Mit dem Wikinger in den Wogen der Leidenschaft

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Küste von Northumbria, 880 n. Chr.: Gydas Langschiff droht in den sturmgepeitschten Wogen zu zerbrechen! In letzter Sekunde wird sie von einem breitschultrigen Wikinger gerettet. Doch ist es wirklich eine Rettung? Die schöne, junge Witwe wollte ein neues, freies Leben beginnen, hatte Schmuck und Silber dabei – all das liegt nun auf dem Meeresgrund. Und sie ist Thorstein Bergson ausgeliefert! Dass zwischen ihnen vom ersten Moment heißes Verlangen lodert, versucht sie hinter der Maske einer unnahbaren Eiskönigin zu verbergen. Denn der mächtige Kämpfer passt nicht in ihren Zukunftsplan. Doch dann lässt sie sich zu einem verhängnisvollen Kuss hinreißen …


  • Erscheinungstag 16.04.2024
  • Bandnummer 399
  • ISBN / Artikelnummer 0814240399
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

PROLOG

Gyda sah zu, wie das Beerdigungsboot ihres Mannes Fahrt aufnahm und aufs Meer hinausglitt. Es brannte hell, ein prächtiges Symbol für Jarl Halvors Macht und Einfluss zu Lebzeiten. Ihre Mägde standen mit kühler Miene neben ihr. Sie würden ihren Herrn nicht vermissen, und Gyda würde es auch nicht. Sie alle hatten schon einmal Halvors Hand zu spüren bekommen.

„Wir machen uns Sorgen um dich“, sagte Erica, ihre treueste Magd und Freundin.

„Es wird mir gut gehen. Ich wusste, dass dieser Tag einmal kommen würde. Ich habe mich darauf vorbereitet.“

„Deine Wandteppiche werden nicht ausreichen, um zu entkommen.“

„Meine Wandteppiche und etwas Silber. Das muss genügen.“ So musste es einfach sein.

„Sei vorsichtig, Gyda. Es wird nicht lange dauern, bis Baldor zur Tat schreitet. Das Volk liebt dich und hasst ihn. Viggo sagt, die Hälfte der Krieger verweigert ihm die Unterstützung. Er rechnet damit, dass es zu einem Krieg zwischen den Brüdern kommen könnte. Aber wenn Baldor dich geheiratet hat, bevor seine Brüder von ihrer Handelsreise zurückkehren, werden sie es nicht wagen, seinen Anspruch anzufechten. Ah, sieh mal da … wenn man vom Teufel spricht.“

„Pst!“, zischte Gyda, die um die Sicherheit ihrer Freundin fürchtete.

Halvors Sohn, Baldor, kam auf sie zu. Er war der älteste Sohn des verstorbenen Jarl, aber er war schon immer schwach und kränklich gewesen, ebenso wie seine Frau, die im letzten Sommer an einer Erkältung gestorben war. Eine Enttäuschung für seinen Vater und eine Quelle der Belustigung für seine Brüder. Hätte er nicht das gleiche Temperament wie sein Vater gehabt, hätte Gyda ihn vielleicht bemitleidet.

„Es ist eine Schande, dass du dich dagegen entschieden hast, meinem Vater ins Jenseits zu folgen … Ragnar wird abberufen werden. Er wird bald zu Hause sein …“ Er schniefte, während er sprach, und ihr drehte sich der Magen um. Er wusste, wie sehr sie Ragnar verachtete.

„Dein Vater wird in Walhalla von seiner ersten und zweiten Frau empfangen werden. Er wird mich nicht vermissen.“

„Stimmt.“ Er trat näher heran, sein abgestandener Atem streifte ihre Wange. „Wir haben viel zu besprechen.“

Sie lehnte sich zurück. „Über …?“

„Darüber, wie du deine Position als Herrin hier behalten kannst. Wie wir gemeinsam regieren können.“ Er grinste und zeigte dabei seine gelben Zähne.

„Dein Vater ist gestern gestorben.“

„Und heute betrauern wir seinen Verlust. Aber morgen …“ Er ließ die Drohung unausgesprochen in der Luft hängen.

„Wir sprechen uns später.“

Als er wegging, schluckte sie schwer. Ihre Mägde sahen sie besorgt an.

„Ich werde ein Schiff brauchen“, sagte sie.

1. KAPITEL

Nordsee, Küste von Northumbria, 880 n. Chr.

Thorstein Bergsons Langschiff pflügte mit unerbittlicher Geschwindigkeit durch die stürmischen Wellen. Er fürchtete jedoch, für die Überlebenden des Schiffsunglücks in jedem Fall zu spät zu kommen. Der Wind und der Regen peitschten ihm ins Gesicht, während die stürmischen Wellen sein Schiff mit unbarmherziger Wut auf und ab warfen. Aber er kannte dieses Gewässer, jede Strömung und jede Untiefe – im Gegensatz zu den unglücklichen Reisenden, die sich zu nahe an die scharfen Felsen verirrt hatten, die das Land dahinter bewachten.

Oberhalb des Wracks, hoch oben auf einer gewölbten Klippe, stand eine einsame Eiche in Flammen. Vom Blitz getroffen, brannte sie von innen heraus, ihre geschwärzten Äste reckten sich in den Sturm, als würden sie um Gnade flehen. Der Baum war wie ein glühendes Leuchtfeuer des Todes und der Zerstörung im frühen Licht der Morgendämmerung.

Eine Botschaft der Götter, die selbst er nicht ignorieren konnte.

Wenn es Überlebende geben sollte, die es an Land schafften, sollten sie am Fuße des Baumes ein Dankesopfer hinterlassen. Ohne die Eiche hätte Thorstein das Schiff nicht gesehen und könnte diesen Menschen jetzt nicht zu Hilfe kommen. Er war sich immer noch nicht sicher, warum er das Leben seiner Männer und möglicherweise auch sein eigenes riskierte, um Fremden zu helfen.

Wenigstens begann der Sturm, der die ganze Nacht hindurch gewütet hatte, sich zu legen. Thor schlug seinen Hammer nicht mehr in den dunklen Himmel, und der eiskalte Regen ließ langsam nach. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die hufeisenförmigen Klippen erreicht hätten, die den Hafen der Siedlung, die sein Zuhause war, umgaben.

Sein Freund Magnus trat neben ihn – sie standen am Bug des Schiffes. Magnus lehnte sich mit der Schulter an die Reling und schnalzte mit der Zunge, als er Thorsteins Blick folgte. „Wir sollten nicht zu dicht an den Felsen segeln, sonst könnte uns ein ähnliches Schicksal ereilen.“

Thorstein gab einen zustimmenden Laut von sich. Dem Sturm ging die Kraft aus, aber die Klippen waren im besten Fall furchterregend. Außerdem kam die Flut, und sie kam schnell.

Magnus sah seinen Freund nachdenklich an. „Sie werden wahrscheinlich alle tot sein, bevor wir bei ihnen sind.“

Thorstein runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Langschiff wurde langsamer, als seine Männer das Schiff wendeten, um sich vorsichtig dem Wrack zu nähern. Beide Männer standen breitbeinig da und bewegten sich kaum, als das Schiff hin und her schwankte. Sie waren schon bei schlimmerem Seegang als diesem draußen gewesen.

