Romana Weekend Band 20

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ZEIT DER HOFFNUNG – ZEIT DER LIEBE von MIRA SCHNEEWEISS

Die junge Witwe Mathilda ist verzweifelt: Bankdirektor Max Kückelhofen lehnt den rettenden Kredit für ihren Alm-Hof in den Tiroler Bergen endgültig ab. Ausgerechnet vor Weihnachten! Aber warum besucht er sie dann? Allein mit ihm in einer Winternacht, schöpft sie neue Hoffnung …

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Schneechaos in Quedlinburg, fast alle Buchungen storniert! Als ihr geheimnisvoller Gast Hannes im Foyer leise auf dem Klavier spielt, vergisst Hotelbesitzerin Amy alle Sorgen – sogar die Enttäuschung über ihren Ex. Ein Fehler? Kaum vertraut sie Hannes ihr Herz an, muss sie entdecken, dass auch er sie belügt …


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  • Erscheinungstag 02.11.2024
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 8038240020
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Mira Schneeweiss

1. KAPITEL

Berger Almhof in den Tiroler Bergen und Thiersee, Tirol, Freitag, 6. Dezember

Die Barbarazweige waren eingebracht und standen in einer Vase neben dem Ofen in der Wohnküche. Ein zweiter Strauß stand in der guten Stube. Mathilda Seidl sog den Duft nach Tannengrün und Punsch ein. Vorgestern, am vierten Dezember, war sie, dem Brauch entsprechend, mit ihren Töchtern Antonia und Emily sowie deren Großmutter in den Schneeregen hinausgegangen und den Berg hinuntergewandert, um Apfel- und Kirschbäume zu beschneiden und aus den Zweigen drei schöne Sträuße zu binden.

Die große bodentiefe Vase in der guten Stube, in der der dickste Strauß stand, stammte noch von den Vorbesitzern des Alm-Hofs, deren nicht ausgeräumte Dachböden einen wahren Schatzfundus offenbarten. Mathilda war einmal mehr dankbar für all die wundervollen Dinge, die sie dort oben schon gefunden hatte.

Antonia und Emily hatten ebenfalls eine kleine Vase mit Zweigen in ihrem Spielzimmer, das sich an die große Wohnküche anschloss, wo der dritte Strauß stand. Das gesamte Gebäude war aus Holz gebaut; Wände, Böden und Dach knarrten, sobald sich das Wetter änderte, weil das alte Holz dann arbeitete.

Jetzt galt es, auf Weihnachten zu warten, denn wenn die Barbarazweige ausschlugen und am Heiligen Abend zu blühen begannen, wurde das kommende Jahr ein glückliches, so jedenfalls sagte es die Legende. Und wenn Mathilda eins gebrauchen konnte, dann Glück. Sie wusste allerdings, dass sie sich nicht allein auf die blühenden Barbarazweige verlassen durfte. Heute stand ihr ein schwerer Gang bevor.

Mathilda umarmte noch einmal ihre Schwiegermutter Sonja, die ihr über den Rücken streichelte. „Wenn du um fünfzehn Uhr unten sein willst, solltest du dich auf den Weg machen. Es hat schon wieder angefangen zu schneien.“

„Ich danke dir. Ohne dich würde ich das alles nicht schaffen.“ Mathilda löste sich aus der Umarmung und schluckte gegen die Tränen an, die diese liebevolle Geste in ihr aufsteigen ließ. Sie sah zum Fenster hinüber. Schneeflocken wehten gegen die Scheibe.

„Ich sollte wirklich langsam los“, seufzte sie. „Im Tal wird das als Regen runterkommen.“

Ihre Schwiegermutter nickte. „Fahr trotzdem schön vorsichtig. Bestimmt sperren sie bald die Passstraße. Die wird niemand streuen.“

Mathilda wusste, dass Sonja recht hatte. Der Hof lag direkt an der Passstraße und war bis vor fünfzig Jahren eine reine Alm gewesen, daher wurde er im Volksmund auch Alm-Hof genannt. Die Vorbesitzer hatten irgendwann ihren Bauernhof im Tal verkauft und aus der ehemaligen Alm einen eigenen Betrieb gemacht, weil er – anders als die meisten Almen – über die Passstraße gut erreichbar war. Nur im tiefen Winter kam es immer wieder vor, dass das Anwesen für einige Tage oder auch Wochen komplett von der Außenwelt abgeschnitten war. Der Alm-Hof war also eine Alm, die auch im Winter bewirtschaftet wurde und deshalb deutlich größer war als die üblichen Almen der Gegend.

Mathilda nahm ihre Winterjacke, die schon bessere Zeiten erlebt hatte, und schlüpfte hinein. Dann durchquerte sie die große Wohnküche und trat zur hinteren Tür, die in das Kinderzimmer ihrer Töchter führte.

„Mami muss weg. Oma passt auf euch auf“, rief sie. „Seid schön lieb, ja?“

Trippelnde Schritte ertönten. Kurz darauf steckten zwei identisch aussehende sechsjährige Mädchen ihre Köpfe um die Ecke.

„Na gut, du darfst fahren“, erklärte Antonia, die eine halb angezogene Puppe in der Hand hielt, als müsse ihre Mutter glücklich über die Erlaubnis sein. „Bringst du mir denn auch was mit, Mami?“ Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihre Mutter zu.

Mathilda drückte sie an sich und küsste ihre Tochter auf die Stirn. „Ach, Schatz, es ist doch bald Weihnachten. Deswegen dürfen wir jetzt gar keine Geschenke mitbringen. Damit der Weihnachtsmann auch für alle Kinder genug zum Verteilen hat.“

„Jedes Kind soll ein Geschenk vom Weihnachtsmann bekommen.“ Antonia nickte verständnisvoll und mit so viel Ernst in den Augen, dass Mathilda lächeln musste.

„Ich will nicht, dass du gehst!“ Emily stampfte mit ihren Beinchen auf den Boden, Tränen kullerten über ihre Wangen. „Ich komme mit!“

„Oh, Schätzchen, Mami hat einen ganz langweiligen Termin.“ Mathilda bückte sich zu ihrer anderen Tochter hinunter. „Du kannst mit Oma gleich in den Stall gehen und beim Melken und Füttern helfen. Das machst du doch so gerne.“

„Aber ich will, dass du mit mir in den Stall gehst“, sagte Emily und stieß ein herzzerreißendes Schluchzen aus.

„Was haltet ihr zwei davon, wenn wir Plätzchen backen?“, mischte sich Sonja jetzt ein und hockte sich vor den beiden Mädchen auf den Boden.

„Oh ja!“ Antonia war sofort Feuer und Flamme. „Ich will Tiroler Almnüsse backen.“

„Einverstanden.“ Sonja lachte. „Das sollten wir hinkriegen.“ Dann wandte sie sich an Antonias Zwillingsschwester. „Was meinst du, mein Schatz? Möchtest du auch Almnüsse backen?“

Mathilda lief das Wasser im Mund zusammen, als sie an die in Zimt und Zucker gewälzten und in Butterschmalz ausgebackenen Gebäckkugeln dachte.

Emily schüttelte trotzig den Kopf. „Ich will mit Mama in die Stadt fahren.“

Mathilda unterdrückte ein Seufzen. Es fiel ihr selbst schwer, sich von den beiden Mädchen zu trennen. Das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass die zwei einen schweren Start ins Leben gehabt hatten, und auch wenn Mathilda sich bemühte, alles zu tun, um diese Nachteile auszugleichen, schaffte sie das immer nur zu einem kleinen Teil. Natürlich hatte sie ursprünglich geplant, die Zwillinge nach Thiersee in einen Kindergarten zu schicken, aber daran war in den letzten Jahren nicht mehr zu denken gewesen. Mathilda hatte so viel arbeiten müssen, dass sie es einfach nicht schaffte, jeden Tag morgens und mittags die knapp halbstündige Fahrt in die Stadt hinunter anzutreten. Und auch, wenn die Tiere jetzt bis zum Frühjahr im Stall blieben, fiel dennoch genug Arbeit an.

