Sybilla nahm sich Sorens Ratschlag zu Herzen und verbrachte die nächsten Tage vorwiegend im Burgfried. Es wunderte sie, dass sie in der Lage war, tagsüber das Bett zu verlassen, wenn doch die Nächte von einer solch kräfteraubenden Leidenschaft bestimmt waren. Oft hörte sie im Gespräch mit ihren Dienerinnen mitten im Satz auf zu reden, weil sie sich an etwas erinnerte, was Soren in der Nacht gesagt oder welche Freuden er ihr geschenkt hatte – oder sie ihm.
Das Einzige, was er ihr dabei vorschrieb, war, dass sie ihn nicht auf die gleiche Weise anfassen durfte, wie er es mit ihr machte. Sie spürte seinen Körper nur, wenn er auf ihr lag oder wenn er sich im Schlaf an ihren Rücken drückte. Aber wenn sie nur versuchte, sein Gesicht zu berühren, dann schob er ihre Hände zur Seite.
Einmal war es ihr gelungen, mit den Fingern über seine Männlichkeit zu streichen, was ihn wohl nicht gestört hatte. Und ein anderes Mal, als sie von der Lust mitgerissen worden war, da hatte sie ihre Hände auf … auf seinen Po gelegt! Sybilla fühlte sich, als hätte sie Fieber, und bat Gytha um etwas kaltes Wasser.
Aldys lachte. Es war ein wissendes Lachen. Vermutlich hatte ihre Dienerin ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und wusste genau, wie es in ihr aussah. Gytha dagegen war noch zu jung, um eine Ahnung von den Dingen zu haben, die sich zwischen Mann und Frau abspielten; deshalb versuchte Sybilla auch, sie mit Einzelheiten zu verschonen.
Die letzten beiden Tage hatten sie fast nur damit zugebracht, die Möbel in ihren Gemächern umzustellen, damit sie sich leichter in ihrem Quartier bewegen konnte, also ganz so, wie er es vorgeschlagen hatte. Dabei hatte er ihr auch aufgetragen, nichts in die Ecke gleich neben der Tür zu stellen, weil er sie mit irgendetwas überraschen wollte. Was das sein sollte, verriet er ihr nicht, auch nicht, wann sie es herausfinden würde.
Seit der Ankunft von Lord Brice hatte eine Art fester Tagesablauf Einzug gehalten. Auch wenn sie und Soren nicht mit den anderen zusammen aßen, sondern sich ihr Mahl für die Abgeschiedenheit in ihren Gemächern aufbewahrten, saßen sie dennoch gemeinsam an der großen Tafel im Saal und erfreuten sich an der Gesellschaft der anderen. Obwohl Soren lieber einen gewissen Abstand wahrte, gefiel es Sybilla, unter Menschen zu sein. Zwar war er nicht besonders glücklich darüber, wenn sein Freund und sein Cousin Anekdoten aus Sorens Leben zum Besten gaben, aber er untersagte ihnen auch nicht, diese Dinge zu erzählen.
In den Stimmen der Menschen nahm sie dabei auf einmal Dinge wahr, die ihr nie zuvor aufgefallen waren – Angst, Wut, aber auch sanftmütigere Regungen. Obwohl keiner von ihnen es offen zugeben würde, überwogen diese sanfteren Töne, wenn Larenz, Lord Brice und Soren sich unterhielten. Diese Männer hatten einen Großteil ihres Lebens gemeinsam verbracht, sodass sie verstand, warum sie einander verbunden fühlten. Natürlich hätten sie das rigoros abgestritten, wenn sie darauf zu sprechen gekommen wäre, darum behielt sie es für sich. Aber sie erfuhr mehr und mehr über diese Männer, die ihre Heimat erobert hatten … und wohl auch ihr Herz.
Tristan le Breton war dagegen ganz anders. Auch wenn Soren eine Verwandtschaft zwischen ihnen beiden angeführt hatte, schien dieser Cousin sich an der Tatsache zu erfreuen, dass Soren nicht mehr der schöne Mann war, der er früher einmal gewesen sein musste. Tristan behauptete, er sei nach Norden gekommen, um einen Platz in Sorens Haushalt zu erhalten, den er sich als Harfenspieler und als Schreiber verdienen wollte, da er des Lesens und des Schreibens mächtig war. Zwischen den beiden Männern herrschte auch deswegen eine angespannte Stimmung, weil Soren so wie viele Krieger von seinem Schlag diese Kenntnisse nicht beherrschte.
Sybilla merkte ihrem Ehemann an, dass es ihm in den Fingern kribbelte, Tristan hinauszuwerfen oder ihn mit Brice zurückzuschicken, sobald der wieder aufbrach, aber aus irgendeinem Grund tat er es doch nicht. Eine gute Sache hatte dieser Besuch mit sich gebracht: Tristan hatte ihr angeboten, ihr das Harfespielen beizubringen. Er sagte, sie müsse die Saiten gar nicht sehen, sondern sie nur ertasten. Schon jetzt freute sie sich auf ihre erste Unterrichtsstunde.
Soren hatte ein leises Knurren von sich gegeben, als Tristan den Vorschlag unterbreitete, ihr aber nicht die Erlaubnis verwehrt. Dann hatte er sie regelrecht mit nach oben in ihre Gemächer geschleift und ihren Körper in dieser Nacht auf jede nur denkbare Art verwöhnt. Am Morgen taten ihr von so viel Aufmerksamkeit alle Knochen weh, und beim Waschen bemerkte sie einen seltsam empfindsamen Fleck auf ihrer Brust und an der Innenseite eines Oberschenkels. Als sie Soren darauf ansprach, reagierte der nur mit einem Lachen – allerdings jenem verruchten Lachen, das bei ihr ein wohliges Kribbeln auslöste.