Thorsteins Armring glänzte im bernsteinfarbenen Licht der Morgendämmerung, und er starrte auf die brennende Eiche über dem Wrack, die Narbe in seinem Gesicht juckte.

„Näher sollten wir uns nicht wagen“, sagte Magnus und nickte.

Thorstein blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Überlebenden, die sich an die Reling des Wracks klammerten, das bald von der Flut überspült werden würde. Ihre blassen, verhärmten Gesichter wirkten im schwachen Licht der Morgendämmerung wie Totenköpfe.

Ein kobaltblauer Umhang zog seinen Blick auf sich. Der Farbton war tief und selten, nur den reichsten Adligen vorbehalten.

War das der Grund, warum Thor ihn hierhergeführt hatte? Sollte er einen Adligen retten und eine Belohnung erhalten?

Thorstein verlagerte seine Position, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte keinen Bedarf an Reichtum. Sein Schatz war sicher unter seiner Halle vergraben. Er hatte genug für sein Leben und für das Leben nach dem Tod. Nein, es musste einen anderen Grund geben, warum er zur Rettung dieser Fremden gerufen worden war.

„Könnt Ihr schwimmen?“, brüllte er, und seine Stimme drang zu den Überlebenden des Wracks durch. „Wir werden auf Grund laufen, wenn wir noch näherkommen.“ Sie waren den Klippen ohnehin schon viel zu nahe, und er wollte seine eigenen Männer nicht mehr als nötig gefährden.

Als Antwort sprangen einige der Schiffbrüchigen in die aufgewühlte See und begannen, verzweifelt in Richtung seines Schiffes zu schwimmen. Er beobachtete mit angespannten Schultern, wie auch die Verwundeten ins Wasser sprangen. Er entspannte sich ein wenig, als er sah, dass sie von ihren unversehrten Kameraden unterstützt wurden.

Er warf ein Seil über die Reling, und seine Männer taten dasselbe.

Thorsteins Blick fiel wieder auf den kobaltblauen Umhang. Es war eine Frau, die ihn trug. Strähnen ihres aschblonden Haars klebten ihr im Gesicht. Als sie aufstand, sah er, dass sie die Haltung einer Königin hatte. Sie hielt den Kopf hoch erhoben und ihr Rückgrat gerade. Sie war groß, stellte er fest. Selbst für eine nordische Frau war sie überdurchschnittlich hochgewachsen, sie stand auf Augenhöhe mit einem rothaarigen Mann, mit dem sie zu streiten schien.

Thorstein hatte fast Mitleid mit dem Mann, als sie gebieterisch ihre spitze Nase reckte und Worte wie flammende Pfeile ausspuckte. Er beobachtete, wie der Mann diese Frau mit dem Gesicht und der Statur einer Göttin anschnauzte. Zweifellos die verwöhnte Frau des unglücklichen Reisenden. Er hatte Mitleid mit dem Mann – so eine Frau war ein Fluch, egal wie schön sie war.

Sie sprang nicht ins Wasser wie die anderen. Sie hatte die Zähne stur zusammengebissen, als sie den Mann anstarrte und den Kopf schüttelte.

Zu Thorsteins Überraschung stieß der Mann einen Schrei aus, mit dem er wohl seine Kapitulation verkündete, und sprang allein ins Wasser.

Dann sah die Frau zu Thorstein hinüber. Ihre blaugrauen Augen waren kühl und scharf, als sie ihn mit festem Blick musterte. Sie zuckte nicht zurück, wie es manche Frauen taten, wenn sie die Narbe in Form eines Kreuzes auf seiner Wange sahen, und er respektierte sie dafür umso mehr. Manche hielten es für beschämend, dass er das Zeichen der Religion ihrer Feinde trug, obwohl er selbst keine Scham empfand.

Sie wandte sich ab, und er verlor sie aus den Augen. Seine Brust fühlte sich plötzlich eng an. Wo war sie hin? Er hörte, wie das Wrack ächzte und sah, wie es in dem auflaufenden Wasser hin und her geworfen wurde. Stück für Stück brach es immer weiter auseinander, sodass das Schiff jeden Moment ganz entzweizugehen drohte. Dann käme jede Hilfe ohnehin zu spät. Er wartete mit wachsender Ungeduld darauf, die Frau wiederzusehen, aber sie tauchte nicht wieder auf.

Der rothaarige Mann wurde hustend und würgend an Bord seines Schiffes gehievt. Noch bevor er wieder zu Atem gekommen war, verlangte Thorstein eine Erklärung: „Was ist mit Eurer Frau? Die Flut kommt – das Schiff wird zerbrechen!“

Der Mann warf einen verzweifelten Blick auf das Wrack. „Sie ist nicht meine Frau! Möge das Meer sie und ihr Silber mitnehmen! Sie hat mir nichts als Unglück gebracht, seit sie mein Schiff betreten hat. Wenn Ihr vernünftig seid, werdet Ihr sie dem Meer überlassen!“

Eine seltsame Genugtuung erwärmte Thorsteins Magen bei dem Wissen, dass der Mann nicht ihr Ehemann war. Er ließ den Blick über die Männer der unglückseligen Mannschaft schweifen, die wie tote Fische auf sein Deck fielen. Keiner der Überlebenden schien ihr gewachsen zu sein, und einen Moment lang fragte er sich, ob ihr Mann im Sturm verloren gegangen war.

Er erschrak, als er merkte, wie sein Herz bei diesem Gedanken schneller schlug.

Was kümmerte ihn das? Sie würde unter dem zerberstenden Schiff ertrinken, wenn sie sich nicht bald beeilte.

Ein krachendes Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf das Wrack. Der Mast war gebrochen, die obere Hälfte war herabgestürzt und hatte das Deck und den Rumpf in zwei Teile gespaltet. Er konnte die Frau nicht sehen, aber es war nicht unwahrscheinlich, dass sie getroffen worden war.

Mit einem wilden Fluch warf Thorstein seinen schweren Mantel und seinen Waffenrock ab, trat seine Stiefel von den Füßen und sprang ins Meer.

Peng!

Gyda starrte mit schmerzenden Lungen und zitternden Fingern auf den dicken Mast, der wenige Zentimeter neben ihr gelandet war. Sie war kurz davor gewesen, einen Schritt zur Seite zu machen, um ihre Truhe mit dem Silber darin zu erreichen, als der Mast heruntergekracht war.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es möglich sein konnte, dass sie noch am Leben war. Sie waren tagelang in Wind und Regen unterwegs gewesen, durchnässt bis auf die Knochen, und dann hatten sie an den Felsen Schiffbruch erlitten. Jetzt verstand sie, warum der Steuermann alle an das obere Deck des Schiffs beordert hatte. Sie wären sonst alle heillos ertrunken, hatte sich doch der Bauch des Schiffs in Sekundenschnelle mit eisigem Wasser gefüllt. Es war ihre einzige Hoffnung gewesen, von irgendwem gesehen und gerettet zu werden.

Fast bereute sie es, auf das untere Deck geklettert zu sein, um ihr Silber zu holen, aber was sollte ihr jetzt noch geschehen? Sie waren gerettet worden – alles würde gut werden, oder? Sie musste sich nur beeilen.

