Soren hatte versucht, nicht zu oft an die kommende Nacht zu denken, weil er lieber noch so viel wie möglich erledigen wollte, ehe die Sonne unterging und es zu dunkel wurde, um zu arbeiten. Daher kreisten seine Gedanken vor allem um die Fragen, wie man so viele Gefangene unterbringen und unter Kontrolle halten sollte, und wie viele seiner Leute beim Sturm auf die Feste getötet worden waren. Er wusste auch noch nicht, wie viele Bewohner aus dem Dorf rings um die Feste die Flucht ergriffen hatten und wie viele noch verblieben waren, die die Felder bestellen konnten. Neben diesen Dingen gab es auch noch anderes, nicht minder Wichtiges zu bedenken. Erst als er nun die Stufen hinaufging in den ersten Stock des Eckturms, fiel ihm auf, dass er mehr über Sybilla nachdachte, als er sich eingestehen wollte.
Die vorwurfsvollen Blicke, die die Wachen vor der Tür zu Sybillas Gemächern ihm zuwarfen, ließen ihn innehalten. Eben wollte er seine Soldaten auf dieses unangemessene Verhalten ansprechen, da rief Stephen nach ihm. Da der Mann aber am anderen Ende des Korridors stehen blieb und keine Anstalten machte, näher zu kommen, musste Soren zu ihm gehen, wenn er wissen wollte, was es Wichtiges gab.
„Soren, hältst du das für klug?“, fragte Stephen leise.
„Wovon redest du?“
„Ich weiß, nach einer Schlacht ist das Blut eines Mannes immer noch in Wallung, aber ist das wirklich klug?“
Diese Worte ausgerechnet von einem Mann, der am eigenen Leib hatte erfahren müssen, welche Folgen fehlgeleitete Lust nach einer Schlacht mit sich bringen konnte, machten Soren nachdenklich. Dennoch war es nicht an Stephen, sich hier einzumischen.
„Würde ich mich derzeit in den Fängen der Blutlust befinden, dann würdest du jetzt für eine solche Frage längst ohnmächtig am Boden und ich zwischen den Schenkeln dieses Weibs liegen, und ich wäre auf dem besten Weg zu meiner Befriedigung“, gab er zurück und warf seinem Freund einen finsteren Blick zu. „Es ist für uns beide besser, wenn du mich derartige Dinge gar nicht erst fragst.“ Soren wandte sich ab, wurde aber zurückgehalten, da Stephen ihn am Arm packte.
„Sie ist jetzt deine Ehefrau, Soren“, wandte Stephen ein, von dessen Hand Soren sich mühelos wieder befreit hatte.
„Sie ist Durwards Brut“, hielt er dagegen. Die Männer, die an seiner Seite gekämpft hatten, wussten von seinen Plänen für jeden, in dessen Adern das Blut von Durward of Alston floss. Jede finstere, schmerzhafte Einzelheit seiner Absichten war ihnen bekannt. Dass Sybilla jetzt nicht mehr bloß die Tochter des Erzfeindes war, spielte dabei keine Rolle.
„Und nun ist sie deine Ehefrau. Das ist nicht das, was du dir vorgenommen hattest. Damit ändert sich alles.“
„Und es ist allein meine Sache, Stephen. Tu nichts, was mich bereuen lassen könnte, dich in meine Dienste genommen zu haben.“
Der Krieger schien noch mehr sagen zu wollen, aber er verkniff es sich und nickte nur. Nach einem letzten Blick über die Schulter ging Stephen fort. Soren machte sich wieder auf den Weg zu der Tür, durch die er schon vor einigen Augenblicken in ihre Gemächer hatte eintreten wollen.
Die Wachen machten einen Schritt zur Seite und warteten auf seine Befehle.
„Ihr bleibt da unten. Wenn ich euch brauche, werde ich euch rufen“, sagte er und zeigte auf die Stelle, wo er sich soeben mit Stephen unterhalten hatte. „Niemand nähert sich dieser Tür, solange ich es nicht ausdrücklich erlaube.“
Als er nach dem Riegel fasste, um ihn hochzuheben, bemerkte er, dass seine Handflächen nass geschwitzt waren. Er hätte schwören können, gefasst zu sein, doch sein Herz raste, und ein ungeheurer Druck lastete auf seiner Brust, während er im Begriff war, den nächsten Schritt auf dem Weg zur vollständigen Rache an dem Mann zu machen, der sein Leben zerstört hatte … und mit ihm auch seinen Körper und seine Seele. Soren drückte die Tür auf und trat ein.
