihm zu bekämpfen.

„Ich gratuliere ebenfalls“, brachte sie mühsam hervor und setzte ihr allerschönstes Lächeln auf, während sie Gott dafür dankte, dass sie durch ihre Grippe im vergangenen Monat fünf Pfund abgenommen hatte. „Du wolltest immer zu den Besten gehören. Und nun hast du es geschafft – Dr. Jonathan Kirby, der Superstar.“

„Dreißig Sekunden, Leute.“

Katrinas Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Ach. Sie kennen sich?“

„Wir arbeiten im selben Bereich“, erwiderte Taylor und streckte ihre Hand dem Mann entgegen, der irgendwann einmal das Zentrum ihres Universums gewesen war. Dieses Knistern, das plötzlich in der Luft lag, war ein wenig irritierend. Aber davon würde sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nein, sie würde diese Situation hier auf eine erwachsene und vernünftige Weise meistern.

Im Grunde war die sexuelle Spannung zwischen ihnen sogar von Vorteil, denn das lenkte sie von ihrer Nervosität ab. Plötzlich machten ihr all die Kameras gar nichts mehr aus. Das Zittern war verschwunden, und sie verspürte eine ganz neue Entschlossenheit: Sie würde mit Jonathan diskutieren. Und sie würde diese Debatte gewinnen. Schließlich tat sie das jedes Mal, wenn er im Fernsehen auftrat. Während sein Gesicht über den Bildschirm flackerte, lief sie durchs Zimmer und schoss eine kluge Bemerkung nach der nächsten ab. Unter dem Ansturm ihrer logischen Fähigkeiten musste Jonathan sich dann am Ende stets geschlagen geben und einsehen, dass er sich komplett geirrt hatte. Okay. Zugegebenermaßen waren diese Wohnzimmer-Diskussionen etwas einseitig. Aber das tat jetzt nichts zur Sache.

Jonathan ergriff ihre Hand. Ohne loszulassen, geleitete er Taylor zu ihrem Platz.

„Ich freue mich schon sehr darauf, mit dir über deine Theorie zu diskutieren“, erklärte er.

„Und ich freue mich darauf, diese Diskussion zu gewinnen“, entgegnete Taylor, setzte sich und entzog ihm ruckartig die Hand. Sie konnte nur hoffen, dass niemand aufgefallen war, wie sehr seine Berührung sie erschüttert hatte. Was nicht verwunderlich war. Nach drei Jahren ohne Sex dürstete ihr Körper einfach nach männlicher Nähe. Das war eine rein biologische Reaktion und hatte rein gar nichts mit Jonathan Kirby zu tun.

„Los geht’s, Leute. Fünf, vier, drei …“

Erneut wurden sie von dem grellen Licht geblendet. „Willkommen zurück“, flötete Katrina und starrte direkt in die Kamera, über der diese kleine rote Lampe blinkte. „Dr. Kirby, was halten Sie von Dr. McGuires Theorie, dass Paare mit den meisten Ähnlichkeiten die besten Beziehungen haben?“

„Na ja, das ist natürlich eine sehr interessante Theorie. Nur gibt es dazu leider keinerlei statistischen Erhebungen. Wie ich bereits erwähnt habe, funktioniert eine Beziehung genau dann, wenn beide Partner wirklich wollen, dass sie funktioniert. Jeder von uns kennt diese Paare, die wie füreinander geschaffen scheinen. Doch was passiert? Bereits nach wenigen Monaten lassen sie sich scheiden. Und dann gibt es andere Paare, bei denen man absolut sicher ist, dass sie sich sofort wieder trennen werden, aber die bleiben dann fünfzig Jahre oder länger zusammen. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Eine erfolgreiche Beziehung hängt davon ab, dass man willens ist, auch die schlechten Zeiten gemeinsam durchzustehen. Und wenn zu diesem Willen dann auch noch ein gut funktionierendes Sexleben hinzukommt, tja, dann läuft die Sache eben.“

Taylor blinzelte, während sie versuchte, Jonathans Worten zu folgen. Leider war das zu Hause vor dem Fernseher wesentlich einfacher gewesen. Aber da hatte sie auch nicht so dicht neben diesem Mann gesessen. Selbst nach all den Jahren brachte seine körperliche Anwesenheit sie noch immer völlig durcheinander. Na los! Konzentrier dich, befahl sie sich. Sie durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Es ging jetzt um seine alberne Theorie und darum, sie schnellstmöglich zu widerlegen. Um alles andere musste sie sich später kümmern.

Sie beugte sich ein wenig vor und schenkte Jonathan ein nachsichtiges Lächeln. „Dr. Kirbys Geschichten sind ganz wunderbar“, erklärte sie. „Wir sind natürlich alle tief berührt, wenn die Liebe entgegen jeder Wahrscheinlichkeit triumphiert. Nur sind diese Geschichten leider die Ausnahme und nicht die Regel. Die meisten Menschen suchen sich bewusst oder unbewusst einen Partner aus, der zu ihnen passt. Und das aus gutem Grund: Das Zusammenleben ist nämlich viel einfacher und angenehmer, wenn man dasselbe Wertesystem hat und ähnliche Zukunftspläne. Zum Beispiel wenn es darum geht, ob man Kinder haben möchte oder nicht. Es tut mir leid. Aber ich denke, dass Dr. Kirby hier die Fiktion mit der Wirklichkeit verwechselt. Das echte Leben ist leider kein Liebesroman und auch kein romantischer Fernsehfilm.“

Katrina sah sie an, und einen Moment lang schien es Taylor, als würde neben Überraschung auch ein Hauch von Respekt im Blick der Moderatorin liegen. „Was sagen Sie dazu, Dr. Kirby?“

Jonathan drehte den Kopf in Taylors Richtung. „Das klingt ja alles sehr vernünftig. Allerdings sollten wir auch über sexuelle Anziehungskraft sprechen. Meiner Ansicht nach ist das eine der stärksten Kräfte innerhalb jeder Beziehung. Wenn man sich körperlich zueinander hingezogen fühlt, spielt das eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie irgendwelche geistigen Übereinstimmungen. In diesem Zusammenhang möchte ich meine geschätzte Kollegin auch daran erinnern, dass eine Ehe im traditionellen Sinn die beiden unterschiedlichsten Wesen vereint, die es auf diesem Planeten gibt: einen Mann und einen Frau. Womit mal wieder das alte Sprichwort bewiesen wäre: Gegensätze ziehen sich an. Und gerne auch aus.“

Katrina kicherte. „Hervorragender Punkt. Danke, Dr. Kirby“ Sie beugte sich vor und tätschelte Jonathans Arm.

Nur mit Mühe konnte sich Taylor davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Schön und gut. Traditionelle Beziehungen bestanden vielleicht aus einem Mann und einer Frau. Aber Katrina selbst glich eher einer rolligen Katze. Obwohl Jonathan derartige Reaktionen natürlich gewohnt war. Schon immer war er sehr beliebt beim weiblichen Geschlecht gewesen. Wo immer er auch hinkam, scharten sich seine Groupies um ihn.

„Ja, Männer und Frauen unterscheiden sich. Daher ist es umso wichtiger, dass es ansonsten möglichst viele Gemeinsamkeiten gibt“, erwiderte sie sachlich. „Wachstum und Veränderung gehören zum Kreislauf unseres Lebens. Wenn zwei Menschen ihre Lebensreise von einem ähnlichen Punkt aus starten und auf dem Weg vergleichbare Erfahrungen machen, ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass sie auch weiterhin in dieselbe Richtung gehen.“

Jonathan schüttelte den Kopf. „Dr. McGuire, das ist leider ein Irrtum. Wenn zwei Menschen vom selben Punkt aus starten, werden sie mit größter Wahrscheinlichkeit an völlig verschiedenen Orten ankommen. Wichtig ist nicht derselbe Ausgangspunkt, sondern dasselbe Ziel. Mal angenommen, wir beide würden eine Bergwanderung machen. Zu Beginn befinden wir uns viele Kilometer voneinander entfernt. Aber wir werden uns unweigerlich nahekommen, wenn jeder von uns den Gipfel erklimmen will. Und sollte das auch in sexueller Hinsicht so sein – umso besser.“