Aber der schwere Mast hatte die Truhe unter sich begraben. Das scharlachrote Segel lag über ihrem Schatz wie verrottete Kleidung auf einer fast verwesten Leiche. Sie erschauderte, als sie sich an die Schreie der Männer erinnerte, die über Bord geschleudert und von der schwarzen See verschluckt worden waren, um nie wieder gesehen zu werden.

Würde das jetzt ihr Schicksal sein? Hätte sie auf den Steuermann hören sollen?

All ihre Besitztümer waren verloren. Bis auf ihr Silber. Und das Silber würde den entscheidenden Unterschied für ihre Zukunft ausmachen. Sie musste es irgendwie retten. Ohne das Silber wäre sie wieder einmal der Gnade anderer Menschen ausgeliefert. Nein, wenn es auch nur eine klitzekleine Chance gab, ihre Freiheit zu behalten, würde sie sie ergreifen, verdammt sei das Risiko!

Ein Toter wurde von dem anschwellenden Wasser herangespült, und sie versuchte, nicht allzu genau hinzusehen, aus Angst, die Nerven zu verlieren. Der Lichtschein, der von dem brennenden Baum über ihr ausging und die Morgendämmerung hatten ihr zuvor Hoffnung gegeben. Sie hatte ihre Truhe holen wollen, um ihre Zukunft zu retten. Aber jetzt, da sie durch Tod und Zerstörung watete, fragte sie sich, ob sie nicht mehr ganz bei Trost war, während sie kaum noch ihre Zehen spürte, da ihr das eiskalte Wasser in die Stiefel gedrungen war.

Ihre Finger schmerzten vor Kälte, während sie auf ihren kostbaren Besitz starrte. Der Inhalt der verschiedenen Truhen, mit denen sie diese Reise angetreten hatte und die mit den Früchten ihrer jahrelangen Arbeit gefüllt gewesen waren, lag nun verstreut auf den Felsen. Wunderschöne Gewänder und Tuniken aus kostbarer byzantinischer Seide, aufwendig gearbeitete Wandteppiche, die aus feinster Wolle gewebt waren. Luxusgüter, mit denen sie auf dem großen Markt von Jorvik hätte handeln können. Jetzt waren sie ruiniert – wie auch ihre Zukunft.

Sie hatte geplant, in Jorvik ein neues Leben zu beginnen. Mit dem Geld, das sie mit ihren Luxusgütern auf dem Markt verdient hätte, hätte sie ein unabhängiges Leben als Weberin und Schneiderin führen können – wie es nur einer Witwe möglich war. Jetzt fragte sie sich, ob sie Jorvik überhaupt jemals zu Gesicht bekommen würde.

Würden die Götter nicht mehr von ihr erwarten? Sie liebten mutige Frauen, und Viken zu verlassen, war das Mutigste gewesen, was sie je getan hatte. Waren sie wütend auf sie, weil sie als Ehefrau versagt hatte?

Sie schob die Gedanken an ihre unglückliche Ehe und ihren toten Mann beiseite und griff nach dem Fallseil, das am Mast befestigt war. Wenn sie den Mast zur Seite ziehen konnte, würde sie die kleine Truhe mit dem Silber erreichen können. Vielleicht war noch nicht alles verloren.

Eine große Welle brandete gegen die Seite des Wracks, und sie wurde von Kopf bis Fuß durchnässt. Das Schiff knackte und stöhnte wie ein sterbendes Tier, und sie zerrte mit aller Kraft an dem Seil, wobei ihre Handflächen brannten.

Sie hatte Salzwasser verschluckt, das ihr Übelkeit verursachte, und sie musste würgen. Das Gewicht ihrer durchnässten Kleidung zerrte an ihr, und sie wurde immer schwächer, während das Wasser mit erschreckender Geschwindigkeit von ihren Knöcheln bis zu ihren Knien stieg.

Mit blutigen Fingern umklammerte sie das Seil und stemmte sich mit einem Fuß auf einen zerbrochenen Kasten, um sich abzustützen. Sie würde nicht noch einmal versagen.

„Frau, seid Ihr verrückt?“, rief ein Mann von oben.

Sie blinzelte hinauf in das immer heller werdende Licht des anbrechenden Tages. Es war ihr Retter. Sie hatte ihn vorhin gesehen, wie er stolz am Bug seines Schiffes stand. Sein ganzer Körper hatte die vibrierende Energie eines Kommandanten ausgestrahlt. Er war die Art von Mann, von der sie sich genauso angezogen wie auch abgeschreckt fühlte.

„Ihr müsst da jetzt verschwinden, oder das Schiff wird über Euch zusammenbrechen!“

Sie starrte ihn schockiert an und ließ den Blick über seine imposante Gestalt gleiten, als wollte sie sich vergewissern, dass er tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein Hirngespinst.

Er hatte lange Beine, schmale Hüften und einen muskelbepackten Oberkörper. Sein langes schwarzes Haar glänzte in der Dämmerung wie Rabenflügel, und sein gebrandmarktes Gesicht war grimmig verzogen. Die durchnässte Tunika des Mannes schmiegte sich an seine Brust, und sie konnte den Schatten dunklen Haares und die Kontur der Muskeln unter dem hellen Leinen erkennen. Er war imposant und beängstigend zugleich.

Sie wandte den Blick ab, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie versuchte es, aber sie konnte den Mast nicht bewegen, egal wie sehr sie daran zog. Mit ihren von der Kälte steifen Fingern schien sie nicht mehr zupacken zu können.

„Kein Besitz ist Ihr Leben wert, Frau!“, brüllte der Mann.

Gydas Kopf schnellte bei der Ermahnung hoch. „Anstatt mich anzuschreien, könntet Ihr vielleicht helfen? Wenn Ihr den Mast anheben würdet, könnte ich die Truhe darunter hervorziehen!“

„Dafür ist keine Zeit. Die Flut ist fast da.“

„Dann schlage ich vor, dass Ihr mir entweder helft oder mich mit Euren guten Ratschlägen verschont. Denn ich werde mein Silber hier gewiss nicht zurücklassen!“, rief sie. Es war ein Risiko, und sie hielt den Atem an, während sie auf seine Antwort wartete.

Er kletterte zu ihr hinunter.

Obwohl er finster dreinblickte, konnte sie sich des Gefühls von Erleichterung nicht erwehren, das in ihr aufstieg, als er sich näherte. Sie strich sich ein paar lose Haarsträhnen aus der Stirn und straffte die Schultern. Sie hatte sich in Gegenwart von gut aussehenden Männern immer unbehaglich gefühlt, weil sie nie wusste, wie sie sie behandeln würden. Sie stellte fest, dass er für seine Größe erstaunlich behände war. Nahezu elegant und überaus flink gelang es ihm, in Sekundenschnelle zu ihr hinunterzuklettern. Erschrocken wich sie ein wenig zurück.

„Wie gesagt, wenn Ihr den Mast anheben könntet …“ Mehr konnte sie nicht sagen, da wurde sie auch schon von zwei kräftigen Armen in die Luft gehoben, und der Mann hatte sie sich über die Schulter geworfen. Vollkommen überrumpelt raubte es ihr den Atem, und sie brauchte einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln. Dann gewann ihre Empörung die Oberhand.

„Was tut Ihr da?“, schrie sie und schlug mit so viel Kraft, wie sie nach den anstrengenden letzten Stunden aufbringen konnte, auf seinen Rücken ein.

