Geständnis am Strand - Kapitel 4

Eine lange Pause folgte. Shanni hatte die Herdklappe geöffnet, um mehr Wärme in die Küche zu lassen. Obwohl die Flammen loderten, wurde der große Raum nur langsam warm.

Ich könnte das Radio anstellen, dachte Pierce, aber Musik würde es vielleicht noch schlimmer machen. Die Atmosphäre war schon intim genug.

"Es sind also nicht deine Kinder", sagte Shanni endlich.

"Nein", bestätigte er.

"Eigentlich überrascht es mich nicht", gestand sie. "Sie ähneln dir nicht und vergessen immer wieder, dich 'Dad' zu nennen. Hast du es ihnen wegen der Leute von der Fürsorge beigebracht?"

"Ganz recht." Pierce stand auf. "Ich werde uns Kaffee machen. Noch mehr Whisky zu trinken, wäre unvernünftig."

Shanni beobachtete ihn, während er den Wasserkessel aufsetzte und mit Bechern und Pulverkaffee herumhantierte. "Erzähl mir alles", forderte sie ihn auf.

"Ich war mit der Mutter der Kinder verheiratet", begann Pierce ohne Umschweife.

"Aha." Shanni dachte eine Weile nach. "Dann ist Bessy deine Tochter?"

"Nein. Ich habe Maureen erst vor sieben Monaten geheiratet … das war kurz nach Bessys Geburt. Drei Wochen später starb sie."

"Ich verstehe."

"Wirklich?" Das klang zornig, beinahe vorwurfsvoll.

"Ich habe deinen Kühlschrank sauber gemacht", erinnerte sie ihn. "Das ist kein Grund, deinen Ärger an mir auszulassen."

"Entschuldige bitte." Pierce kam mit zwei dampfenden Kaffeebechern zum Tisch zurück.

Er sieht wirklich gut aus, dachte Shanni. Dieses zerzauste Haar … Ich müsste nur die Hand ausstrecken, um es zu berühren. Nimm dich zusammen, antwortete ihr eine innere Stimme. Wie oft willst du noch auf Männer mit zu langen Haaren hereinfallen?

"Erzähl mir von Maureen", sagte sie laut und kostete vorsichtig einen Schluck Kaffee. Zu dumm, dass die teure Kaffeemaschine in London zurückgeblieben war. Schön, sie gehörte Mike, aber er hatte sie mit ihrer gemeinsamen Kreditkarte bezahlt, und das Aroma, das sie beim Filtern entfaltete … Lieber nicht daran denken!

"Maureen", wiederholte sie. "Du wolltest mir von ihr erzählen."

"Sie war so etwas wie eine Pflegeschwester von mir."

"Pflegeschwester? Ich dachte, Tante Ruby hätte sich nur um Jungen gekümmert."

"Grundsätzlich ja, aber sie wäre nicht Ruby, wenn sie keine Ausnahmen gemacht hätte. Ein bisschen verrückt ist sie ja, doch sie hat ein goldenes Herz."

Shanni nickte. "In dem Punkt sind wir uns einig. Wie geht die Geschichte weiter?"

"Interessierst du dich wirklich dafür?"

"Ich bin nun mal von Natur aus neugierig." Shanni zog sich einen Stuhl heran und legte die Füße darauf. "Du warst einer von Tante Rubys Schützlingen und musst es ziemlich schwer gehabt haben."

Pierce schüttelte den Kopf. "Nachdem Ruby sich meiner angenommen hatte, wurde es erträglich, aber vorher war es schlimm. Meine Mutter wollte mich nicht haben und auch nicht zur Adoption freigeben. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Du kommst aus einer normalen, netten Familie, nicht wahr?"

"Was meinst du mit normal und nett?"

"Nun, du hattest eine Mutter und einen Vater, die dich beide wollten."

Shanni dachte an ihre exzentrischen Eltern und musste lächeln. "Ja, so war es", gab sie zu. "Sie wussten allerdings nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten, und tun es im Grunde immer noch nicht, aber … ja, sie wollten mich."

"Ich war ein Versehen."

Shanni betrachtete sein ernstes Gesicht. Eine Locke fiel ihm über das linke Auge. Sie brauchte nur …

Nimm dich zusammen, Shanni Jefferson!

