Geständnis am Strand - Kapitel 3

"Sie sind Shanni", sagte Pierce, ohne sich besonders intelligent vorzukommen.

"Nicht so voreilig." Shanni war nicht näher gekommen, nachdem Miles und Toby den Hof verlassen hatten. "Sie sollten sich erst genauer davon überzeugen. Schließlich möchte man doch wissen, in wessen Obhut man seine Kinder zurücklässt."

"Hören Sie, ich …"

"Was fällt Ihnen eigentlich ein?" Das freundliche Begrüßungslächeln war wie fortgeblasen. "Wendy ängstigt sich zu Tode. Um ein Haar hätte ich den Polizisten geraten, die Kinder lieber der Fürsorge zu übergeben. Was für ein Vater sind Sie eigentlich? Und vor allem … wo zum Teufel haben Sie gesteckt?"

Statt die Frage zu beantworten, ging Pierce zum Gegenangriff über. "Würden Sie gütigerweise darauf achten, was Sie sagen?", fragte er. "Die Kinder sollen sich keine schlimmen Ausdrücke angewöhnen."

Shanni musste einmal tief Luft holen. "Soll das ein Scherz sein? Sie wollen verlassenen, halb verhungerten Kindern vorschreiben, wie sie sprechen sollen?"

"Sie sind nicht halb verhungert."

"Was haben Sie ihnen denn zum Mittagessen dagelassen?"

"Keine Ahnung." Es fiel Pierce immer noch schwer, klar zu denken. "Im Kühlschrank sind Eier, Steaks, Würstchen, tiefgekühlte Pommes frites …"

"Für all das braucht man einen Herd", fiel Shanni ihm ins Wort.

"Wir haben einen."

"Und wie sollten die Kinder Feuer machen?" Shannis Ton verriet äußerste Entrüstung.

"Hören Sie, ich bin gegen meinen Willen eingeschlafen."

"Tatsächlich?" Das klang nach bitterböser Ironie. "Sie gönnen sich ein Nickerchen und lassen Ihre Kinder verhungern?"

"Kinder verhungern nicht, wenn sie einmal kein Mittagessen bekommen."

Shannis Antwort war ein flammender Blick aus grünen Augen.

"Dad?" Wendy war hinter Shanni aufgetaucht.

Pierce wurde das Herz schwer. Er hatte Wendy im Stich gelassen, sein tapferes Mädchen, das schon viel zu viel Verantwortung tragen musste. Dabei hatte er gerade erst ihr Vertrauen gewonnen. Ein bisschen wenigstens.

"Zum Teufel, Wendy …"

"Bitte keine schlimmen Ausdrücke vor den Kindern", unterbrach Shanni ihn giftig.

"Ich bin eingeschlafen", wiederholte Pierce ungeduldig. "Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Wendy, sag ihr, wie schlecht ich geschlafen habe. Heute Morgen musste ich Bessy zum Arzt bringen und dann ewig auf ihre Medizin warten. Ich habe mich ins Auto gesetzt, weil ich Bessy nicht allein lassen wollte, und na ja …", er hob hilflos die Hände, "da bin ich eben eingenickt."

Eine längere Pause folgte, während Wendy nachdachte. "Er war wirklich die ganze Nacht wach", sagte sie dann zu Shanni, "und in der davor wahrscheinlich auch. Ich hatte einen Albtraum und bin aufgewacht. Da hat er mir heißen Kakao gemacht."

Shanni spürte, wie ihre kalte Verachtung Pierce gegenüber ein wenig nachließ. "Du meinst also, er hat eine Entschuldigung?"

"Er sieht schlimm aus", bestätigte Wendy.

"Allerdings", gab Shanni zu. "Wann hat er sich zum letzten Mal rasiert?"

"Er sieht gut aus, wenn er rasiert oder nur ein bisschen stoppelig ist", beteuerte Wendy. "Jetzt sind die Stoppeln zu lang." Sie nahm ihm Bessy ab und zog sich wieder hinter Shanni zurück.

"Es tut mir wirklich leid", sagte Pierce und versuchte, Shannis – nicht mehr ganz so strafenden – Blick zu ignorieren.

"Ich dachte, du seist weggelaufen", sagte Wendy.