Aber im nächsten Sommer würden Antonia und Emily in die Schule kommen, dann blieb Mathilda nichts anderes übrig, als die Mädchen täglich ins Tal zu bringen.

„Ich verspreche, wenn ich nachher wieder da bin, gehen wir gemeinsam in den Stall, einverstanden?“ Mathilda küsste beide Mädchen noch einmal auf die Wangen und richtete sich dann an ihre Schwiegermutter. „Ich danke dir. Ohne dich wüsste ich wirklich nicht, was ich tun sollte.“

„Ach was.“ Sonja winkte ab, richtete sich wieder auf und legte jedem Mädchen eine Hand auf die Schulter. „Du bist eine starke Frau, Mathilda. Das beweist allein die Tatsache, dass du es bis hierhergeschafft hast.“

Mathilda lächelte traurig und schloss den Reißverschluss ihres Anoraks. Jetzt war es erst mal wichtig, dass sie darum kämpfte, dass sie und ihre Töchter auch hier bleiben konnten, sonst hätte all ihre Stärke nicht viel genützt. Entschlossen drehte sie sich um und marschierte aus dem Haus.

Die Unterlagen und Aktenordner, die sie für diesen entscheidenden Termin brauchte, hatte sie bereits heute Morgen auf den Beifahrersitz ihres klapprigen VW-Busses gelegt. Vor der Almhütte, die traditionell aus großen runden Holzbalken gebaut worden war und zwei Stockwerke umfasste, schlug ihr die Kälte entgegen. Schnell schlüpfte sie in ihre Handschuhe und zog die Mütze über ihr mahagonifarbenes langes Haar, das sie heute ausnahmsweise einmal offen trug. Im Stall oder auf der Weide und auch bei der Käse-, Topfen- oder Butterherstellung musste sie natürlich immer alle Haare unter einer Haube verbergen oder zu einem Zopf flechten. Die hygienischen Bestimmungen waren streng, und Mathilda hielt sich exakt daran.

Schneeflocken wirbelten ihr ins Gesicht, als sie jetzt über den Kiesvorplatz des Hofes zum Wagen lief. Vor ihr breitete sich die Berglandschaft aus. Die gegenüberliegenden Berge waren bereits bis weit hinunter weiß bestäubt. Unten im Tal lag die kleine Stadt Thiersee, wo schon jetzt, um Viertel nach zwei am Mittag, die ersten Lichter angegangen waren. Noch hatte der Schnee es nicht bis ins Tal geschafft, aber in den nächsten Tagen sollte es kälter werden, dann würden auch die Straßen der Stadt eingeschneit sein.

Wilde Entschlossenheit durchströmte sie, als sie in den eiskalten Bulli stieg. Von hier aus konnte sie bis ins Tal hinuntersehen. Wanderwege führten dicht an der Berg-Alm vorbei und höher in die Alpen hinauf. Der Hof lag knapp unterhalb der Baumgrenze, weshalb hier Kiefern, Pinien und Birken standen. Aber hundert Meter weiter oben gab es nur noch Gestrüpp und Bergblumen. Mathilda liebte diese Aussicht, den Blick vor dem Fenster ihres Busses. In diesen Ort hatte sie sich vor zehn Jahren verliebt. Und seit sieben Jahren gehörte ihr diese Alm. Heute nun musste sie dafür kämpfen, dass sie und ihre Töchter ihr Zuhause nicht verlieren würden. Damals hatten sie sofort gewusst, dass sie hier, an diesem Ort, alt werden wollten, niemals hätte sie ahnen können, was in der Zwischenzeit geschehen würde.

Als sie noch einmal zum Haus sah, musste sie unwillkürlich lächeln. Drei Gesichter waren am Fenster zwischen den rot-weiß karierten Vorhängen aufgetaucht; Sonja, Antonia und Emily winkten ihr zum Abschied zu. Mathilda lachte und reckte die Daumen nach oben, um eine Zuversicht zu demonstrieren, die sie nicht verspürte.

Eigentlich war es entwürdigend, dass sie um Geld betteln musste, obwohl sie eine gut gehende Bio-Alm mit Gütesiegel betrieb.

Seufzend startete sie den Motor. Ein nicht gerade vertrauenerweckendes Rattern erklang, dann setzte sich das alte Gefährt jedoch zuverlässig in Bewegung.

Sie betätigte die Scheibenwischer und steuerte den Wagen auf die kurvenreiche enge Passstraße den Berg hinunter. Um diese Jahreszeit, Anfang Dezember, war es hier ruhig. Aber in wenigen Wochen würden die Hänge um sie herum von Skifahrern bevölkert sein. Mathilda selbst besaß einige Weiden, die sie im Winter an einen Pistenbetreiber vermietete, wenn ihre Kühe und Ziegen ohnehin im Stall blieben. Auf diese Weise brachten die Hänge auch noch ein bisschen Geld ein. Sie sah in den Himmel hinauf und betrachtete die dunklen Wolken, die über dem Tal hingen. Vermutlich würde es in den nächsten Wochen kräftig weiterschneien, und dann würde der Schnee bis ins Tal hinunter dick liegen bleiben. Was wiederum dem Tourismus guttun würde.

Ihre Gedanken wanderten zu ihren Plänen. Bald wollte auch Mathilda noch mehr von den Touristen profitieren. Sie plante schon länger, einige Zimmer an Urlauber zu vermieten. Der Alm-Hof war groß, allein das Wohnhaus hatte beinahe dreihundert Quadratmeter. So viel Platz brauchten sie und die Mädchen nicht, und seit sie nur noch zwei Mitarbeiter hatten, standen auch die ehemaligen Gesinde-Wohnungen über dem großen Stall leer. Willy und Michel, die beiden Männer, die noch für sie arbeiteten, hatten Frau und Kinder in Thiersee, sie kamen früh am Morgen auf den Berg und fuhren am Abend wieder ins Tal.

In Gedanken versunken lenkte Mathilda den VW-Bus vorsichtig die schneebedeckte Straße hinunter. Die kahlen Bäume waren mit einer dicken weißen Schicht überzogen, was wunderschön aussah. Sie war ihrer Schwiegermutter dankbar, dass sie so kurzfristig bereit gewesen war, ihr unter die Arme zu greifen. Mathilda hatte schweren Herzens drei junge Mitarbeiter über den Winter entlassen müssen. Normalerweise wurde auch in den kalten Monaten jede Hand gebraucht, denn dann reparierte man Zäune und Tränken, half beim Präparieren der Pisten, machte Holz und bereitete alles für das kommende Frühjahr vor. Und nebenbei war noch der normale Tagesbetrieb zu absolvieren, das Buttern und Topfenmachen, die Graukäs-Herstellung und die Ziegenkäsezubereitung. Dass jetzt plötzlich nur noch zwei der fünf Angestellten da waren, bedeutete, dass Mathilda nun für drei arbeiten musste.

Um die Mädchen trotzdem gut betreuen zu können, hatte ihre Schwiegermutter sich sofort bereit erklärt, zu ihr auf die Alm zu kommen und ihre eigene Wohnung im Tal an Urlauber zu vermieten. Das war glücklicherweise in dieser Gegend kein Problem, da es immer genug Touristen gab, die den Winter hier verbringen wollten. Entsprechend hatte Sonja ein sehr zuverlässiges Ehepaar gefunden, das ihre Wohnung in Thiersee bis Februar gemietet hatte.