"Du warst ein Versehen?"

"Meine Mutter wurde schwanger, während sie eine Affäre mit einem sehr reichen Mann hatte. Sie hoffte, ihn dadurch zur Heirat zu bewegen, was danebenging."

"Oje!"

"Der Mistkerl stritt seine Vaterschaft ab, und DNA-Tests waren damals noch nicht üblich. Ich wurde in Pflege gegeben, aber sobald meine Mutter ein neues Verhältnis einging, holte sie mich zurück, um glückliche Familie zu spielen. Bei einer dieser Beziehungen kam Maureen mit ins Spiel."

Shanni runzelte die Stirn. "Das verstehe ich nicht."

"Wie könntest du auch?" Pierce zuckte die Schultern. "Du weißt ja nicht, in was für Typen sich meine Mutter verguckte. Jack war vielleicht der schlimmste von allen, und er hatte eine Tochter: Maureen. Sie war neun und ich sieben, als er meiner Mutter begegnete."

"Und weiter?", drängte Shanni. Sie konnte Pierce ansehen, was ihn diese Reise in die Vergangenheit kostete. Er hatte den Blick ins Leere gerichtet, bis er langsam wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte.

"Also gut … weiter. Es ist eine traurige Geschichte. Jack war ein Sadist, aber meine Mutter vergötterte ihn, sodass wir alle seiner Gnade ausgeliefert waren. Maureen war älter und willensstärker als ich, und außerdem mochte sie mich. Mir wiederum gefiel es, eine ältere Schwester zu haben, und das verband uns. Es war das Einzige, was wir hatten."

Shanni fröstelte vor innerer Kälte, aber Pierce merkte es nicht. Er war mit seinen Gedanken weit, weit weg.

"Maureen war immer für mich da", fuhr er sanfter fort, "und Mums Verhältnis mit Jack dauerte länger als alle anderen … nämlich fast zwei Jahre. Jedes Mal, wenn Jack …" Pierce verstummte und atmete tief durch. "Jedenfalls war sie immer für mich da. Sie warf sich wie eine Tigerin auf ihn, biss und kratzte ihn und schrie, so laut sie konnte. Dafür erhielt sie die gleichen Prügel wie ich, aber irgendwann begriff Jack, dass er zwei Gegner hatte, sobald er die Hand gegen mich erhob. Das half beträchtlich."

"Ein Hoch auf Maureen", warf Shanni leise ein, und Pierce nickte lächelnd.

"Sie war großartig."

"Was geschah dann?"

"Dann trennte sich meine Mutter von Jack, und Maureen und ich kamen in verschiedene Pflegeheime." Ein Schatten glitt über Pierce' Gesicht. "Natürlich versuchten wir, in Kontakt zu bleiben. Alle drei bis vier Monate kam eine Nachricht von Maureen, in der sie mir mitteilte, wie es ihr ging. Als wir älter wurden, blieben die Briefe aus. In ihrem letzten Schreiben teilte sie mir mit, sie hätte den Mann ihrer Träume gefunden und würde mit ihm nach Perth ziehen."

Shanni traute sich kaum, weitere Fragen zu stellen, aber einiges musste sie noch wissen. "Ich nehme an, er war nicht der typische Traummann?"

"Keine Ahnung", antwortete Pierce grimmig. "Ich weiß nur, dass Maureen verrückt nach ihm war, aber sie konnte einfach nicht genug auf sich aufpassen. Außerdem litt sie an Diabetes. Das hinderte sie nicht, Kinder zu bekommen. Sie hatte sich schon immer eine Familie gewünscht, und diesem Ziel wurde alles geopfert."

"Trotz ihrer Krankheit?", hakte Shanni nach.

"Ich sagte schon … sie konnte nicht mit ihren Kräften haushalten. Mit jeder Schwangerschaft wurde sie hinfälliger, aber das brachte sie nicht zur Einsicht. Sie traf einen neuen 'Windhund', hielt ihn für ein Gottesgeschenk und wurde mit einem Kind belohnt."

"Aber von dir war keins?"