„Ich rette Euch das Leben! Und jetzt hört auf wie ein verdammter Aal zu zappeln!“

Seine schroffen Worte wurden von einem leichten Klaps auf ihr Hinterteil begleitet. Es tat nicht weh, dennoch ballte sie vor Wut die Hände zu Fäusten. „Wie könnt Ihr es wagen? Lasst mich runter!“

Er kletterte hinauf aufs Oberdeck, als wöge sie nicht mehr als ein Sack voller Federn, wobei er alles benutzte, was er zu fassen bekam, um sich hochzuziehen. Mehr als einmal brach ein Teil des Schiffes unter seiner Hand, und jedes Mal reagierte der Mann mit überraschender Leichtigkeit und brachte sich in eine bessere Position. Er war ein riesiger Bär mit der Trittsicherheit einer Ziege.

Sie hielt inne und hörte auf sich zu wehren, als ihr langsam bewusst wurde, wie kurz das Wrack wirklich vor dem endgültigen Zusammenbruch war. Sie gab es nur ungern zu, aber sie erkannte nun die gefährliche Lage, in der sie sich beide befanden, und sie begann um ihr Leben zu fürchten.

Er setzte sie oben auf dem Deck ab. Entsetzt musste sie feststellen, dass das Schiff nun komplett auf die Seite gekippt war. Als die Flut anfing, die Felsen zu überspülen, riss das Wasser ein klaffendes Loch in den Rumpf. Das Schiff neigte sich und ächzte unter der Belastung.

Gyda atmete scharf ein, als eine besonders große Welle das Holz unter ihren tauben Füßen vibrieren ließ. Sie klammerte sich an das Einzige, worauf sie sich in dieser schwankenden Welt verlassen konnte – die Arme ihres Retters. Mit den Fingern umklammerte sie seinen stahlharten Oberarm und prallte gegen ihn. Er packte sie an der Taille, und selbst durch die vielen Schichten aus Wolle und Leinen hindurch konnte sie die Stärke und Wärme seiner Hände spüren. Sie blickte zu ihm auf und sah in seine blauen Augen. Sie waren so hell wie ein Erntehimmel und ebenso tröstlich.

„Könnt Ihr schwimmen?“, fragte er, und sie nickte heftig.

Erinnerungen an lange Sommertage, an denen sie mit ihren Schwestern in den Fjorden geschwommen war, schossen ihr plötzlich durch den Kopf, wurden aber schnell wieder vom Sturm davongetragen. Sie konnte es nicht ertragen, an diese längst vergangenen Tage zu denken – nicht jetzt.

Ihre Beine zitterten unter der Intensivität seines Blickes.

Die Augen des Mannes weiteten sich leicht, und sie erkannte erst jetzt, dass es der Rumpf war, der unter ihren Füßen zitterte. Er umfasste sie fester und hob sie von den Füßen. Etwas, das sie seit ihrer Kindheit niemandem mehr gestattet hatte, geschah nun innerhalb weniger Augenblicke zum zweiten Mal, und Gyda schrie ungläubig auf, als der Mann erst sie in die aufgewühlte See warf und ihr dann mit einem Satz folgte.

2. KAPITEL

Gyda keuchte, als sie in das eiskalte Wasser eintauchte. Es gelang ihr gerade noch, etwas Salzwasser auszuspucken, bevor sie unter die Oberfläche gezogen wurde. Wie ein Kinderspielzeug wurde sie in der aufgewühlten See hin und her geworfen, und sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war, wo das Meer und wo der Himmel. Panik erfasste sie, während sich ihr Umhang und Gewand wie ein eiskaltes Leichentuch um den Körper wickelten.

Sie war dabei zu ertrinken.

Das Meer zerrte an ihrem Geist und Körper mit einer Kraft, gegen die sie nicht ankämpfen konnte, und irgendwann ließ sie sich regungslos treiben, ihr brannten die Lungen und bettelten um die Gnade eines Atemzugs.

Etwas packte sie an der Taille. Ihre Gedanken waren erfüllt von den Erzählungen ihrer Mutter über Seeungeheuer. Sie rang mit den Tentakeln, kratzte das Ungeheuer mit stumpfen Nägeln – nur um später festzustellen, dass die Tentakel in Wirklichkeit zwei starke Arme waren.

Sie kam hustend an die Oberfläche, sie war vollkommen erschöpft. Die Arme um sie waren die eines Mannes – ihres Retters. Bruchstücke des zerbrochenen Langschiffs schwammen um sie herum. Sie runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass sie wieder einmal diesem Fremden, diesem Bären von einem Mann, ihr Leben zu verdanken hatte.

Doch obwohl sie hätte dankbar sein sollen, brachte sie es nicht übers Herz, ihm zu danken. Ohne ihr Silber hatte sie nichts.

„Ich habe Euch“, sagte er und hielt sie fest im Arm und ihren Kopf über Wasser, während er zu seinem Schiff schwamm.

Sie spürte das Sonnenlicht des frühen Morgens auf ihren Wangen, und sie sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit.

Die Mannschaft griff nach ihr und zog sie schnell ans Deck. Ihre Zähne klapperten so heftig, dass sie befürchtete, sich einen Zahn auszuschlagen. Decken wurden ihr um die Schultern gelegt, die sie so fest umklammerte, dass die Knöchel an ihren Händen weiß hervortraten.

Der schwarzhaarige Fremde kletterte kurz darauf an Bord, indem er seine langen Beine mit einem dumpfen Aufprall an Deck schwang. Ohne eine Atempause einzulegen, gab er seinen Männern Befehle, schälte sich schnell aus seiner nassen Tunika und ließ sie einfach fallen.

Sein linker Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter mit blau-grünen Symbolen und Runen verziert, und Thors Hammer, Mjölnir, bedeckte die dicken Muskeln über seinem Herzen. Die Tätowierungen schienen sich unter ihrem Blick zu winden und zu pulsieren, und sie blinzelte rasch, um ihren Blick zu klären.

Er entledigte sich seiner nassen Hose und griff nach der trockenen Tunika, die ihm einer seiner Männer reichte. Als Nächstes schlüpfte er in hohe Lederstiefel und zog die Schnürsenkel mit kräftigen Bewegungen fest.

Das Schiff schwankte zur Seite, und sie hielt sich an einem Holzvorsprung fest, um dem Fremden nicht vor die Füße zu kullern.

Da fiel sein Blick auf sie, und er hockte sich vor sie hin. Abschätzend musterte er sie. Es war offensichtlich, dass ihm nicht gefiel, was er sah, denn er murmelte einen Fluch. Dann ließ er eine Hand wie eine Schlange vorschnellen und griff nach ihrem Fuß.

Sie stieß einen Protestschrei aus. „Was tut Ihr da?“, fragte sie und hasste es, sich ihm derart ausgeliefert zu fühlen.

„Ich untersuche Eure Füße“, antwortete er, während er ihr mit gekonnten Griffen die Stiefel auszog.

Beim Anblick ihrer nackten Füße atmete sie scharf ein. Sie waren so bleich wie Knochen, und ihre Zehennägel schimmerten blau. Der Mann fluchte abermals und zog die Decke, die er sich umgelegt hatte, mit einem Ruck von den Schultern. Er schüttelte sie aus und wickelte Gydas bloßen Füße und Waden darin ein, bis sie fest verpackt waren.

