Prolog
Blake, Connor, Sam, Darcy, Dominic, Nikolai – und Pierce. Ihre erwachsenen, unabhängigen Söhne.
Ruby sah sie der Reihe nach an und seufzte. Sie hatte sich so große Mühe gegeben und doch kein Verständnis gefunden. Das Geschenk in ihrer Handtasche – ein Gemeinschaftsgeschenk ihrer sieben Pflegesöhne – war der beste Beweis dafür.
Aber ihre Jungs waren trotzdem wunderbar, die Bilanz blieb positiv. Jeder stellte für sich allein etwas dar. Was für eine Entwicklung, wenn sie an die armen Würmchen dachte, die sie quasi von der Straße aufgelesen und in ihre Obhut genommen hatte!
Im Moment hörten sie alle aufmerksam dem Redner zu, aufmerksamer als sie selbst. Der Earl of Loganaich sprach zur Eröffnung des neuen Heims für bedürftige Kinder. Als ehemalige Vorsitzende des australischen Verbands der Pflegeeltern war sie um Rat gebeten worden. Ein Ort, wo zu kurz gekommene Kinder neu anfangen konnten … Das war so recht nach ihrem Herzen.
Ruby hatte auch ihre Söhne gebeten, das Projekt mit Rat und Tat zu fördern, was sie bereitwillig getan hatten. Jetzt waren sie von allen Enden der Welt zu der feierlichen Eröffnung angereist, um die Freude ihrer Pflegemutter zu teilen und ihr gleichzeitig ein besonderes Präsent zu machen.
Ihr siebzigster Geburtstag lag eine Woche zurück. Natürlich hatten sich alle an das Datum erinnert und waren nur nicht gekommen, weil Ruby angeblich keine Familienzusammenkünfte mochte. Dabei war es genau umgekehrt: Ihre Söhne verabscheuten derartige Treffen. Bei Gefühlsdingen suchten sie immer das Weite.
Das im Schloss von Dolphin Bay eingerichtete Heim war ein Familienunternehmen. Gerade jetzt standen Lord Hamish, Earl of Loganaich, und seine Ehefrau, Lady Susan, auf der kleinen Bühne – umgeben von ihrem "Hofstaat" aus Verwandten, Freunden, Kindern und Haustieren. Sie alle glaubten an das neue Heim und freuten sich darauf, ihr Leben einem guten Zweck zu widmen.
Die Rede des Earls war zu Ende. Alle Angehörigen umarmten sich, und Ruby sah traurig auf ihre Söhne, denen man nichts von der allgemeinen Freude anmerkte. Ihr unerwartetes und unerwünschtes Geburtstagsgeschenk bestand in dem Kauf eines Apartments in Sydney, mit Blick über den Hafen, wie er schöner nicht sein konnte.
"Wer dich von jetzt an länger als zwei Wochen besuchen will, braucht unsere Einwilligung", hatten die Brüder gesagt. "Wir müssen dich vor dir selbst schützen. Du darfst dich nicht mehr für die Armen und Schwachen aufopfern."
Tränen liefen Ruby über die Wangen. Die Jungs wollten sie einfach nicht verstehen. Sie hatte für jeden Einzelnen gekämpft, jeder hatte es geschafft, aber keiner zu ihren Bedingungen.
Sie wischte die Tränen fort und konzentrierte sich wieder auf die Besitzer und Angestellten dieses ungewöhnlichen Schlosses. Das Glück leuchtete ihnen aus den Augen – ein Leuchten, das Ruby bei ihren Söhnen vermisste. Würden sie jemals glücklich sein? Glücklich in der Liebe?
Pierce hatte ihre Bewegtheit bemerkt und nahm tröstend ihre Hand. Er war fünfunddreißig, Stararchitekt, groß, schlank, auf eine herbe Art gut aussehend und äußerst selbstsicher. Doch für Ruby würde er immer der halb verhungerte, missbrauchte Junge bleiben, den sie unter ihre Fittiche genommen hatte.
Er hatte mehr als seine Pflegebrüder zum Gelingen dieses Unternehmens beigetragen. Die notwendigen Anbauten, die dem veränderten Zweck dienen sollten, stammten von ihm und waren kostenlos entworfen worden. Ruby wusste, dass ihm die Arbeit Spaß gemacht hatte, trotzdem blieb er ihr gegenüber reserviert.
Wo steckte bloß das Baby, von dem er ihr heute Morgen zu ihrer Überraschung erzählt hatte? Er war überhaupt voller Überraschungen gewesen. Seine Heirat, der frühe Tod seiner Frau, das kleine Kind … nichts von all dem hatte sie gewusst und würde es noch immer nicht tun, wenn sie nicht ein Gespräch mit seinen Pflegebrüdern mit angehört und ihn anschließend zur Rede gestellt hätte.
"Was hast du, Ruby?", raunte er ihr jetzt zu.
"Ach, nichts. Es ist nur alles so verwirrend. Ich habe dir immer eine intakte Familie gewünscht …"
"Die habe ich", versicherte er.
Ein Wunder, dass er es zugibt, dachte Ruby, ohne ihm recht zu glauben. "Ein Baby und eine Haushälterin sind keine intakte Familie. Wenn ich wenigstens mal nach dem Rechten sehen dürfte."
"Es ist nicht mein Kind, und du hast genug getan."
"Ich möchte aber …"
"Nein, du möchtest nicht." Pierce war jung und weltgewandt, dagegen kam eine gebrechliche ältere Frau nicht an. "Du musst dich endlich ausruhen."
"Dafür ist immer noch genug Zeit, und bis dahin möchte ich leben."
Pierce schwieg dazu, und ein Blick in die Gesichter seiner Brüder sagte Ruby, dass keiner mehr Verständnis zeigen würde. Sie wussten alle nicht, was es bedeutete zu leben. Keiner von ihnen.
Sie hatte doch versagt.