Ihre beiden Dienerinnen – die ältere, etwas beleibtere, und die jüngere, schlanke Frau – standen wie Statuen neben dem Bett, auf dem seine Ehefrau lag und sich nicht rührte. Wenn man davon absah, dass sich ihre Brust mit jedem ihrer schnellen Atemzüge hob und senkte und dass sich ihre Finger so bewegten, als wollten sie sich am Bettzeug festklammern, ohne dort Halt zu finden.
„Kann sie sehen?“, fragte er. Eine Kopfverletzung bedeutete nicht zwangsläufig auch Blindheit. „Konnte sie sehen, als der Verband gewechselt wurde?“
Mit einem steifen Kopfschütteln bestätigte die ältere Frau, dass sich am Zustand nichts geändert hatte, was ihn erleichtert aufatmen ließ.
„Ich habe angewiesen, dass sie vorbereitet wird“, redete er weiter und näherte sich langsam dem Bett. „Zieht sie aus und dann verschwindet.“
„M… Mylord …“, stotterte die jüngere Frau und verbeugte sich in dem erfolglosen Bemühen, ihn zu beschwichtigen. Dafür war es bereits zu spät.
Seinen Absichten zum Trotz zögerte er und sah mit an, wie die beiden Dienerinnen ihr halfen, das Bett zu verlassen und sich daneben hinzustellen. Jetzt, da sie saubere Kleidung trug und ihre Verletzung versorgt war, konnte Soren zum ersten Mal sehen, wie liebreizend sie war. Und er sah auch ihre ungeheure Angst, denn alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen, und sie zitterte am ganzen Leib.
Ihr blassblondes, welliges Haar lockte sich bis weit über die Schultern, doch es waren ihre Finger, die ihm sofort ins Auge fielen. Sie waren feingliedrig und so elegant wie der Schwung ihres Halses. Während sie ihren Dienerinnen etwas zuflüsterte, fiel ihm auf, dass sie nichts mehr von jener Tapferkeit erkennen ließ, die er zuvor bei ihr hatte beobachten können. Außerdem war sie jünger, als er sie eingeschätzt hatte … und auch viel schöner. Was ihn jetzt aber vor allem faszinierte, waren ihre fein geschnittenen Gesichtszüge. Sie war eine Dame von besserer Herkunft, während er nur …
Abrupt schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden und um sich auf seine eigentlichen Absichten zu konzentrieren. „Entweder ihr zieht sie aus, oder ich werde das selbst erledigen“, warnte er die Dienerinnen in einem schrofferen Tonfall als eigentlich erforderlich, aber sie sollten auch merken, dass er es ernst meinte.
Dann drehte er sich um und versuchte sie zu ignorieren, während sie zur Tat schritten, nur um zu verhindern, dass er seine Drohung wahrmachte. Er war unterdessen damit beschäftigt, seinen schweren Ledergürtel abzulegen, an dem das Schwert hing, dann zog er die Kettenhaube vom Kopf. Als hinter ihm Ruhe einkehrte, drehte er sich wieder um. Seine Ehefrau lag unter der Bettdecke, die Dienerinnen hielten gemeinsam die Kleidungsstücke, die sie ihr ausgezogen hatten.
Sehr gut. Erst als er erleichtert aufatmete, bemerkte er, dass er gebannt die Luft angehalten hatte. Seine Aufgabe hier würde schnell erledigt sein, und er konnte sich in Kürze wichtigeren Angelegenheiten widmen. Wenn sie diesmal nicht von ihm schwanger wurde, würde er sie so oft aufsuchen, bis dieses Werk vollbracht war, und dann musste er sich erst wieder bei ihr blicken lassen, wenn sein Erbe geboren wurde.
Während der stundenlangen Arbeit, die nötig war, um die Feste und das Land für sich zu sichern, war er zu dem Schluss gekommen, dass völlige Gleichgültigkeit ihr gegenüber eine angemessenere Bestrafung für sie war als der Hass, der in seinen Adern brodelte und darauf wartete, sich seiner Kontrolle zu entziehen und auf seine Feinde loszugehen – und damit auch auf sie. Zwar war Vergeltung sein eigentliches Ziel, aber er würde aus dieser Frau nichts weiter machen als eine Kreatur, die seine Saat austrug und seine Bedürfnisse stillte.