„Ihr solltet all Eure nassen Sachen ausziehen und Euch in trockene Decken hüllen, damit Ihr Euch nicht erkältet.“

Er nahm ein Tuch und begann, ihr Haar kräftig trocken zu reiben, als wäre sie ein Kind. Von der groben Bewegung wurde ihr schwindlig, ihre Zöpfe lösten sich und fielen ihr in einem Wirrwarr über die Schultern. Sie würde stundenlang damit beschäftigt sein, die Knoten zu lösen.

„N-n-nein“, stieß sie bebend hervor.

„Ich habe gesehen, wie Männer Gliedmaßen verloren haben, nachdem sie ins Meer gestürzt waren.“

Er hatte natürlich recht, und sie wussten es beide. Aber sie war eine einsame Frau in einem fremden Land, ohne Schutz oder Reichtum. Das Einzige, was ihr geblieben war, waren ihre Kleidung und ihr Schmuck, die sie als Frau eines Jarls auswiesen. Sie gaben ihr Macht in einer Welt, die von Männern regiert wurde. Sie waren ihr Schwert und ihr Schild. Und sie würde ihre Waffen mit Zielstrebigkeit und Stolz führen – denn wenn diese Männer merkten, wie verletzlich sie wirklich war … Nun, daran wollte sie gar nicht denken.

„Zieht wenigstens Euren Umhang aus. Sonst durchnässt er nur die trockenen Decken, und Ihr werdet auf jeden Fall krank.“

Die Vorstellung, nicht nur mittellos, sondern auch krank zu sein, ließ ihre Entschlossenheit ins Wanken geraten. Sie blickte in seine strahlend blauen Augen und fragte sich, ob sie ihm trauen konnte. Trotz seiner ruppigen Art und seiner gewaltigen Statur schien er sich aufrichtig um ihre Gesundheit zu sorgen.

Ohne den Blick abzuwenden, stand er auf und hob fragend eine Augenbraue.

Sie beschloss, den nassen Umhang auszuziehen, auch wenn ihr Stolz es eigentlich nicht zuließ. Aber sie spürte bereits, wie der Wind durch den feuchten Stoff drang, und ihr wurde immer kälter statt wärmer. Verärgert rappelte sie sich auf die Beine und weigerte sich zuzugeben, dass er recht oder Einfluss auf ihre Entscheidung gehabt hatte. Auf ihren tauben Füßen geriet sie ins Wanken, als die Erschöpfung sie zu überwältigen drohte.

Rasch packte er sie mit einer großen Hand, um sie festzuhalten, und unwillkürlich zuckte sie zusammen. Er hielt einen Moment inne und legte ihr die Hand dann sanft und warm auf die Schulter.

Sie wich seinem besorgten Blick mit grimmiger Entschlossenheit aus und begann, an der bronzenen Fibel an ihrem Umhang herumzunesteln.

„Lasst mich Euch helfen … Eure Finger sind sicher taub“, sagte er in einem beruhigenden Ton, als wäre sie ein verängstigtes Pferd.

Er griff nach ihrer Fibel. Das Muster war filigran und hatte die Form eines Raben. Vielleicht war es einer von Odins ständigen Begleitern, Munin oder Hugin.

Ihre Schultern entspannten sich, als sie einen kleinen Schritt auf ihn zuging und sich die Decken fester um die Schultern legte, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, die ihr noch ärger zusetzen würde, wenn sie erst den Umhang ausgezogen hätte. Er nahm ihr schnell die Fibel ab, und der blaue Umhang rutschte ihr von den Schultern zu Boden.

Sie war dankbar, als er die Decken, die ihr um die Schultern lagen, schnell wieder zusammenzog, um sie vor dem Wind und den Blicken der anderen Männer zu schützen.

„Niemand wird es sehen, wenn Ihr Euch bis auf die Unterwäsche auszieht“, sagte er und blickte angelegentlich zu den Möwen hinauf, die über ihnen kreisten.

Jetzt, da sie von dem durchnässten Umhang befreit war, ließ die kalte Seeluft sie heftig zittern. Sie beschloss, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als auf die Ehre dieses Kriegers zu vertrauen, und machte sich mit klammen Fingern daran, die Fibeln, die ihr dickes Wollkleid zusammenhielten, zu lösen. Aber ihre Finger schmerzten von dem Seil, und sie waren immer noch ganz steif von der Kälte. Sie hatte Mühe, nicht aufzuschreien, so sehr tat jede Bewegung weh.

Mit einem Seufzer gab sie auf. „Ich kann die Fibeln nicht öffnen … Meine Finger …“

„Haltet die Decken, ich helfe Euch.“

Sie ergriff die Ecken der Decken, und ihre Hände streiften sich. Er wich ihrem Blick aus, während er sich vorbeugte, um sich auf die Fibeln zu konzentrieren. Sie wirkten winzig in seinen Händen, und er beugte sich noch ein Stückchen weiter vor, um besser sehen zu können. Sein warmer Atem strich Gyda über den Hals, und sie musste sich auf die Lippen beißen, um sich ein Seufzen zu verkneifen.

Sie blickte nach unten, und Verlegenheit stieg in ihr auf. Sie musste schrecklich aussehen, und sein unbehaglicher Gesichtsausdruck bestätigte dies nur. Er löste jede Fibel mit so grimmiger Entschlossenheit, als ob er einen Blutegel entfernen würde. Das war ein weiterer Schlag für ihren ohnehin schon angeknacksten Stolz.

Gyda straffte die Schultern und richtete sich kerzengerade auf. Es war ihr egal, was dieser Mann – eigentlich jeder Mann – von ihr dachte.

Kein Mann würde sie jemals wieder brechen.

Es war eine grausame Quälerei, ihrer sich bei jedem Atemzug hebenden und senkenden Brust mit dem Gesicht so nahe zu sein. Es erinnerte Thorstein an eine andere Art von Intimität – eine, auf die er viel zu lange verzichtet hatte, nach den unpassenden Gedanken zu urteilen, die ihm durch den Kopf gingen.

Es war schon lange her, dass er eine Frau mit in sein Bett genommen hatte. Seit er die Große Armee verlassen hatte, verbrachte er seine Tage damit, ein verlassenes sächsisches Dorf wieder aufzubauen in der Hoffnung, dass daraus irgendwann eine wohlhabende Siedlung würde. Er hatte bewiesen, dass das Vertrauen seines Jarls in ihn richtig war, und bald würde er mit einem Bündnis und einer Braut belohnt werden, die sein Jarl für ihn ausgewählt hatte.

Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, alles dafür zu tun, sein Ziel zu erreichen, dass er sich für nichts anderes Zeit genommen hatte.

Jetzt tat er es, in dem er plötzlich wie gefangen war von der fremden Frau vor ihm.

Als ihr das Kleid zu Füßen fiel, musste er einen Kloß, der sich ihm in der Kehle gebildet hatte, herunterschlucken. Ihr nasses Unterkleid schmiegte sich eng an ihren Körper und offenbarte jede Kurve sowie den Schatten ihrer harten Brustwarzen unter dem weißen Leinen. Sie sah aus wie die fleischgewordene Fruchtbarkeitsgöttin Freya.