"Obwohl ich dir versprochen habe, das nicht zu tun?"

"Männer lügen, das weiß ich von Mum. Alle Männer tun das."

Wieder entstand eine Pause, diesmal eine noch längere. Pierce wollte etwas antworten, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er spürte nur, dass er einer unbarmherzigen Prüfung unterzogen wurde.

"Mein Dad lügt nie", sagte Shanni schließlich zu Wendy. "Wirklich nicht, und ich kenne ihn jetzt seit achtundzwanzig Jahren. Er macht manchmal Fehler. Einmal hat er mich fünf Stunden auf der Eisbahn warten lassen, weil sein Buch so spannend war, aber er lügt nie." Sie wandte sich an Pierce. "Sind Sie hungrig?"

Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. "Vielleicht ein bisschen", erwiderte er nach kurzer Überlegung.

"Wir haben noch kalte Bratwurst", erklärte Wendy. "Wir haben alle Würste gebraten, weil wir dachten, du würdest zum Essen nach Hause kommen. Shanni hat sogar Schokotörtchen gebacken."

Pierce sah erst Wendy und dann Shanni an. Zugegeben, er war wortbrüchig geworden, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, um das wiedergutzumachen. Glücklicherweise hatte die Geschichte von der Eisbahn erheblich zur Entspannung beigetragen. "Shanni hat Schokotörtchen gebacken?"

"Sie sind eine Spezialität von mir", bestätigte Shanni in aller Bescheidenheit. "Da kein Schokoladenstreusel im Haus war, mussten wir eine Tafel fein reiben."

"Ich denke, im Herd brannte kein Feuer."

"Wir haben es angezündet, weil wir heißes Wasser zum Abwaschen brauchten", erklärte Wendy stolz.

"Ihr habt Feuer gemacht? Ohne Holz?"

"Shanni hat es gehackt, und die Jungs haben es hereingetragen."

Shanni hatte Holz gehackt, Feuer gemacht, Schokotörtchen gebacken … Pierce kam aus dem Staunen nicht heraus.

"Ganz recht", bemerkte Shanni, die seine Gedanken erriet. "Ich bin eine Wundertäterin."

"Ruby hat gesagt, Sie seien Malerin." Himmel, das klang ja beinahe wie ein versteckter Vorwurf! "Ich meine …"

"Ich werde auf Holzhackerin umsteigen", beruhigte Shanni ihn. "Dabei kann man seinem Ärger Luft machen."

"Welchem Ärger?"

"Was für eine Frage!", ereiferte sich Shanni. "Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergelockt zu werden …"

"Falscher Tatsachen?", wiederholte Pierce schwach.

"Ein Baby – und nicht fünf Kinder", fuhr Shanni unbeirrt fort. "Tante Ruby hat gesagt, es würde sich um ein Baby handeln, und das haben Sie bestätigt, als ich Sie aus Sydney anrief."

Pierce nickte. "Ruby konnte Ihnen nichts anderes erzählen, denn ich hatte ihr nur von dem Baby berichtet. Als Sie sich gemeldet haben, war ich so erleichtert, dass ich alles getan hätte, um Sie herzulocken und zum Bleiben zu bewegen."

Du bist ein Schuft, Pierce MacLachlan … ein ausgemachter Schuft!

Dass Bessy in diesem Augenblick energisch auf sich aufmerksam machte, war für alle eine Erlösung. Bisher hatte sie friedlich an Wendys Schulter gelegen, aber sie war erst acht Monate alt, hatte seit dem Frühstück nichts zu trinken bekommen und litt außerdem an Windpocken. Etwas von all dem musste ihr bewusst geworden sein, denn sie fing plötzlich gellend an zu schreien.

"Können Sie wenigstens bleiben, bis wir die Kleine gefüttert haben?", fragte Pierce in der Hoffnung, trotz des Geschreis verstanden zu werden.

"Ich bleibe, bis Sie mir einiges erklärt haben", antwortete Shanni grimmig. "Dann entscheide ich mich, wen ich umbringen werde … Sie oder Tante Ruby."

 

Du musst abreisen.

Seit Bessys erstem Schrei hatte nur hektische Betriebsamkeit geherrscht. Für Überlegungen oder sogar Erklärungen war keine Zeit gewesen.