Mathildas eigene Eltern lebten in Deutschland, im Ruhrgebiet. Damals hatten sie kein Verständnis dafür gehabt, dass Mathilda so weit wegziehen wollte, und bis heute hatten sie sie noch kein einziges Mal in Tirol besucht. Mathildas Schwester und der ältere Bruder lebten beide ebenfalls in Essen, und mit ihnen und insgesamt fünf Enkelkindern in Deutschland hatten Mathildas Eltern anscheinend genug zu tun. Zweimal war Mathilda mit Antonia und Emily ins Ruhrgebiet gefahren, aber ihre Eltern hatten ihr die ganze Zeit Vorwürfe gemacht und sie überreden wollen, nach Hause zurückzukehren. Vergeblich hatte Mathilda versucht, ihnen begreiflich zu machen, dass ihre Heimat jetzt in Thiersee war.

Sonja war anders. Sie redete Mathilda nicht in ihr Leben hinein. Mathilda war ihrer Schwiegermutter sehr dankbar für die unermüdliche Hilfe mit den Mädchen. Sie wünschte sich nur, dass sie Sonja etwas hätte zurückgeben können. Sonja musste selbst jeden Cent mehrmals umdrehen, sodass Mathilda ihr gern einen kleinen Lohn gezahlt hätte. Aber daran war im Moment nicht annähernd zu denken, sie wusste ja kaum, woher sie das Geld nehmen sollte, um den Mädchen Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Und tanken musste sie eigentlich auch noch. Wütend schlug Mathilda auf das Lenkrad. Diese ganzen Sorgen! Und alles nur, weil sie nicht aufgepasst hatte. All das wäre nicht nötig geworden, wenn sie ihm nie vertraut hätte ….

Nein, sie durfte sich nicht wieder in Selbstvorwürfen und Wut verlieren. Sie musste nach vorn schauen und den Alm-Hof für sich und ihre Töchter retten.

Sie schaltete in den ersten Gang zurück, als sie auf eine besonders enge Haarnadelkurve zusteuerte. Die Passstraße war schon bei gutem Wetter eine Herausforderung, bei Eis und Schnee wurde der Weg schnell unpassierbar. In den letzten Jahren hatten sie immer einige Wochen auf der Berg-Alm festgesessen, wenn die Straße so glatt und verschneit gewesen war, dass ein Hinunter- oder Hinauffahren lebensgefährlich bis unmöglich wurde.

Während Mathilda den VW-Bus vorsichtig um die Kurve lenkte, überlegte sie zum wiederholten Male, wie viel Geld sie brauchen würde, um die Zimmer und Wohnungen für die Gäste auszustatten, um die neue Melkstation bauen zu können und die Löhne der Arbeiter zu sichern. Zu gern würde sie die drei jungen Leute, die sie letzte Woche hatte entlassen müssen, zum Frühjahr wieder einstellen. Aber das ging nur, wenn sie jetzt einen Kredit erhielt.

Der Schnee wurde zu Schneeregen und schließlich zu Regen, als sie die Talstraße erreicht hatte. Hier unten wirkte alles recht grau und trostlos, da konnten auch die Lichtergirlanden, die aufgehängt worden waren, und die hell erleuchteten Fenster nichts ausrichten.

Um zwanzig Minuten vor drei erreichte sie den Parkplatz hinter der Bank. Sie stieg aus dem VW-Bus und musste lachen, als sie ihr klappriges, schlammverschmutztes Gefährt neben den teuren Mercedes- und BMW-Limousinen stehen sah. Sie griff nach den Aktenordnern und Papieren, die sie auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte, und machte sich auf den Weg. Der Geruch von gebrannten Mandeln, Glühwein und frittiertem Essen drang vom nahe gelegenen Weihnachtsmarkt zu ihr hinüber, und irgendwo spielte ein Blasorchester „Macht hoch die Tür“.

Mathilda atmete tief durch und sah zu dem modernen, mit einer Glasfassade ausgestatteten Gebäude der Kückelhofen-Bank hinüber. Damals hatten Christopher und sie dieses Geldinstitut ausgewählt, weil man ihnen hier die besten Konditionen angeboten hatte. Die damalige Sachbearbeiterin hatte an ihren Traum geglaubt und ihnen den gewünschten Kredit in voller Höhe gewährt.

Entschlossen ging Mathilda auf den Eingang zu. Sie wusste, dass der vor ihr liegende Termin nicht leicht werden würde, aber sie war kampfbereit. Sie würde dieses Haus nicht verlassen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

Sie trat in den großen Innenraum, in dessen vorderem Bereich zahlreiche Geldautomaten, Kontoauszugdrucker und Tische mit Schreibutensilien standen, und durchquerte die große Halle, bis sie vor dem Tresen ankam, hinter dem eine Mitarbeiterin an einem Computer arbeitete. Als Mathilda mit den schweren Akten auf dem Arm vor ihr stand, sah die Frau auf und lächelte freundlich.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“

Mathilda erwiderte das Lächeln. „Ich habe für fünfzehn Uhr einen Termin mit Frau Mayrhof.“

Die blonde Frau nickte. „Einen Moment bitte.“ Sie verschwand hinter einer Wand aus schwarzen Aktenschränken und kam kurz darauf mit Frau Mayrhof wieder, die Mathilda sofort wiedererkannte. Die Sachbearbeiterin streckte ihr die Hand entgegen.

„Frau Seidl. Wie schön, Sie zu sehen.“

Mathilda nickte ihr zu. Sie wollte den Small Talk schnell hinter sich bringen, denn ihr Anliegen brannte ihr auf der Seele. Ihre und die Zukunft der Mädchen hing davon ab.

„Bitte folgen Sie mir.“ Frau Mayrhof machte eine Handbewegung und setzte sich in Bewegung.

Mathilda ging hinter der jungen Frau her, die kaum älter als sie selbst sein konnte. Gleich hinter den Aktenschränken gab es einen etwa zwei Meter breiten Durchgang, neben dem sich ein durch Glaswände abgetrenntes Büro befand.

„Bitte sehr.“ Die Frau deutete auf einen der Besucherstühle vor dem Schreibtisch. Dann nahm sie selbst dahinter Platz, stellte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. „Frau Seidl, ich hoffe, es geht Ihnen gut?“

„Danke, ja“, log Mathilda, die ihr Befinden nicht mit einer Bankmitarbeiterin besprechen wollte.

„Sehr schön.“ Frau Mayrhof sah sie forschend und zugleich mitleidig an. Mathilda kannte diesen Blick. Sie hatte ihn in den letzten Jahren immer wieder zu sehen bekommen, von vielen Seiten.

„Frau Seidl, was kann ich für Sie tun?“, kam Frau Mayrhof zum Thema, beide Hände noch immer auf der Tischplatte aufgestützt, als wolle sie ein Gebet sprechen.

„Nun“, Mathilda atmete tief durch, „ich bin leider in einige Schwierigkeiten geraten. Aber mein finanzieller Engpass kommt nicht daher, dass der Hof nicht laufen würde, ganz im Gegenteil. Wir können gar nicht so viel herstellen, wie Nachfrage herrscht. Aber ich habe leider dem falschen Menschen vertraut. Darum möchte ich Sie bitten, mir ein zweites Darlehen zu gewähren.“

„Oh.“ Frau Mayrhof ließ die Hände sinken und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück.

Mathilda setzte nach. „Um die nächste Kontrolle für das Biosiegel zu bestehen, muss ich meine Auslaufflächen noch einmal vergrößern. Dafür brauche ich unbedingt neue Zäune, und die sind teuer, wenn ich gute haben will, die auch sicher sind. Meine Melkmaschinen sind auch alt, deshalb möchte ich gern eine moderne Melkstation bauen. Außerdem möchte ich Zimmer und Wohnungen vermieten, weil ich damit zusätzliche Einnahmen generieren kann. Dafür muss ich die Unterkünfte aber erst einmal renovieren, denn das meiste dort stammt noch aus den Siebzigerjahren.Und letzte Woche habe ich drei meiner fünf festangestellten Mitarbeiter entlassen müssen. Zum Weidegang im Frühjahr möchte ich sie wieder einstellen, denn die Arbeit kann ich mit den zwei verbliebenen Männern nicht allein schaffen.“

„Und an wie viel Geld hatten Sie da gedacht?“, fragte Frau Mayrhof.

