Geständnis am Strand - Kapitel 2

"Kein Zweifel, es sind Windpocken." Dr. Martins Ton verriet tiefste Missbilligung. "Damit hat es die ganze Familie erwischt. Man hätte die älteren Kinder impfen müssen. Bei uns ist das ab dem ersten Lebensjahr die Regel. Bessy zahlt jetzt den Preis für Ihre Nachlässigkeit."

Wäre ich nicht so hundemüde, würde ich ihm einen Kinnhaken versetzen, dachte Pierce. Das aber wäre Energieverschwendung gewesen.

"Hier ist ein Rezept", fuhr der Arzt fort. "Geben Sie ihr die Tropfen zweimal täglich … wie den anderen Kindern." Er sah Pierce misstrauisch an. "Ich kann mich doch auf Sie verlassen?"

"Ja", antwortete Pierce mürrisch. Vielleicht hätte er für den Kinnhaken doch noch genug Energie gehabt, aber Bessy hing an seinem Hals, sodass ein Fausthieb nur eine geringe Wirkung gehabt hätte.

"Die Leiterin der Kinderfürsorge meint, Sie kämen nur schlecht mit der Situation zurecht." Es war Dr. Martin anzuhören, dass er diese Meinung teilte. "Ich kann die Leute von der Behörde jederzeit einschalten. Das habe ich Ihnen schon nach dem Tod Ihrer Frau gesagt."

Pierce schüttelte müde den Kopf. "Das möchte ich nicht, und außerdem erwarte ich Hilfe."

"Ausgezeichnet. Hoffentlich versteht die Person etwas von ihrem Fach. Die Kinder haben doch genug durchgemacht." Der Arzt schloss Bessys Krankenakte. "Geben Sie mir Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern. Die Leute von der Fürsorge können täglich einspringen."

 

Shanni betrat die Küche und hätte am liebsten gleich wieder kehrtgemacht. Der Raum war groß, wie in alten Farmhäusern üblich. Ein riesiger grüner Herd nahm fast eine ganze Wand ein, Schränke, Sitzbänke und Stühle waren aus dunkel getöntem Holz, der Fußboden bestand aus Eichendielen. Den Mittelpunkt bildete ein großer Tisch, ebenfalls aus Eichenholz, groß genug, um für Berge von schmutzigem Geschirr Platz zu bieten, und solide genug, um nicht darunter zusammenzubrechen.

"Es … ist nicht ganz aufgeräumt", meinte Wendy, die vorangegangen war. Sie trug Abby immer noch auf den Armen und schwankte unter der zu schweren Last. "Es ging Bessy gestern wirklich schlecht."

Die beiden Jungen bildeten die Nachhut. Mit ihren dunklen Locken, den Sommersprossen und dem gleichen misstrauischen Blick wirkten sie so, als wären sie wirklich Brüder.

Trotz des strahlenden Frühlingswetters war es kalt und feucht in der Küche. "Uns ist gestern das Holz ausgegangen", gestand Wendy, "und Dad hatte keine Zeit, um welches zu hacken. Aber das war gar nicht nötig, denn er hätte uns bei brennendem Feuer doch nicht allein gelassen. Zum Frühstück gab es Müsli und Orangensaft, daher brauchten wir den Herd nicht."

"Ich verstehe", sagte Shanni, obwohl sie weiter im Dunkeln tappte.

Wendy wankte zum nächsten Stuhl und setzte ihre Schwester dort ab. "Ich hole ein Pflaster, Abby", versprach sie der Kleinen.

Das war wenigstens ein Anfang!

"Wir müssen die Hände erst reinigen", sagte Shanni zu Wendy. "Kannst du mir einen sauberen Waschlappen und Seife bringen?"

"Ich glaube, ja", antwortete das Mädchen zögernd. "Werden Sie sich jetzt um uns kümmern?"

Shanni seufzte. "Wenn ich das wüsste! Für immer bestimmt nicht, aber bis euer Vater zurückkommt, habe ich wohl keine andere Wahl. Wir wollen mit Abbys Händen anfangen, okay?"

 

Irgendwo zwischen Dr. Martins Praxis und der Apotheke schlief Bessy ein. Endlich. Sie hatte die ganze letzte Nacht vor sich hin gewimmert und im Warte- und Sprechzimmer laut geweint. Die plötzliche Stille wirkte fast betäubend.