Taylor beschloss, die letzte Bemerkung zu ignorieren. „Das ist wieder ein sehr schönes Bild, Dr. Kirby. Nur ist das Leben eben keine Bergbesteigung, die man in relativ kurzer Zeit absolviert. Es ist eine jahrelange Reise, deren Route auf keiner Karte zu finden ist. Und Menschen, die einander ähnlich sind, verstehen sich. Sie arbeiten zusammen und unterstützen sich gegenseitig.“

„Oder sie langweilen sich schrecklich. Bis sie irgendwann am Steuer ihres Jeeps einschlafen und in den Graben fahren.“

Wieder kicherte Katrina. „Exzellent, Dr. Kirby!“ Widerstrebend wandte sie sich Taylor zu. „Das würde mich nun doch interessieren, Dr. McGuire. Wie vereinbaren Sie denn Langeweile mit Ihrer Theorie? Werden zwei Menschen, die sich ähneln, einander nicht sehr schnell überdrüssig?“

„Überhaupt nicht. Denn sie können ja ihre Energie darauf verwenden, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie setzen sich Ziele und versuchen, diese zu erreichen. Wen hätten Sie lieber an Ihrer Seite: einen Menschen, den sie verstehen und dem sie vertrauen? Oder einen Fremden, den Sie zwar spannend finden, aber von dem Sie nicht wissen, ob er für Sie da sein wird, wenn es hart auf hart kommt?“

Jonathan grinste. „Ein spannender Fremder. Das ist doch genau, was ich sage. Also langweilen sich Paare, die sich zu sehr ähneln?“

Taylor unterdrückte ein Stöhnen. Fast wäre sie in die Falle getappt. „Der Punkt ist doch, dass es schwere Zeiten im Leben gibt. Für jeden von uns. Und wenn diese Zeiten kommen, dann hätten wir gerne jemanden an unserer Seite, den wir kennen und dem wir einhundert Prozent vertrauen können. Einen Partner, der uns garantiert nicht im Stich lassen wird. Spannend ist ja schön und gut, besonders wenn wir noch auf der Suche nach der großen Liebe sind. Dann ist es die Jagd, die unsere Herzen klopfen und unser Blut schneller fließen lässt. Aber längerfristig wünschen sich die meisten Menschen einen vertrauten Partner. Vor allem einen verlässlichen.“

Jonathan hob die Augenbrauen. „Wollen wir wetten?“

Verblüfft sah Taylor ihn an. „Was soll das heißen?“

„Genau was ich gesagt habe. Wir sollten unsere Theorien auf die Probe stellen. Dann wird sich schnell zeigen, wer von uns beiden recht hat.“

Taylor sah Katrina an. War das hier schon wieder eine Falle? Hatten die beiden heimlich etwas ausgeheckt? Aber Plastik-Prinzessin in ihrem superpinken Kostüm sah ebenfalls ziemlich verwirrt aus.

„Dr. Kirby?“

„Tja, wie Sie sehen, können Dr. McGuire und ich uns nicht einigen“, verkündete Jonathan und schenkte der Kamera sein bestes Lächeln. „Nachdem wir jetzt beide unsere Theorien dargelegt haben, sollten wir einfach die Praxis entscheiden lassen. Ich schlage daher eine Wette vor. Eine Art Liebeswettbewerb.“

„Das ist doch völlig irre“, platzte Taylor heraus.

Jonathan beugte sich vor und legte eine Hand auf ihren Arm. Sofort breitete sich eine Hitzewelle in ihrem ganzen Körper aus. „Aber, aber, Dr. McGuire. Das ist ein Wort, das wir in unserem Beruf niemals verwenden sollten.“

„Okay“, sagte Taylor zwanzig Minuten später, als die Kameras aus waren und sie gemeinsam im Konferenzraum standen. „Vielleicht war ‚irre‘ nicht das richtige Wort. Aber irgendetwas kann doch definitiv nicht mit dir stimmen.“

„Ist das deine fachliche Einschätzung?“, erkundigte sich Jonathan und genoss, wie ihre Augen verärgert funkelten und ihre Wangen sich zu röten begannen.

Wie lange war es her, dass er Taylor McGuire zum letzten Mal gesehen hatte? Dreizehn Jahre? Sechzehn? Als ihre Wege sich getrennt hatten, war Taylor gerade mal achtzehn gewesen und er nicht viel älter. Zwei Teenager, jung, verletzlich und so verdammt unerfahren und dumm.

Jetzt stemmte Taylor energisch die Hände in die Hüften und sog scharf die Luft ein. Ein klares Zeichen, dass sie sich bereit für den Kampf machte. Merkwürdig, wie gut er sie nach all der Zeit noch kannte. Er konnte sich genau an ihre Körpersprache erinnern. Und daran, wie sich dieser Körper in seinen Armen angefühlt hatte. Nackt. Ohne irgendwelche störende Kleidung. Sie beide hatten so viel Hitze erzeugt, dass man damit ein ganzes Solarkraftwerk hätte ersetzen können.

„Versuch nicht, mich zu manipulieren, Jonathan“, verkündete Taylor. „Du magst ja ein renommierter Psychologe und sehr beliebt bei sämtlichen Medien sein. Aber mich kannst du mit dieser Nummer nicht beeindrucken.“

„Ja, du warst schon immer schwer zu beeindrucken. Übrigens freut es mich, dass du den Doktortitel bekommen hast. Ich weiß, wie wichtig dir das war.“

Sie warf ihm einen gereizten Blick zu. „Lass das, Jonathan. Du bist keine nette alte Tante, der ich gerade auf einer Familienfeier begegne. Also hör auf, dich so zu benehmen. Und tu bitte nicht so, als ob du irgendetwas über mich wüsstest.“

„Es gab Zeiten, da habe ich alles über dich gewusst.“ Er ließ seinen Blick einen Moment lang auf ihrem Hals ruhen, um ihn dann zu dieser samtweichen Stelle an ihrem Ohr hinaufgleiten zu lassen. Taylor hatte es geliebt, wenn er …

„Stopp, Jonathan! Was immer du gerade denkst, hör auf damit! Mir ist klar, dass ich dir in professioneller Hinsicht nicht das Wasser reichen kann. Vor den Augen der Welt bist du der große Experte, und ich bin nur ein Landei aus irgendeinem kleinen Nest. Aber weißt du was? Ich bin zufällig verdammt gut in meinem Job. Weil ich meine Zeit nämlich nicht ständig in Talkshows verbringe und damit, meine Bücher zu bewerben. Ich arbeite mit meinen Patienten. Und ich finde heraus, was ihnen hilft und was nicht. Du glaubst also nicht an meine Theorie? Tja, ich erlebe jeden Tag aufs Neue, dass sie stimmt. Und genau deshalb werde ich nicht zulassen, dass du dich über mich und meine Ideen lustig machst.“

Wenn sie sich weiter so in Rage redete, würden demnächst Flammen aus ihrem Mund schießen. So viel Energie, dachte Jonathan bewundernd, während er Taylors leidenschaftlichen Ausbruch genoss.

War sie schon immer so schön gewesen? Er betrachtete ihre blaugrauen Augen und die Pupillen, die jetzt vor Erregung geweitet waren. Vor lauter Empörung zitterten die vollen Lippen ein wenig, was irgendwie ziemlich sexy wirkte. Genau wie Taylors honigfarbenes Haar, das bei jeder Bewegung leicht ihre Schultern streifte und sich unglaublich weich anfühlte, wenn er sich recht erinnerte.

Er lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. „Seit wann bist du so ernst und verbissen?“

„Und seit wann bist du käuflich?“

„Seit ich so viel Geld dafür bekomme.“

Bevor Taylor endgültig explodieren konnte, flog die Tür auf, und Katrina kam in das Besprechungszimmer gestürzt. Sie hielt einen Stapel Papiere an ihre Brust gedrückt. „Es ist unglaublich! Die Telefone stehen nicht mehr still. Unsere Rechtsabteilung ist natürlich strikt dagegen. Aber wen kümmert das schon, was die denken?“

Sie eilte zu Jonathan. „Sie sind ein Genie, Dr. Kirby! Ist Ihnen klar, was das für unsere Einschaltquoten und für Ihre Buchverkäufe bedeutet? Ein Wettbewerb, der auf zwei widersprüchlichen Theorien beruht. Das ist zugleich wissenschaftlich und sehr publikumswirksam. Einfach brillant!“

„Danke“, entgegnete er bescheiden, ohne Taylor aus den Augen zu lassen.

