„Guten Morgen, Sybilla.“
Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wer dieser Mann war, und seine tiefe Stimme bestätigte das auch sogleich, aber diese Stimme klang jetzt zusätzlich etwas verschlafen. Das war so wohltuend, dass sie sich im ersten Moment gar nicht daran störte, einen Mann in ihrem Bett zu haben, so als sei das für sie etwas ganz Normales. Dennoch wollte sie jetzt das Bett verlassen, was sein Arm aber weiterhin verhinderte.
„Ich möchte gern aufstehen“, sagte sie und griff nach der Bettdecke, um sie zur Seite zu schlagen, als sie sich auf einmal daran erinnerte, dass sie völlig nackt war.
Soren bewegte sich zur Seite und nahm den Arm weg, dann stand er selbst auf und griff nach ihrer Hand.
„Du hast jetzt mehrere Tage im Bett verbracht, und Teyen sagte, du wirst ein wenig wacklig auf den Beinen sein, wenn du das erste Mal wieder aufstehst.“ Dann drückte er ihr etwas in die Hand. „Ich glaube, das möchtest du zuerst einmal anziehen.“
Ein Unterkleid. Er half ihr mit den Ärmeln und zog es ihr über den Kopf, was ihr angenehm wenig Schmerzen bereitete. Anschließend fasste er ihre Hände und zog Sybilla zur Bettkante. Sie drehte sich und stellte die Füße auf den Boden, dann ließ sie sich von ihm hochziehen.
Bedauerlicherweise hatte Teyen wieder einmal recht gehabt, da sie tatsächlich sehr unsicher dastand. Sie wollte sich am liebsten zurück aufs Bett sinken lassen, doch Soren wusste etwas Besseres, legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich.
Dabei fiel ihr auf, dass sein Körper immer eine enorme Wärme ausstrahlte und er sich stets hart und fest anfühlte, was vor allem für eine bestimmte Partie galt. Und sie bemerkte, dass er splitternackt vor ihr stand. Zwar war sie versucht, sich an ihm festzuklammern, bis sie sich sicherer fühlte, wagte es jedoch nicht, ihn anzufassen … ganz gleich wo!
„Warte einen Augenblick, bis du dein Gleichgewicht zurückerlangt hast, Sybilla“, flüsterte er ihr zu und legte seine Hände dabei so an ihre Taille, dass sie ihre Arme frei bewegen konnte. „Bleib einfach hier stehen und warte, bis ich dir den Stuhl gebracht habe.“
Er lockerte seinen Griff nur allmählich, und als der Schwindel zu stark wurde und sie fürchtete, umfallen zu müssen, da suchte sie rasch wieder Halt bei ihm. Er hielt sie wortlos und geduldig an den Händen, bis sie ihn von sich aus losließ. Dann hörte sie, wie er den Stuhl hinter sich her über den Boden zog, um ihn ihr hinzustellen. Als sie sich hingesetzt hatte, entfernte er sich wieder und ging in ihren Gemächern hin und her, wie sie hören konnte. Er kam zu ihr zurück, und als er diesmal ihre Hand auf seinen Arm legte, bemerkte sie, dass er seinen Waffenrock trug. Er hatte sich in der Zwischenzeit also angezogen.
Er drückte ihr einen Becher in die Hand, und als sie daraufhin vor Schmerz nach Luft schnappte, führte er aus: „Du hast dir die Handflächen aufgescheuert, als du den Halt am Seil an der Treppe verloren hast. Teyen hat mir eine Salbe dafür mitgegeben. Ein paar Tage lang muss die noch aufgetragen werden, und du musst den Verband tragen, bis das verheilt ist.“ Nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen musste er inzwischen an der Tür stehen. „Ich werde deinen Drachen hereinlassen, Sybilla, also mach dich bitte darauf gefasst.“
Sie musste lächeln, als ihr einfiel, dass er Aldys schon ein paar Mal so bezeichnet hatte. Ihre Dienerin konnte allerdings auch wirklich zur Furie werden, wenn ihr danach war oder wenn die Lage es erforderlich machte. Der Riegel wurde angehoben, die Tür ging auf.
„Mylord“, begann Aldys sofort in einem strengen Tonfall.
„Aldys“, erwiderte Soren unüberhörbar amüsiert. „Ich wünsche dir noch einen guten Tag, Sybilla.“
Mit diesen Worten verließ er sie, und sie hörte nur noch seine Schritte im Korridor, die sich schnell entfernten.
