Die Lady und der verfluchte Laird

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Wie entkommt eine Lady einer unerwünschten Verlobung? Lady Clara ist so verzweifelt, dass sie behauptet, das Kind eines anderen unter dem Herzen zu tragen. Das ist das Ende ihrer Verlobung – und ihres tadellosen Rufs. Als gefallene Frau flieht sie nach Schottland … und begegnet dort dem einflussreichen Laird Hunt MacLarin. Als Oberhaupt seines Clans braucht der gut aussehende Highlander einen Erben, der ihm jedoch durch einen Fluch bisher verwehrt blieb. Claras vermeintlicher Makel ist für ihn ein wahrer Segen! Unversehens findet sich Clara mit Hunt vor dem Traualtar wieder. Doch wie wird der mächtige Laird reagieren, wenn er feststellt, dass seine Angetraute gar nicht schwanger ist?


  • Erscheinungstag 20.06.2023
  • Bandnummer 151
  • ISBN / Artikelnummer 0840230151
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Der Fluch

Es war einmal ein schönes Bauernmädchen, das sich in den Laird verliebte, der oben in der Burg lebte. Der junge und attraktive Laird nahm ihre Liebe hin und erwiderte sie sogar auf gewisse Weise, doch nicht genug, wie sich herausstellte, als sie ihm sagte, dass sie ein Kind erwartete. Er gab ihr den Laufpass, weil er sich schämte, jemanden zu heiraten, der gesellschaftlich so weit unter ihm stand. Die hochschwangere junge Frau wurde mit gebrochenem Herzen in die Kälte hinausgejagt, wo sie und das Baby alsbald vom harten Winter der Highlands dahingerafft wurden … jedoch nicht, bevor es ihr gelang, folgenden Fluch zu verhängen:

Mögen alle künftigen Lairds des MacLarin Clans fortan wissentlich die Bürde tragen, dass sie dazu bestimmt sind zu lieben, aber nicht zu leben. Erst dann soll dieser Fluch brechen, wenn es einem Laird der MacLarins gelingt, so lange zu überleben, bis sein erstgeborenes Kind den ersten Atemzug tut.

1. KAPITEL

Lady Clara Autenberry war ruiniert.

Das wusste sie so sicher, wie sie die Farbe ihrer Augen kannte – eine eher langweilige Braun-Nuance.

Fürwahr. Ihre Augen waren wie Dreck … und das Gleiche galt für ihren Ruf. Zwei unleugbare Tatsachen, an denen sich auch nichts mehr ändern würde. So beständig wie die Sterne. Mit jeder Meile, die sie weiter und weiter weg von London brachte, wurde die Realität ihrer neuen Lebensumstände greifbarer.

Sie war aus London verschwunden. Aus der vornehmen Gesellschaft. Aus jener Art Leben, in dem sie sich so sicher verankert gewähnt hatte.

Verschwunden. Verschwunden. Verschwunden.

Die Ziegelsteine zu ihren Füßen waren längst erkaltet, und sie verkroch sich tiefer in die vielen Decken, die sich im Inneren der Kutsche türmten. Das muffige Fell kratzte an ihren Wangen.

Mama hatte sichergestellt, dass jede Menge Pelze und Decken für die Reise eingepackt wurden und zwischen tränenreichen Verabschiedungen eindringlich vor der grässlichen Kälte gewarnt. Nicht, dass ihre Mutter jemals so weit in den Norden vorgedrungen wäre. Mama war ein Warmblüter und fand London schon kalt genug. Dass ihre Kinder in derart rauem Klima – oder so weit entfernt – leben konnten, schien ihr unbegreiflich. Dennoch musste Clara dorthin gehen.

„Ich besuche dich. Wir alle werden dich besuchen“, hatte Mama beteuert. „Im Sommer.“

Clara hatte genickt und gegen ihre Tränen gekämpft. „Natürlich.“ Sie setzte ein Lächeln auf und versuchte, tapfer zu sein, während sie den Rest der Familie zum Abschied umarmte. Alle hatten sich auf der Treppe versammelt, um sie winkend in die Verbannung zu schicken.

Während sie sich jetzt zitternd bis zum Kinn in die dicken Decken verkroch, fragte sie sich, wie lange sie wohl noch unterwegs wäre, bis sie Kilmarkie House erreichte, und ob sie bis dahin zu Eis erstarrt sein würde. Doch sofort verjagte sie den verdrießlichen Gedanken.

Sie verdiente keine Behaglichkeit, schon gar nicht auf dieser Reise. Diese Reise war ihre Buße. Genau wie der Rest ihrer verbleibenden Tage. Sie war ein törichtes, leichtsinniges Mädchen, das sich am besten möglichst schnell an die bitteren Konsequenzen ihres Verhaltens gewöhnte.

Auch Schuldgefühle waren angebracht. Immerhin war Clara nicht die Einzige, die die Bürde ihres Fehltritts tragen musste. Die gesamte Familie war betroffen. Mama und ihr Stiefvater. Ihre kleinen Geschwister. Die Zwillinge waren noch Kinder. Sie verdienten es nicht, wegen der Aktionen ihrer älteren Schwester stigmatisiert zu werden. Selbst Enid könnte ihretwegen zu Schaden kommen. Derzeit wurde ihre Halbschwester vom zweiten Sohn eines Viscounts umworben. Hoffentlich scheiterte diese aufblühende Romanze nicht an Claras Verhalten.

In dem Moment, in dem Rolland ihre Verlobung gelöst und sie bloßgestellt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie gehen musste. Auf der Stelle. Sie musste fliehen.

Bevor ihre Familie genauso verloren wäre wie sie. Clara wusste, was sie zu tun hatte. Sie würde das Weite suchen, sich komplett von London fernhalten, bis sie für den Ton nur noch eine nebulöse Erinnerung war.

Es würde sein, als ob sie tot wäre. Ein verstörender Gedanke, aber nichtsdestotrotz wahr.

Nach Schottland zu ihrem Bruder zu reisen, war ihr eigener Vorschlag gewesen. Weit im Norden auf der Black Isle, wo er sehr zurückgezogen lebte, würde der Skandal ihm nichts anhaben können. Und nach seinen Briefen zu urteilen, gefiel es ihm und seiner Frau dort oben sehr gut. Sie hoffte, dass es ihr genauso gehen würde.

Oder dass sie dort zumindest eine gewisse Zufriedenheit finden würde, denn bis auf Weiteres war es ihr Zuhause.

Ihr Leben hatte sich für immer verändert. Nie wieder würde sie die umschwärmte Erbin sein, die zu den begehrtesten Partys eingeladen wurde und ganz weit oben auf der Liste jeder Gastgeberin stand. Niemals mehr.