„Ich habe bereits mit der PR-Abteilung Ihres Verlags gesprochen. Die denken auch, dass das eine ganz große Nummer werden könnte“, fuhr Katrina begeistert fort. „Und dabei sind wir auf eine wunderbare Idee gekommen. Schließlich müssen die Leute ja zum Mitmachen motiviert werden. Richtig? Also haben wir beschlossen, dass der glückliche Gewinner einen Preis erhält. Und Sie beide werden Interviews, Zeitungsartikel und Aufmerksamkeit ohne Ende bekommen.“

Die Moderatorin presste die Hände zusammen und atmete heftig ein und aus. „Verstehen Sie? Das ist eine echte Win-win-Situation. Wir nehmen einen kleinen Prozentsatz von den Buchverkäufen, und den Rest zahlt der Sender. Dabei kommt dann für den Gewinner eine Summe raus, die sich wirklich sehen lassen kann: eine Million Dollar!“

„Eine Million? Ganz schön billig, wenn man dafür seine Seele verkaufen muss“, erwiderte Taylor prompt.

„Niemand zwingt dich, bei der Sache mitzumachen“, erklärte Jonathan, ohne Katrina zu beachten, die weiter wild gestikulierte und drauflosplapperte.

Er lehnte sich zurück und beobachtete, wie Taylor mit sich kämpfte. Die einzigen äußeren Anzeichen dafür waren, dass sie leicht die Lippen verzog und die Schultern anspannte. Was stand für sie auf dem Spiel? Warum sagte sie nicht einfach, dass er sich zum Teufel scheren sollte?

Plötzlich begriff er: Taylor war davon überzeugt, dass sie recht hatte. Und genau das wollte sie ihm beweisen. Aber ging es ihr wirklich nur um ihre These und einen Buchvertrag? Oder steckte da noch etwas Persönliches dahinter?

„Faszinierend“, murmelte er. „Das klassische Dilemma: Jugendlicher Idealismus kämpft gegen guten alten Ehrgeiz.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, fauchte sie.

„Natürlich tust du das.“

Er hob den Kopf und sah Taylor geradewegs in die Augen. Einen Moment lang funkelte sie ihn an, dann senkte sie hastig den Blick.

Jonathan verkniff sich ein Lächeln. Interessant … Diese Idee mit dem Wettbewerb war einfach nur ein spontaner Einfall gewesen. Aber so langsam hatte er das Gefühl, dass es sich dabei um einen wahren Geistesblitz handelte.

Katrina betrachtete sie beide. „Dann kann ich also davon ausgehen, dass wir zu einer Einigung gekommen sind? Wir werden das machen?“

Jonathan hielt den Blick weiter auf Taylor gerichtet. „Oh ja“, erwiderte er. „Und wie wir das machen werden.“

2. KAPITEL

Nein, wirklich. Du warst ganz großartig“, erklärte Marnie Boudine zwei Tage später und kuschelte sich in den Sessel in Taylors Wohnzimmer. „Du hast nicht zugelassen, dass dieser Jonathan Kirby die ganze Show an sich reißt und völlig von deiner Theorie ablenkt.“

Nur zu gern hätte Taylor ihrer Freundin geglaubt. Aber nach zehn gemeinsamen Jahren wusste sie, dass Marnie im Zweifelsfall lieber nett als ehrlich war. „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich zickig rüberkam.“

Marnies große grüne Augen weiteten sich. „Du, zickig? Nie im Leben“, versicherte sie. „Du warst nur sehr energisch. Das ist ganz und gar nicht dasselbe.“

Taylor stöhnte und barg das Gesicht in ihren Händen. „Ich hab’s doch gewusst. So ein Mist! Männer dürfen energisch auftreten. Sie werden sogar dazu ermutigt. Aber bei einer Frau ist das leider etwas ganz anderes.“ Sie rieb sich die Schläfen, dann richtete sie sich auf. „Na ja. Egal. Was macht es schon, dass jetzt ganz Amerika denkt, ich wäre die größte Zicke aller Zeiten.“

Marnie lächelte ihr beruhigend zu. „Süße, nur ein ganz kleiner Teil der USA hat diese Psychologensendung verfolgt. Ehrlich gesagt bist du der einzige Mensch, den ich kenne, der sich so was anschaut.“

„Vermutlich haben verschiedene Verlagsleute die Show gesehen“, rief Taylor ihrer Freundin ins Gedächtnis. „Denkst du etwa, dass mein Auftritt sie dazu verleiten wird, mir einen Buchvertrag anzubieten?“

„Auf jeden Fall!“

Taylor konnte nicht anders, sie musste lachen. „Danke, Marnie. Ich bin sicher, dass mein Agent sich jede Sekunde bei mir melden wird. Mit einem unglaublichen Vertrag in der Tasche.“

„Klar wird er das. Und wenn nicht jetzt, dann auf jeden Fall in ein paar Tagen“, verkündete Marnie unverdrossen. „Spätestens nach diesem Liebeswettbewerb.“

Abwehrend hob Taylor die Hände. „Bitte, erwähne nicht dieses Wort. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich bei diesem Irrsinn mitmachen werde. Warum bin ich nur in diese verflixte Talkshow gegangen? Jetzt verfolgt mich die ganze Sache. Ich träume sogar schon davon.“

Und von Jonathan Kirby, erklang die unangenehme Wahrheit irgendwo in ihrem Hinterkopf. Taylor lehnte sich auf dem großen Sofa zurück und überlegte, was sie wohl verbrochen hatte, dass das Schicksal sie derart hart bestrafte. Warum musste der einzige Mann, den sie niemals wiedersehen wollte, zurück in ihr Leben geweht werden und alles durcheinanderbringen? Ach was, geweht! Dieses Desaster glich mehr einem ausgewachsenen Hurrikan, der alles in seiner Reichweite zerstörte.

„Wenigstens wird der Wettbewerb hier in der Stadt ausgetragen werden“, sagte Marnie. „Also hast du einen Heimvorteil.“

Taylor versuchte, sich mit diesem Gedanken zu trösten. Aber irgendwie gelang ihr das nicht. „Ich denke, das wird nicht ausreichen“, erwiderte sie seufzend. „Und das Schlimmste ist, dass ich ja selbst schuld an meiner Situation bin. Wenn ich nicht so wild darauf gewesen wäre, einen Buchvertrag zu bekommen, wäre ich nie im Leben in diese Show gegangen.“

„Klar, ich weiß.“ Marnies Stimme wurde noch etwas mitfühlender.

„Ich denke einfach, dass meine Theorie stimmt. Damit könnte vielen Menschen geholfen werden.“

„Du bist eine gute Psychologin. Und du hast viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Außerdem könntest du etwas Geld gebrauchen.“

Taylor musste lächeln. „Okay, das stimmt. Als alleinerziehende Mutter habe ich in den letzten sechzehn Jahren jeden Cent drei Mal umgedreht. Über ein wenig Geld auf meinem Konto wäre ich ganz bestimmt nicht traurig. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn meine Karriere in Schwung kommt. Aber doch nicht ausgerechnet mithilfe eines so idiotischen Wettbewerbs.“

Plötzlich war ihr gar nicht mehr zum Lachen zumute. „Diese Katrina Melon ist wie ein Terrier, der sich in einen Knochen verbissen hat. Kaum hatte sie rausgefunden, dass ich in einer Stadt namens Marriageville lebe, war sie nicht mehr von der Sache abzubringen.“ Taylor spreizte die Hände, wedelte damit herum und ahmte die Stimme der Talkmasterin nach: „Marriageville? Entzückend! Die Stadt der Hochzeiten. Dieser Name hat ja ein unglaubliches Potenzial. Die Journalisten werden begeistert sein. Und all die netten Kleinstadtleute mit ihren Geschäften werden sich doch furchtbar freuen, wenn das Fernsehen kommt.“

Marnie kicherte. „Vielleicht können wir eine Katrina-Statue auf dem Marktplatz errichten? Am besten aus Plastik.“

Jetzt musste auch Taylor lachen. Sofort ging es ihr besser. „Dir ist das mit ihrem Gesicht also auch aufgefallen?“

„Süße, da müsste man schon von einem anderen Stern sein, um all das Silikon und dieses schreckliche Lifting nicht zu bemerken.“ Plötzlich wurde Marnie wieder ernst. „Ist es wirklich so schlimm für dich?“

„Ich weiß nicht. Irgendwie bin ich verwirrt. In der einen Sekunde war ich ein ganz normaler Gast in einer Talkshow. Und in der nächsten Sekunde nehme ich an einem Wettbewerb teil und muss gegen den Elvis der Populärpsychologie antreten.“

Um ehrlich zu sein, fürchtete sie sich davor, Jonathan wiederzutreffen. Und genau das machte sie so wütend. Wie konnte es sein, dass dieser verflixte Mann nach all den Jahren noch immer solche Gefühle in ihr auslösen konnte? Alles, was er sagte, lehnte sie ab. Und trotzdem wurden ihr die Knie weich, wenn sie nur an ihn dachte.