"Sie lebte in Westaustralien, und wir hatten uns völlig aus den Augen verloren. Erst später hat sie mich ausfindig gemacht. Ich lebte als erfolgreicher Architekt in Sydney und hatte mir gerade zum Ausspannen diese Farm gekauft. Ans Heiraten hatte ich nie gedacht, aber Maureen erwartete wieder ein Kind und war kränker denn je. Die Ärzte rieten ihr zu einem Abbruch der Schwangerschaft, doch davon wollte sie nichts wissen. Das neue Leben war ihr wichtiger als ihr eigenes." Pierce bedeckte seine Augen mit der Hand. "Ich sehe sie noch in meinem Büro sitzen … verzweifelt, erledigt. Ich war der Einzige, den sie um Hilfe bitten konnte."

"Oh, Pierce", flüsterte Shanni ergriffen.

"Sie ahnte, dass sie bald sterben würde, und der Gedanke, dass ihre Kinder in Pflegeheimen aufwachsen würden, quälte sie furchtbar. In gewisser Weise war sie selbst daran schuld, aber ich dachte an die Schläge, die sie für mich eingesteckt hatte, und wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich bot ihr 'Two Creeks' als Bleibe an."

Pierce schwieg, und es wurde still in der Küche. Nur das Knistern des Feuers war zu hören. Shanni wartete, bis er sich wieder gefasst hatte, und sagte dann: "Ich wusste immer, dass du ein netter Kerl bist … trotz der Nadelstreifen."

Er lächelte gequält. Es musste ihn große Überwindung gekostet haben, Maureens Geschichte zu erzählen.

"Viel bleibt nicht mehr", fuhr er dann fort. "Als ich diese Farm kaufte, wusste ich nicht, dass ein Konzern ebenfalls daran interessiert war. Auf dem Gelände sollte eine große Molkerei entstehen, das hätte die Milchprodukte in der Umgegend erheblich billiger gemacht. Doch ich hatte mich in das Objekt verliebt und zahlte mehr, als es wert war – zum Ärger der Einheimischen. Als dann noch vier Kinder und eine schwangere Mutter auftauchten, war mein Urteil gesprochen. Von da an war ich nur noch der unliebsame Störenfried, der einen gelben Sportwagen fuhr und seine Familie vernachlässigte."

"Oh, Pierce, du tust mir ja so leid."

"Das ist lieb von dir, aber nicht nötig. Nach Bessys Geburt ging es rasch mit Maureen zu Ende. Sie war schon mehrmals gezwungen gewesen, ihre Kinder der Fürsorge anzuvertrauen, sodass alle vier dort registriert waren. Bis dahin hatte das weiter keine Folgen gehabt, aber das Gerede der Leute machte die Behörden wieder aufmerksam. Maureen ahnte, dass die Kinder nach ihrem Tod ins Pflegeheim kommen würden, und das konnte sie nicht ertragen. Auch ich hasste die bloße Vorstellung, was kein Wunder ist, wenn man an meine Kindheit denkt. Wäre Ruby nicht gewesen …" Pierce machte eine ungeduldige Handbewegung. "Aber lassen wir das. Ich musste eine Lösung finden, die Maureen beruhigte, und da konnte es nur eine geben. Ich musste sie …"

"Heiraten."

"Richtig. Wir hatten nur noch wenig Zeit. Ich beantragte mit Maureens Einverständnis für alle fünf Kinder die Adoption, und sie setzte mich als gesetzlichen Vormund ein. Damals glaubte ich noch, der neuen Situation gewachsen zu sein. Ich verdiene sehr gut und dachte, es würde genügen, die Kinder bei mir aufzunehmen und durch eine Haushälterin betreuen zu lassen."

"Aber?"

"Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, für fünf Kinder eine solche Kraft zu bekommen? Noch dazu in dieser Gegend? Es gelang mir, vorübergehend eine Babysitterin zu finden, aber die Kinder mochten sie nicht und trieben sie nach zwei Wochen aus dem Haus. Dann bekamen sie Windpocken, und danach begannen die Schulferien. Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren."

"Armer Pierce", seufzte Shanni.

"Dann erfuhr ich von Ruby, dass sie dich überredet hatte, es mit uns zu versuchen. Seitdem sind die Kinder versorgt, die Küche blitzt, und der Kühlschrank ist hygienisch sauber. Man kann mir die Kinder nicht mehr wegnehmen, und dafür bin ich dir unendlich dankbar." Pierce zögerte. "Wirst du bei uns bleiben, Shanni?"