Soren lächelte boshaft, erfreut darüber, dass der Erfolg zum Greifen nah war. Mit einem knappen Nicken schickte er die Dienerinnen aus dem Zimmer, und als sie auf dem Weg nach draußen die Tür hinter sich zuzogen, atmete er beruhigt aus. Sein Lächeln verharrte weiter auf den Lippen, aber als er fast neben dem Bett stand, fiel ihm abermals ihr heftiges Zittern auf. Ihre Haare lagen auf dem Bett ausgebreitet und umrahmten Kopf und Schultern, ein Anblick, der ihn wieder von seinen Gedanken über die angestrebte und nun so gut wie erfüllte Rache ablenkte. Obwohl sie keinen Verband mehr trug, lag sie da und hatte das Gesicht zur Seite gewandt, so als wollte sie ihn auf keinen Fall ansehen.
Sofort regte sich in ihm dieses Gefühl von Demütigung, wie er es immer wieder erleben musste, wenn andere sich von ihm abwandten. Gallebitterer Geschmack stieg ihm in die Kehle. Doch dann wurde ihm ihr leerer Blick bewusst, und ihm fiel ein, dass sie ihn gar nicht sehen konnte. Erleichterung überkam ihn, und sofort war alle Anspannung wie weggeweht.
Sie kann mich nicht sehen.
Er gestattete es sich, diese Erkenntnis zu genießen, und fühlte sich so unbeschwert wie noch nie seit jenem Tag im September. Als er über sie gebeugt dastand, bemerkte er ihre cremigweiße Haut, und er verspürte das Verlangen, diesen eleganten Hals, ihre vollen Lippen und ihren so zerbrechlich wirkenden Körper zu liebkosen. Es würde keine große Anstrengung darstellen, das Bettlaken wegzuziehen, um auch den Rest ihrer weiblichen Kurven betrachten zu können. Diese winzige Andeutung ihrer Anmut genügte, um seinen Körper für sie zu erwärmen, und er streckte den Arm aus, um nach dem Laken zu greifen. In dem Moment, in dem er es berührte, zuckte sie so heftig zusammen, dass er seinerseits vor Schreck einen Satz nach hinten machte.
„Sybilla“, sagte er, weil ihm in den Sinn kam, dass er ihr wohl besser erklärte, was er tat, da sie nichts sehen konnte. Zweifellos war sie diese ungewollte Ehe als Jungfrau eingegangen.
Der Klang ihres Namens, der ihm zum ersten Mal über die Lippen gekommen war, fühlte sich auf seiner Zunge rau und unpassend an. Er schluckte und räusperte sich, aber noch bevor er sich ihr wieder nähern oder irgendetwas anderes tun konnte, schlug sie das Laken zur Seite und sprang aus dem Bett. Zwar versuchte er noch, sie zurückzuhalten, doch er fasste ins Leere und landete quer auf dem verlassenen Bett. Als er sich wieder aufrichtete, konnte er beobachten, wie sie einem wilden Tier gleich versuchte, aus einem Käfig zu entkommen, aus dem es kein Entrinnen gab.
Da sie barfuß war, rutschte sie auf dem glatten Holzboden immer wieder aus, wobei sie von ihrem eigenen Schwung getragen quer durch das Gemach stolperte und schließlich hinfiel. Soren kletterte auf der anderen Seite aus dem Bett und versuchte erneut, Sybilla zu fassen zu bekommen, aber auch diesmal war sie unerwartet schnell wieder auf den Beinen und entwischte seinen Händen. Sie war wie eine Wahnsinnige, die so sehr nach einem Fluchtweg suchte, dass sie von ihrer eigenen Blindheit nichts bemerkte. Verwirrt und von ihrer Verletzung wohl auch noch ein wenig benommen stand sie mit dem Rücken gegen eine Wand gepresst da, redete leise vor sich hin und schüttelte den Kopf.
Ein paar Mal sprach Soren sie mit ihrem Namen an, doch sie nahm ihn gar nicht wahr, während er sich ihr wie einer äußerst unruhigen Stute näherte, die er mit leiser, sanfter Stimme zu beruhigen versuchte.