„Ich wünschte, du wärst mit mir im Studio gewesen“, murmelte Taylor. „Das hätte ihn ganz bestimmt abgelenkt.“

Marnie schüttelte den Kopf und lachte. „Dieser Dr. Kirby ist doch ein ausgebildeter Psychologe. Also ist er immun gegen weibliche Reize. Das weißt du ganz genau.“

„Psychologe? Na und? Er ist ein Mann aus Fleisch und Blut. Du kannst dir sicher sein, dass du ihm nicht entgangen wärst.“

Nachdenklich wickelte Marnie sich eine ihrer bronzefarbenen Strähnen um den Finger. Taylor sah ihr dabei zu und war wieder einmal fasziniert vom Anblick ihrer Freundin. Marnie besaß den Körper eines Showgirls: Ihre langen Locken ergossen sich in schimmernden Wellen bis hinunter zur Mitte ihres Rückens. Das schlichte Baumwolloberteil schmiegte sich an die beeindruckenden Kurven und betonte das wunderschön geschnittene Gesicht mit den großen Augen, den sinnlich geschwungenen Lippen und den ausgeprägten Wangenknochen. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, hatte diese Frau ein Zahlengespür und einen Geschäftssinn, die jeden Wallstreet-Banker in den Schatten stellten. Kurz: Wenn Marnie nicht so ein unglaublich liebenswerter Mensch gewesen wäre, hätte Taylor sie längst umbringen müssen.

„Wenn mich Katrina wenigstens gewarnt hätte“, fuhr Taylor fort, lehnte sich auf dem blau-weißen Sofa zurück und warf einen Blick aus dem großen Fenster. „Dann hätte ich mich gedanklich wenigstens auf das Zusammentreffen mit Jonathan vorbereiten können.“

„Dr. Kirby war schwer beeindruckt von dir“, erklärte Marnie. „Das konnte man ganz deutlich erkennen.“

„Ach ja, woran denn? Hat er ein Schild hochgehalten?“

„Quatsch. Es lag an der Art, wie er sich verhalten hat. Zum Beispiel hat er dich die ganze Zeit über angesehen.“

„Marnie, das bildest du dir doch ein. Wenn er mich angeschaut hat, dann nur, weil ich der einzige andere Gast dieser Show war.“

Marnie klimperte mit ihren langen Wimpern. „Taylor, du bist eine tolle Psychologin. Aber in dieser Angelegenheit bin ich die Expertin.“

Dem war schwer zu widersprechen, das wusste Taylor nur zu gut. Wenn Marnie im Studio gewesen wäre, hätte Jonathan wahrscheinlich keinen vollständigen Satz herausgebracht. Wo immer ihre Freundin auch hinkam, begannen die Männer, sich augenblicklich in sabbernde Wesen zu verwandeln. Und das, obwohl Marnie in ihrem ganzen Leben nur ein Date mit einem einzigen Mann gehabt hatte. Denn genau diesen Mann hatte sie dann auch geheiratet und war ihm während der siebenjährigen Ehe ebenso treu geblieben wie in den drei Jahren seit seinem Tod.

Die Dielen im Flur knarrten, und Taylor blickte auf, als ihre Mutter das Wohnzimmer betrat. Linda McGuire trug ein Tablett, auf dem sich drei Gläser Milch und ein Teller mit köstlich duftendem Gebäck befanden.

„Mom. Denkst du nicht, dass ich zu alt bin, um meine Probleme mit Keksen zu bekämpfen?“, fragte Taylor und schnappte sich schnell einen der Erdnussbutter-Cookies, die noch warm waren.

„Niemand ist zu alt für frisch gebackene Kekse“, erklärte Linda und stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab. Sie reichte Marnie ein Glas Milch und hielt ihr den Teller mit dem Gebäck hin. Dann setzte sie sich ans andere Ende des Sofas und musterte ihre Tochter. „Geht es dir gut?“

Taylor zuckte mit den Schultern und knabberte an ihrem Keks. „Ich glaube schon“, erwiderte sie. „Ich wünschte nur, dass ich mir nicht so unglaublich dumm vorkommen würde wegen dieser ganzen Sache.“

Linda lächelte und entgegnete: „Du hast sehr interessant gewirkt bei dieser Show. Und darauf kommt es doch an. Oder etwa nicht?“

„Ich hoffe, dass du recht hast.“

„Hast du mit dieser Katrina schon genauer über den Wettbewerb gesprochen?“, erkundigte sich Linda und nahm sich ebenfalls ein Glas Milch.

Taylor warf ihrer Mutter einen anerkennenden Blick zu. Selbst wenn Linda so simple Dinge tat, wie einfach nur auf dem Sofa zu sitzen, konnte man sofort die Anmut und die Grazie einer echten Tänzerin erkennen. Linda hatte viele Jahre lang trainiert, bevor sie sich in Taylors Vater verliebt und ihre Bühnenkarriere gegen ein Leben als Hausfrau und Mutter eingetauscht hatte. Nachdem sie früh zur Witwe geworden war, hatte sie ein Bekleidungsgeschäft in Marriageville eröffnet und ihre Tochter alleine großgezogen. Nebenbei hatte sie noch die Energie besessen, sich im Stadtrat zu engagieren, dem sie fast zwanzig Jahre lang angehört hatte.

„Ich habe heute Morgen mit Katrina telefoniert“, erwiderte Taylor. „Ganz ehrlich. Schon beim Klang ihrer Stimme rollen sich mir die Fußnägel auf.“ Sie schauderte. „Laut der Plastik-Prinzessin wird das Ganze folgendermaßen ablaufen: In etwa zwei Wochen wird die Stadt Marriageville von einer Horde Journalisten und anderer Irrer überrannt werden. Und dann wird meine sorgfältig recherchierte Studie sich gegen die Ansichten des King of Psycho-Pop durchsetzen müssen: Dr. Jonathan Kirby höchstpersönlich.“

Kaum sprach sie seinen Namen aus, stand ihr schon wieder sein Bild vor Augen. Hastig verscheuchte Taylor es. Denn sobald sie Jonathan vor sich sah, fing sie an, sich Dinge vorzustellen – sexuelle Dinge –, über die sie jetzt ganz bestimmt nicht nachdenken wollte. Und überhaupt. Wie konnte das sein? Siebzehn Jahre Abstand und eine ganze Menge neue Entwicklungen in ihrem Leben hätten doch eigentlich dafür sorgen sollen, dass sie immun gegen diesen Mann war. Doch das war leider nicht der Fall. Ganz im Gegenteil.

„Mir ist immer noch nicht klar, wie der Gewinner bei diesem Wettbewerb ermittelt werden soll“, meinte Marnie. „Stimmt das Publikum darüber ab?“

„So einfach ist das nicht“, entgegnete Taylor. „Der Sender will die ganze Sache groß aufziehen. Insgesamt werden vierzig Paare an dem Wettbewerb teilnehmen. Zwanzig davon wähle ich mithilfe eines Fragebogens aus. Und über die anderen zwanzig entscheidet Dr. Kirby.“

„Für die Teilnehmer ist es also eine Art Blind Date. Sie bewerben sich und werden dann von euch verkuppelt. Richtig?“, hakte Marnie nach.