Ruiniert. Was für ein grässliches Wort. Als wäre sie eine bis zur Ungenießbarkeit verfaulte Frucht.

„Hättest du nicht bei angenehmerem Wetter Schande über dich bringen können?“, beschwerte sich Marian, als die Kutsche abrupt ins Schlingern geriet, und klammerte sich verbissen an die Halteschlaufe über der Tür.

„Ich habe nicht absichtlich Schande über mich gebracht“, gab Clara patzig zurück und hielt sich am Rand ihres Sitzes fest.

„Ach nein?“, fragte Marian skeptisch.

Clara verzog den Mund, beharrte aber nicht weiter auf ihrer Aussage. Schließlich gab es nichts, was Marian nicht über ihre Situation wusste. Daher war es sinnlos, so zu tun als ob. Marian kannte Claras sämtliche Geheimnisse und würde sie verlässlich für sich behalten.

Wieder fuhren sie durch ein Schlagloch.

„Lieber Himmel“, stöhnte Marian gequält und presste eine Hand auf ihren Magen. „Hört diese Tortur denn gar nicht mehr auf?“

„Die Straßen sind furchtbar“, stimmte Clara zu.

Doch bald hörte die Tortur in der Tat auf. Der Wagen hielt an, und Geräusche vom Kutschbock deuteten darauf hin, dass erst der Stallbursche heruntersprang, dann der Kutscher selbst. Claras Stiefvater hatte darauf bestanden, ihnen neben dem Fahrer eine bewaffneten Pferdeknecht mitzugeben. Marian führte das darauf zurück, dass Schottland voller gefährlicher Männer war.

Clara hingegen glaubte nicht an größere Gefahren. Ansonsten hätte ihr Bruder nicht beschlossen, hier zu leben, schon gar nicht mit seiner wachsenden Familie.

Der bewaffnete Bursche öffnete ihnen den Verschlag und schob einen Holzklotz vor den Ausstieg und half ihnen dabei, die Kutsche zu verlassen.

„Ohhhh“, seufzte Marian. „Wie schön, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.“ Ihr hübsches rundes Gesicht wirkte ziemlich grünlich. Es hatte diese unvorteilhafte Nuance während des größten Teils ihrer Reise nach Norden beibehalten.

„Der Boden war immer fest“, stellte Clara richtig. „Wir waren diejenigen, die sich bewegt haben.“

„Hier ist es ja wie am Nordpol“, jammerte Marian zitternd. Ihr Atem entwich in keuchenden Wölkchen.

„Warst du etwa schon mal am Nordpol?“, erkundigte sich Clara.

„Ich war noch niemals nördlich von Cheshire. Aber es ist eine begründete Vermutung.“ Sie raffte ihre Röcke und ging mit vorsichtigen Schritten über den schlammigen Hof.

Clara begutachtete das strohgedeckte weiße Gebäude. Aus den Fenstern drang warmes Licht, ein höchst willkommener Anblick.

„Nun mach schon“, rief Marian ihr über die Schulter zu. „Damit wir aus dieser Kälte rauskommen.“

Clara nickte und folgte ihr.

In der Eingangshalle des Gasthofs umfing sie ein summender Geräuschpegel. Noch vor vierzehn Tagen hätte sie größte Bedenken gehabt, ein solches Etablissement zu betreten, selbst mit Eskorte und in Marians Begleitung. Immerhin war sie die Tochter eines Dukes.

Die Stimmen sprachen mit einem Akzent, der schwer und dick wie Sirup war und einen von innen wärmte … ganz ähnlich wie der Madeira-Wein den Mama nach dem Dinner so gerne nippte. Sie hatte nie etwas dagegen gehabt, wenn Clara sich gelegentlich auf ein Gläschen zu ihr gesellte. Schließlich war das von der portugiesischen Insel Madeira importierte Getränk in ihrer spanischen Familie zu jeder Mahlzeit serviert worden. Es war praktisch Muttermilch für Mama. Als sie von Spanien nach England übersiedelte, musste sie sich in dieser Hinsicht gewaltig umstellen. In ihrer neuen Heimat tranken Damen nur äußerst selten, wenn überhaupt, Alkohol. Einer der vielen Unterschiede, an die sie sich hatte gewöhnen müssen, als sie die Duchess of Autenberry wurde.

Clara schob ihre Füße über die rauen Holzbohlen. Das Lokal war düster und muffig. Der Rauch aus vielen Jahren schien durchs Haus zu wabern, von den hohen Balken hingen dicke Spinnweben. An einer Wand hing ein verblichener Bildteppich, auf dem Krieger mit Schwertern und Piken römische Soldaten ins Meer trieben.

Mariam rümpfte die Nase und schaute sich abfällig um.

Clara gefiel es hier. Es fühlte sich irgendwie … mittelalterlich an. Als ob sie in die Vergangenheit gereist wäre. Sie las für ihr Leben gern Geschichten über Ritter und Edelfrauen. Die Canterbury Erzählungen. Beowulf. Sir Gawain und der grüne Ritter. Sie mochte ihrer spanischen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sein mit ihrem olivfarbenen Teint und rabenschwarzem Haar, aber sie interessierte sich brennend für die Literatur und Geschichte ihres britischen Vaterlands.

Mit einer Kopfbewegung warf sie ihre Kapuze zurück und ließ den warmen Samt auf ihre Schultern fallen. Dann versicherte sie sich mit einem schnellen Griff zu ihrem Kopf, das die dichte Masse ihres Haars sich noch dort befand, wo sie hingehörte.

Marian brauchte jeden Morgen viel Zeit, um die widerspenstigen Wellen zu zähmen, und das hieß noch lange nicht, dass die Frisur auch halten würde. Bis zu ihrer Abreise hatte sich immer eins der Dienstmädchen darum gekümmert. Es zählte nicht zu Marians Stärken, das Haar einer Dame zu arrangieren. Sie war ausgebildete Gouvernante, keine Zofe.

Hoffentlich gab es im Haushalt ihres Bruders irgendwen, der sich auf Frisuren verstand. Andernfalls würde Clara ihre Mähne auf eine praktischere Länge stutzen. Nicht ganz schulterlang. Eine kühne Idee. Junge Debütantinnen trugen ihre Haare nicht kurz. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als ihr wieder einfiel, dass sie keine Debütantin mehr war. Der Gedanke löste gleichzeitig Erleichterung und einen Anflug von Verlustschmerz aus. Sehr verwirrend.

Clara musste sich nicht länger um Sitte und Anstand scheren. Dafür hatte sie gesorgt. Sie würde den Rest ihrer Tage als alte Jungfer verbringen. Aber zumindest war sie von Rolland befreit. Das war alles, was zählte. Und Grund genug für sie, sich mit einem Leben in Einsamkeit abzufinden.