Pierce hatte Glück. Direkt vor der Apotheke fand er einen freien Parkplatz, er brauchte Bessy also nicht aufzuwecken. Allerdings war es auch nicht ungefährlich, sie allein im Auto zurückzulassen. Die Damen von der Fürsorge konnten ihm das als Kindesvernachlässigung auslegen, zumal der Wagen nicht verschlossen war.

Er liebte sein schnittiges gelbes Sportcabriolet mehr als sein Leben, und heute hatte er das Verdeck wegen des schönen Wetters natürlich zurückgeklappt. Er würde nur schnell das Rezept vorlegen und durch das Fenster der Apotheke ein Auge auf Bessy haben.

Leider warteten zehn Kunden vor ihm … mit zehn Rezepten.

"Es wird etwa zwanzig Minuten dauern", meinte Mr. Connelly, der Apotheker. "Sie sehen ja, was hier los ist."

Pierce stöhnte gequält auf. "Ich habe ein Baby im Auto, und zu Hause warten die anderen Kinder auf mich."

"Sie dürfen das Kleine auf keinen Fall allein lassen!"

"Wenn Sie vielleicht eine Ausnahme …"

"Zwanzig Minuten", wiederholte Mr. Connelly unerbittlich.

"Also gut." Diesmal verzichtete Pierce aus diplomatischen Gründen auf den Kinnhaken. Die halbe Stadt war sowieso schon gegen ihn. "Ich warte draußen im Auto."

Auf dem Weg zur Tür begegnete er unfreiwillig seinem Spiegelbild. Er hatte sich zwei Tage nicht rasiert und angezogen neben Bessys Bett geschlafen. Er sah zum Fürchten aus! Eine zierliche ältere Dame, die gerade hereinkam, machte einen weiten Bogen um ihn, was er ihr nicht verdenken konnte.

Missmutig setzte er sich wieder hinter das Steuer. "Zwanzig Minuten", sagte er zu der schlafenden Bessy, die sich jedoch nicht stören ließ.

Wie er sie beneidete! Seufzend kreuzte er die Arme über dem Lenkrad, legte den Kopf darauf und schloss die Augen. Zwanzig Minuten. Es war warm und still. So wunderbar still …

 

"Wann wollte euer Vater wiederkommen?"

"In einer Stunde, hat er gesagt. Er war für halb elf angemeldet."

Shanni sah auf die Uhr. "Inzwischen ist es fast zwölf. Müsste er nicht längst zurück sein?"

"Ja." Wendys Unterlippe zitterte, wenn auch nur ein bisschen. Sie versuchte es zu verbergen, aber Shanni hatte es bemerkt. Vielleicht, weil ihr selbst nach Weinen zumute war.

Sie würde bleiben, bis Pierce zurückkam, und dann auf der Stelle verschwinden. Bis dahin konnte sie die Kinder nicht im Stich lassen. Alle vier beobachteten sie, und ihre Mienen wurden immer ängstlicher. Sie hatten ihre Mutter verloren, und ihr Vater ließ auf sich warten. In ihrer kleinen Welt gab es keinen Halt.

"Okay", sagte Shanni, "soll ich mal in der Praxis anrufen?"

"Ja", antwortete Wendy, sichtlich erleichtert.

"Ja", bestätigte die Sprechstundenhilfe, als Shanni sich meldete, "Mr. MacLachlan war mit seiner Tochter da und ist gleich zur Apotheke weitergefahren. Vielleicht macht er noch Einkäufe. Hat er die Kinder etwa allein zurückgelassen?"

"Nein", antwortete Shanni, die den Vorwurf deutlich heraushörte. "Ich bin bei ihnen."

"Wenn es Probleme gibt …"

"Warum sollte es welche geben?"

"Die Leute von der Fürsorge lassen sich bezüglich Mr. MacLachlan nichts entgehen. Immerhin befindet er sich in einer schwierigen Situation."

Wendy stand so dicht neben Shanni, dass sie die Worte verstehen konnte. "Sagen Sie ihr, dass wir sehr gut zurechtkommen", flüsterte sie ihr empört zu. "Bestimmt ist Dad noch im Supermarkt. Es ist alles in Ordnung."

"Es ist alles in Ordnung", wiederholte Shanni laut und legte dann den Hörer auf.