„Ja. Wir ermitteln die Paare aufgrund von wissenschaftlichen Kriterien. Für Dr. Kirbys Gruppe wird es allerdings ein paar Einschränkungen geben. Zum Beispiel eine Beschränkung beim Altersunterschied. Damit am Ende nicht irgendein Siebzigjähriger mit einer Frau zusammenkommt, die gerade mal zwanzig ist.“

Marnie grinste. „Ach. Wäre das ein Problem?“

Taylor ignorierte ihre Freundin. „Alle Paare müssen sich dazu bereit erklären, einen Monat lang zusammenzuwohnen. Wenn sie dreißig Tage überleben, ohne sich dabei gegenseitig an die Gurgel zu gehen, werden sie in die Schlussgruppe aufgenommen. Und aus der wird dann das Gewinnerpaar ausgelost.“

„Mhm“, meinte Marnie und verzog ihre vollen Lippen. „Die Chancen stehen also 1:40 für jedes Paar. Das finde ich ziemlich gut.“

„Warum bewirbst du dich nicht?“, fragte Taylor. „Du wolltest doch sowieso endlich mal wieder ein Date haben.“

Nervös rutschte Marnie auf ihrem Sessel hin und her. „Ich weiß nicht. Es ist ja eine Sache, mit einem Mann etwas trinken zu gehen. Aber dreißig Tage lang im selben Haus mit ihm zu wohnen ist eine ganz andere. Außerdem: Was ist denn jetzt mit diesem Dr. Kirby und dir? Wie wird denn ermittelt, wer von euch mit seiner Theorie recht hatte?“

„Ganz einfach. Wir zählen am Schluss, in welcher Gruppe mehr Paare übrig sind. Wenn es meine Gruppe ist, gewinne ich. Und wenn es Jonathans Gruppe ist, wird er zum großen Psychologie-Guru erklärt.“

Linda griff nach einem Keks. „Aber werden nicht alle Paare versuchen, um jeden Preis durchzuhalten? Egal, ob sie sich hassen oder nicht? Wie schwer kann es denn sein, dreißig Tage im selben Haus zu verbringen? Vor allem wenn man eine halbe Million Dollar dafür bekommt. Im Dschungelcamp essen Leute freiwillig Würmer für einen solchen Betrag.“

„Tja“, entgegnete Taylor. „Ich habe mir diese Regeln nicht ausgedacht. Das war der Fernsehsender. Vermutlich hatten die Anwälte dort Angst vor einer Klagewelle und haben darauf bestanden, dass die Teilnehmer das Experiment jederzeit wieder abbrechen können.“

„Verständlich“, meldete ihre Mutter sich zu Wort.

„In ein paar Tagen wird es eine große Pressekonferenz geben“, erklärte Taylor. „Dann wissen wir mehr. Falls ich bis dahin nicht einen Herzanfall bekommen habe.“

Marnie wischte diese Möglichkeit mit einer raschen Handbewegung beiseite. Ihre korallenfarbenen Fingernägel mit dem schmalen Silberstreifen in der Mitte funkelten im Licht, das durch das Fenster hereinströmte.

„Du wirst deine Sache großartig machen, Taylor. Das wird bestimmt ein Riesenspaß. Und am Ende wirst du über Dr. Kirby triumphieren und massenweise Angebote für dein Buch bekommen. Außerdem wirst du viele Menschen sehr froh machen. Denk doch nur mal an all die Paare, die durch dich die Liebe ihres Lebens finden und glücklich bis ans Ende ihrer Tage zusammenleben.“

Linda bedachte Marnie mit einem skeptischen Blick. „Wusstest du, dass zu viel positives Denken anderen Leuten schrecklich auf die Nerven gehen kann?“

Marnie lächelte, stand auf und strich sich den Rock glatt. Er reichte ihr bis knapp über die Knie, war gerade geschnitten und hatte genau den gleichen Farbton wie der Nagellack. Dazu trug sie flache Sommersandaletten in Silber. Nichts an diesem Outfit hätte sexy wirken sollen. Und trotzdem glich Marnie einer dieser Gummipuppen aus einschlägigen Geschäften.

„Ich muss zurück an die Arbeit. Halt durch, Taylor! Das wird schon. Glaub mir.“ Sie ging durchs Wohnzimmer und hielt an der Tür inne. „Oh, und vielen Dank für die Kekse, Ms McGuire.“

„Tschüss, Marnie“, rief Taylor ihr hinterher. „Ich rufe dich später an.“

„Okay. Tschüss.“

Linda nahm sich einen weiteren Keks. „Was denkst du? Wie viele Autounfälle wird sie verursachen, wenn sie die Hauptstraße entlangschlendert?“

„Nicht mehr als sonst“, erwiderte Taylor.

Ihre Mutter kaute und fragte dann unvermittelt: „Möchtest du darüber reden?“

Taylor hob den Kopf und sah Linda an. Ihre Mutter hatte die gleichen graublauen Augen wie sie selbst. Nur dass Lindas Wimpern dicht und dunkel waren, während sie ihre leider immer mit einer ordentliche Portion Mascara in Schuss bringen musste.

„Du meinst Jonathan?“, fragte sie.

„Es ist lange her. Ich kann mir vorstellen, dass es ein ziemlicher Schock war, ihn plötzlich wiederzusehen. Gestern Nacht habe ich gehört, wie du in deinem Zimmer auf und ab gelaufen bist, Taylor. Wirst du diesen Wettbewerb durchstehen können?“

Augenblicklich fielen Taylor all die Dinge ein, die garantiert schiefgehen würden. „Ja, ich denke, das schaffe ich.“

„Ich weiß, dass du dein Leben gerne durchplanst, damit du keine Überraschungen erlebst“, erklärte ihre Mutter. „Und Jonathan ist eine Art wandelndes Pulverfass.“

„Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass er nicht in die Nähe von Feuer kommt“, entgegnete Taylor leichthin.

Ihre Mutter lachte. „Ich hätte ihn damals ins Gefängnis werfen lassen sollen, als ich noch die Möglichkeit dazu hatte.“

„Ja, das hättest du“, stimmte Taylor ihr zu. „Er hat schon immer gut ausgesehen. Bestimmt wäre er sehr populär bei seinen Mitgefangenen gewesen.“

An der Ecke zwischen der Grand und der First Street zögerte Marnie. Ihr Laden – Marnie’s Palace of Beauty – befand sich nur einen Häuserblock weit entfernt. Sie warf einen Blick auf Wilbur’s Diner, das sich auf der anderen Seite der Straße befand. Sollte sie der Versuchung nachgeben? Eine vernünftige Frau hätte das natürlich nicht getan. Stattdessen wäre sie geradewegs weitergelaufen und hätte sich um ihren Job und andere wichtige Dingen gekümmert. Außerdem hätte eine vernünftige Frau auch längst begriffen, dass all ihre Hoffnungen immer nur zu neuen Enttäuschungen führten.

Marnie holte tief Luft. „Hattest du den Eindruck, dass ich früher mal vernünftiger war, George?“, fragte sie leise. Dann sah sie nach links und rechts und überquerte entschlossen die Straße.

Ihr toter Ehemann schwieg. Doch daran war Marnie inzwischen gewöhnt. George beantwortete niemals irgendwelche Fragen und äußerte sich auch sonst nicht. Was insgesamt ein gutes Zeichen war, vermutete Marnie. Sie war zwar mit einer Psychologin befreundet. Aber das hieß nicht, dass sie Woche für Woche eine Stunde auf der Analysecouch verbringen wollte, nur weil sie Stimmen hörte.

„Weißt du, George, ich frage dich ja nur, weil du mich am besten gekannt hast“, erklärte sie. „Taylor ist schrecklich intelligent und sehr süß. Sie ist meine allerbeste Freundin, und ich habe sie sehr lieb. Aber das ist trotzdem nicht dasselbe.“

Sie blieb vor Wilbur’s Diner stehen. Ein handbemaltes Schild verkündete allen, die das interessierte, dass der Laden seit 1941 existierte.

Marnie war nicht hungrig. Sie hatte am Morgen ein großes Frühstück gegessen und danach all die leckeren Kekse. Schon seit Ewigkeiten bemühte sie sich, endlich diese überflüssigen zehn Pfund loszuwerden. Und ein Mittagessen, das sie weder brauchte noch wollte, würde sie ihrem Ziel bestimmt nicht näher bringen. Und doch … Wenn sie jetzt das Diner betrat und sich einen Salat zum Mitnehmen bestellte, würde sie sich an die Theke stellen müssen. Und von dort aus waren es nur noch wenige Meter bis zum Paradies.

„Du brauchst dringend mehr Rückgrat, Mädchen“, schalt sie sich selbst, als sie bereits die Tür öffnete und das Diner betrat.

Es war inzwischen fast ein Uhr, und der Laden war nur noch halb voll. Marnie ging zur Theke und winkte dabei ihren Freunden und Bekannten zu. Die Tische an den vorderen Fenstern waren besetzt und auch die Sitzecken weiter hinten. Nur in der Mitte des Raums waren alle Stühle frei. Bis auf einen.