Sie atmete das verführerische Aroma von etwas Herzhaftem und Schmackhaftem ein, das sich über den modrigen Geruch des Gasthofs legte. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühstück nichts Richtiges mehr gegessen hatte.

„Guten Tag, Ma’am.“ Ein älterer Mann, vermutlich der Wirt, nickte ein paar Mal und verbeugte sich dann unbeholfen vor Marian.

All das, nachdem er Clara einen kurzen abschätzenden Blick zugeworfen und als unwichtig eingeordnet hatte.

Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Marians goldschimmernde Schönheit machte sie zur Verkörperung der Englischen Rose. Die Leute erstarrten bei ihrem Anblick förmlich vor Ehrfurcht. Das passierte ständig. Daheim in London und offensichtlich auch hier in der schottischen Wildnis.

Über Marians blonde Locken, meerblaue Augen und Porzellanteint wurden Sonette geschrieben. Zugegeben, meist ziemlich schlechte, aber immerhin Sonette.

Clara inspirierte keine Dichter.

Marian sonnte sich keineswegs in all der Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, Clara wusste, dass es ihr unangenehm war. Vor allem, wenn vorsprechende Gentlemen mehr Zeit damit verbrachten, die pflichtbewusst dabeisitzende und still stickende Marian anzustarren, als sich mit Clara zu unterhalten.

Erwartungsvoll schaute der Wirt Marian an. „Soll ich Sie zu einem Tisch führen?“

Marian zeigte auf Clara, eine rasche Geste, dargebracht mit gesenktem, beinahe peinlich berührtem Blick. „Ja. Meine Herrin und ich wären Ihnen sehr verbunden.“

Sie beeilte sich stets, jedwedes Missverständnis aufzuklären.

Der Wirt musterte Clara, mit einer gewissen Verwunderung, als sähe er sie zum ersten Mal. „Madam?“

Clara nickte hoheitsvoll. „Bitte sagen Sie, dass es hier irgendwo ein sehr großes Kaminfeuer gibt, guter Mann.“

„Unbedingt“, pflichtete Marian ihr bei, rieb sich die behandschuhten Hände und legte sie sich dann an die Wangen. „Und Erfrischungen?“

Wieder nickte Clara.

„Aye.“ Der Wirt deutete vage auf eine geschlossene Tür zu ihrer Linken. „Normalerweise würd’ ich so feine Damen wie Sie ja hier im Salon platzieren, da ist es privat, aber auch sehr zugig, fürchte ich, und Sie beide scheinen mir die Kälte doch eher nicht so gewohnt zu sein.“

„Ach, das ist Ihnen also aufgefallen“, murmelte Marian, während sie weiter ihre Wangen mit den Händen wärmte.

Clara warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Die Gaststube ist vollkommen in Ordnung, um zu warten, bis unsere Pferde sich ausgeruht haben“, versicherte sie dem Wirt.

Marian schaute zur angelehnten Tür, durch die lärmende Stimmen drangen. „Da drin? Bist du sicher?“

„Selbstverständlich. Sei nicht so zimperlich.“

„Och, natürlich sind Sie willkommen, sich da drinnen aufzuwärmen, wenn’s Ihnen nichts ausmacht, den Raum mit anderen zu teilen“, erklärte der Wirt. „Ich gebe Ihnen einen Tisch am Kamin.“

Marian schaute noch einmal zweifelnd zu Clara, dann zuckte sie mit den Schultern und folgte dem Mann. Die Verlockung des Feuers war augenscheinlich größer als ihre Vorbehalte.

Clara ging hinter den beiden her in die Gaststube.

Ihre Ankunft blieb nicht unbemerkt – nicht in einem Raum, der fast ausschließlich von Männern bevölkert wurde. Mehrere Gäste hielten in dem, was sie gerade taten, inne, um zu starren, wobei sie einander mit dem Ellbogen anstießen und in ihre Richtung nickten.

Keiner dieser Schotten glich den edlen Rittern auf dem Wandteppich in der Eingangshalle, aber in ihren Tartans wirkten sie trotzdem wie Leute aus einem anderen Jahrhundert.

Etliche hatten lange Bärte und Haare, die bis über ihre Schultern reichten. Ein Mann stocherte mit einem schmutzig aussehenden Dolch in seinen Zähnen und ließ sie nicht aus den Augen, während der Wirt sie näher ans Feuer führte.

„Ich kann diese Leute von hier riechen“, flüsterte Marian ihr über die Schulter zu und legte unauffällig ein paar behandschuhte Finger über ihre Nase.

„Wie kann das sein?“, flüsterte Clara zurück. „So nahe sind sie uns nun auch wieder nicht.“

„Oh, es kann sein“, beharrte Marian und tippte an ihre Nase. „Die hier lügt niemals.“

„Lasst die Damen in Ruhe“, sagte der Wirt laut und ließ einen warnenden Blick durch den Raum schweifen. Dann wandte er sich wieder an Clara. „Das ist ein ungehobelter Haufen, aber sie werden sich hüten, meine Gäste zu belästigen.“

Einer der Schotten hob seinen Humpen Ale zum Salut. „Da erheb’ ich aber Einspruch. Wir sind ordentliche Gents! Kein einziger ungehobelter Kerl unter uns.“

Marian schnaubte ob dieser zweifelhaften Verkündung. Der Wirt zog zwei Stühle für sie hervor und funkelte den Mann scharf an.

Angelegentlich wischte Marian über die Sitzfläche ihres Stuhls, bevor sie sich darauf sinken ließ. Mama hatte oft gescherzt, dass Marian sich vornehmer gebärdete als eine Königin. Womit sie nicht ganz unrecht hatte. Auf jeden Fall waren Marians Manieren deutlich geschliffener als Claras. Marian war besonnen, geriet niemals unüberlegt in bedenkliche Situationen und warnte Clara stets vor unüberlegten Aktionen. Ihre vernünftigen Ratschläge hatten schon oft Schlimmeres verhindert.

Dennoch hatte Clara sich Hals über Kopf in ihre Verlobung mit Rolland gestürzt. Nicht mal Marian war es gelungen, sie davor zu bewahren.

Während sie sich jetzt auf ihren Stuhl in diesem Gasthof am Ende der Welt fallen ließ, spürte sie einen schmerzlichen Stich der Reue.

Von Anfang an hatte Marian sie gewarnt, die Avancen des Earl of Rolland zu akzeptieren. Doch sie war geblendet von seinem Charme gewesen. Und auch von anderen Faktoren.

Die einzuräumen sie sich mittlerweile inbrünstig schämte.

Jede kuppelsüchtige Mama in der Stadt war versessen darauf gewesen, dass Rolland ihrer Tochter den Hof machte, und er hatte sich für Clara entschieden. Es fühlte sich gut – nein, fantastisch – an, die Auserwählte zu sein.