Füttern, Baden, Trösten, wieder Füttern und wieder Trösten … Bessy hatte es genossen, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Dann waren die Kinder an die Reihe gekommen und nach ihnen das Vieh. Letzteres hatte Pierce übernommen, wobei Shanni ihn durch das Küchenfenster beobachtete.

Auf der am nächsten gelegenen Koppel stand eine riesige Kuh … oder war es ein Bulle? Pierce hatte dem Tier eine ganze Schubkarre voll Heu gebracht und es hinter dem Gatter verstreut. Ängstlich war er dabei nicht vorgegangen. Er hatte das Tier sogar hinter den Ohren gekrault.

Natürlich hatte sie nicht nur das Tier beobachtet. Pierce war ebenfalls sehenswert, wenn nicht sehenswerter. Er war groß, schlank und athletisch gebaut. Das dunkelbraune Haar trug er zu lang, ein Dreitagebart bedeckte Wangen und Kinn, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Jeans und Windjacke sahen aus, als hätte er mehrere Nächte darin geschlafen. Alles in allem machte er einen elenden Eindruck.

Elend und … sexy. So hatte er schon mit fünfzehn Jahren gewirkt, und daran hatte sich bis heute nichts geändert, nur dass er jetzt fünf Kinder am Hals hatte, und in diesem Punkt tat er ihr leid.

Andererseits hatte er es sich so ausgesucht. Für den Tod seiner Frau konnte man ihn nicht verantwortlich machen, wenn man nicht …"

"Woran denkst du?", hörte sie Wendy schüchtern fragen. Shanni hatte ihr und ihren Geschwistern erlaubt, sie zu duzen.

Shanni betrachtete die vier Teller, von denen das Rührei in Windeseile verschwunden war. "Ich denke daran, dass ihr in letzter Zeit zu wenig zu essen bekommen habt", antwortete sie.

"Pier… Dad ist kein guter Koch."

"Nennst du ihn Pierce?"

"Ja, aber nie vor anderen Leuten", antwortete Bryce für seine Schwester. "Dein Essen hat prima geschmeckt. Es war kein bisschen angebrannt."

"Das ist eine weitere Spezialität von mir … nach Schokotörtchen", erklärte Shanni stolz.

"Dads Spezialität ist Pizza", verriet Wendy. "Als er sie das letzte Mal bestellte, war jedoch kein Bargeld im Haus, und der Bote wollte keinen Scheck annehmen. Seitdem kommt er nicht mehr zu uns."

"Ich kann welche machen", sagte Shanni.

"Unmöglich." Pierce war unbemerkt vom Hof hereingekommen und betrachtete die ungewohnte häusliche Szene. "Sie können Pizza machen?"

"Sie meint die aus dem Supermarkt, die man zu Hause nur aufbacken muss", erklärte Bryce eilfertig.

"He!", rief Shanni gekränkt. "Ich bereite den Teig selbst zu, belege ihn nach Wunsch und backe ihn im Ofen."

"Auch für uns?", fragte Abby ungläubig.

"Für euch sogar besonders gern. Wenn ich alle nötigen Zutaten bekomme, kann ich schon morgen den Beweis antreten."

"Dann bleibst du bei uns?" Donald hatte bisher kaum gesprochen, sondern Shanni immer nur beobachtet. Jetzt stellte er die einzige Frage, der sie am liebsten ausgewichen wäre.

"Bis morgen bestimmt", antwortete sie. Es war längst zu spät, sich für die Nacht eine andere Bleibe zu suchen. "Vorausgesetzt, ihr habt ein freies Bett für mich."

"Wir haben sogar ein freies Schlafzimmer", warf Pierce ein.

"Mummys", ergänzte Donald, ohne Shanni aus den Augen zu lassen.

"Ist eure Mummy bei Bessys Geburt gestorben?", fragte Shanni mutig.

Donald schüttelte den Kopf. "Kurz danach."

Shanni ahnte, das hier noch viel im Dunkeln lag, das weiterer Erklärung bedurfte. Doch vielleicht war es klüger, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. "Ist es nicht schon Schlafenszeit?", erkundigte sie sich stattdessen.

"Allerdings", bestätigte Pierce.