Ein plötzliches Verlangen schoss ihm durch die Adern, das ihm die Knie schwach werden ließ. Er hob seinen Blick und sah eine Bernsteinkette um ihren Hals hängen. Das Schmuckstück zeigte ihm, dass sie weit über ihm stand. Es war ein eindeutiges Symbol ihres Reichtums und ihres Status.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er es nicht gewagt hätte, einer Frau ihres Ranges in die Augen zu sehen. Um seiner Vergangenheit zu trotzen, schaute er ihr jetzt als Gleichgestellter direkt ins Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick kühl und durchdringend wie eine Klinge.

Er drückte ihr die Fibeln mit mehr Kraft in die Hand, als er beabsichtigt hatte, und schämte sich für sein plötzliches Verlangen nach ihr. Ich bin nicht mehr namenlos und arm, erinnerte er sich und atmete tief die kühle Seeluft ein.

„Ich bin der Herr dieses Schiffes und der Siedlung, die wir bald erreichen werden, Thorstein Bergson. Auch bekannt als Thorstein der Verbrannte.“ Sie blinzelte, als er die Narbe erwähnte, aber wie zuvor reagierte sie nicht weiter auf den Anblick des in sein Gesicht eingebrannten Feindsymbols. Sie wandte den Blick langsam und so ungerührt ab, als hätte er darüber gesprochen, dass er schwarzes Haar oder blaue Augen hatte. Sie schien ihn ohne Mitleid oder Abscheu zu betrachten, und aus irgendeinem Grund weckte das in ihm den Wunsch, mehr über sie und ihre Gedankenwelt zu erfahren.

„Wer seid Ihr und was führt Euch nach England?“

Als sie sprach, war ihre Stimme trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung fest und klar. „Ich bin Gyda Ynglingdóttir, die Witwe von Jarl Halvorson von Njardarheimr.“

Bei dem Wort „Witwe“ flackerte warmes Interesse in seiner Brust auf, aber er versuchte, es zu ignorieren. Sie hatte mit nur wenigen Worten so viel gesagt. „Yngling? Die königliche Familie, von der Freya abstammt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Eine entfernte Verwandte, aber meine Mutter wollte, dass meine Schwestern und ich den Namen tragen.“

Eine sehr entfernte Verwandte, wie es sich anhört, dachte er und konnte nicht verhindern, dass sich seine Lippen spöttisch verzogen. „Ah, ich verstehe …“

Er stellte sich vor, dass ihre Mutter diese entfernte Verbindung zur königlichen Dynastie genutzt hatte, um ihrer Tochter eine vorteilhafte Heirat mit einem Jarl zu verschaffen. Sie biss sich unter seinem wissenden Blick auf die Lippen und hielt dann das Gesicht in den Wind, wobei sich ihr Gesicht blass von dem Weiß ihres Kleides abhob.

Er legte die Decken noch einmal sorgsam um sie. „Setzt Euch und ruht Euch aus. Bald werden wir in meiner Siedlung sein.“

Sie schwankte leicht, bevor sie sich setzte, und einen Moment lang kehrte seine Sorge um ihr Wohlbefinden zurück. Doch sie richtete sich schnell wieder auf und reckte in einer hochmütigen Geste das Kinn.

„Ich war auf dem Weg nach Jorvik“, sagte sie. „Sind wir in der Nähe?“

„Weniger als einen Tag von meinem Land entfernt den Fluss hinunter.“ Er hielt inne und dachte daran, dass sie gesagt hatte, sie sei Witwe. „Ich habe von Jarl Halvorson gehört. Er hat sich bei den ersten Kämpfen in England gut geschlagen.“ Thorstein kannte den Mann nicht persönlich – der Wikinger hatte lange vor Thorsteins Zeit in England gekämpft – aber Sven hatte immer mal wieder von ihm gesprochen. Sven war ein entfernter Verwandter des Jarls. Gyda schien das Lob, das er ihrem Mann ausgesprochen hatte, nichts zu bedeuten … vielleicht, weil er seine größten Heldentaten vollbracht hatte, bevor sie überhaupt zur Welt gekommen war.

Aus bitterer Erfahrung kannte Thorstein die Gründe, aus denen eine arme Frau ohne Beziehungen oder Reichtum erpicht darauf war, einen Jarl zu heiraten. Aber eine schöne Frau von Rang … Hätte sie nicht einen Mann ihrer Wahl haben können?

Sein Blick fiel auf die verschnörkelte Bernsteinkette, die sie um den Hals trug. Njardarheimr war ein wohlhabender Hafen, gelegen an einer der nördlichen Handelsrouten, und als Frau des verstorbenen Jarls hätte sie alles haben können, was die Welt an Luxus zu bieten hatte. Warum nur hatte sie ihre Heimat verlassen? Wollte sie ein neues Leben beginnen, mit einem anderen Mann?

„Ich habe einen der Söhne Eures Mannes kennengelernt … Ragnar. Aber wenn Ihr nach ihm sucht, das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er im Süden nach Ruhm strebt.“

Jarl Halvorsons Sohn Ragnar war älter als sie, also konnte es unmöglich ihr Sohn sein. Thorstein hatte ihn nur ein paarmal getroffen, bei den Versammlungen der Jarls. Ragnar war ihm immer als grausamer und selbstsüchtiger Krieger aufgefallen, aber er war gut aussehend und reich. Er nahm an, dass das für die meisten Frauen von Bedeutung war.

„Ich weiß.“ Ihr Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, als wollte sie ihm auf gar keinen Fall preisgeben, was in ihr vorging.

Er wartete darauf, dass sie noch etwas hinzufügte, aber sie blieb still.

„Ist Euer Mann auf See gestorben?“, fragte er sanft, neugierig, warum sie überhaupt nach England gekommen war.

„Nein, er ist zu Hause gestorben.“

Das Aufflackern der Wärme, das er zuvor gespürt hatte, intensivierte sich, aber er ignorierte das Gefühl und verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Reling und musterte die Frau. Ihr Gesicht hatte eine gesündere Farbe angenommen, obwohl er vermutete, dass sie ohnehin ein blasser Typ war, und er würde sie im Auge behalten müssen, um sicherzustellen, dass sie kein Fieber bekam.

„Was wollt Ihr in Jorvik? Warum habt Ihr die beschwerliche Reise auf Euch genommen?“

„Ich wollte ein neues Leben beginnen.“

Sie seufzte, und er bemerkte, dass sie nicht auf das nahende Ufer blickte, sondern zurück auf das zerbrochene Wrack bei den Felsen. Ihre Augen waren vom Meerwasser gerötet, es konnten keine Tränen sein, dafür wirkte sie zu gefasst. Oder täuschte er sich?

„Ich habe alles verloren.“

Er stellte fest, dass er das Feuer vermisste, mit dem sie sich vorhin gegen ihn gewehrt hatte … diese Resignation war beunruhigend.

Er schnaubte abfällig. Es würde ihr gut gehen. Sie trug teure Kleidung und Schmuck. Sie war eine Frau von Rang, mit Beziehungen und Schönheit. Sie würde nicht lange arm sein.