"Ich bin keine Haushälterin", wandte sie ein.

"Aber eine exzellente Putzfrau."

"Das bin ich nur, weil es mir an dem nötigen Stolz fehlt. Außerdem kann man sich beim Saubermachen wunderbar abreagieren."

"Ruby sagt, du seist Malerin."

Shanni verzog das Gesicht. "Das ist maßlos übertrieben."

"Wirklich?"

"Ich experimentiere gern mit Farben. Hast du meine Kuh von heute Nachmittag gesehen? Sie ist mir recht gut gelungen … bis auf das eine Bein, das länger wirkt als die anderen. Ich habe nachgemessen. Es ist nicht länger, aber die Perspektive stimmt nicht. Ich bekomme es einfach nicht hin."

"Dann malst du lieber abstrakt?"

"Ich habe einen Malkurs abgeschlossen und anschließend in einer Galerie gearbeitet", erklärte Shanni. "Erst hier in Sydney und dann drüben in London. Als ich genug Geld gespart hatte, eröffnete ich meine eigene Galerie … nur eine ganz kleine. Sie war mein Lebensinhalt, bis ich meinen Malerfreund mit einem seiner Modelle in meinem Bett erwischte. Die Geschichte mit dem Eiswasser kennst du bereits. Meine Eltern hätten mir Geld geliehen, um mir einen Neuanfang zu ermöglichen, aber ich hatte keinen Mut mehr."

"Hast du versucht, das Geld von deinem Exfreund zurückzubekommen?"

Shanni nickte. "Er drohte damit, mich wegen Körperverletzung anzuzeigen, falls ich ihn belangen würde."

"Das hat dir den Rest gegeben, und du bist nach Hause geflohen."

"Gut geraten, aber meine Flucht ist noch nicht zu Ende. Ich werde bei Tante Ruby unterkriechen und mir einen Job suchen."

Pierce überlegte. "Wäre 'Two Creeks' nicht der ideale Ort, um auszuruhen und neue Pläne zu schmieden?"

"Möglicherweise", gab Shanni zu, "aber ich möchte mich nicht binden … weder an die Kinder noch an dich."

"Natürlich nicht."

Gütiger Himmel, warum hatte sie das bloß gesagt? Weil Pierce so hilflos und verletzlich wirkte? Weil ihr die ganze Situation so sehr zu Herzen ging? Sei auf der Hut, Shanni Jefferson. Lass dich nicht wieder durch falsches Mitleid erweichen!

Von oben erklang in diesem Moment plötzlich leises Wimmern, das rasch zu einem dauerhaften Wehgeschrei anschwoll. Pierce stellte seinen Becher hin und stand seufzend auf. "Bessy hat drei Stunden durchgeschlafen", meinte er. "Mehr war nicht zu erwarten."

"Was wirst du jetzt tun?"

"Sie auf den Arm nehmen und wiegen, bis sie wieder einschlummert."

"Tante Ruby behauptet, du würdest deine Arbeit vernachlässigen."

"Fragt sich, was sie unter Arbeit versteht." Oben wurde das Schreien immer lauter. "Ich lebe von Tag zu Tag und bin froh, wenn ich wieder einen hinter mir habe." Pierce ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. "Du hast mir heute fantastisch geholfen, Shanni, und ich bin dir aufrichtig dankbar. Daran wird sich nichts ändern, wenn du morgen gehst. Ich will keinerlei Druck auf dich ausüben, aber heute musst du hierbleiben. Irgendwo musst du schließlich übernachten."

"Wendy hat mir Maureens Schlafzimmer gezeigt. Das Bett war schon gemacht."

"Wendy wünscht sich sehnlich, dass du bleibst. Nein, nein …", er hob abwehrend beide Hände, "… kein Druck, wie ich gesagt habe." Sein Blick schweifte zur Decke. "Schon gut, Bess, ich komme. Shanni braucht Zeit, um eine Entscheidung zu fällen."

"Ich … überlege es mir."

"Mehr kann ich nicht verlangen."

 

Shanni spülte das Geschirr, trocknete es ab und legte die wenigen Dinge, die noch genießbar waren, wieder in den Kühlschrank. Dann tastete sie sich durch das dunkle Haus zu ihrem Schlafzimmer.