"Liest Shanni uns eine Gutenachtgeschichte vor?", fragte Abby hoffnungsvoll.

"Das übernehme ich", versprach Pierce.

"Nein!", riefen die Kinder im Chor. "Shanni soll es tun."

"Ich muss abwaschen", sagte Shanni nervös. Wohinein war sie bloß geraten? "Ich bin für den Haushalt da. Vorlesen ist Sache des Vaters."

 

Fast eine Stunde war vergangen, als Pierce wieder in die Küche kam. Shanni hatte inzwischen abgewaschen und saß, umgeben von Lebensmitteln, vor dem offenen Kühlschrank auf dem Fußboden. Bei ihrem Anblick musste Pierce insgeheim lächeln, weil sie ihn in ihrer Haltung an das achtjährige Mädchen von damals erinnerte.

"Was treiben Sie denn da?", fragte er verwundert.

"Ich sortiere verdorbene Sachen aus", antwortete Shanni. "Der Kühlschrank ist ja der reinste Bazillenherd. Hat nicht Fleming auf diese Weise das Penizillin entdeckt? Geben Sie mir mal einen Müllsack."

Pierce riss einen von der Rolle ab und hielt ihn Shanni so hin, dass sie alles, was ihrer Prüfung nicht standhielt, hineinwerfen konnte.

"Ich bin sonst nicht so nachlässig", versuchte er sich zu verteidigen.

Shanni nickte. "Mit fünfzehn konnten Sie sich noch sehen lassen."

Pierce dachte einen Moment nach. "Trug ich auf dem Familienfest nicht einen Anzug?"

"Dunkelblau mit Nadelstreifen", antwortete Shanni prompt.

"Die anderen Jungen fanden das …"

"Ziemlich blöd." Shanni lächelte. "Ich weiß noch, wie Sie geneckt wurden."

Pierce sah nachdenklich auf sie hinunter. Was sollte er bloß von ihr halten? "Unsere Shanni kommt liebend gern, um auszuhelfen." Mehr hatte Ruby nicht gesagt. Doch wer war diese Shanni? Er wusste nur, dass sie damals eine riesige Haarschleife getragen, einem seiner Peiniger auf den Fuß getreten und bei alledem reizend gelächelt hatte.

"Sind wir eigentlich irgendwie verwandt?", fragte er unbeholfen.

"Mein Dad ist Rubys jüngerer Bruder."

"Dann sind Sie …"

"Wills und Lucys Tochter und damit quasi Ihre Cousine", bestätigte Shanni. "Eigentlich könnten wir 'du' zueinander sagen."

"Von mir aus gern. Es würde alles sehr viel einfacher machen. Und nun die zweite Frage. Warum bist du hier?"

"Weil Tante Ruby mich darum gebeten hat." Shanni hielt nun etwas grünlich Verschimmeltes hoch. "War das mal eine Zucchini?"

"Eine Gurke", gab Pierce bereitwillig Auskunft.

"Nicht mehr ganz taufrisch, oder?"

"N…nein."

"Warum hat Tante Ruby mir nicht gesagt, dass du fünf Kinder hast?"

"Weil sie es nicht weiß."

Shanni machte große Augen. "Sie weiß nichts von den anderen Kindern?"

"Nein", gestand Pierce. "Wir sehen uns kaum, da braucht sie nicht alles zu wissen."

"Vor allem nicht so etwas Nebensächliches wie vier Kinder." Shanni hatte den Kopf tief in den Kühlschrank gesteckt und eine neue Rarität entdeckt. "Hier ist doch eine Zucchini", verkündete sie stolz. "Allerdings nicht verfault, sondern vertrocknet."

Pierce fuhr sich nun seufzend mit der Hand durchs Haar. "Könnten wir endlich damit aufhören?"

"Mit dem Ausräumen des Kühlschranks?"

"Mit der Befragung und dem Herumkriechen auf dem Fußboden. Immerhin kenne ich dich kaum."

"Gut genug, um mir deine Kinder anzuvertrauen."

"Ich hatte keine andere Wahl. Der Kombi fiel aus, also musste ich Bessy im Zweisitzer zum Arzt bringen. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ruby hatte gesagt, ich könnte dir vertrauen. Also habe ich es getan."