Er kannte das wahre Elend. Als Hungersnot und Krankheit ihm seine Familie geraubt hatten. Als ihm von den Feinden das Kreuz ins Gesicht gebrannt worden war. Als Thora ihn verwundet und fiebrig zurückgelassen hatte, unsicher, ob er die Nacht überhaupt überleben würde.

Der Verlust von ein paar Habseligkeiten und etwas Silber war nichts im Vergleich dazu, vor allem, wenn sie beinahe ihr Leben verloren hatte.

Er blickte zum Horizont und war erleichtert, als er sah, dass sie sich der Anlegestelle aus Holz näherten. Er zog seinen Mantel, den er sich inzwischen wieder übergeworfen hatte, fester um sich, als der Wind ihm ins Gesicht peitschte.

Sein Land war ihm immer ein willkommener Anblick. Er hatte große Risiken auf sich genommen, um es zu erhalten. Einige seiner Pläne waren von Erfolg gekrönt gewesen, andere nicht so sehr …

Er hatte sich von einem namenlosen Jungen in der Großen Armee zu einem von Jarls und Königen respektierten Krieger entwickelt. Die meisten Männer kämpften für den Ruhm. Aber Land zu besitzen war immer sein höchstes Ziel gewesen. Und für seine Rolle bei der Einnahme von Jorvik war Thorstein reich belohnt worden. Die Siedlung stand unter seiner Herrschaft.

Er hatte mehr gewonnen, als er sich je hätte vorstellen können, als er als unerfahrener Jüngling Kattegat verlassen hatte, um in England auf Raubzug zu gehen. Seine Siedlung war reich gesegnet mit fruchtbarem Land, ertragreichen Feldern und warmen Sommern, und das Meer war voller Fische. All das gehörte ihm, um es zu ernten und zu mehren, und es würde gedeihen. Es würde ein einfaches und erfülltes Leben sein, das er auf seinem eigenen Flecken Erde führen würde.

Er kannte seine Zukunft, und in der kam keine verwöhnte, oberflächliche Schönheit aus seiner Heimat vor – vor allem keine, die nur nach Juwelen und Luxus strebte. Sein Jarl würde ihm eine Frau anbieten. Zweifellos eine Sächsin, verwandt mit Svens eigener Frau. Ihr Bündnis würde durch eine Heirat besiegelt werden, und Thorsteins Land und Status wären für immer gesichert.

Thorstein wandte sich von ihr ab und blickte in Richtung des herannahenden Hafens. Er fragte sich, warum ihm der Gedanke, dass sie traurig sein könnte, derartig zusetzte. Er hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Er hatte ihr das Leben gerettet – es lag nicht in seiner Verantwortung, sich auch um ihre Zukunft zu kümmern. Ein Mensch musste sich um sein eigenes Schicksal kümmern.

Er räusperte sich laut und antwortete: „Das Leben ist voll von Enttäuschungen.“

3. KAPITEL

Als sie am Hafen festmachten, sah Gyda, dass mehrere Frauen und Kinder mit gefalteten Händen und suchenden Gesichtern warteten. Sobald sie sich von der Wohlbehaltenheit ihrer Lieben überzeugt hatten, setzten sie sich in Bewegung und begleiteten die Überlebenden des Schiffsbruchs, die zum Teil verletzt waren, in die Wärme der Großen Halle, um sie dort zu versorgen.

Thorstein war ein großes Risiko eingegangen, um sie und die Männer ihres Schiffs zu retten, die nicht gleich ihr Leben gelassen hatten. Das wusste Gyda. Es war ein ernüchternder Gedanke. Wenn Thorstein ihnen nicht zu Hilfe gekommen wäre, wären sie dort draußen gestorben, dessen war sie sicher.

Sie zitterte immer noch am ganzen Leib, ihre Hände schmerzten und ihre Zehen brannten heftig. Sie atmete mehrmals tief durch und hoffte, dass sie genug Kraft zum Gehen aufbringen konnte. Sie bückte sich, um die Decke von ihren Beinen zu wickeln, aber sie erstarrte in der Bewegung, als Thorstein dicht an ihrem Ohr sprach. „Lasst sie, wo sie ist. Ich werde Euch tragen.“

Sie überlegte, ob sie gegen sein Angebot protestieren sollte, aber als sie die Wärme seiner Arme spürte, die sich um ihren Körper legten und sie festhielten, hatte sie nicht die Kraft, sich gegen ihn zu wehren, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Er drückte sie an seine Brust, richtete sich auf und sprang auf den Steg hinunter, wieder so, als ob sie nicht mehr wöge als ein Sack voller Federn. Eine eiskalte Böe peitschte ihr ins Gesicht und zerzauste ihr das helle Haar. Unbewusst schmiegte sie sich fester an Thorstein, um sich vor dem Wind zu schützen. Sie roch das Salz des Meeres gemischt mit dem erdigen Duft, der von seiner Haut ausging.

Er schloss seine Arme um sie, wobei er ein wenig ins Stolpern geriet. Sie umklammerte den Stoff seiner Tunika, wodurch sich der ein wenig verschob und einen Blick auf seine tätowierte Brust freigab.

„Ich bin sicher, dass ich allein zur Halle gehen kann“, flüsterte sie atemlos vor Verlegenheit darüber, wie unangenehm es für ihn sein musste, sie zu tragen, schließlich war sie keine kleine Frau. Zweifellos war das der Grund, warum er gestolpert war. Sich über ihre Größe lustig zu machen, war eine von Halvors Lieblingsbeschäftigungen gewesen.

Sie blickte vorsichtig nach oben und stellte mit Erstaunen fest, dass sein Gesichtsausdruck vollkommen gelassen war.

„Mir geht es gut. Ich habe einen Stein übersehen, das ist alles.“ Er schritt auf die Halle zu, den Blick fest nach vorn gerichtet.

Sie schaute sich in der Siedlung um, während sie sich ihrem Ziel näherten. Das Dorf war groß, mit mehreren Langhäusern, Nebengebäuden und Lagerstätten, die die Große Halle umgaben. Wo immer sie hinsah, wurde gearbeitet, und die Menschen schienen glücklich und gesund zu sein.

Es war ein schöner Ort, um eine Familie zu gründen. Der Magen zog sich ihr bei dem Gedanken zusammen.

Sie wünschte, sie wäre an einem solchen Ort aufgewachsen statt am Hof ihres ehrgeizigen Vaters. Vielleicht wäre sie dann mit einem jungen, starken Bauern wie Thorstein verheiratet worden und nicht mit einem Mann, der dreimal so alt gewesen war wie sie. Jetzt hatte sie nichts mehr – nicht einmal ihr Silber oder ihre Wandteppiche, mit denen sie ihren Lebensunterhalt hätte bestreiten können, indem sie alles verkauft hätte.

Sie würde sich auf die Gnade ihres Schwagers verlassen müssen. Und wieder abhängig sein von den Launen eines Mannes.

Die Große Halle schien erst kürzlich gebaut worden zu sein, die Farben waren noch satt und leuchtend und nicht ausgeblichen. Zierrat oder Wandteppiche suchte man vergeblich – der Ort war fast streng in seinem Mangel an Komfort – aber er war großzügig angelegt, mit einer zentralen Feuerstelle, die aus mehreren Feuern bestand.

