"Kein Zweifel, es sind Windpocken." Dr. Martins Ton verriet tiefste Missbilligung. "Damit hat es die ganze Familie erwischt. Man hätte die älteren Kinder impfen müssen. Bei uns ist das ab dem ersten Lebensjahr die Regel. Bessy zahlt jetzt den Preis für Ihre Nachlässigkeit."
Wäre ich nicht so hundemüde, würde ich ihm einen Kinnhaken versetzen, dachte Pierce. Das aber wäre Energieverschwendung gewesen.
"Hier ist ein Rezept", fuhr der Arzt fort. "Geben Sie ihr die Tropfen zweimal täglich … wie den anderen Kindern." Er sah Pierce misstrauisch an. "Ich kann mich doch auf Sie verlassen?"
"Ja", antwortete Pierce mürrisch. Vielleicht hätte er für den Kinnhaken doch noch genug Energie gehabt, aber Bessy hing an seinem Hals, sodass ein Fausthieb nur eine geringe Wirkung gehabt hätte.
"Die Leiterin der Kinderfürsorge meint, Sie kämen nur schlecht mit der Situation zurecht." Es war Dr. Martin anzuhören, dass er diese Meinung teilte. "Ich kann die Leute von der Behörde jederzeit einschalten. Das habe ich Ihnen schon nach dem Tod Ihrer Frau gesagt."
Pierce schüttelte müde den Kopf. "Das möchte ich nicht, und außerdem erwarte ich Hilfe."
"Ausgezeichnet. Hoffentlich versteht die Person etwas von ihrem Fach. Die Kinder haben doch genug durchgemacht." Der Arzt schloss Bessys Krankenakte. "Geben Sie mir Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern. Die Leute von der Fürsorge können täglich einspringen."
Shanni betrat die Küche und hätte am liebsten gleich wieder kehrtgemacht. Der Raum war groß, wie in alten Farmhäusern üblich. Ein riesiger grüner Herd nahm fast eine ganze Wand ein, Schränke, Sitzbänke und Stühle waren aus dunkel getöntem Holz, der Fußboden bestand aus Eichendielen. Den Mittelpunkt bildete ein großer Tisch, ebenfalls aus Eichenholz, groß genug, um für Berge von schmutzigem Geschirr Platz zu bieten, und solide genug, um nicht darunter zusammenzubrechen.
"Es … ist nicht ganz aufgeräumt", meinte Wendy, die vorangegangen war. Sie trug Abby immer noch auf den Armen und schwankte unter der zu schweren Last. "Es ging Bessy gestern wirklich schlecht."
Die beiden Jungen bildeten die Nachhut. Mit ihren dunklen Locken, den Sommersprossen und dem gleichen misstrauischen Blick wirkten sie so, als wären sie wirklich Brüder.
Trotz des strahlenden Frühlingswetters war es kalt und feucht in der Küche. "Uns ist gestern das Holz ausgegangen", gestand Wendy, "und Dad hatte keine Zeit, um welches zu hacken. Aber das war gar nicht nötig, denn er hätte uns bei brennendem Feuer doch nicht allein gelassen. Zum Frühstück gab es Müsli und Orangensaft, daher brauchten wir den Herd nicht."
"Ich verstehe", sagte Shanni, obwohl sie weiter im Dunkeln tappte.
Wendy wankte zum nächsten Stuhl und setzte ihre Schwester dort ab. "Ich hole ein Pflaster, Abby", versprach sie der Kleinen.
Das war wenigstens ein Anfang!
"Wir müssen die Hände erst reinigen", sagte Shanni zu Wendy. "Kannst du mir einen sauberen Waschlappen und Seife bringen?"
"Ich glaube, ja", antwortete das Mädchen zögernd. "Werden Sie sich jetzt um uns kümmern?"
Shanni seufzte. "Wenn ich das wüsste! Für immer bestimmt nicht, aber bis euer Vater zurückkommt, habe ich wohl keine andere Wahl. Wir wollen mit Abbys Händen anfangen, okay?"
Irgendwo zwischen Dr. Martins Praxis und der Apotheke schlief Bessy ein. Endlich. Sie hatte die ganze letzte Nacht vor sich hin gewimmert und im Warte- und Sprechzimmer laut geweint. Die plötzliche Stille wirkte fast betäubend.
Pierce hatte Glück. Direkt vor der Apotheke fand er einen freien Parkplatz, er brauchte Bessy also nicht aufzuwecken. Allerdings war es auch nicht ungefährlich, sie allein im Auto zurückzulassen. Die Damen von der Fürsorge konnten ihm das als Kindesvernachlässigung auslegen, zumal der Wagen nicht verschlossen war.
Er liebte sein schnittiges gelbes Sportcabriolet mehr als sein Leben, und heute hatte er das Verdeck wegen des schönen Wetters natürlich zurückgeklappt. Er würde nur schnell das Rezept vorlegen und durch das Fenster der Apotheke ein Auge auf Bessy haben.
Leider warteten zehn Kunden vor ihm … mit zehn Rezepten.
"Es wird etwa zwanzig Minuten dauern", meinte Mr. Connelly, der Apotheker. "Sie sehen ja, was hier los ist."
Pierce stöhnte gequält auf. "Ich habe ein Baby im Auto, und zu Hause warten die anderen Kinder auf mich."
"Sie dürfen das Kleine auf keinen Fall allein lassen!"
"Wenn Sie vielleicht eine Ausnahme …"
"Zwanzig Minuten", wiederholte Mr. Connelly unerbittlich.
"Also gut." Diesmal verzichtete Pierce aus diplomatischen Gründen auf den Kinnhaken. Die halbe Stadt war sowieso schon gegen ihn. "Ich warte draußen im Auto."
Auf dem Weg zur Tür begegnete er unfreiwillig seinem Spiegelbild. Er hatte sich zwei Tage nicht rasiert und angezogen neben Bessys Bett geschlafen. Er sah zum Fürchten aus! Eine zierliche ältere Dame, die gerade hereinkam, machte einen weiten Bogen um ihn, was er ihr nicht verdenken konnte.
Missmutig setzte er sich wieder hinter das Steuer. "Zwanzig Minuten", sagte er zu der schlafenden Bessy, die sich jedoch nicht stören ließ.
Wie er sie beneidete! Seufzend kreuzte er die Arme über dem Lenkrad, legte den Kopf darauf und schloss die Augen. Zwanzig Minuten. Es war warm und still. So wunderbar still …
"Wann wollte euer Vater wiederkommen?"
"In einer Stunde, hat er gesagt. Er war für halb elf angemeldet."
Shanni sah auf die Uhr. "Inzwischen ist es fast zwölf. Müsste er nicht längst zurück sein?"