Über sich konnte sie Schritte und eine leise männliche Stimme hören. Pierce ging auf und ab und sprach beruhigend auf Bessy ein.

"Er ist wirklich ein netter Kerl", sagte Shanni halblaut vor sich hin und musste gleich darauf lachen. Doch das Lachen verging ihr schnell. Die Situation war todernst. Pierce versuchte, den Kindern ein Zuhause zu geben. Konnte er da nicht mit Recht Hilfe von ihr erwarten?

Shanni ging zum Bett und setzte sich darauf. Die Matratze war weich, ohne zu sehr nachzugeben. Wahrscheinlich hatte Maureen das schönste Schlafzimmer bekommen. Aber warum überhaupt so viele Schlafzimmer? Hatte Pierce die Farm in der Absicht gekauft, irgendwann eine eigene Familie zu gründen?

Er war schon ein ungewöhnlicher Mann. Sich vorzustellen, wie er oben hin und her ging, mit einem acht Monate alten Baby auf dem Arm … Es war eine rührende und sehr anziehende Vorstellung.

"Das ist genau die Einstellung, die dich immer wieder in Schwierigkeiten bringt", setzte Shanni ihr halblautes Selbstgespräch fort. "Deshalb ist es auch gefährlich zu bleiben. Ein attraktiver Mann mit fünf Kindern und einem turbulenten Haushalt … Vorsicht, Shanni Jefferson. Mach so weiter, und du endest als Köchin und Abwäscherin, mit einem gelegentlichen Flirt als Bezahlung."

Er hat keine Zeit zum Flirten, wandte ihre Gegenstimme da ein.

"Umso besser."

Shanni beschloss, das Grübeln aufzugeben und lieber zu schlafen. Sie ging zum Fenster, um das Rollo herunterzulassen, und blieb wie angewurzelt stehen. Vor dem Fenster stand eine Kuh und glotzte von draußen herein. Sie mochte etwa zwei Meter entfernt sein. Keine Panik, beruhigte sich Shanni, hier drin bist du in Sicherheit.

Allerdings war es ein riesiges Tier mit einem sehr großen Kopf und Augen, die einen wilden Ausdruck hatten.

"Hau ab!"

Im ersten Moment glaubte Shanni, nicht richtig gehört zu haben, aber der Ruf wiederholte sich.

"Raus aus unserem Garten!"

Jetzt hörte sie es ganz deutlich. Es war eine Kinderstimme, die mutig klingen sollte, aber mehr Furcht ausdrückte.

Shanni schob das Fenster so weit hoch, dass die Kuh nicht den Kopf hereinstecken konnte. Es war Vollmond und das Licht so hell, dass sie alles gut erkennen konnte. Ja, das war der siebenjährige Donald mit den großen ängstlichen Augen, die voll Misstrauen in die Welt blickten. Er hatte am Nachmittag mit den anderen gemalt, aber nicht so hingebungsvoll, sondern eher so, als müsste er eine Pflicht erfüllen, um nicht bestraft zu werden.

"Was tust du da draußen?", rief Shanni und versuchte, die Kuh zu ignorieren. Es war wirklich ein sehr großes Tier!

"Clyde dürfte nicht im Garten sein", antwortete Donald. Er gab sich Mühe, keine Angst zu zeigen. "Jemand hat das Gatter offen gelassen. Ich habe ihn vom Fenster aus gesehen. Er wird doch die Rosen abfressen, die Pierce nach Mums Tod gepflanzt hat." Es klang, als unterdrückte Donald ein Schluchzen. "Ich versuche, ihn auf die Weide zu treiben, aber er gehorcht nicht."

"Du bist noch zu klein, um eine Kuh zu verscheuchen", erklärte Shanni besorgt. "Ich werde Pierce rufen."

"Der hat mit Bessy zu tun, und außerdem ist Clyde ein Bulle. Los, verschwinde aus unserem Garten!" Bei den letzten Worten straffte Donald trotzig die Schultern, zog sich dann aber hinter einen Kamelienbusch zurück, sodass Shanni ihn nicht mehr sehen konnte.

"Lauf zur Veranda!", befahl sie energisch. "Ich kümmere mich um das Tier."