Als sie Aldys nun bat, mit ihr einen Spaziergang zu unternehmen, war die Ältere wie immer begeistert davon, weil sie dann stets einen Zwischenhalt einlegten, damit sie sich mit Larenz unterhalten konnte. Wenn Sybilla die beiden reden hörte, merkte sie ihnen an, dass sich zwischen ihnen etwas abspielte. Bevor sie jedoch aufbrechen konnten, kamen den Stimmen nach zu urteilen drei Männer und trugen etwas Schweres in ihren Raum. Aldys stieß beim Anblick des rätselhaften Objekts einen leisen Freudenschrei aus.
„Mylady!“, rief sie.
„Was ist das, Aldys? Nun sag es mir schon!“ Als die Dienerin daraufhin ihre Hand ergriff und sie fest drückte, war Sybilla sich nicht mehr sicher, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, flüsterte Aldys etwas, das Sybilla die Sprache verschlug.
„Ein Webstuhl.“
„Ein Webstuhl, Aldys? Die Leute haben mir einen Webstuhl gebracht?“ Es kribbelte sie in den Fingern, ihn zu ertasten.
„Aber nicht irgendeinen, Mylady“, meldete sich einer der Männer zu Wort. „Lord Soren hat Euren Webstuhl reparieren lassen. Es war nur eine Seite des Rahmens zerbrochen, ein paar Gewichte hatten sich gelöst, und die Fäden waren verheddert. Meine Frau hat die Fäden für Euch entwirrt und sortiert.“
Sybilla wusste nicht, was sie noch sagen sollte, da ihr die Worte fehlten. Ihr Webstuhl war ihre letzte direkte Verbindung zu ihrem Vater, dem Mann, der Soren fast umgebracht hätte. Warum tat Soren so etwas für sie? Würde dieser Webstuhl ihn nicht immer an seinen verbitterten Hass und an seine Rachegelüste erinnern, sobald er ihn in der Ecke stehen sah?
„Wir wünschen Euch einen guten Tag, Mylady“, riefen die Männer ihr zu und verließen ihr Quartier.
Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, den Webstuhl zu berühren, und der Angst, ihn nicht mehr benutzen zu können, rührte sich Sybilla zunächst nicht von der Stelle.
„Er steht wieder an seinem alten Platz, Mylady. Von einem neuen Stück Holz abgesehen ist er ganz der Alte“, berichtete Aldys.
Sybilla versuchte sich daran zu erinnern, woran sie an dem Tag gearbeitet hatte, als Soren vor dem Tor aufgetaucht war, doch es wollte ihr nicht einfallen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf, da sie gar nicht glauben konnte, dass ihr Webstuhl tatsächlich wieder da war.
„Kommt mit“, sagte Aldys und führte sie hin, dann nahm sie Sybillas Hände und berührte mit ihnen jedes Teil des Webstuhls, gleichzeitig sagte sie ihr, was ihre Finger soeben ertasteten. „Ihr hattet an einer Bettdecke gearbeitet, als er … kaputtging. In diesem schönen Blauton, der Euch so gut gefallen hatte, als Ihr ihn das erste Mal … gesehen habt.“ Aldys führte verlegen ihren Satz zu Ende, da ihr erst während des Redens aufgefallen war, was sie da eigentlich sagte – dass Sybilla sich für eine Farbe begeistert hatte, die sie nie wieder würde sehen können.
„Glaubt er denn wirklich, ich könnte irgendetwas weben, ohne es zu sehen? Wie soll ich denn ein Muster weben?“
„Ach, kommt schon, Mylady“, ermahnte Aldys sie. „Ihr habt doch immer behauptet, dass Ihr mit geschlossenen Augen weben könnt. Außerdem habt Ihr das ja sogar im Halbschlaf gemacht, als Euch nur das Kaminfeuer ein wenig Licht gespendet hatte.“ Sie nahm Sybillas Hände und legte sie auf den Rahmen. „Versucht es wenigstens erst einmal, bevor Ihr aufgebt.“
Sybillas Hände zitterten, und dreimal hintereinander fiel das Schiffchen auf den Boden, ehe es ihr endlich gelang, es zwischen, über und unter den Fäden durchzuziehen und dabei die ganze Breite des Webrahmens zu bewältigen. Sie wollte gar nicht wissen, wie krumm und schief das Ergebnis aussehen mochte. Während sie sich das Muster einzuprägen versuchte, zählte sie mit, wie ihre Finger sich über die Fäden bewegten, und nach kurzer Zeit hatte sie das Schiffchen dreimal hin und zurück geschoben.
„Wie sieht das aus, Aldys?“, wollte sie wissen. Als sie ein Lachen zur Antwort bekam, nahm sie es auf die leichte Schulter und meinte: „Dann werde ich üben müssen.“
Aus dem Schrank, in dem unter anderem die Bettlaken aufbewahrt wurden, holte ihre Dienerin einen Beutel voll mit Garnen, die die Färber für sie hergestellt hatten.
Nachdem sie noch gut eine Stunde lang geübt hatte, überredete sie Aldys dazu, sich mit ihr zusammen auf die Suche nach Soren zu begeben, damit sie sich bei ihm bedanken konnte. Aber recht schnell fanden sie heraus, dass er Alston verlassen hatte und erst am späten Abend zurückerwartet wurde. Daraufhin unternahm sie noch ein paar Versuche, reagierte aber zunehmend gereizt auf diese Bemühungen, weil sie sich allzu gut daran erinnerte, mit welcher Leichtigkeit sie diese Arbeit erledigt und komplizierte Muster für Wandteppiche, Kleidungsstücke und Decken geschaffen hatte, als sie noch nicht blind gewesen war.