„Einhunderttausend? Besser wären natürlich zweihunderttausend“, ergänzte Mathilda schnell.

„Ich verstehe.“ Frau Mayrhof nickte. „Ich frage mich nur, muss es denn das teure Gütesiegel sein? Und brauchen die Zimmer zwingend alle eine Renovierung? Können Sie das nicht nach und nach vornehmen, immer wenn mal wieder Geld da ist?“

Mathilda sah die Sachbearbeiterin an. Bislang hatte sie die Frau immer gemocht, doch die schien nichts verstanden zu haben. „Wenn ich auf das Bio-Gütesiegel verzichte, könnte ich den ganzen Betrieb direkt aufgeben, denn die Idee dahinter war ja, von Beginn an zu zeigen, dass man landwirtschaftliche Produkte herstellen und gleichzeitig die Tiere und Pflanzen respektvoll behandeln kann. Eine andere Möglichkeit zum Überleben haben kleine landwirtschaftliche Betriebe auch gar nicht. Da ich nicht auf Masse produziere, würde ich mit herkömmlichen Verfahren nicht genug einnehmen, um die Kosten zu decken. Ganz davon abgesehen, dass ich das auch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könnte. Die Tiere geben uns …“

„Warten Sie“, unterbrach Frau Mayrhof sie. „Ich bin die falsche Ansprechpartnerin dafür. Glauben Sie mir, meine Kollegen und ich bewundern Sie, dass Sie nach allem, was geschehen ist, nicht aufgegeben haben. Wir waren erschüttert, als …“

„Schon gut.“ Mathilda hob die Hand. Auf keinen Fall wollte sie über den schrecklichen Tag vor sechs Jahren sprechen, der ihr Leben für immer verändert hatte.

„Jedenfalls“, nahm Frau Mayrhof ihre Rede wieder auf, „wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen den Kredit sofort gewähren. Aber Sie haben die Raten des Gründungsdarlehens in den letzten Monaten nicht regelmäßig bedienen können, wenn Sie sich also nun noch weiter verschulden …“

„Aber das ist doch nur passiert, weil mein Mitarbeiter das Geld, von dem ich sicher war, dass es in die Tilgung der Raten fließen würde, in die eigene Tasche umgeleitet hat.“ Mathilda lehnte sich vor. Der Schreibtisch zwischen ihnen war so leer, dass sie sich unweigerlich fragte, ob überhaupt daran gearbeitet wurde oder ob er nur dafür da war, Kunden ihre Darlehensanfragen abzuschlagen.

„Sehen Sie, mir sind die Hände gebunden.“ Frau Mayrhof zuckte mit den Schultern und drehte in einer Unschuldsgeste die Hände nach außen. Dann seufzte sie und wandte sich dem Computer zu. Mit ihren sorgsam manikürten Fingern hämmerte sie in Schallgeschwindigkeit auf die Tasten ein, dann drehte sie den Bildschirm zu Mathilda, sodass diese ihre eigenen Ratentilgungen sehen konnte.

Genau wie die Frau gesagt hatte, waren die Tilgungen der letzten Monate mehr als unregelmäßig.

Mathilda selbst hatte lange Zeit gar nichts bemerkt, sie hatte Hendrik vertraut, der sich um ihre Buchführung gekümmert hatte. Als das erste Mal Bestellungen nicht gekommen waren, weil angeblich seit Monaten Rechnungen nicht mehr bezahlt worden waren, hatte Mathilda das noch für einen Fehler gehalten. Als sich diese Vorkommnisse jedoch häuften, war sie stutzig geworden und hatte sich die Unterlagen genauer angesehen. Da war es aber schon zu spät gewesen. Hendrik, ein erfahrener, vierzigjähriger Verwalter, der vorher für einen Fürsten in Bayern die Ländereien verwaltet hatte, hatte sich im Laufe der letzten zwei Jahre nach und nach eine sechsstellige Summe auf sein eigenes Konto überwiesen. Mathilda hinkte mit ihrer Steuererklärung hinterher, sonst wäre ihr die Angelegenheit viel früher aufgefallen. Als sie aber herausgefunden hatte, dass etwas nicht stimmte, war Hendrik bereits seit einigen Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen. Und bis heute fehlte jede Spur von ihm.

Aber wie sollte sie das alles Frau Mayrhof erklären? Die schien sich nur für die Zahlen zu interessieren.

„Frau Seidl, vor sieben Jahren haben Sie den Gründungskredit aufgenommen, und die ersten Jahre haben Sie ihn auch vorbildlich bedient. Aber seit zwei Jahren kommen Ihre Zahlungen nur sehr sporadisch. Ich werde meinem Vorgesetzten niemals erklären können, aus welchem Grund ich Ihnen in dieser Situation noch mehr Geld gegeben habe, wo Sie doch Ihre alten Verbindlichkeiten nicht einmal bedienen konnten.“

„Aber meine Berg-Alm wirft doch genug Gewinn ab“, sagte Mathilda beschwörend und griff nach einem der Aktenordner neben sich. „Ich kann ja erklären, warum ich in den letzten Jahren in diese Schwierigkeiten geraten bin: Ich bin betrogen worden.“ Sie schlug den Ordner auf, der auf dem Stuhl neben ihr gelegen hatte. „Schauen Sie, hier habe ich die Abbuchungen, die auf das Konto meines Mitarbeiters geflossen sind, markiert. Durch all die Arbeit, die ich auf der Alm und mit den Mädchen hatte, ist es mir einfach zu spät aufgefallen. Hendrik war eigentlich ein enger Mitarbeiter und Vertrauter. Aber systematisch hat er in die eigene Tasche gewirtschaftet, und ich habe lange Zeit nicht einmal gewusst, dass die Kredite nicht bedient wurden. Ich habe mich nie um den Papierkram gekümmert, schließlich musste ich die Alm betreiben.“

Frau Mayrhof sah sie mit gehobener Augenbraue an. „Das hätten Sie aber tun müssen, Frau Seidl. Das lag in Ihrer Verantwortung. Sie sind dafür zuständig, dass Sie Ihren Verpflichtungen nachkommen.“

„Das weiß ich. Ich habe diesem Mann vertraut, aber er hat mich betrogen. Es ist geschehen, ich kann es nicht mehr ändern. Jetzt muss ich zusehen, dass ich den Karren wieder aus dem Dreck ziehe.“

Frau Mayrhof betrachtete sie mit einem bedauernden Lächeln. „Frau Seidl, vielleicht denken Sie einmal darüber nach, die Alm aufzugeben. Ich weiß, im Moment sind die Immobilienpreise nicht die besten, und es ist vermutlich schwierig, den Preis für das Anwesen zu erzielen, den Sie vor sieben Jahren dafür gezahlt haben. Aber da Sie ja bereits einen Teil Ihres Darlehens abgezahlt haben, könnte das, was Sie dafür bekommen, reichen, um den Rest Ihrer Schuld zu tilgen. Dann können Sie ganz neu anfangen, ohne Schulden.“

Mathilda musste ihre Verzweiflung hinunterschlucken. Warum verstand diese Frau nicht, dass ihr Betrieb gesund war? Dass es einzig und allein ein korrupter Mitarbeiter gewesen war, der alles in Gefahr gebracht hatte?