Zum Glück hatte sie sich noch nicht ausgezogen. Sie lief durch das dunkle Haus zur Hintertür und riss sie auf. Eine Taschenlampe zu haben, wäre jetzt gut gewesen, doch Shanni fehlte die Zeit, nach einer zu suchen, denn Donald befand sich in Gefahr.

Der Garten war völlig verwildert, aber das Mondlicht half ihr, sich zurechtzufinden. Als sie um die Hausecke bog, stand der Bulle noch immer an derselben Stelle. Sein massiger Leib ragte als schwarze Silhouette drohend vor dem erleuchteten Fenster auf.

Jetzt erkannte Shanni auch, woher er gekommen war. Das Gatter, das vom Garten zu den hinteren Koppeln führte, stand weit offen. Das konnte kein Zufall sein. Jemand musste es absichtlich geöffnet haben.

"Schuuuh!", klang es hinter dem Kamelienbusch hervor.

Der Bulle hörte die Stimme und trottete mit wiegendem Kopf auf den Busch zu.

"Donald!", schrie Shanni in panischer Angst. "Donald!" Gleichzeitig lief sie dem gereizten Tier entgegen und prallte seitlich mit ihm zusammen. "Lauf ins Haus … lauf, lauf!"

Shanni konnte nicht länger auf Donald achten, denn der Bulle wandte sich jetzt wutschnaubend ihr zu. Allmächtiger … sie war doch keine Stierkämpferin! Wie verhielt man sich in einer solchen Situation?

Da die Treppe zu der knapp einen Meter hohen Veranda zu weit entfernt war, versuchte Donald, sich am Geländer hochzuziehen. Dadurch machte er Clyde erneut auf sich aufmerksam. Das wütende Tier ging sofort auf ihn los, aber Shanni warf sich dazwischen und bearbeitete seinen Kopf wahllos mit beiden Fäusten.

"Pierce!", hörte sie Donald gellend schreien.

Sie packte ein Horn des Bullen, um ihn aufzuhalten, aber er riss sich los und stieß sie mit dem Horn von sich. Geistesgegenwärtig rollte sie sich zur Seite, bis sie in dem wuchernden Gestrüpp vorübergehend Deckung fand. Der Stoß hatte sie an der Schulter getroffen, die nun heftig schmerzte.

"He! He! He!" Eine laute Männerstimme tönte durch die Nacht. Pierce! Er schwang sich über das Verandageländer und lenkte damit Clydes Aufmerksamkeit auf sich. Shanni konnte tiefer ins Unterholz kriechen und von dort aus das weitere Geschehen beobachten.

"Los, Clyde! Hau schon ab!"

Pierce schrie aus Leibeskräften und schwang etwas durch die Luft, das wie ein Gewehr aussah.

Pierce' Schreie hätten Tote erwecken können. Er stand jetzt so, dass Donald und Shanni geschützt waren, und handhabte seine "Waffe" wie eine Machete. "Hau ab, Clyde, hau endlich ab!"

Der Bulle hob den Kopf, lauschte eine Weile und bewegte sich dann endlich langsam rückwärts. Pierce folgte ihm Meter für Meter, drängte ihn schließlich aus dem Garten und warf das Gatter zu.

"Donald?" Mit wenigen Schritten erreichte er die Veranda, kletterte hinauf und schloss den zitternden Jungen in die Arme. "Was zum Teufel …?"

"Shanni …", stöhnte Donald.

"Bist du verletzt?"

"Nein." Donald war kaum zu verstehen. "Er hat Shanni getroffen. Sie liegt da unten …"

"Shanni?" Unvermittelt ließ Pierce Donald los. "Bleib hier, mein Junge. Lauf ja nicht weg."

Dann sprang er wieder in den Garten hinunter. "Shanni?", rief er dabei. "Um Gottes willen … wo bist du?"

"Hier", antwortete sie heiser und wiederholte lauter: "Hier." Die Stimme wollte ihr absolut nicht gehorchen, aber Pierce hatte sie bereits entdeckt. Er kniete sich neben sie, umfasste ihre Schulter und spürte etwas Warmes, Klebriges: Blut.

"Nur eine leichte Verletzung", stöhnte Shanni, die erst jetzt begriff, in welcher ernsten Gefahr sie sich befunden hatte. "Warum hast du überhaupt einen Bullen! Hast du noch nie etwas von künstlicher Besamung gehört?"


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