Und noch besser fühlte es sich an, all diese Mamas und Töchter, die sie im Lauf der Jahre so unfreundlich behandelte hatten, gelb vor Neid werden zu sehen. Also, ja. Auch das hatte eine Rolle gespielt. Ihr Stolz leistete einen erheblichen Beitrag zu der Tatsache, dass sie bezüglich Rollands Charakter so blind gewesen war. Immerhin vor sich selbst konnte sie das inzwischen zugeben.

Mama hatte ihn ebenfalls gemocht. Es schien ihr eine Genugtuung zu sein, dass es unter all den Debütantinnen ihrer Tochter geglückt war, seine Gunst zu gewinnen. Sie wollte das Beste für Clara und dachte irrtümlicherweise, der Earl wäre das Beste.

Marian war nicht so verblendet gewesen. Nicht so leichtgläubig wie Clara oder ihre Mutter. Personal redete immer, und Marian mochte im oberen Bereich des Hauses arbeiten, besaß aber dennoch Zugang zum Tratsch im Dienstbotentrakt. Sie hatte Clara erzählt, dass Rolland bei seinen eigenen Angestellten einen üblen Ruf genoss.

Was für eine Art Mann er wirklich war, entdeckte Clara dann von sich aus. Auf die harte Tour. Und da war es bereits zu spät gewesen. Das Aufgebot war bestellt, die Hochzeit nur noch vierzehn Tage entfernt. Clara hatte sich wie ein Tier in der Falle gefühlt. Sie war verzweifelt gewesen. Verzweifelt genug, um etwas Unbedachtes zu tun.

„Ich bring’ Ihnen gleich ein paar Erfrischungen, meine Damen.“ Der Wirt nickte ihnen zu und zog sich zurück.

Das Feuer verbreitete angenehme Wärme. Sie stießen unisono einen wohligen Seufzer aus und Marian nahm endlich ihre Hände vom Gesicht.

Während sie auf ihren Imbiss warteten, schaute Clara sich in der Gaststube um.

Mehrere Männer spielten Karten. Auf den Tischen standen Whiskyflaschen. Die lallende Aussprache eines Mannes deutete darauf hin, dass er schon einige Gläser intus hatte. Genau genommen lag der Verdacht nahe, wenn man sich die Leute hier genauer anschaute, dass die meisten von ihnen schon ziemlich viele Gläser intus hatten.

„Mehr Whisky“, brüllte einer und klopfte mit der leeren Flasche auf den Tisch.

Ein gehetzt wirkendes Serviermädchen, dem Haarsträhnen an den verschwitzten Wangen klebten, eilte mit einer neuen Flasche herbei. Verwirrt beobachtete Clara das Treiben, darauf bedacht, nicht zu dreist zu starren. Das Letzte, was sie wollte, war noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.

Dasselbe Mädchen, das den Männern ihren Whisky gebracht hatte, kam bald mit einem Tablett für Clara und Marian zurück. Sie stellte es zwischen ihnen ab und goss dampfenden Tee in zwei Tassen. Marian griff ohne Umschweife zu einem buttrigen Keks und biss hinein. „Hmm.“ Sie nickte anerkennend und nahm sich, noch während sie kaute, den nächsten. „Ambrosia.“ Sie klopfte auf ihren Magen. „Ich fürchte, seit unserem Aufbruch habe ich mindestens sieben Kilo verloren.“

Bei dieser leichten Übertreibung rollte Clara mit den Augen. Es stimmte, einige der Gasthäuser, in denen sie Halt gemacht hatten, boten nicht die allerappetitlichsten Speisen. Kurz, nachdem sie die Grenze zu Schottland überquert hatten, wurde ihnen in einem Wirtshaus ein Eintopf serviert, der an etwas erinnerte, das man normalerweise an Hunde verfütterte.

„Bald kannst du dich an den Erzeugnissen der Küche meines Bruders laben. Man sagt, er hat eine exzellente Köchin.“

„Wir können gar nicht schnell genug dort ankommen“, murmelte Marian mit vollem Mund. „Abgesehen von dem hier“, sie hielt einen Keks hoch, „habe ich während dieser Reise kaum etwas Genießbares zu mir genommen.“

Nachsichtig lächelnd griff Clara ebenfalls nach einem Keks, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung. Ein kalter Luftzug wehte durch die Gaststube, und sie lehnte sich unwillkürlich näher zum Feuer. Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. „Bilde ich mir das nur ein, oder zieht es hier?“ Sie sah sich suchend um, ob vielleicht gerade ein Fenster geöffnet worden war, was den Luftzug erklärt hätte.

Marians Konzentration galt allein dem Tee und dem Gebäck. Beiläufig zuckte sie die Achseln. „Mir ist nichts aufgefallen.“

Doch die Kälte verschwand nicht.

Als Clara spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam, begann sie sich zu fragen, ob hinter ihrer Wahrnehmung vielleicht etwas anderes steckte als ein Temperatursturz. Unsicher ließ sie ihren Blick schweifen. Eigentlich neigte sie nicht zum Aberglauben, aber sie erinnerte sich aus Kindertagen noch gut an den Besuch einer Tante ihrer Mutter. Die Frau war den Großteil ihres Lebens verwitwet gewesen und trug schwarzen Bombasin wie eine Rüstung – von Kopf bis Fuß in den steifen Stoff gehüllt. An Tante Gustavas Gürtel hing ein Rosenkranz, den sie immer dann umklammerte und an ihre Lippen führte, wenn sie die Präsenz von espíritus spürte.

„Was ist ein espíritu?“, hatte Clara gefragt.

Tante Gustava wedelte mit ihren alten, verkrümmten Fingern. „Espíritus sind diejenigen, die vor uns kamen. Sie sind jetzt tot, aber manche gehen um. Sie sind verloren. Du kannst sie spüren, wenn sie in der Nähe sind. Dann wird die Luft kalt, und deine Haut fühlt sich an, als ob Ameisen unter der Oberfläche krabbeln.“

Clara wusste, dass es eine überspannte Vorstellung war, dennoch ertappte sie sich bei dem Gedanken, ob hier im Raum womöglich gerade jetzt espíritus umgingen. Ob das die Erklärung für diese plötzliche Kälte sein könnte … für ihr Zittern und das Gefühl, etwas hätte sich verändert.

Wieder blickte sie sich suchend um.

Doch alles schien normal. Nichts war anders als in dem Moment, in dem sie und Marian die Gaststube betreten hatten. Noch immer knisterte neben ihnen das gigantische Kaminfeuer. Das überlastete Serviermädchen hastete durch den Raum. Die lärmenden Schotten tranken und redeten und spielten Karten.