Marnie befahl sich, nicht hinzusehen. Das wäre doch einfach nur albern. Immerhin war sie kein Teenager mehr und …

Er ist so süß. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Seufzen, als sie Will Ramsey auf seinem üblichen Platz sitzen sah. Er war völlig in das Computermagazin vertieft, das vor ihm auf dem Tisch lag. Seine sandbraunen Haare waren ein wenig zu lang, und ein paar Strähnen fielen ihm in die Stirn. Das kurzärmlige weiße Hemd und die locker sitzenden Jeans verbargen den schlanken, durchtrainierten Körper eines Läufers. Die Brille und der konzentrierte Gesichtsausdruck verliehen Will eine Ernsthaftigkeit, angesichts derer sich Marnies Zehen in ihren silbernen Sandaletten automatisch vor Verlangen zusammenkrümmten.

Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er ihr Blut derart zum Kochen brachte? Er glich nicht im Mindesten George, der offen und immer gesprächsbereit gewesen war. George, der die Frau hinter der wilden Lockenmähne und den großen Brüsten gesehen hatte. Will dagegen war ein Mann, der gar nichts hinter irgendetwas sah. Er beachtete sie nicht, außer wenn er ausnahmsweise mal von seiner Zeitschrift aufsah und ihre Blicke sich versehentlich trafen. Dann errötete er und wandte sich sofort ab. Sie war ganz offensichtlich nicht der Typ Frau, der ihn interessierte.

Inzwischen hatte Marnie den Raum durchquert und war an der Theke angelangt. Sie lächelte der rothaarigen Frau zu, die dahinterstand. „Hi, Lorraine. Einen Caesar Salat mit Hühnchen zum Mitnehmen bitte“, sagte sie und versuchte, stark zu bleiben und Will nicht weiter anzustarren.

„Klar. Gerne, Marnie.“ Lorraine deutete mit dem Kopf auf den leeren Stuhl, der neben der Kasse stand. „Setz dich doch solange.“

Marnie tat wie geheißen und nahm auf dem Stuhl Platz. Sie spürte, wie ihr Rock dabei ein Stück nach oben rutschte. Prompt bekam am anderen Ende des Raums Bobby Ray Tracer riesengroße Augen. Gebannt starrte er auf ihre nackten Beine, ohne zu bemerken, wie das Fleisch langsam aus seinem Burger rutschte. Nachdem er ihr breit grinsend zugewinkt hatte, biss Bobby herzhaft in sein Mittagessen. Dann hielt er verwirrt inne. Seine Freunde brachen in schallendes Gelächter aus und riefen etwas, das Marnie zum Glück aus dieser Entfernung nicht verstehen konnte.

Seufzend wandte sie sich von der munteren Truppe ab. Manchmal war ihr Leben ganz schön anstrengend. Wo auch immer sie hinkam, begannen die Männer sofort, über ihre eigenen Füße zu stolpern. So langsam hatte sie es satt, das mit anzusehen. Genau wie diese Blicke, die immer nur an ihren Brüsten klebten und nie bis hinauf zu ihrem Gesicht gelangten. Warum nur konnte George nicht zurückkommen? Er fehlte ihr so schrecklich. Manchmal fragte sie sich, ob sie jemals wieder das erleben würde, was sie mit ihm gehabt hatte: eine echte Beziehung. Eine Partnerschaft mit einem Mann, der nicht nur ihren Körper liebte, sondern auch ihren Verstand.

Fünf Minuten später reichte ihr Lorraine den Salat. „Hier, Schätzchen. Ich schreibe es auf deine Rechnung, okay?“

„Ja, danke. Und gib dir bitte ein ordentliches Trinkgeld“, erwiderte Marnie. Dann nahm sie den Salat und erhob sich.

Auf dem Weg zur Tür erlaubte sie sich einen letzten Blick auf Will Ramsey. Würde er sie bemerken? Natürlich tat er es nicht. Er hatte den Kopf gesenkt und schien noch immer völlig in sein Computermagazin vertieft zu sein.

„Denkst du, er hat Probleme mit Frauen?“, fragte Marnie, während sie die Straße überquerte, um zurück in ihren Schönheitssalon zu gelangen. „Oder liegt es an mir? Sollte ich vielleicht endlich mal akzeptieren, dass ich keine Chance bei ihm habe und auch nie eine haben werde?“

Wie üblich erhielt sie keine Antwort von George. Also betrat Marnie ihr Geschäft, ohne der Lösung des Problems auch nur einen einzigen Schritt näher gekommen zu sein. Sie winkte ihren vier Mitarbeiterinnen zu, die nach der Mittagspause bereits wieder eifrig an der Arbeit waren. Marnie’s Palace of Beauty befand sich mitten in der Innenstadt und zog viele Kundinnen an. Das Innere des Salons war ganz in Pink und Gold gehalten, um den Frauen das Gefühl zu geben, dass es hier darum ging, den Alltag zu vergessen und sich einfach nur verwöhnen zu lassen. Marnies Sandalen klapperten auf dem polierten Boden, als sie an den Maniküretischen und den Kosmetikliegen vorbeiging.

„Irgendwelche Anrufe?“, fragte sie und blieb an der Tür zu ihrem Büro stehen.

„Einige neue Kunden“, antwortete Mary Ann. „Mrs Zucker kommt morgen in die Stadt. Sie hat nach einem Termin bei dir gefragt, weil sie unbedingt wieder diese süßen kleinen Sternchen auf ihren Nägeln haben möchte.“

Marnie nickte. Dann schloss sie die Bürotür hinter sich und ließ sich gegen das glatte Holz sinken. Sie fühlte sich irgendwie so seltsam. Als wäre ihr Leben ein Kleidungsstück, das nicht mehr richtig passte.

„Was stimmt denn nicht mit mir?“, fragte sie. Diesmal nahm sie es George ein wenig übel, als er schon wieder nicht antwortete. Konnte er ihr nicht wenigstens irgendein Zeichen geben? Offenbar nicht. Seufzend richtete Marnie sich auf. Sie stellte den Salat auf dem Schreibtisch aus Kirschholz ab, der früher mal bei ihr zu Hause gestanden hatte. Die Wände des Büros waren in einem kühlen Cremeton gestrichen und wurden von einer Rosenbordüre verziert. Der Teppich war so dick und weich, dass er im Notfall als Ersatzbett fungieren konnte – auch wenn Marnie das bisher nicht ausprobiert hatte. Kurz: Sie führte ein erfolgreiches Geschäft, sie hatte wundervolle Freunde und mehr Geld, als sie jemals würde ausgeben können. Was also stimmte nicht mit ihr? Warum war da dieser bohrende Schmerz in ihrem Inneren?

Sie drehte sich um. Dabei fiel ihr Blick auf ihr eigenes Bild in dem großen Spiegel neben der Tür. Nachdem sie neunundzwanzig Jahre mit diesem Körper gelebt hatte, sollte sie doch eigentlich an seinen Anblick gewöhnt sein. Und doch …

„Das ist einfach alles viel zu viel. Irgendwie übertrieben“, murmelte sie bedrückt. Sie strich ihre langen Locken zurück und umfasste dann mit den Händen ihre 75DD-Brüste, die sich trotz des BHs überraschend schwer anfühlten.

„Du warst Manns genug, um mit mir klarzukommen, George. Bei dir habe ich mich wohlgefühlt in meiner Haut. Aber dieses Gefühl ist verschwunden, seitdem du weg bist. Und ich weiß einfach nicht, wie ich es zurückbekommen soll.“

Sie ließ die Hände sinken und setzte sich dann in den Besuchersessel aus Leder, der vor ihrem Schreibtisch stand. „Ich wünschte, ich könnte Will vergessen. Aber das kann ich nicht. Irgendetwas an ihm zieht mich einfach an. Okay, vermutlich ist er ein, zwei Jahre jünger als ich. Aber darauf kommt es doch nicht an, oder? Auf jeden Fall ist er ziemlich klug. Und das gefällt mir. Außerdem scheint ihm Geld nicht so wichtig zu sein, was mir noch viel besser gefällt. Weißt du, George, seit du weg bist, fühle ich mich so allein. Warum musstest du auch sterben? Warum bist du gegangen und hast mich hier zurückgelassen?“

Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie George sie in die Arme nahm. Sie konnte ihn fast spüren – seine Wärme und dieses Gefühl der Sicherheit, das er ihr stets vermittelt hatte. Bei ihm hatte sie sich nie wie ein Freak gefühlt, sondern wie eine intelligente, begehrenswerte Frau.