„Das ist für mich keine Option“, erklärte sie. „Ich bitte Sie eindringlich. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie mir helfen.“

Die Bankmitarbeiterin lehnte sich vor. „Wie gesagt, ich fühle wirklich mit Ihnen. Ihr Schicksal hat nicht nur mich, sondern all unsere Mitarbeiter hier bewegt. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich würde einen Kredit niemals von meinem Vorgesetzten abgezeichnet bekommen. Vor sieben Jahren war noch der alte Herr Kückelhofen zuständig, aber inzwischen hat sein Sohn das Ruder übernommen, und ich fürchte, er hat überhaupt kein Verständnis für Menschen, die in eine Notlage geraten sind. Glauben Sie mir, Sie sind nicht die erste Kundin, der ich gezwungenermaßen einen Kreditwunsch abschlagen muss. Herr Kückelhofen junior selbst schaut sich jeden Fall sorgfältig an. Ich weiß, dass er dieses Darlehen nicht bewilligen würde. Das Risiko, dass Sie nicht zahlen können, ist zu groß. Und es bringt Ihnen doch nichts, wenn ich Ihnen jetzt Hoffnungen mache und Sie spätestens an der nächsten Instanz scheitern.“

Mathilda stand entschlossen auf. „Dann bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten.“

„Was?“ Frau Mayrhof sah sie erschrocken an. „Ich soll Sie zum Chef bringen? Jetzt, sofort?“

Mathilda nickte und sah auffordernd zur Glastür, aber Frau Mayrhof machte keine Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. Mathilda deutete auf ihre Unterlagen, die noch immer auf dem zweiten Besucherstuhl lagen.

„Sehen Sie, hier habe ich auch meinen Ordner mitgebracht, in dem die Bilanzen der letzten Jahre abgeheftet sind. Man kann deutlich sehen, wie gut der Betrieb läuft und dass ich gewinnbringend wirtschafte. Es war einzig und allein ein Betrüger, der für die Schieflage verantwortlich ist. Aber er ist weg, und jetzt steht einem gesunden Wachstum nichts mehr im Wege. Ich brauche lediglich eine finanzielle Anschubhilfe, um die ersten Monate zu sichern.“

Als Frau Mayrhof weiterhin schwieg, fuhr Mathilda fort: „Ich habe jetzt die alleinige Kontrolle und weiß, dass derartige Dinge nicht noch einmal vorkommen werden. Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Darlehen, das alte und das neue, wieder voll bedienen werde.“

Frau Mayrhof seufzte. Sie sah zu Mathilda auf, die noch immer vor dem Schreibtisch stand. „Nun, Frau Seidl, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass eine Zimmervermietung bei Ihnen gut laufen würde. Ich fahre hin und wieder auf der Passstraße an Ihrer Alm vorbei. Sie ist wunderschön und idyllisch gelegen und zugleich gut erreichbar. Zumindest, wenn kein Schnee- und Eischaos herrscht.“

„Ganz genau“, bestätigte Mathilda. Hoffnung stieg in ihr auf. Sie würde es schaffen, diese Frau auf ihre Seite zu ziehen.

„Es ist wirklich ein wunderschönes Gebäude“, überlegte Frau Mayrhof laut. „Aber ich fürchte, meine Antwort steht trotzdem fest: Ich muss Ihre Anfrage leider ablehnen.“

Mathilda starrte die Frau an. Sie hatte doch gerade selbst gesagt, dass es hier Potenzial gab. Enttäuschung stieg in ihr auf, einen Moment lang hatte sie das Gefühl, am Ende ihrer Kräfte zu sein. Seit sechs Jahren bestand ihr Leben aus einem einzigen Kampf. Hatte sie wirklich noch die Kraft, weiterzumachen?

Doch im nächsten Augenblick wusste sie, dass sie nicht nur für sich, sondern auch für ihre Töchter um die Berg-Alm kämpfen musste. Und nicht zuletzt schuldete sie es auch Christopher.

„Bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten“, wiederholte Mathilda.

Frau Mayrhof schüttelte den Kopf. „Herr Kückelhofen hat keine Zeit, unangemeldete Besucher zu empfangen. Ich kann höchstens nach einem Termin fragen.“

„Dann tun Sie das“, forderte Mathilda und stemmte die Hände in die Hüften.

Frau Mayrhof griff zum Telefon und legte den Hörer wieder auf, ohne zu wählen. „Vielleicht gehe ich lieber mal schnell persönlich nach hinten …“, murmelte sie, stand auf und verschwand.

Mathilda ahnte, dass die Sachbearbeiterin nicht in ihrer Gegenwart mit der Sekretärin des Chefs sprechen wollte; vermutlich hatte sie Probleme, zu erklären, warum sie nicht allein mit einer Kundin fertigwurde. Aber Mathilda würde bestimmt nicht hierbleiben und sich anschließend eine Ausrede anhören, warum der Bankinhaber sie leider nicht persönlich empfangen konnte.

Als sie aus dem Glasbüro trat, sah sie Frau Mayrhof den Gang hinuntergehen. Kurzentschlossen folgte sie ihr. Eine Sekunde bevor die Tür ins Schloss fiel, die in einen abgetrennten Bereich führte und von der Mitarbeiterin mit einer Schlüsselkarte geöffnet worden war, schlüpfte Mathilda hinterher und fand sich in einem großen, hellen Vorraum wieder, der durch ein Oberlicht erhellt wurde. An den Wänden hingen moderne Gemälde, einige Türen gingen von den Seiten ab. Frau Mayrhof war vor der größten stehen geblieben und hatte angeklopft.

Mathilda bewegte sich nicht, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es roch hier hinten nach Kaffee und einem schweren Raumduft, den Mathilda nicht genau einordnen konnte. Irgendwo klingelte ein Telefon, das Klappern einer Tastatur war zu hören.

Frau Mayrhof sagte: „Entschuldigung, Isabella, dürfte ich einen Moment mit Herrn Kückelhofen sprechen?“

Eine Stimme setzte zu einer Antwort an, die Mathilda nicht genau verstehen konnte. Sie wurde von einer lauten, männlichen Stimme unterbrochen, die fragte: „Frau Mayrhof? Was gibt es denn?“

Das musste der Chef sein. Mathilda wurde klar, dass das ihre vermutlich einzige Chance war. Sie stürmte an Frau Mayrhof vorbei, die erschrocken zur Seite wich.

„Frau Seidl! Sie können doch nicht einfach ...“, protestierte sie.

„Wer sind Sie?“, fragte eine ältere Frau, die hinter einem Schreibtisch gesessen hatte und jetzt aufsprang. Vermutlich war es die Sekretärin von Herrn Kückelhofen. Der Mann wiederum, von dem Mathilda annahm, dass es ebenjener gefürchtete Junior-Chef war, stand in einer geöffneten Tür, die in ein großes Zimmer führte. Er hatte einen Stapel Unterlagen auf dem Arm, den er vermutlich gerade an seine Sekretärin hatte weiterreichen wollen, als Mathilda hereingestürzt kam. Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug, hatte blonde Locken, die ihm ein leicht verwegenes Aussehen gaben, und Sommersprossen im Gesicht. Er schien ausgesprochen gut gebaut zu sein, die Muskeln konnte Mathilda unter dem Jackett allerdings nur erahnen. Aber sie hätte ihn sich sehr gut als Windsurfer an der portugiesischen Küste vorstellen können.