Da schwang die Tür auf, und eine Gruppe Schotten kam herein, die Schritte ihrer Stiefel hallten geradezu feierlich vom Boden wider.

Eine plötzliche Stille legte sich über den Raum, und Clara wurde alles klar. Die Erkenntnis übermannte sie förmlich.

Sie wusste einfach, dass was immer sie gespürt, was immer sie gewittert hatte … nun eingetroffen war.

2. KAPITEL

Sie waren ein furchteinflößender Haufen. Kräftig. Hochgewachsen und breitschultrig. Ernste, geradezu grimmige Mienen. Der Mann an der Spitze der Gruppe trat einen Schritt vor. Claras Magen schlug einen Salto. Er wäre ihr auch dann aufgefallen, wenn er ganz hinten gestanden hätte. Man konnte ihn nicht übersehen. Er war der Größte, mit den breitesten Schultern. Aber er war auch der Jüngste, ohne eine einzige graue Strähne in seinem schimmernden braunen Haar. Und anders als viele andere der Neuankömmlinge trug er keinen Bart. Clara hatte freie Sicht auf sein Gesicht.

Und es war ein atemberaubendes Gesicht.

Was auch Marian nicht entging. „Allmächtiger …“, hauchte sie.

Clara braucht gar nicht zu ihrer Freundin hinzuschauen oder zu fragen, worauf sich ihre vollkommen nachvollziehbare Bemerkung bezog. Jede Frau, die Augen im Kopf hatte, würde auf den Anblick dieses Mannes reagieren. Sie selbst definitiv eingeschlossen, denn sie starrte ihn unverhohlen an. Sein geradezu lächerlich kantiges Kinn. Die Lippen, die wunderschön waren, selbst wenn sie nicht lächelten. Und seine ungewöhnlichen Augen, deren spektakuläres Eisblau sogar quer durch die dämmrige Gaststube strahlte.

In der plötzlichen Stille stieg die Anspannung im Raum. Clara schaute zwischen den beiden Gruppen von Männern hin und her. Sie spürte die unausgesprochene Herausforderung, die in der Luft lag.

Zu der Nervosität, die durch ihre Adern jagte, gesellte sich Beklommenheit.

Ihr Selbsterhaltungs-Instinkt riet ihr, Marian zu packen und umgehend von hier zu verschwinden, wie es jede wohlerzogene, auf Sicherheit bedachte Dame tun würde.

Und doch rührte sie sich nicht von der Stelle.

Die Neuankömmlinge trugen ebenfalls Tartan, allerdings andere Farben als die übrigen Gäste. Das bedeutete, wie Clara wusste, dass sie zu einem anderen Clan gehörten. Vielleicht waren sie Rivalen. Sie hatte gelesen, dass diese Highland-Clans zu langwierigen, über Jahrzehnte ausgetragenen Konflikten neigten.

„MacLarin“, brüllte einer der betrunkenen Schotten. „Du hier! Was für ein erfreulicher Zufall!“

Der Mann mit dem atemberaubenden Gesicht hatte einen Namen. Natürlich hatte er einen Namen. MacLarin. Sie flüsterte ihn im Geiste, prägte ihn ihrem Gedächtnis ein, für jene langen einsamen Nächte, die vor ihr lagen.

MacLarin. MacLarin. MacLarin.

Schade nur, dass sie seinen Vornamen nicht kannte. Der würde sich in all ihren zukünftigen Fantasien sehr viel intimer anfühlen.

MacLarin kam weiter in den Raum hinein, so dass mehr Licht vom Kaminfeuer und den Laternen auf ihn fiel. „Ist es das?“

Clara stockte der Atem. Sogar seine Stimme war überwältigend.

Zweifellos spürte er, wie sie ihn anstarrte. Sie konnte nicht damit aufhören. Konnte ihren Blick nicht von ihm losreißen. Konnte ihr offensichtliches Interesse nicht zu etwas Beiläufigerem modifizieren, als es war – nämlich die Manifestation leidenschaftlichster Bewunderung.

Er könnte direkt einem Ölgemälde entsprungen sein. Es fiel ihr nicht im Geringsten schwer, ihn sich als wilden Wikinger vorzustellen, der schwertschwingend aus einem Boot sprang, bereit zum Angriff. Oder als einen prachtvollen stahläugigen Gott, der Blitze auf unglückselige Sterbliche schleudert.

„Ich glaube, du bist am falschen Ort“, fuhr MacLarin fort, und sein Highland-Akzent umschmeichelte ihr Ohr wie dicker, weicher Samt.

Obwohl er nicht laut gesprochen hatte, wirkten seine Worte autoritär und zwingend. Unwillkürlich fragte sich Clara, wie es wäre diese Art Macht zu besitzen – die Fähigkeit, andere Menschen allein durch den Klang ihrer Stimme zu beeinflussen.

Ihr ganzes Leben lang hatten die Leute es darauf angelegt, ihr klarzumachen, wie minderwertig sie war. Sie fühlten sich im Recht dazu, weil sie Clara als Tochter einer Parvenue betrachteten, die gänzlich unverdient den Rang einer Duchess of Autenberry bekleidete.

Als Rolland um ihre Hand anhielt, hatte sie geglaubt, dass sich das ändern würde.

Sie glaubte, endlich angekommen zu sein.

Sie glaubte, dass der Ton sie nun als ebenbürtig akzeptieren würde.

Die Erinnerung daran, wie naiv sie gewesen war, versetzte ihr einen Stich, und sie befahl sich selbst, sich nicht von der Schönheit dieses Mannes blenden zu lassen. Letztendlich war er auch nur ein Mann mit zwei Beinen und zwei Augen, wie all die anderen. Rolland hatte sie geblendet und sich dann als mieser Schuft entpuppt.

„Nay. Ich bin nich’ am falschen Ort.“ Der Schotte, der am Tisch saß, setzte eine nachdenkliche Miene auf und kippelte träge mit seinem Stuhl nach hinten. „Mir war nach feiern, und ich hab’ vorgezogen, es hier zu tun. Ganz in der Nähe deines Zuhauses.“

Einer der Männer neben MacLarin lief hochrot an und machte Anstalten, sich auf den sitzenden Gast zu stürzen. „Du Mistkerl!“

MacLarin fing ihn ab, mit einem starken, wohlgeformten Arm. „Ruhig, Graham.“

Clara ließ ihren Blick über MacLarins ausgestreckten Arm wandern. Sein Unterarm steckte in einer Art Lederschiene, wie ein Krieger sie in der Schlacht tragen würde. Sie setzte sich aufrechter hin und reckte den Hals, um unter seinen Umhang spähen zu können, und ja! Er hatte tatsächlich ein Schwert umgeschnallt. Ein echter, wahrer Krieger wie er im Buche steht.

„Was ist da los?“, zischte Marian ihr zu.