"Sie wollen uns Dad wegnehmen", erklärte Wendy.

"Wir sollten denen von der Fürsorge zeigen, wie gut wir zurechtkommen", schlug Shanni vor.

"Und wie tun wir das?", wollte Wendy wissen.

"Indem wir aufräumen." Shanni betrachtete die Geschirrberge. "Da es sich dabei um ein umfangreiches Programm handelt, brauchen wir einen richtigen Schlachtplan. Ich hacke zuerst Holz, damit wir Feuer machen können und heißes Wasser bekommen. Ein Becken voll genügt nicht … wir füllen die Badewanne. Donald, könntest du ein paar frische Handtücher holen? Ihr anderen tragt alles schmutzige Geschirr ins Badezimmer. Die Jungen waschen ab, die Mädchen trocknen ab. Das Ganze muss vor Sauberkeit strahlen. Ich kümmere mich inzwischen um die Küche, und dann räumen wir alles wieder ein."

"Das geht nicht", erklärte Donald. "Wir sind nicht alt genug, um abzuwaschen."

"Unsinn", erwiderte Shanni mit mehr Überzeugung, als sie empfand. "Man muss kein bestimmtes Alter haben, um sich nützlich zu machen. Zieht eure Stiefel und Socken aus, dann könnt ihr ruhig nass werden. In der Badewanne Geschirr zu spülen, macht Spaß. Können wir dazu Musik hören?"

"Dad hat einen CD-Spieler und viele CDs", erklärte Wendy.

"Dann wollen wir etwas auflegen, das gute Laune macht … zum Beispiel Abba. Kennt ihr 'Dancing Queen'?"

"Ja", bestätigte Abby mit leuchtenden Augen. "Unsere Mum mochte die Band. Deshalb hat sie mich nach ihr genannt."

"Dann legen wir Abba auf, entschied Shanni. "Und jetzt ran an den Feind. Ich fürchte, wir müssen hundert CDs auflegen, bis das Haus in einem leidlichen Zustand ist."

 

Um vier Uhr nachmittags verschwand die Sonne hinter dem Turm des Postgebäudes, sodass Pierce und Bessy Schatten bekamen.

Die Kleine wachte zuerst auf. Sie rutschte auf ihrem Babysitz hin und her, griff mit ihrer kleinen Patschhand nach Pierce und zog ihn an seinem zerzausten braunen Haar.

Dieser fuhr auf, als hätte ihn ein Schlag getroffen. "Bess", stöhnte er, "du weißt gar nicht, wie kräftig du bist."

Verwirrt rieb er sich den Kopf, dann reckte und streckte er sich, und dabei fiel sein Blick auf die Turmuhr.

Nein, das konnte nicht sein! Auf keinen Fall hatte er … Doch, er hatte. Ein Blick auf seine Armbanduhr überzeugte ihn davon. Er hatte über fünf Stunden fest geschlafen.

Eine Apothekenhelferin, die das Schaufenster neu dekorierte, sah ihn und winkte lebhaft. Sie wartete, bis Pierce ausgestiegen war, und kam dann an die Tür.

"Ihre Tropfen", sagte sie vorwurfsvoll. "Wir haben uns schon gefragt, wann Sie endlich aufwachen würden. Sie sollten wirklich achtsamer sein."

 

Gar nicht so schlecht.

Shanni trat zurück und betrachtete die Bleistiftzeichnung, die sie gerade vollendet hatte. Es war die erste Kuh, die sie je gemalt hatte, und sie sah sogar wie eine aus. Nur das eine Bein wirkte etwas seltsam.

Sie sah der Reihe nach auf ihre Schüler. Vier Kinder, vier Holzbretter als Farbpaletten, vier Pinsel, vier behelfsmäßige Staffeleien. Alle arbeiteten konzentriert. Gut so.

Es war vier Uhr nachmittags. Wie lange sollte sie noch warten, ehe sie jemanden um Hilfe bat?

Ihr Blick blieb an Wendy hängen, die völlig versunken malte. Auch von Donald, Bryce und Abby kam kein Wort.

Zum Teufel mit Pierce MacLachlan! Was hatte er im Sinn?

Sie durfte nicht länger warten.

Plötzlich hob Wendy den Kopf und sah sie an. Eine stumme Bitte drückte ihr Blick aus. Noch nicht, bitte. Jetzt noch nicht.