Dagegen konnte Shanni wenig einwenden. "Bring das nach draußen", befahl sie und wies auf den prall gefüllten Müllsack. "Es ist widerlich."

Pierce folgte der Aufforderung, zumal er eine Atempause brauchte. Draußen blieb er stehen, sah zum sternklaren Nachthimmel hinauf und zählte langsam bis zehn. Dann beschloss er, es lieber bis auf hundert auszudehnen.

Als er endlich wieder in die Küche kam, befand sich Shanni noch immer halb im Kühlschrank.

"Möchtest du einen Whisky?", fragte er mit Blick auf ihren wohlgeformten Po, wobei ihm klar wurde, wie sehr er weibliche Gesellschaft vermisst hatte.

"Einen Whisky?"

"Du fragst das in einem Ton, als wäre ich Alkoholiker", beschwerte sich Pierce. "Dabei genehmige ich mir nur einen kleinen Drink, wenn die Kinder endlich im Bett liegen. Fällt das etwa schon unter Vernachlässigung?"

"He, das habe ich nicht gesagt!"

"Aber gedacht."

"Nein." Shannis Kopf kam wieder zum Vorschein. "Ich habe nur gedacht, wie angenehm ein Whisky jetzt wäre." Sie schnippte ein Stück welken Salat von ihrer Nasenspitze. "Und falls zwei daraus werden, laufe ich nicht gleich zur Fürsorge. Hauptsache, wir teilen."

Sie lächelte, und dieses Lächeln bezauberte Pierce. Er strich sich wieder durchs Haar, merkte, dass er noch immer nicht beim Friseur gewesen war, und nahm sich dann zusammen. Anstatt Shanni anzustarren und über einen längst fälligen Haarschnitt nachzudenken, sollte er sich lieber um die Drinks kümmern.

Er eilte ins Wohnzimmer, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte großzügig ein. Auf das Eis verzichtete er.

Shanni kniete immer noch auf dem Fußboden, als er zu ihr zurückkehrte. "Möchtest du dich nicht zu mir an den Tisch setzen?"

"Wenn ich jetzt aufstehe, kann ich mich nicht mehr bücken", warnte sie ihn.

"Das macht nichts. Der Kühlschrank kann warten. Du hast schon so viel Ordnung geschaffen, dass ich mir vorkomme …" Ja, wie denn? Verwirrt? Überrumpelt? Aus der Bahn geworfen? In jedem Fall anders als mit einem Berg von schmutzigem Geschirr auf dem Tisch.

Er streckte eine Hand aus, um Shanni aufzuhelfen, aber sie übersah es und stand allein auf.

"Entschuldige", sagte er etwas gekränkt.

"Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe gerade meinen Freund verloren und reagiere noch etwas komisch. Zum Beispiel habe ich vergessen, meine Eltern zu benachrichtigen, bevor ich London verließ. Was soll ich dir sagen? Als ich ihre Haustür aufschließen wollte, musste ich feststellen, dass mein Schlüssel nicht passte und fremde Leute im Haus wohnten."

"Deine Eltern haben das Schloss ausgewechselt?"

"Und Mieter ins Haus gesetzt. Eigentlich müsste man das einer Tochter mitteilen, oder?"

"Versteht ihr euch nicht gut?"

Shanni hatte sich an den Tisch gesetzt und trank einen kleinen Schluck Whisky. "Bis jetzt war ich immer vom Gegenteil überzeugt. Wir haben regelmäßig miteinander telefoniert, aber die neuen Bewohner erschienen ihnen wohl nicht erwähnenswert."

"Offenbar nicht."

Shanni trank einen weiteren Schluck. "Du musst deine Frau sehr vermissen."

"Und du deinen Freund."

Shanni zuckte die Schultern. "Immerhin lebt er noch. Ich erwischte ihn im Bett … mit einem seiner Modelle. Daraufhin leerte ich einen Eimer Eiswasser über den beiden aus, was ihn veranlasste, unser gemeinsames Konto bis auf den letzten Cent abzuräumen. Aber wir wollen lieber vor dir sprechen … von deinen fünf Kindern, deiner verstorbenen Frau und der Fürsorge. Alles in allem ist das die verfahrenste Situation, von der ich je gehört habe."

"Vielen Dank."