Jetzt sah er Mathilda an und blickte dann fragend zu Frau Mayrhof hinüber, die rot angelaufen war. „Herr Kückelhofen, verzeihen Sie mir, aber Frau Seidl ist eine Kundin. Sie muss mir gefolgt sein …“

Mathilda nickte. „Ganz genau, ich bin Mathilda Seidl, und Ihre Mitarbeiterin sagt, Sie sind in der Lage, über meine Darlehens-Anfrage zu entscheiden. Sehen Sie, es ist sehr wichtig, dass ich diesen Kredit bekomme, denn meine Berg-Alm läuft bestens. Ich bin betrogen …“

Der Mann hob die Hand, um Mathilda zu stoppen. Mathilda stellte erstaunt fest, wie jung er noch war. Insgeheim war sie davon ausgegangen, dass Herr Kückelhofen schon älter sein musste, auch wenn er der Junior war, immerhin gab es dieses Finanzinstitut seit einhundertfünfzig Jahren. Aber natürlich war das hier vermutlich schon der zigste Inhaber und Vorstandsvorsitzende.

Hoffnung stieg in ihr auf. Der Mann war kaum älter als sie selbst. Sie war neunundzwanzig, ihn schätzte sie auf höchstens Mitte dreißig. Er musste Verständnis für sie und ihre Lage haben. Seine Augen waren genauso leuchtend grün wie Mathildas, die Sommersprossen ließen vermuten, dass er neben seiner anstrengenden Arbeit auch viel Zeit in der Natur verbrachte. Sein Anzug wirkte sehr teuer. Mathilda hätte für das gleiche Geld vermutlich einen ihrer Mitarbeiter ein ganzes Jahr bezahlen können.

Bestimmt würde der Mann, den Mathilda vom ersten Moment an ungewöhnlich anziehend und sympathisch fand, verstehen, dass die Alm ein zukunftsträchtiger Betrieb war – egal, was seine Angestellte sagte.

„Frau …“, begann er und sah zu seiner Mitarbeiterin herüber.

„Seidl“, half ihm Frau Mayrhof aus.

„Frau Seidl, ich weiß nicht, was Sie sich von Ihrem Eindringen hier versprochen haben. In sämtlichen Kundenangelegenheiten kann Ihnen meine Mitarbeiterin weiterhelfen.“

„Aber Frau Mayrhof sagte, nur Sie können entscheiden …“, begann Mathilda, wurde aber sofort von der Sekretärin unterbrochen, die zum Telefon griff. „Ich rufe jetzt den Sicherheitsdienst.“

2. KAPITEL

„Moment noch, Frau Leone.“ Maximilian hob die Hand, um seine Vorzimmerdame aufzuhalten.

Er betrachtete die zarte Frau, die vor ihm stand. Mit ihr würde er wohl auch ohne Sicherheitsdienst fertigwerden. Aber er war unsicher, wie er reagieren sollte. Er hatte bereits zwei versuchte Banküberfälle, drei betrügerische Mitarbeiter, seinen Vater und diverse kriminelle Kunden überstanden, aber bislang hatte sich noch nie jemand zu seinem Büro Zutritt verschafft, der hier hinten nichts zu suchen hatte.

Diese Frau Seidl erschien ihm allerdings weder wie eine Bankräuberin noch wie eine gemeingefährliche Kriminelle, zumindest konnte er keine Waffe erkennen.

Jetzt ergriff sie wieder das Wort: „Ihre Mitarbeiterin behauptet, dass meine Darlehensanfrage an Ihnen scheitern würde. Daher möchte ich Ihnen mein Anliegen noch einmal persönlich vortragen.“ Sie strich sich in einer unbewussten Geste durch das lange mahagonifarbene Haar, das im künstlichen Licht des Büros seidig schimmerte, und sah ihn aus großen Augen an. „Mein Name ist Mathilda Seidl. Ich bin bereits Kundin bei Ihnen.“

Was für eine atemberaubend gut aussehende Frau!

„Frau Seidl betreibt die Berg-Alm an der Passstraße“, mischte sich Frau Mayrhof ein. „Man kommt daran vorbei, wenn man über die Passstraße am Dreibrunnenjoch in Richtung Kufstein fährt.“

Maximilian nickte. Er kannte die Straße. Eine ziemlich anspruchsvolle Strecke, auf der sich Touristen gern festfuhren. Erst vor zwei Jahren hatte es dort einen schweren Unfall mit einer Gruppe Motorradfahrer gegeben. Die Fahrbahn war stellenweise sehr schmal. Wenn einem dort ein Wagen entgegenkam, musste man im schlimmsten Fall einige Meter rückwärtsfahren, um eine Stelle zum Passieren zu erreichen. Er war früher gern zum Wandern hingefahren. Die gesamte Straße verfügte über wunderschöne Wanderrouten, die überall abzweigten. Und wenn man über den Bergkamm fuhr, war die Aussicht spektakulär.

Aber seit er die Geschäfte übernommen hatte, hatte er keine Zeit mehr, seinem Hobby, dem Bergwandern, nachzugehen, was er manchmal sehr bedauerte. Er konnte sich noch dunkel daran erinnern, dass es dort oben, nah an der Straße, ein Gebäude gab. Das musste die besagte Berg-Alm sein. Er musste sich unbedingt mal wieder einen Sonntag freinehmen, um in die Berge zum Wandern zu fahren.

Maximilian wischte den Gedanken fort und setzte ein charmantes Lächeln auf, das er extra für umwerfende Frauen wie Mathilda Seidl reserviert hatte.

„Meine Mitarbeiterin kann Ihnen alles sagen, was auch ich zu erklären habe. Wenn Frau Mayrhof der Meinung ist, dass ich Ihre Anfrage ablehnen würde, wird sie damit recht haben. Ich habe leider keine Zeit, mich ausführlich mit jedem einzelnen Kundenanliegen zu befassen.“

„Auch nicht, wenn ich millionenschwer wäre?“, fragte Frau Seidl, und ihre grünen Augen funkelten angriffslustig. „Was ist, wenn ich Ihnen versichere, dass mein Unternehmen das Potenzial auf einen Millionengewinn hat? Wollen Sie sich das nicht zumindest mal anhören?“

Maximilian zögerte. Die Frau hatte nicht unrecht. Natürlich kümmerten er und sein Vater sich um die zehn größten Kunden ihrer Bank persönlich. Es waren allesamt millionen-, wenn nicht sogar milliardenschwere, Geschäftsleute, die selbstverständlich von den Bankinhabern selbst betreut werden mussten. Er konnte dieser seltsamen Frau, die aufdringlich und hilflos zugleich wirkte, also nicht direkt widersprechen. Aber er hatte schon genug zu tun. Wenn er sich mit sämtlichen Anliegen auch kleinerer Kunden befasste, konnte er sich das Geld für die Mitarbeiter sparen und gleich alles allein machen.

Das wollte er der Frau gerade erklären, als diese sich an seine Angestellte wandte.

„Ich habe die Unterlagen in Ihrem Büro liegen lassen“, sagte sie. „Frau Mayrhof, wären Sie so freundlich und würden mir die Aktenordner und auch die anderen Zettel holen, die auf dem Stuhl dort liegen?“

„Ich … also … ähm …“ Frau Mayrhof sah fragend zu Maximilian hinüber, der die selbstbewusste Kundin anstarrte. Jetzt übernahm sie auch noch das Kommando und schickte seine Angestellten durch die Gegend?

Aber irgendwie gefiel ihm ihr Mut. Schon lange hatte er keine Person mehr getroffen, die so vehement für ihr Anliegen eintrat, auch wenn es auf den ersten Blick aussichtslos schien. Einen Moment lang wollte er sich seine Autorität, die bei diesem kurzen Gespräch definitiv gelitten hatte, zurückerobern, indem er Frau Seidl nach draußen beförderte. Aber seine Neugierde war geweckt. Etwas faszinierte ihn an ihr. Das seidige mahagonifarbene Haar schimmerte, das Gesicht war makellos, die hohen Wangenknochen gaben ihrem Aussehen etwas Majestätisches und die vollen Lippen ließen vermutlich jeden Mann in Fantasien abdriften.