„Pssst.“ Clara wedelte mit einer Hand, um ihre Freundin zum Schweigen zu bringen, starrte aber weiter unverwandt auf den sich anbahnenden Streit. Sie traute sich nicht, auch nur eine Sekunde wegzuschauen, um nur ja alles mitzukriegen.

Es war einfach zu unterhaltsam. Besser als ein Roman, weil es in Wirklichkeit passierte.

Graham spuckte auf den Boden und knarzte seine nächsten Worte mit so dicker Highland-Färbung und so ausgiebig gerollten Rs, dass sie ihn kaum verstand. „Du feierrrrst doch nich’ etwa, weil du in den Besitz eines feinen Bullen gekomm’n bist, was?“

„Ein Bulle?“ Der Mann am Tisch blinzelte ein paar Mal und drehte sich dann gespielt unschuldig zu seinen Kumpanen um. „Och, ja, ihr habt euren Preisbullen verloren, ich glaub’, ich hab’ da so ’ne Geschichte gehört.“ Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte bedauernd den Kopf. „Schreckliche Neuigkeit das! War’n feines Biest, was ihr da hattet. Man kann heutzutage wirklich niemandem mehr trau’n.“

„Mein Bulle ist nicht verloren“, warf MacLarin ruhig, aber resolut ein.

„Nay?“ Der sitzende Mann genoss die Situation sichtlich. „Bist du dir da ganz sicher, MacLarin? Dass der Bulle nich’ für dich verlor’n is’, was?“

Du hast meinen Bullen geklaut, und das weißt du verdammt genau, Bannessyi.“ Wieder sprach er in diesem ruhigen, drohenden Ton, und die Gänsehaut auf ihren Armen prickelte. „Und ich werde ihn wiederkriegen.“

Dann lächelte er – MacLarin – und mit einer gewissen Ehrfurcht begriff Clara, dass er die Situation ebenfalls genoss. Sie alle hatten Spaß daran. Die Luft knisterte förmlich vor Anspannung, und diese Männer schwelgten darin.

„Och, MacLarin. Du denkst, ich hab’ dein Biest gestohlen?“ Theatralisch presste Bannessy eine Hand an seine Brust und ließ sich wieder auf alle vier Beine seines Stuhls fallen. „Das is’ eine schwerwiegende Anschuldigung.“ Sein Grinsen erstarb, und er starrte MacLarin drohend ins Gesicht. „Beweis’ es.“

Einen langen Moment herrschte Schweigen. Im Kamin fiel ein Holzscheit knisternd in sich zusammen. Clara wagte nicht mal mehr zu blinzeln, aus Angst, etwas zu verpassen. Sie justierte ihre Sitzposition und umklammerte die Rückenlehne ihres Stuhls.

Die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, war mehr als außergewöhnlich. Etwas, das man sich vielleicht auf einer Theaterbühne vorstellen konnte, aber dort wäre es natürlich niemals so realistisch gewesen wie dies hier.

„Clara“, wisperte Marian scharf. „Wir sollten gehen.“

MacLarin hörte sie. Er schaute in ihre Richtung.

Clara krallte ihre Finger fester in die Rückenlehne. Sie straffte den Rücken und starrte MacLarin unverwandt an.

Sein Blick streifte erst über sie, dann über Marian. Dann wandte er sich gleichgültig ab.

Offensichtlich waren sie nicht von Interesse für ihn. Unerklärlicherweise fühlte Clara sich dadurch beleidigt, und ihr entwich ein empörtes Schnaufen.

Das erregte offenbar seine Aufmerksamkeit, denn unerwartet kehrte sein glitzernder Blick zu ihr zurück. Ihr stockte der Atem. Er starrte sie an. Sie.

Nicht die schöne Marian.

Nicht die ruinierte Schwester des Duke of Autenberry.

Nicht die verstoßene Verlobte des Earl of Rolland.

Er sah sie. Clara. Ihr Herz machte einen Sprung.

Sie starrte zurück, hielt der Attacke seiner eisigen, durchdringenden Augen stand.

Ihr war klar, dass sie in dieser Umgebung fehl am Platze wirkte. Sie und Marian waren die einzigen Farbkleckse im Raum – sie in ihrem rosenroten Kleid und Marian in sonnigem Gelb. Genau genommen waren sie, abgesehen vom Serviermädchen, auch die einzigen sichtbaren weiblichen Wesen in diesem Etablissement. Vermutlich fragte er sich, was zwei augenscheinlich anständige Damen hierher verschlagen hatte.

Lange konnten sie einander nicht angestarrt haben, doch sein Blick, so unergründlich er sein mochte, hinterließ sein Zeichen, brandmarkte ihre Haut. Sie würde noch daran denken, lange nachdem sie diesen Gasthof verlassen hatte. Was unglaublich falsch war, wie sie sehr wohl wusste. Schließlich hatte sie am eigenen Leibe erfahren, dass man sich von einer hübschen Verpackung nicht den Kopf verdrehen lassen sollte.

Falsche Entscheidungen gehörten der Vergangenheit an. Sie hatte sich geschworen, dass es in Zukunft nur noch solide, vernünftige Entscheidungen geben würde. Keine lebensverändernden Irrtümer mehr. Keine Fehleinschätzungen. Sie hatte ihre Lektion gelernt.

„Clara, er starrt dich an“, zischte Marian.

Einer von MacLarins Freunden stieß ihn an und flüsterte etwas, höchstwahrscheinlich die Aufforderung, sie nicht weiter so unhöflich anzugaffen.

MacLarin nickte entschlossen und ging zum Tisch des – möglichen – Viehdiebs. Clara zuckte zusammen, als er Bannessy packte, von seinem Stuhl hochzog und über den Tisch hievte, alles in einer fließenden, gnadenlosen Bewegung.

Wie auf Knopfdruck brach Chaos aus.

MacLarins Leute stürzten sich auf die anderen Männer. Die Schotten prügelten aufeinander ein, warfen dabei Tische, Stühle und Geschirr um.

Marian stieß einen Schrei aus und sprang auf. Clara folgte ihrem Beispiel – ohne den Schrei. Atemlos beobachtete sie das Geschehen, ihr Blick folgte MacLarin durchs hitzige Gefecht.

Noch nie war sie Zeugin eines Kampfs gewesen. Hatte keine Ahnung gehabt, dass er mit einer solchen … Beiläufigkeit entbrennen konnte – oder mit solcher Wildheit.

MacLarin schlug seinen Gegner windelweich.

Clara wusste, dass sie das Ganze nicht unterhaltsam oder anregend finden sollte. Es handelte sich schließlich um eine Schankraum-Schlägerei. Würdelos, rüpelhaft. Primitiv.

Und doch war sie vollkommen gefesselt … und hielt bei Weitem nicht genug Abstand zu den Raufbolden.