Zu beiden Seiten der Halle befanden sich die üblichen Innenräume für die Lagerung verschiedener Dinge, und dem angenehm frischen Geruch nach zu urteilen, der in der Halle herrschte, sah es so aus, als würden die Tiere in einem anderen Gebäude gehalten. Jeder Innenraum war mit Doppeltüren versehen, um die Zugluft fernzuhalten, aber sie waren niedrig genug, um das Morgenlicht aus dem großen Rauchloch darüber einzulassen. Tatsächlich war es in der Halle ungewöhnlich hell, was Gyda als sehr angenehm empfand. Im hinteren Teil der Halle waren an zwei weiteren Doppeltüren Waffen ausgestellt, von denen sie annahm, dass sie den Eingang zu den Gemächern des Anführers der Siedlung markierten.

Es war ein wunderschönes Langhaus. In ihrer Vorstellung füllte sie die Wände mit ihren eigenen Wandteppichen. Sie platzierte den Hirsch hier und den Bären dort. Eine Welle der Übelkeit überkam sie, als ihr klar wurde, dass sie diese Wandteppiche nie wiedersehen würde, geschweige denn, dass sie sie in einer so schönen Halle wie dieser aufhängen würde.

„Ich kann mir vorstellen, dass unsere Halle im Vergleich zu dem Luxus, den Ihr gewohnt seid, einen armseligen Anblick bietet“, sagte Thorstein und presste die Lippen aufeinander.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Wahrheit war, dass seine Halle im Vergleich zu Halvors einfach war. Es gab keine feinen Pelze, keine kunstvollsten Schnitzereien – oder überhaupt irgendwelche Schnitzereien.

Es gab weder Wandteppiche noch sonst irgendwelche Schätze, zumindest konnte sie keine sehen. Aber die Halle war trotzdem schön in ihrer praktischen Schlichtheit.

Wie sollte sie ihm sagen, dass sie froh über ein solches Heim wäre, ohne dass es bitter geklungen hätte? Dass sie lieber in einer Höhle leben würde als jemals wieder zusammen mit einem Mann, der sie hasste?

Sie schloss den Mund, zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und wich seinem Blick aus. Sie hörte, wie er irritiert mit der Zunge schnalzte, weigerte sich aber hartnäckig etwas zu sagen. Lieber unhöflich als schwach erscheinen. Sie musste diesen Mann an ihren Status erinnern. Ihre Verbindungen. Ohne ihren Reichtum war sie verwundbar.

Er setzte sie auf einer der Bänke neben dem Feuer ab und verließ dann zügig die Halle, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Die nächste Stunde verging wie im Flug, während die Frauen der Siedlung sich um die Überlebenden des Schiffbruchs kümmerten.

Nach einer Schüssel mit stärkender Brühe wurde Gyda in Thorsteins Gemächer geführt, um sich umzuziehen.

„Ihr seid sehr groß … Ich bezweifle, dass wir etwas haben, das Euch vernünftig passt“, sagte eine der Frauen, als sie Gyda half, das Kleid auszuziehen. „Aber wir können Eure Kleidung waschen und trocknen, während Ihr Euch ausruht, und dann könnt Ihr sie sofort wieder anziehen. Ich habe Euer Gewand und Euren Umhang vom Langschiff geholt, und sie werden gerade schon gewaschen.“

„Danke“, sagte Gyda matt.

Die Erschöpfung hatte sie jetzt fest im Griff, und sie fühlte sich wie benommen. Wenigstens war ihr endlich wieder warm, und ihre Zehen hatten zum Glück wieder ihre normale Farbe angenommen.

„Komm, legt Euch hin, Herrin“, sagte die Frau namens Elga.

Gyda vermutete anhand ihres Namens, dass sie Sächsin war, obwohl sie nur einen leichten nordischen Akzent hatte.

Elga half ihr beim Anziehen eines groben Wollkleides. Es war in der Taille zu weit und an den Beinen zu kurz, aber es war warm und gemütlich. Dann führte Elga sie zu einem riesigen Bett, das einfach gearbeitet und von einem Baldachin umgeben war, um die Kälte abzuhalten.

„Aber das ist das Bett Eures Anführers Thorstein! Ich kann hier nicht schlafen.“

Es war ein schwacher Protest, während sie sehnsüchtig auf die Bettstatt mit den vielen Fellen und weichen Wolldecken starrte. Es sah wirklich gemütlich und einladend aus …

„Thorstein braucht es jetzt nicht. Er ist unterwegs, um von Eurem Schiff zu bergen, was sich nicht das Meer geholt hat.“

„Thorstein?“ Sie schöpfte neue Hoffnung, aber sie sah, wie die Miene der Dienerin vor Mitleid weich wurde.

„Ich würde mir an Eurer Stelle nicht allzu viel erhoffen. Das Meer und die Felsen werden das meiste schon an sich genommen haben.“

Elga schob sie in Richtung des Bettes, und Gyda kletterte hinein und legte sich hin. Es war wirklich riesig, und selbst so groß wie sie war, hatte sie genug Platz, um sich auszustrecken, ohne an den Bettkasten zu stoßen. Es war eindeutig ein Bett für zwei, obwohl sie bislang nicht den Eindruck gewonnen hatte, er wäre verheiratet.

Elga deckte sie zu, als wäre sie ein Kind – eine beruhigende Geste, die Gyda daran erinnerte, wie sie vor langer Zeit ihre eigenen Schwestern zugedeckt hatte.

Elga war eine einfache Frau, aber sie hatte auffallend große braune Augen und hübsche Sommersprossen auf der Nase. Ihre vollen kastanienbraunen Locken glänzten. Ihre Kleidung entsprach nicht der Frau eines Anführers, aber vielleicht hielt Thorstein es auch nicht für nötig, seine Frau fein und kostspielig zu kleiden. Seine eigene Kleidung war schlicht und zweckmäßig.

„Seid Ihr seine Frau?“, fragte sie.

Elga schüttelte lachend den Kopf. „Unser Anführer ist nicht verheiratet.“ Sie hielt inne und neigte dann verschwörerisch den Kopf. „Er war einmal verheiratet, aber das ist lange her … bevor er sich hier niederließ.“

„Seine Frau ist gestorben?“ Mitleid durchflutete Gyda. Sein Verlust tat ihr unendlich leid. So viele Frauen starben viel zu früh, die meisten von ihnen während oder nach einer Geburt, wie ihre Schwestern. 

„Sie war wie du – eine nordische Frau. Sie sind geschieden.“

Elga sagte dies in einem leisen Ton, der Gyda zum Lächeln brachte. Sie wusste, dass die Sachsen sich nicht so leicht scheiden lassen konnten wie die Norweger. Dort war eine Scheidung gültig, wenn die Auflösung der Ehe in der Öffentlichkeit erklärt worden war, und die Eheleute mehr als sechs Nächte getrennt voneinander gelebt hatten. Halvor hatte oft genug damit gedroht, aber damit hätte er sein eigenes Versagen eingestehen müssen, und das wäre natürlich niemals infrage gekommen.

„Ruht Euch aus, Herrin. Ich bringe Euch Eure Kleider so gut wie neu zurück.“

Elga ging und schloss die Tür hinter sich. Eine kleine Feuerstelle spendete ein wenig Licht. Gyda ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in die Felle sinken. Die Matratze war dick und bequem, und es roch nach aromatischen Kräutern und frischem Stroh.

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