„Ich vermisse dich“, fuhr sie leise und fast ein wenig trotzig fort. Denn auch wenn George schwieg, wusste Marnie genau, was er ihr jetzt geraten hätte: dass sie über seinen Tod hinwegkommen und ein neues Leben beginnen sollte.

„Die Männer in meiner Familie werden nicht besonders alt, Darling. Die meisten von ihnen sterben, bevor sie siebzig sind“, hatte er sie damals gewarnt. „Wenn wir heiraten, wird es vermutlich eine eher kurze Ehe werden. Aber ich hoffe, dass sie dafür umso schöner wird.“

Und genau so war es gekommen. Trotz des Altersunterschieds – George war bei ihrer Hochzeit sechzig und sie gerade mal neunzehn gewesen – gehörten die Jahre mit ihrem Mann zu den schönsten in Marnies Leben. George und sie hatten sich von ganzem Herzen geliebt. Bis er von einem Moment auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden war und sie mit ihrer Trauer allein zurückgelassen hatte.

Doch das war inzwischen drei Jahre her. Und so langsam wurde Marnie klar, dass sie dringend etwas ändern musste. Die große Frage war nur: Wie, in aller Welt, sollte sie das anstellen?

Das Gekreische im Vorgarten wurde noch etwas lauter. Chris Harbaugh seufzte. Sie liebte ihre Kinder. Wirklich. Und normalerweise hätten diese ausgelassenen Spiele, all das Herumgehüpfe und Geschrei sie zum Lächeln gebracht. Nur nicht gerade an diesem Morgen. Es war die erste Woche der langen Sommerferien, und sie fühlte sich schon jetzt so müde und erschöpft, dass es fast körperlich wehtat.

Mechanisch griff sie nach den nächsten drei Müslischüsseln, spülte sie kurz ab und stellte sie dann in die Geschirrspülmaschine. Währenddessen ging sie im Kopf ihre Sammlung von Disney-DVDs durch. Gab es da nicht noch irgendeinen Film, der die drei so faszinieren würde, dass sie schweigend vor dem Fernseher saßen, bis ihr Vater wieder auftauchte, um sie abzuholen? Denn dann würde sie endlich schlafen können. Nur ein paar Stunden, dachte Chris sehnsüchtig. War denn das wirklich zu viel verlangt?

Laut knallend flog die Haustür auf. „Hey, Babe.“

Chris erstarrte für einen Moment, bevor sie sich langsam und sorgfältig die Hände an dem zerlöcherten Tuch neben der Spüle abwischte. Im Flur erklangen jetzt die vertrauten Schritte, unter denen die alten Dielen knarrten. Sie holte noch einmal tief Luft und befahl sich, ganz ruhig zu bleiben. Dann drehte sie sich um und musterte ihren Exmann.

„Guten Morgen, Rio.“

Wie immer verschlug ihr sein Anblick fast die Sprache. Rio war groß, blond, hatte die blauen Augen eines Wikingers und die Muskeln eines Mannes, der anpacken konnte. Wenn er wollte. Selbst in den verblichenen Jeans und dem fünf Jahre alten T-Shirt war Rio heiß genug, um den Nordpol zum Schmelzen zu bringen. Schlimmer noch: Er wirkte ausgeruht und zufrieden. Ein Zustand, an den sie sich nur noch vage erinnern konnte. Zumindest was die letzten, nun ja, fünf Jahre betraf.

Er kam durch die Küche auf sie zugeschlendert, schlang einen starken Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Der Anblick seiner gebräunten Haut, sein vertrauter Duft und dieses Kribbeln in ihrer Körpermitte trugen nicht gerade dazu bei, ihre Laune zu bessern. Trotzdem ermahnte sich Chris, höflich zu bleiben. Immerhin würde er gleich die Kinder für ein paar Stunden mitnehmen. Und sie konnte weiß Gott etwas Ruhe gebrauchen.

„Was ist das da auf deiner Bluse?“, fragte er und deutete auf den dunklen Fleck an ihrem Ärmel.

Chris erinnerte sich an die endlos lange Nachtschicht im Marriageville Hospital. Speziell die Schwestern der Intensivstation hatten während dieser Zeit alle Hände voll zu tun. „Was das ist? Glaub mir, das möchtest du gar nicht wissen.“

Er grinste. Und sofort stand ihr ganzer Körper in Flammen. Verdammt, Rio wusste genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste. Wie sie das hasste! Sie wurde mit jeder Sekunde älter und müder, während er aussah wie ein Filmstar. Schlimmer noch: Er glich einem Sexgott, während sie in den letzten Monaten genau mit einer Person Sex gehabt hatte: mit sich selbst. Wenn überhaupt.

„Ich habe die Bezahlung für die Überstunden bekommen“, verkündete er und drückte sie noch einmal an sich, bevor er zur Kaffeekanne spazierte und sich eine Tasse einschenkte. „Jetzt kann ich dir den restlichen Unterhalt für die Kinder geben.“

„Großartig.“

Sie gab sich Mühe, erfreut zu klingen. Aber es fiel ihr schwer. Ja, damit war Rio dann wieder auf dem aktuellen Stand … vorerst. Bis er wieder das Startgeld für ein weiteres Rennen brauchte oder einen neuen Motor oder die Reparatur von seinem Was-weiß-ich-was-Getriebe. Dann würde Rio keine Sekunde zögern. Und sie stand mal wieder da und konnte zusehen, wie die Kinder und sie zurechtkommen sollten. Ohne die Autoversicherung bezahlen zu können, mit gesperrtem Telefon und ohne einen Babysitter für den Notfall.

Chris biss die Zähne zusammen, drehte sich zur Spüle um und griff nach dem Geschirrtuch. Dann sagte sie langsam und ruhig: „Rio, ich weiß, dass du die Kinder liebst und immer versuchst, das Geld zusammenzubekommen. Aber Tatsache ist, dass du ziemlich oft mit den Zahlungen hinterherhängst.“

Er stieß einen Fluch aus. „Warum machst du das?“, fragte er wütend. Chris spürte, wie ihre Schultermuskeln sich automatisch verkrampften. „Ich sage dir doch, dass ich Überstunden gemacht habe. Du wirst das Geld pünktlich bekommen. Aber statt dich zu freuen, wärmst du sofort wieder alte Kamellen auf und malst schwarz.“

Sie war so unglaublich müde. Ihre Kopfschmerzen schienen inzwischen bis zu den Haarwurzeln vorgedrungen zu sein. „Ich arbeite nachts. Eine Zwölf-Stunden-Schicht auf der Intensivstation, Rio. Das ist sehr anstrengend. Und wenn ich dann endlich nach Hause komme, muss ich schlafen. Wenn die Kinder in der Schule sind, ist das ja kein so großes Problem. Aber jetzt sind Ferien. Selbst die Kita hat geschlossen.“

Sie drehte sich um, sodass sie mit dem Rücken an der Spüle lehnte. Dann sah sie ihren Exmann an, der mit einem verwirrten, tief gekränkten Gesichtsausdruck vor ihr stand. „Es geht so nicht mehr weiter“, erklärte sie. „Ich kann das nicht mehr. Ich bin völlig erschöpft und habe keine Kraft mehr.“

„Chris, ich arbeite den ganzen verdammten Tag. Was willst du von mir?“

„Nichts, Rio. Ich will nichts mehr von dir. Wir sind geschieden. Es ist nett, dass du versuchst, das Geld für die Kinder zusammenzukriegen. Aber unter dem Strich kann ich mich leider nicht auf dich verlassen. Wenn ich mich jedes Mal fragen muss, ob du pünktlich bezahlen wirst oder nicht, kann ich mir bestimmte Dinge eben nicht leisten. Zum Beispiel die Tagesbetreuung, wenn Ferien sind. Was bedeutet, dass die Kinder zu Hause bleiben müssen. Und dass ich dann nicht schlafen kann, wenn ich von der Arbeit zurückkomme.“

Er ließ den Kopf hängen und sah betreten zu Boden. Augenblicklich fühlte Chris sich versucht, zu ihm zu laufen, ihn in die Arme zu nehmen und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde. Doch das war leider nicht wahr. Denn jedes Mal, wenn sie das tat, wurde alles nur noch schlimmer.