Aldys half ihr beim Waschen und Anziehen, und wenig später war sie fast wieder sie selbst. Die eine oder andere Bewegung tat noch immer ein bisschen weh, aber Sybilla stellte erleichtert fest, dass von Schmerzen größtenteils nichts mehr zu merken war. Aldys öffnete die Fensterläden, ein angenehm warmer Wind wehte in den Raum. Langsam ging Sybilla zum Fenster und stellte sich davor, um die Wärme der Sonne auf ihrer Haut zu spüren und sich zu wünschen, sie könnte das Licht dort draußen sehen.
Nun, dazu würde es nicht kommen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie ihr Augenlicht auf Dauer verloren hatte. Nun wartete auf sie ein langes, leeres Leben.
Gelächter drang an ihre Ohren, und sie lauschte aufmerksamer. Vielleicht ein Spiel? Oder ein Wettkampf? Einige Stimmen klangen vertraut, andere dagegen hatten den markanten Akzent der Fremden. Einige riefen etwas in ihrer Muttersprache, dann haderten sie mit den entsprechenden englischen Worten. Was Sybilla vor allem berührte, war das Glück, das sie aus den Stimmen heraushören konnte. Offenbar hatten ihre Leute einen Mittelweg gefunden, um sich mit ihrem neuen Herrn und dessen Soldaten zu arrangieren. Ihnen würde nichts passieren, da er sie beschützte.
„Mylady, es ist ein wunderschöner Tag“, sagte Aldys, die sich zu ihr gestellt hatte. „Möchtet Ihr einen Spaziergang machen?“
Sie drehte sich zu ihrer Dienerin um, obwohl sie sie nicht sehen konnte, und schüttelte den Kopf. „Ach, was sollen denn die Leute von mir denken?“, murmelte sie. „Eine Verrückte in ihrer Mitte?“
„Diese Leute haben ihre Herrin erlebt, wie sie von unvorstellbarer Trauer fast zerrissen wurde“, hielt Aldys dagegen, nahm Sybillas Hand und tätschelte sie. „Diese Leute sahen die Frau, die sie und ihre Familien sicher durch den Winter gebracht hat, die Frau, die sich schützend vor sie gestellt hat und dabei dem Dämonenlord gegenübergetreten ist. Macht Euch keine Sorgen, Mylady. Sie werden es verstehen.“
Tränen wollten ihr in die Augen steigen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie die Frage aussprach, die ihr am meisten zu schaffen machte: „Aber was soll ich jetzt tun, Aldys? Was soll ich tun?“
„Lebt, Mylady.“
Eine so simple Lösung, doch Sybilla konnte nur all das Unmögliche wahrnehmen, das sich vor ihr erstreckte. „Ich kann nichts sehen. Ich kann nicht einmal mehr die einfachsten Tätigkeiten erledigen. Wie soll ich so leben?“
„Ihr habt einen scharfen Verstand, Mylady. Ihr werdet es lernen. Ihr werdet neue Methoden erlernen, um vertraute Arbeiten auszuführen. Und was Ihr nicht tun könnt, übertragt Ihr anderen“, ergänzte sie lachend. „Oder wollt Ihr etwa dem Schlachter beim Pökeln helfen?“
Jetzt musste Sybilla lächeln. Die Gerüche bei diesem Vorgang, der für ihr aller Überleben unverzichtbar war, hatten sich als so schrecklich erwiesen, dass sich ihr der Magen umgedreht hatte. Eine solche Arbeit von einem anderen erledigen zu lassen, bereitete ihr wirklich kein Kopfzerbrechen.
„Aber ich werde nie wieder lesen können.“
„Aye, Mylady, das ist wahr, allerdings kann Euch jemand vorlesen. Ich würde das gerne tun“, bot Aldys sich an, die in diesem Moment gar nichts mehr von einem Drachen hatte. Sybilla lächelte und nickte angetan.
Da sie noch nie vor einer schwierigen Situation oder Aufgabe einen Rückzieher gemacht hatte, begann Sybilla zu überlegen, welche Tätigkeiten sie wohl erledigen konnte, auch ohne etwas zu sehen. Wenn Sorens Angebot ernst gemeint war, dann wollte er, dass sie die Ernte und die Einlagerung der Lebensmittel für den Winter überwachte. Sollte er ihr so etwas tatsächlich zutrauen?
„Lord Soren hat mir eine Ehe auf Zeit angeboten, wenn ich ihm die nächsten sechs Monate zur Seite stehe.“ Sybilla musste einfach mit jemandem über dieses seltsame Angebot reden, und Aldys schien dafür genau die Richtige zu sein. Sie hatte Sybillas Familie und Mutter über viele Jahre hinweg gedient und in der Zeit vieles miterlebt. Eigentlich war es gar nicht ihre Absicht gewesen, diesen Vorschlag auszuplaudern, doch jetzt konnte sie Aldys’ Reaktion darauf kaum erwarten.