Lange dichte Wimpern rahmten wunderschöne grüne Augen ein. Und gleichzeitig trug sie nicht eine Spur Make-up, dafür einen schäbigen Parker, in dem sich die Frauen, mit denen er sich sonst umgab, nicht einmal morgens zum Bäcker gewagt hätten. Sowie eine Jeans, die schlammbespritzt war.

Schließlich nickte er ergeben. „Holen Sie die Unterlagen, Frau Mayrhof. Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee anbieten, Frau Seidl?“

Sie zog die Augenbrauen zusammen, was eine entzückende senkrechte Falte auf ihrer Stirn entstehen ließ, die Maximilian einen Moment lang fasziniert anstarrte. Zu gern hätte er seinen Finger daraufgelegtund diese weiche, samtige Haut berührt.

„Ich will keinen Kaffee von Ihnen, Herr Kückelhofen, sondern ein Darlehen.“ Sie schüttelte unwillig den Kopf.

„Bringen Sie uns trotzdem welchen“, sagte er zu seiner Assistentin, bevor er Frau Seidl mit einer Handbewegung aufforderte, in sein Büro zu treten. Er konnte sehen, dass sie der teuer eingerichtete Raum beeindruckte. Wortlos starrte sie auf die gegenüberliegende Wand, an der ein gigantisches modernes Gemälde hing, auf dem stilisierte Orchideen zu sehen waren. Vor dem Bild stand ein großer Schreibtisch aus Glas, dahinter ein teurer Ledersessel, rechts von ihnen befand sich die Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte und viel Licht hineinließ. Davor waren zwei gemütliche Sessel postiert, mehrere kleine Tische standen dazwischen und daneben.

„Bitte.“ Er deutete auf die Sitzgarnitur.

Mathilda Seidl wandte sich zum Fenster. Und wieder zeigte sich die süße Falte auf ihrer Stirn, als sie die Sitzmöbel skeptisch betrachtete. „Und so können Sie arbeiten?“

„Erstaunlich gut sogar“, sagte er und lachte.

Sie erwiderte sein Lachen nicht, sondern schlüpfte aus ihrem dicken Anorak, den sie auf einen Stuhl vor den Schreibtisch legte. Dann setzte sie sich vorsichtig in einen der teuren Ledersessel, der sofort sanft nach hinten schwang und sie in eine halb aufrechte Position beförderte.

Vielleicht sollte er sie zum Essen einladen? Maximilian konnte sich kaum sattsehen an ihrem Gesicht. Dann kam zum Glück Frau Leone mit dem Kaffee ins Zimmer und stellte die beiden Tassen auf den Beistelltisch zwischen den Sesseln ab, außerdem hatte sie ein Tellerchen mit Keksen und eine Karaffe mit Wasser sowie zwei Gläser dabei.

Maximilian nahm seinerseits in dem anderen Sessel Platz und griff nach seinem Kaffee. „Also: Erzählen Sie mir, was Sie sich von diesem Gespräch hier versprechen.“

Sofort begann sie, ihm von ihrer gut laufenden Bio-Alm zu berichten, von einem Mitarbeiter, der sie angeblich betrogen hatte, und den deshalb aufgelaufenen Tilgungsraten des bestehenden Darlehens bei der Kückelhofen-Bank. Sie hatte auch schon eine Menge Pläne, die sie ihm ausführlich darlegte, und als Frau Mayrhof mit den Aktenordnern zurückkam, nahm sie auch noch die Tabellen und Bilanzen darin zur Hilfe. Dabei fiel ihm der Ehering an ihrem rechten Ringfinger auf. Er fragte sich, ob dieser betrügerische Mitarbeiter vielleicht ihr Ehemann gewesen war, denn ihm war durchaus nicht entgangen, dass sie von sich im Singular sprach, nicht im Plural, wie er es ansonsten von Paaren kannte, die ein Geschäft gemeinsam betrieben.

Er nahm sich vor, sich die Akte später noch mal genauer anzusehen.

Als sie endlich geendet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an, dann griff sie nach ihrem Kaffee, nahm den ersten Schluck und verzog das Gesicht. „Der ist ja kalt.“

„Natürlich“, antwortete er und musste sich ein Lachen verkneifen. „Sie haben ja auch eine halbe Stunde lang geredet wie ein Wasserfall. Das hält der heißeste Kaffee nicht durch.“

Ohne auf seine Worte einzugehen, schlug sie die Ordner zu und fragte: „Was meinen Sie? Es ist doch Potenzial da, nicht wahr? Ich brauche nur dieses vorübergehende Darlehen, um die Misswirtschaft durch meinen Mitarbeiter wieder auszubügeln.“

Maximilian schwieg eine Weile. Diese mutige Alm-Betreiberin schien allen Ernstes davon auszugehen, dass sie ihn mit ihren mickrigen Zahlen beeindruckt hatte. Ja, ihr Betrieb schien sich selbst tragen zu können, wenn niemand kam, der sie erneut betrügen würde. Aber sie hatte ihm bewiesen, dass sie eine leichte Beute war. Maximilian ging davon aus, dass sie schnell wieder zum Opfer werden würde. Sie schien ihre Alm zwar mit viel Leidenschaft zu führen, aber doch viel zu blauäugig für eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu sein. Verdammt, sie erinnerte ihn an seine Mutter, und er hasste es, an seine Mutter erinnert zu werden.

Hinzu kam, dass sie eigentlich gar nicht ins Profil seiner Kunden passte. Denn seit einhundertfünfzig Jahren, als sein Ururgroßvater Samuel Kückelhofen die Bank gegründet hatte, betreuten sie in erster Linie reiche Privatleute. Oder Unternehmen, die mit Millionen im Jahr jonglierten. Die Kückelhofens hatten sich auf Geldanlagen und Aktiengeschäfte spezialisiert, warum also, um alles in der Welt, hatte sein Vater damals dieses erste Darlehen abgezeichnet?

Es passte nicht ins Konzept. Allerdings passte es zu seinem Vater, der nicht nur geschäftlich ein schreckliches Weichei war.

Maximilian straffte die Schultern. Natürlich würde er die Anfrage ablehnen, genau wie Frau Mayrhof es schon vorausgesehen hatte. Er war gerade dabei, den Vorsitz der Bank vollständig von seinem Vater zu übernehmen, der sich mehr und mehr aus den Geschäften zurückzog. Er konnte auf gar keinen Fall weitere hunderttausend Euro in diesen Betrieb stecken, denn es war ziemlich klar, dass er das Geld nie wiedersehen würde. Gerade war er dabei, sich als Junior zu beweisen, wollte bessere Zahlen erzielen als sein Vater, was vermutlich nicht allzu schwer war, denn sein Vater war nicht der Erfolgreichste in seinem Job gewesen. In den letzten Jahren hatte Maximilian beobachten können, dass sein alter Herr sehr vieles falsch gemacht hatte.

Er hatte vor, es besser zu machen. Und bereits jetzt waren die Zahlen der Bank so gut, wie sie es in den letzten zwanzig Jahren nicht gewesen waren. Maximilian wusste, dass er ihren Traum zerstören musste, aber sie war nicht die Erste und würde nicht die Letzte sein, die auf dem Boden der Tatsachen landete.

„Frau Seidl“, begann er, „ich sehe durchaus Ihre Begeisterung für dieses schöne Projekt. Und Ihre Leidenschaft ist durchaus positiv, sie ist Ihre Stärke. Sie werden Ihr Unternehmen schon durch diese Krise bringen. Nur sind wir der falsche Partner dafür. Sehen Sie, wir haben …“

„Moment“, unterbrach ihn Frau Seidl und funkelte ihn an. „Behandeln Sie mich nicht so von oben herab.“

„Das tue ich nicht“, protestierte Maximilian.