„Ich kann so nicht mehr weitermachen“, sagte sie leise. „Was wir brauchen, ist ein ganz neuer Anfang.“

Wütend fuhr er auf und knallte die Kaffeetasse auf den Küchentisch. „Verflucht, Chris. Du fängst jetzt nicht schon wieder mit diesem Umzug nach Dallas an, oder? Du kannst mir die Kinder nicht einfach wegnehmen! Sie brauchen mich. Außerdem sind sie hier glücklich. Ihr müsst hierbleiben.“

„Mir ist klar, dass Marriageville der perfekte Ort ist, um Kinder aufzuziehen. Aber ich habe hier keine Unterstützung. In Dallas hätte ich meine Mom“, erwiderte Chris und drückte die Schultern durch. „Du arbeitest in einer Autowerkstatt, Rio. Es wäre kein Problem für dich, in Dallas einen Job zu finden. Aber du möchtest nicht von hier weggehen, weil du dann zu weit entfernt von deinen Kumpels und deinem Renn-Team wärst.“

Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich, ähm … Also, da wollte ich sowieso noch etwas mit dir besprechen.“

Sie musterte ihn eine Sekunde lang. Dann wusste sie es. „Du hast heute keine Zeit für die Kinder, richtig?“

Er hatte es versprochen! Es war das Ende der ersten Ferienwoche, und er wusste, dass sie völlig fertig war. Sie brauchte ihn. Jetzt. Damit sie sich wenigstens ein paar Stunden lang ungestört hinlegen konnte, während er sich um die Kinder kümmerte. In den letzten drei Tagen hatte sie sich nur mit viel Kaffee über die Runden gerettet.

Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie blinzelte sie weg. „Das ist genau der Grund, weshalb ich umziehen möchte“, erklärte sie. „Meine Mom ist bereit, uns zu helfen. Und auf sie könnte ich mich verlassen.“

Er drehte sich zu ihr herum. „Auf mich auch“, stieß er hervor.

„Nur heute ausnahmsweise nicht, oder?“

„Deswegen bin ich ja gekommen. Um das mit dir zu besprechen. Ich weiß, ich hätte es früher sagen sollen. Aber ich habe selbst erst in letzter Sekunde davon erfahren. Tut mir leid, Chris.“

Sie griff nach seiner Kaffeetasse und schüttete den Rest in den Ausguss. „Das spielt keine Rolle. Im Grunde genommen ist die Sache doch ganz simpel: Du bist noch immer nicht erwachsen geworden, Rio. Innerlich bist du nach wie vor ein kleiner Junge, der rauslaufen und mit seinen Freunden spielen will, statt irgendeine Art von Verantwortung zu übernehmen. Deshalb habe ich mich ja von dir scheiden lassen. Weil du immer nur an dich selbst denkst.“

„Das sagst du immer, aber es stimmt nicht. Ich bin schon oft für dich da gewesen.“

„Ach ja?“ Chris stemmte die Hände in die Hüften, ihre Augen schienen Funken zu sprühen. „Wann denn, wenn ich fragen darf? Meinst du etwa jenen Moment, in dem du mein Auto geliehen hast, ohne mir zu sagen, dass du damit an einem Rennen teilnimmst? Du hast es zu Schrott gefahren. Und da das Rennen nicht mal angemeldet war, hat die Versicherung sich zuerst geweigert zu bezahlen und mich dann komplett rausgeschmissen. Ich zahle also noch immer ein Auto ab, das ich nicht mal mehr besitze. Oder meinst du, dass du für mich da warst, als Debbie geboren wurde? Wenn ich mich recht erinnere, warst du damals mit ein paar Freunden auf einem Jagdausflug. Du hast die Geburt deiner Tochter verpasst. Aber hey, du hast diesen Hirsch erlegt.“

Sie wartete auf seine übliche Verteidigung. Dass Debbie immerhin ihr zweites Kind war und er schon bei der ersten Geburt beinah im Kreißsaal umgekippt wäre. Doch stattdessen ging Rio zum Gegenangriff über.

„Du möchtest über Fehler sprechen?“, fragte er. „Schön. Warum nicht auch mal über deine? Du denkst, dass du perfekt bist und unsere Ehe nur meinetwegen in die Brüche gegangen ist. Aber so einfach ist das nicht. Was ist zum Beispiel mit der Tatsache, dass du nie an Sex interessiert warst? Dass du meine Freunde gehasst hast und die Kinder ihre eigene Großmutter nicht sehen durften?“

„Rio, du weißt genau, dass deine Mutter ein Alkoholproblem hat. An den meisten Abenden ist sie irgendwann so betrunken, dass sie nicht mehr weiß, was sie tut. Mir ist klar, dass dir deine Familie wichtig ist. Aber wir können die Kinder doch nicht bei deiner Mutter lassen. Das geht einfach nicht.“

„Das fällt dir ziemlich spät ein, dass du meine Familie nicht ausstehen kannst. Du warst doch diejenige, die unbedingt heiraten wollte. Nachdem du rausgefunden hast, dass du schwanger bist. Verdammt, Chris, du bist Krankenschwester! Du hast genau gewusst, dass Antibiotika und die Pille sich nicht vertragen!“

Chris wandte ihm den Rücken zu und starrte mit brennenden Augen auf den alten, zerschrammten Tisch unter dem kleinen Küchenfenster. Sie lebte seit sieben Jahren in diesem Haus. Wie oft hatten genau dieselben Anschuldigungen von den Wänden hier widergehallt? Wie oft hatten Rio und sie sich gegenseitig wehgetan, nur um nach jedem Streit wieder am selben Punkt zu landen? Es war alles so sinnlos.

„Ich arbeite hart“, erklärte er. „Und ich denke, dass es kein Verbrechen ist, ab und zu auch mal Spaß zu haben. Ich habe das alles nicht gewollt. Aber ich liebe meine Kinder. Und ich tue mein Bestes für meine Familie.“

Einen Moment lang war sie versucht, ihm zu sagen, dass sein Bestes eben einfach nicht gut genug war. Aber wozu? Rio würde sie ja doch nicht verstehen. Plötzlich war all ihre Wut verraucht, und Chris verspürte nur noch eine unendliche Müdigkeit. „Ich will nicht mehr mit dir streiten“, sagte sie leise. „Wir haben uns scheiden lassen, damit wir uns nicht mehr ständig in die Haare kriegen. Ich weiß, dass du dein Bestes tust. Und dass du ein guter Vater bist und die Kinder dich lieben. Aber an der Situation ändert das leider gar nichts, Rio. Tatsache ist: Ich werde aus Marriageville wegziehen. Und ich werde die Kinder mitnehmen.“

3. KAPITEL

Taylor, Darling!“

Unwillkürlich musste Taylor grinsen, während sie den Hörer zwischen ihrem Ohr und der Schulter festklemmte. „Alexi. Du rufst mich an. Bedeutet das, es gibt gute Nachrichten?“

„Nachrichten? Das ist es, wofür du dich interessierst? Also wirklich! Freust du dich denn gar nicht, meine Stimme zu hören?“

Alexi Stratinoff, ihr Literaturagent, war kurz vor dem Fall der Mauer aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen. Mit seinem charmanten Akzent und diesen fantastischen slawischen Wangenknochen war Alexi eine schillernde Persönlichkeit – sowohl innerhalb der Verlagsbranche als auch außerhalb. Taylor hatte ihn getroffen, als Marnie und sie ein Wochenende in New York verbracht hatten. Alexi gehörte zu den engen Freunden von Marnies verstorbenem Mann.

Taylor wusste, dass Alexi nur zugestimmt hatte, sie zu vertreten, um Marnie einen Gefallen zu tun. Aber gut. Manchmal musste man eben Glück im Leben haben. Alexi hatte einen hervorragenden Ruf in der Branche. Und nach all den Absagen, die sie in den letzten Monaten kassiert hatte, würde sie selbst der kleinste Silberstreif am Horizont sehr, sehr glücklich machen.

„Du bist das Licht meines Lebens, Alexi“, neckte sie ihn. „Ganz besonders, wenn du anrufst, um mir von einem unglaublichen Angebot für mein Buch zu erzählen. Zu irgendetwas muss dieser ganze Medienzirkus ja schließlich gut sein. Wenigstens hoffe ich das.“

Autor