„Clara! Zurück!“ Energisch packte Marian sie beim Arm, versuchte sie zur Wand zu ziehen, an die sie selbst sich presste.

Doch Clara blieb wie angewurzelt stehen. Noch nie war sie dem echten Leben so nah gewesen. All das war so zügellos. So ehrlich. In London trugen alle Leute Masken. Sie präsentierten der Welt eine täuschend anständige Miene, und sobald man sich abwandte, versetzten sie einem einen Dolchstoß in den Rücken. Dies hier hingegen war real. Es war das Wahre.

Der Lärm war ohrenbetäubend, doch die Stimme des Wirts drang dennoch zu den Kämpfenden durch.

„Aufhören! MacLarin! Bannessy! Ihr ruiniert meinen Laden!“

MacLarin versetzte Bannessy lachend einen schnellen Kinnhaken, der den anderen Mann von den Füßen riss und nach hinten taumeln ließ.

Er lacht. Dieser Mann lachte tatsächlich mit der respektlosen Freude eines spielenden Jungen.

Tadelnd hob der Wirt einen Zeigefinger in seine Richtung. „Ich erwarte, dass mir der Schaden ersetzt wird, MacLarin!“

Bannessy rappelte sich wieder hoch, warf das lange Haar zurück, stürzte sich auf MacLarin, und beide Männer landeten auf einem Tisch in gefährlicher Nähe von Claras Beobachtungsposten.

Es gelang MacLarin, sich über Bannessy zu rollen, dessen Rippen er ein paar knirschende Schläge verpasste.

Clara zuckte zusammen. Noch nie hatte sie derartige Gewalt gesehen – und doch schienen beide Männer die Prügelei zu genießen, ja, sie schienen geradezu eine ekstatische Wonne dabei zu empfinden. Als fühlten sie sich bei ihrer zerstörerischen Aktivität unglaublich lebendig.

Das war Wahnsinn, und doch konnte sie sich nicht von der urweltlichen Szene abwenden. Er war urweltlich, wie er lachte, knurrte, die Fäuste schwang … sie hatte nicht gewusst, dass Männer wie er existierten.

„Clara! Würdest du bitte aufwachen? Hör auf, diese Kerle mit Blicken zu verschlingen.“ Marian nahm sie beim Arm und begann, sie durch den Tumult zu ziehen. „Lass uns von hier verschwinden.“

Doch das war leichter gesagt als getan. Sie mussten Körpern und Fäusten und fliegenden Objekten ausweichen.

Eine Whiskyflasche wirbelte durch die Luft, und Clara sprang einen Schritt zurück, um nicht am Kopf getroffen zu werden. Dem spritzenden Alkohol entkam sie jedoch nicht, die Vorderseite ihres Kleids war getränkt mit der scharf riechenden Flüssigkeit.

„Clara!“, rief Marian aus einiger Entfernung. Sie befand sich näher bei der Tür, und die Distanz zwischen ihnen füllte sich rasch mit prügelnden Schotten. Clara stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, ihre Freundin nicht aus den Augen zu verlieren. Marian hüpfte auf und ab, so dass ihr Kopf immer wieder zwischen den Raufbolden auftauchte.

Als sich eine Öffnung im Gewühl ergab, rannte Clara los und hatte Marian fast erreicht, als jemand heftig mit ihr zusammenstieß und sie gegen einen der wenigen noch aufrecht stehenden Tische geschleudert wurde.

Die Luft entwich mit einem Schlag aus ihrer Lunge, als sie krachend auf dem Boden landete.

Sie lag nicht allein auf den Trümmern des zerborstenen Tischs.

Ein Mann war regelrecht um sie herum gewickelt. Sein Körper war größer und härter als ihrer. Stabil. Er bedeckte sie wie eine schwere Decke, sie spürte seinen Atem warm an ihrer Wange.

Seine Brust war an ihre gepresst, sein Herzschlag ein stetes, starkes Hämmern.

Kräftige Arme schlossen sich um sie, fast, als ob er sie davor retten wollte, zerquetscht zu werden. Doch sie fühlte sich nicht besonders gerettet, sondern ziemlich gefangen. Eingeklemmt.

„Aua“, stöhnte sie, als ihr klar wurde, dass das Gewicht eines Mannes, der ihr grob geschätzt 25 Kilogramm voraus hatte, sie zu ersticken drohte. „Kriege … keine … Luft.“

Bewegen konnte sie sich auch nicht.

Und nicht viel sehen außer den Sternen, die vor ihren Augen tanzten.

Es gelang ihr, seiner Schulter einen schwachen Hieb zu versetzen. „Gehen Sie von mir runter, Sie Tölpel!“

„Sind Sie bescheuert, Mädel?“ Der MacLarin-Grobian erhob sich, und Clara stieß einen langen Atemstoß aus.

„Ich?“, stieß sie keuchend hervor, noch immer nach Luft schnappend. Sie setzte sich auf, presste eine Hand an ihr Mieder und zuckte zusammen, als sie den tropfnassen Stoff unter ihren Fingern spürte. „Ich bin nicht diejenige, die sich herumprügelt und unschuldige Anwesende verletzt … Sie, Sie … Highland-Barbar!“

Seine Augen weiteten sich, und mit einiger Verspätung wurde ihr klar, dass ihn vielleicht besser nicht beleidigt hätte.

„Bitte vielmals um Entschuldigung“, gab er spöttisch zurück. „Aber es kommt nicht allzu oft vor, dass unschuldige Anwesende sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen.“ Das unschuldig spuckte er regelrecht aus, als bezweifelte er, dass so etwas überhaupt existierte. Als bezweifelte er, dass es auf sie zutraf.

„Oh!“ Sie raffte ihre üppigen Röcke zusammen und schlug die Hand weg, die er ausstreckte, um ihr dabei zu helfen. Dieser Kerl war ganz klar kein Gentlemen. Also brauchte er auch nicht so zu tun als ob.

Als sie wieder aufrecht stand, schaute sie auf dieselbe Art und Weise auf ihn herab, wie sie es so oft bei ihrer hochmütigen Halbschwester gesehen hatte. Enid hatte die Kunst der Verachtung perfektioniert. „Vielleicht sollten Sie und der Rest dieser Gentlemen davon Abstand nehmen, einander totzuprügeln, schon gar wegen eines … Bullen. Darum ging es doch, nicht wahr?“ Sie quiekte und sprang näher zu ihm, als ein Stuhl auf sie zuflog und über ihrem Kopf an die Wand knallte.