„Sybilla“, sagte er nochmals und versuchte, zu ihr zu gelangen, bevor sie sich weitere Verletzungen zufügen konnte. „Du musst damit aufhören.“
Reglos stand sie da, aber das währte nur einen trügerischen Moment lang, weil sie gleich darauf schon wieder davonstürmte, gerade als er einen Schritt in ihre Richtung machte. Fast hätte er sie zu fassen bekommen, aber dann rannte sie gegen den kleinen Tisch, auf dem ein Krug mitsamt Bechern stand, und stieß ihn um. Ihr kurzes Zögern nutzte er und bekam ihre Schultern zu fassen. Er wollte sie nur festhalten, damit sie sich nicht bei ihrer kopflosen Flucht noch schwerer verletzte, doch kaum berührten seine Finger ihre Haut, stieß sie ein entsetzlich klägliches Heulen aus. Es war so schrecklich, dass es ihm in den Ohren wehtat und in ihm den Wunsch weckte, ihr etwas anzutun, damit sie damit aufhörte.
Er rechnete damit, dass sie jeden Moment versuchen würde, sich aus seinem Griff zu befreien und weiter vor ihm davonzulaufen. Doch sie überraschte ihn erneut, da sie sich plötzlich einfach fallen ließ.
Zwar sagte Soren sich, dass sie bloß versuchte, dem Unvermeidbaren zu entkommen, und dass es sein gutes Recht war, heute Nacht ihren Leib für sich zu beanspruchen, doch da war etwas tief in seinem Inneren, das ihn von genau diesem Schritt abhielt. Stattdessen flüsterte er ihren Namen, weil er hoffte, so diese völlig verstörte Frau zu beruhigen, die er zur Ehe gezwungen hatte. Irgendwie gelang es ihm, sie zum Bett zu bringen, wo er ihr half sich hinzulegen und sie wieder zudeckte.
Er fuhr sich durch die Haare und sah sich im Gemach um, wobei er überlegte, was verkehrt gelaufen war, dass ihm eine Situation entglitt, die er vor wenigen Augenblicken noch unter Kontrolle gehabt hatte. Sein Vorhaben, keinerlei Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen, war in dem Moment vergessen, als er Zeuge ihres bedauernswerten Zustands wurde. Ein Überbleibsel seines alten Ichs nagte an ihm, aber das währte nur kurz, da ihm gleich darauf schon klar war, dass er heute Nacht ihr Bett nicht teilen konnte und nicht teilen würde.
Die Erkenntnis, dass er sie nicht gegen ihren Willen nehmen konnte, so sehr er es auch wollte, schien alle Wut zu entfachen, die er so lange Zeit mit sich herumgetragen hatte.
Sie hatte wieder gewonnen.
Ihr Vater hatte ihn ein weiteres Mal besiegt.
Soren fühlte, wie diese Wut zu kochen begann, und wandte sich von ihr und von ihrem Bett ab. Dann griff er in blindem Zorn nach dem erstbesten Gegenstand und bekam einen Webstuhl zu fassen, den er mit dem Rahmen voran gegen die Wand schleuderte, wo er dann mit lautem Getöse auf dem Boden landete. Er hörte Sybilla vor Entsetzen schreien, aber diesmal kümmerte es ihn nicht. Er hatte in dieser Nacht auf vieles verzichtet, und er konnte nicht noch mehr geben.
Dummerweise war ein Teil des Webstuhls so vor der Tür gelandet, dass ihm der Weg nach draußen versperrt war. Er rief nach den Wachen, die sofort mit vereinten Kräften die Tür aufmachten, was ihm verriet, dass sie sehr wohl unmittelbar davor gewartet hatten, und nicht ihrem Befehl entsprechend am anderen Ende des Korridors.
„Schafft das verdammte Ding hier raus!“
Erst als die Männer begannen, die Holzlatten einzusammeln, kam von Sybilla eine Reaktion. Sie begann zu schluchzen und kletterte aus dem Bett. Rasch stellte sich Soren so hin, dass er den Wachen den Blick auf ihren Körper versperrte, dann legte er ihr eine Decke um, gerade als sie stolpernd zu den Überresten des Webstuhls lief.
Fassungslos schüttelte er bei diesem Anblick den Kopf. War sie vielleicht nicht nur blind, sondern auch noch verrückt?
Während er ihr zusah, versuchte sie, Teile des Rahmens aufzusammeln und zu berühren, wobei sie unablässig schluchzend vor und zurück wippte. In diesem Moment tauchte Stephen in der Tür auf und stutzte, als er Zeuge dieser befremdlichen Szene wurde.
„Was ist passiert, Soren?“