"So war es nicht gemeint", verteidigte sie sich, "aber ich habe eine anstrengende Reise hinter mir. Mein Flugzeug ist heute Morgen um fünf in Sydney gelandet. Ich nahm mir ein Taxi zum Haus meiner Eltern und stieß dort auf fremde Menschen. Also fuhr ich weiter zu einer Freundin, in der Hoffnung, dort wenigstens übernachten zu können. Ich fand jedoch ein Apartment vor, das kleiner als ein Schuhkarton war. Dann fiel mir Tante Rubys Brief ein, woraufhin ich dich anrief und fragte, ob du weiterhin an einer Haushälterin interessiert seist, was du bejaht hast. Also kam ich her, um festzustellen, dass du verschwunden warst und ein Chaos zurückgelassen hattest."

"Ich war eingeschlafen", verteidigte sich Pierce.

"Die Kinder hatten Angst", fuhr Shanni unbeirrt fort. "Sie fürchteten, der Fürsorge übergeben zu werden. Warum ist man dort eigentlich so interessiert an dir? Der heutige Tag war schlimm, aber derartige Pannen kommen in jeder Familie vor. Dass sich die Leute von der Fürsorge so früh und energisch einschalten …" Sie schwieg und überdachte, was sie gerade gesagt hatte. "Normalerweise nimmt man Kinder den Eltern nicht weg, und wenn ein Vater nach einem Arztbesuch vor Übermüdung einschläft, ist das für mich kein ausreichender Grund."

"Für mich auch nicht."

"Also, lieber Cousin … welches scheußliche Verbrechen verheimlichst du mir? Nicht, dass ich eine ehrliche Antwort erwarte, aber ich überlege mir, ob ich nicht besser wieder verschwinden sollte. Wohin, weiß ich allerdings nicht. Eigentlich bleibt mir nur Tante Ruby."

"Und zu ihr möchtest du nicht?"

"Sie gibt jeden Vormittag Unterricht im Makrameeknüpfen. Sie will es mir unbedingt beibringen, worauf ich nicht allzu scharf bin. Und falls ich länger als zwei Wochen bleibe, muss sie angeblich deine Erlaubnis einholen. Eigenartig, nicht wahr? Aber ich schweife ab und wollte eigentlich über Wendy sprechen. Wendy, wie sie war, als ich ankam. Sie versuchte vergeblich, ihre Angst nicht zu zeigen, und jetzt will ich wissen, wovor sie sich so fürchtete. Wenn du der Grund bist, werde ich …"

"Ja?", unterbrach Pierce sie ziemlich ruhig. "Was wirst du dann tun?"

Shanni seufzte. "Wenn ich das wüsste. Ich kann beim besten Willen keinen Grund für ihre Angst finden. So, wie du Bessy umsorgst … Du scheinst sogar ganz nett zu sein."

"Vielen Dank."

"Du weißt, was ich meine. Du wirkst … eigentlich ziemlich normal."

Pierce zog spöttisch die Augenbrauen hoch. "Obwohl ich mit fünfzehn einen gestreiften Anzug trug?"

"Du weichst mir aus." Shanni sah auf sein Whiskyglas, das bereits leer war.

"Du hältst mich tatsächlich für einen Alkoholiker."

"Ehrlich gesagt, würde es mich nicht wundern, wenn du es wärst", gab sie zu. "Seine Frau zu verlieren und mit fünf Kindern zurückzubleiben … Es wäre jedenfalls eine Erklärung."

"Die dümmste von der Welt."

"Dann gib mir eine andere. Ich will wissen, warum deine Kinder sich so ängstigen."

Pierce schwieg und blickte starr in sein leeres Glas.

"Antworte mir, sonst melde ich mich bei Tante Ruby zum Makrameekurs an."

Sie meint es ernst, dachte er. Die Kinder liegen ihr wirklich am Herzen. Die Erkenntnis brachte ihn vorübergehend aus der Fassung.

"Es gibt eine ganz einfache Erklärung", begann er endlich und wich ihrem Blick nicht länger aus.

"Und die wäre?"

"Es sind nicht meine Kinder, und sie haben eigentlich nichts mit mir zu tun. Noch vor einem Jahr waren sie mir alle völlig unbekannt."


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