Seine Nasenflügel blähten sich, aber er zuckte mit keiner Wimper, gönnte den Überresten des Stuhls nicht mal einen flüchtigen Blick. Stattdessen starrte er sie ungerührt weiter an, als würden jeden Tag Stühle in Richtung seines Kopfs geworfen. Was vielleicht ja auch zutraf. Dieser Mann roch förmlich nach Gefahr. Vermutlich war er an ein Leben voller Chaos und Konflikte gewöhnt.

„Es ist ein Preisbulle. Der lässt sich nicht so leicht ersetzen.“

Sie schnaubte geringschätzig. „Er ist nichts anderes als eine … Kuh.“

„Ein Bulle ist keine Kuh“, sagte er angewidert.

Clare verdrehte die Augen und machte eine raumumfassende Geste. „Sie streiten wie die Kinder und sollten sich dafür schämen.“

Er schnüffelte ausgiebig in ihre Richtung. „Und Sie sollten mal weniger tief ins Glas schauen, Mädel. Dann wären Sie vielleicht nicht so tollpatschig, dass Sie in irgendwelche Tische fallen und nur haarscharf an einer entstellenden Wunde vorbeikommen.“

„Ich habe nichts getrunken! Einer von Ihren Leuten hat mich mit Whisky übergossen, und jetzt stinke ich wie eine Schnapsbrennerei!“

Er ließ seinen Blick über sie wandern und auf ihrem bereits erhitzten Gesicht verweilen, dass prompt noch heißer wurde. Selbst das herrschende Dämmerlicht konnte nicht verbergen, wie hochrot ihre Wangen sein mussten.

Ihre einst elegante Frisur fühlte sich verrutscht an. Eine dunkle Strähne fiel ihr ins Gesicht. Sie pustete, und als das nicht funktionierte, versuchte sie sie zurückzuschütteln, um etwas würdevoller auszusehen. Auch diese Bemühung scheiterte kläglich.

Während er sie aufmerksam beobachtete, zuckte ein spöttisches Lächeln um seinen Mund. Der Schuft! Er lachte sie aus.

Unvermittelt hob er die Hand, nahm die widerspenstige Haarsträhne zwischen zwei Finger und schob sie zurück in ihre zerzauste Coiffure.

Die Welt um sie herum verschwand im Nebel. Noch immer tobte um sie herum der Kampf, doch Clara konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als den Mann vor sich – auf sein Gesicht, seinen strahlenden Blick, die Lippen, die ihr so nah waren und sich nun bewegten, als er in diesem samtigen, kehligen Akzent zu ihr sprach. „Aye, Mädel. Das hier ist kein Ort für Ihresgleichen.“

„Es ist ein öffentlich zugängliches Gasthaus.“ Sie versetzte ihm einen Stoß und versuchte zu ignorieren, wie breit und fest sich seine Brust anfühlte. Doch er stand wie aus Stein gemeißelt und wich keinen Zentimeter zurück. „Ich habe das Recht, mich hier aufzuhalten.“ Verflixt. Warum klang sie so zittrig und kleinlaut? Ihre verräterischen Augen richteten sich wie von selbst abschätzend auf seine viel zu nahen Lippen. Wie weich sie aussahen. Er war sonst so hart und unnachgiebig, dort aber nicht.

Du lieber Gott, wo war plötzlich die ganze Luft hin verschwunden?

Es war, als hätte er in sie hineingegriffen und ihr den Atem aus dem Leib gepresst. Ihr wurde die Brust eng, und sie rang darum, ihre verkrampften Lungen zu füllen.

Sie hatte Rolland gestattet, sie zu küssen. Es war ein einfacher, keuscher Kuss gewesen. Bevor sie herausfand, was für eine Art Mann er wirklich war. Bevor sie von seinen verdorbenen Vorlieben erfuhr. Kein weibliches Wesen in seinem Haushalt war sicher vor ihm. Bei der Vorstellung, was für eine Existenz sie an seiner Seite, unter seinem Dach erwartet hätte, konnte sie nur schaudern.

Zum Glück war dieser Kuss nur sehr kurz gewesen.

Wie sie hier Brust an Brust mit MacLarin stand und seine Finger in ihrem Haar spürte, fühlte sich sehr viel intimer an als jener flüchtige Kuss in einem anderen Leben.

Mühsam schüttelte sie die schwindelerregende Wirkung ab, die er auf sie hatte. „Schämen Sie sich, dass sie diesen Ort in ein Tollhaus verwandelt haben … das untauglich ist für zivilisierte Menschen.“

Er lachte leise, ein Laut, den sie bis tief in ihren Magen spürte. „Oder vielleicht hätte sich eine so zivilisierte und zimperliche Sassenach wie Sie erst gar nicht so weit in die Highlands hineinwagen sollen.“

„Ich bin nicht zimperlich.“ Man konnte ihr vieles nachsagen, aber das gewiss nicht. „Aber das hier würde jeder Mensch, egal wann und wo, als haltloses Chaos empfinden.“

Wieder lachte er leise in sich hinein und musterte sie dabei, als wäre sie etwas, das ihm noch nie zuvor untergekommen war. Eine Gefühlsregung, die sie voll und ganz nachvollziehen konnte. „Sie sind ein streitlustiges Mädel.“

Plötzlich war Marian an ihrer Seite. Sie kauerte sich leicht zusammen, keuchte angespannt und schaute wild um sich, als fürchte sie, jede Sekunde attackiert zu werden. „Komm. Wir gehen.“

„Aye.“ Der Schotte nickte, mit einem Grinsen, das seine Augen nicht erreichte. „Laufen Sie los. Das hier ist nicht der richtige Ort für zarte Damen.“ Obwohl er zu beiden Frauen sprach, verweilte sein Blick weiter auf Clara.

Alles in ihr sträubte sich dagegen, seinen Rat zu beherzigen.

Natürlich hatte er Recht. Sie sollte aufbrechen. Aber sie schätzte es nicht, sich herumkommandieren zu lassen, von wem auch immer. Denn das weckte einen Schwall unbehaglicher Erinnerungen.

Rolland hatte sie kontrollieren wollen. Als sie das erste Mal andeutete, die Verlobung lösen zu wollen, zeigte er sein wahres Gesicht, und sein hässlicher Charakter hatte sich in voller Pracht entfaltet.

Du gehörst mir, und ich werde dich niemals freigeben. Verstehst du das, Clara? Vergiss einfach, was immer dir gerade durch dein schwaches Gehirn geistert. Du wirst tun, was ich dir sage, wie eine brave kleine Gans und in der Kirche erscheinen, sonst zerre ich dich eigenhändig vor den Altar.

Natürlich änderte er später seine Meinung.

Dafür hatte sie gesorgt – und bereute nichts, auch wenn es zu ihrer gegenwärtigen Situation geführt hatte. Es war der einzige Weg gewesen, ihn dazu zu bringen, die Verlobung platzen zu lassen.

Autor

Sophie Jordan
<p>Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt...
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