 

Pierce bemühte sich krampfhaft, die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu überschreiten. Bessy saß vergnügt auf ihrem Sitz. Ab und zu krähte sie vor Wonne, weil der Fahrtwind ihr erhitztes Gesicht kühlte.

Mochte er auch geschlafen haben – erholt fühlte Pierce sich nicht. Er hatte die Kinder in der Hoffnung allein gelassen, diese Frau – Shannon oder Shanni – würde innerhalb der nächsten Stunde eintreffen. Selbst wenn sie tatsächlich aufgetaucht war, würde sie längst wieder fort sein, und die Kinder würden qualvolle Angst ausstehen.

Er bog um die letzte Kurve und sah ein Polizeiauto im Hof stehen. Das hatte er bestimmt Mr. Connelly zu verdanken – dem Apotheker. Wie viele andere war auch er der Ansicht, dass die fünf MacLachlan-Kinder in die Obhut der Fürsorge gehörten.

"Ich habe eine gute Zeit herausgefahren", sagte er zu Bessy, als er sie von ihrem Sitz hob. "Was wollen die Spinner hier?"

Zwei Polizisten kamen hinter der Scheune hervor, begleitet von einem Rotschopf. Einem weiblichen Rotschopf … klein, zierlich, ausgeblichene Jeans, leuchtend rote Windjacke mit grünen Farbspritzern darauf. Ein zusammengerolltes gelbes Halstuch um die Stirn, um die schulterlangen flammend roten Locken zu bändigen. Sommersprossen. Auf der Stupsnase ebenfalls ein grüner Farbfleck.

Ein Bild tauchte aus seiner Erinnerung auf. Eins von Rubys Familienfesten, die er gehasst hatte, weil er sich dann noch einsamer fühlte. Ein Junge hatte mit dem Finger auf ihn gezeigt und höhnisch gerufen: "Das ist einer von Tante Rubys Rumtreibern. Rumtreiber! Rumtreiber!"

Ein kleines Mädchen in einem leuchtend roten Kleid und mit einer riesigen pinkfarbenen Schleife im rotblonden Haar war auf den Jungen zugegangen und hatte ihm so kräftig auf den Fuß getreten, dass er aufheulte.

"Tut mir leid, Mac", hatte sie lachend gesagt, sich zu Pierce umgedreht und gefragt: "Hallo, wie heißt du? Ich bin Shanni."

Das hatte er nie vergessen. Dieser Einsatz, dieser Mut des Mädchens gehörten zu seinen kostbarsten Erinnerungen. War es möglich? Konnte sie das Mädchen von damals sein?

"Hallo, lieber Cousin!", rief sie herüber und winkte ihm zu, als hätten sie sich eben erst getrennt. "Wie geht es Bessy? Hast du alles besorgt, was ich aufgeschrieben habe?"

"H…hallo", antwortete er stockend und wusste plötzlich ganz genau: Ja, das ist sie … meine kleine mutige Verteidigerin.

Sie sah lächelnd zu ihm herüber, und seltsamerweise lächelten die Polizisten auch. Pierce erkannte sie – den älteren Miles, ein ruhiger Familienvater, und den jüngeren Toby, der schnell aggressiv wurde. Vor zwei Wochen waren die beiden mit den Vertretern der Fürsorge schon einmal hier gewesen.

Damals waren sie mit grimmigen Gesichtern abgezogen. Jetzt blickte Miles geradezu gütig, Toby etwas einfältig.

"Also Freitagabend", hörte Pierce ihn sagen.

"Darf ich Ihnen vorher Bescheid geben?", fragte Shanni in lieblichstem Ton. "Ich muss mich noch mit meinem Cousin besprechen. Die Kinder dürfen auf keinen Fall allein bleiben."

Donnerwetter!

"Also dann", meinte Miles wohlwollend. "Man sieht sich. Und viel Glück mit der Kuh, Miss. Sie werden das Bein schon hinbekommen."

Toby schwenkte einen Zettel. "Ich rufe Sie am Freitag an, Miss", versprach er. "Danke für die Nummer. Ich werde sie nicht verlieren."

Die Männer grüßten freundlich im Vorbeigehen, stiegen in ihr Auto und fuhren davon.

Pierce ließen sie mit Shanni zurück.


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