„Ach nein?“ Sie schüttelte empört den Kopf. Und wieder war da diese niedliche Falte zwischen ihren Augen, die sich immer zeigte, wenn sie mit etwas ganz und gar nicht einverstanden war. „Ihr schönes Projekt? Das klingt nach Häkeldeckchen und Sandkasten!“

Maximilian musste ein Grinsen unterdrücken. Sie hatte recht, er hatte sich tatsächlich ein wenig arrogant angehört. Dabei fand er diese Frau ganz und gar nicht uninteressant. Er nahm sie durchaus ernst, und er traute ihr viel zu. Mit ihrer Unverfrorenheit und Verbissenheit war sie außergewöhnlich.

Nur wollte er nicht derjenige sein, der die Sache finanzierte.

„Sie haben die Alm doch bislang auch unterstützt“, sprach sie weiter. „Damals haben wir uns für Ihre Bank entschieden, weil Sie nicht mit uns gehandelt haben. Bei anderen Instituten wollte man uns beispielsweise nur die Hälfte des Geldes als Darlehen geben, die wir gebraucht hatten. Aber Frau Mayrhof hat sofort erkannt, dass die Sache Zukunft hat, und uns das Darlehen in voller Höhe gewährt. Warum wollen Sie mir jetzt diese hunderttausend Euro nicht geben, obwohl ich Ihnen erklärt habe, dass der Betrieb nach wie vor gut läuft? Die Zahlen werden sogar jedes Jahr besser. Es war nur der Betrug, der zu dem vorübergehenden Engpass geführt hat.“

„Sehen Sie“, begann Maximilian leicht gereizt, denn langsam verlor er die Geduld. Eigentlich wunderte er sich, dass er sich überhaupt auf diese Unterhaltung eingelassen hatte, er hätte die Frau direkt an die frische Luft setzen sollen. „Mein Vater hat vor sieben Jahren dieses Darlehen abgezeichnet; warum, kann ich mir nicht erklären, denn Ihre Alm ist, gelinde gesagt, viel zu klein und zu unbedeutend, um als Geschäftspartner für uns interessant zu sein. Wir arbeiten mit großen Privatvermögen zusammen und mit Firmen, die Jahresumsätze von Millionen oder sogar Milliarden erwirtschaften. Ihr Unternehmen kommt nicht mal ansatzweise an eine einzige Million heran.“

„Natürlich nicht“, rief Frau Seidel und rutschte in dem Sessel nach vorn. Ihre grünen Augen glühten. „Wie sollte ich auch mit zwanzig Milchkühen und fünfundzwanzig Ziegen an eine Million Jahresumsatz kommen? Aber wir produzieren Bioqualität, achten auf das Tierwohl und die Umwelt, wie oft soll ich Ihnen das denn noch erklären? Wir sind kein Unternehmen, das ausschließlich auf die Zahlen schaut! Ja, wir wollen gewinnbringend wirtschaften, und das können wir auch, ich sagte doch: Das Potenzial ist da. Aber wir wollen auch gute Bio-Produkte erschaffen, wir wollen die Tiere in den Mittelpunkt stellen und die Umwelt schützen, damit auch die Generationen nach uns noch etwas haben, um das sie sich kümmern können.“

Wow, diese Frau war wirklich beeindruckend. Vielleicht sollte er ihr das Geld geben, einfach deshalb, weil sie diese flammende Rede gehalten hatte. Sie war durchaus überzeugend, das musste Maximilian zugeben. Sie konnte einen mitreißen. Kurz musste er an seine Mutter denken, dann schob sich das Bild seines Vaters vor sein inneres Auge, wie er in seinem Sessel neben dem Kamin saß, ein Glas Rotwein in der Hand, und stundenlang nur nickte. Wie oft hatte Maximilian sich geschworen, niemals so zu werden.

„Frau Seidl“, begann er und setzte sich entschlossen auf die Sesselkante. „Ich verstehe Ihre Grundsätze durchaus, und ich befürworte auch einen bewussten Umgang mit den Ressourcen dieser Erde.“

Oh Mann, wie gestelzt er sich anhörte. Aber er musste sie endlich aus seinem Büro komplimentieren. Was war überhaupt los mit ihm? Er hatte doch sonst nie Probleme, sich durchzusetzen.

In geduldigem Ton fuhr er fort: „Es ist ganz großartig, dass es solch kleine Betriebe wie Ihren gibt, die auf Nachhaltigkeit und die Umwelt achten. Dennoch kann ich mich nur wiederholen: Wir sind nicht der richtige Partner für Sie. Mein Ratschlag wäre: Versuchen Sie es noch mal bei einer anderen Bank.“

„Sie wissen genau, dass mir im Moment keine andere Bank ein Darlehen gibt, weil meine Zahlen zu schlecht sind“, rief sie mit Empörung in der Stimme.

Maximilian drehte seine Hände in einer entwaffnenden Geste nach außen. „Sehen Sie. Wieso sollte ich es dann tun?“

„Weil Sie uns bereits als Kunden haben. Und ich habe es Ihnen ja eben erklärt. Verstehen Sie doch bitte, dass die Alm blendende Zahlen schreiben würde, wenn nicht …“

„Wenn, wenn, wenn … Ich fürchte, dass mir das nicht reicht. Ich bin Geschäftsmann, für mich zählen nur Zahlen; das, was unterm Strich steht. Uninteressant hingegen sind für mich die Beweggründe, die Steine auf dem Weg, denen Sie ausweichen müssen. Mag sein, dass Ihre Alm in keine Schieflage geraten wäre, wenn dieser Mitarbeiter Sie nicht betrogen hätte. Das ist aber nicht mein Problem. Und es ist erst recht nicht meine Aufgabe, Sie da wieder rauszuholen. Ich sehe mir Ihre Zahlen an und kann nur das beurteilen, was am Ende unter der Linie steht, und da stehen Zahlen, die ganz und gar nicht danach aussehen, dass Sie in den nächsten Jahren in der Lage wären, Ihre bereits bestehenden Schulden zu tilgen. Ich müsste verrückt sein, Ihnen weitere Hunderttausend zu geben, die ich nie wiedersehe.“

„Ah!“, stieß Frau Seidl aus, und einen Moment lang glaubte Maximilian, sie würde sich auf ihn stürzen. Dann sah er aus dem Fenster, wo sich der Regen inzwischen in Schnee gewandelt hatte. Allmählich begann es weihnachtlich zu werden, mit all den beleuchteten Fenstern und den Weihnachtsgirlanden, die die Straßen Thiersees schmückten. „Wir wollen das Ganze nicht noch einmal durchkauen. Dieser Betrieb, den Sie da haben, ist nett. Aber mehr auch nicht. Wir arbeiten nicht mit dermaßen kleinen Liebhaberbetrieben zusammen.“

„Liebhaberbetrieben?“ Aufgebracht sprang Frau Seidl aus dem Sessel auf und stellte sich vor ihn. „Sie belächeln meine Existenz? Ich habe etwas geschaffen, das es in dieser Gegend viel zu wenig gibt. Wir leben von der Natur, wir leben von den Bergen und den Wiesen, wir haben das Glück, in dieser wunderschönen Umgebung wohnen zu dürfen. Dort, wo andere Urlaub machen. Daher müssen wir unsere Umwelt respektvoll behandeln. Und das belächeln Sie?“

„Natürlich nicht.“ Maximilian merkte, dass er allmählich die Geduld verlor. Er stand auf und hätte am liebsten seine Hände beruhigend auf ihre Schultern gelegt, aber die energiegeladene Frau war so angespannt, dass er befürchtete, bei der geringsten Berührung könnte sie in die Luft gehen. „Es tut mir leid, Frau Seidl, aber das ist mein letztes Wort.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Die Berg-Alm ist alles, was mir von …“ Sie schien einen Moment lang aus dem Konzept gebracht, dann atmete sie tief durch und setzte neu an. „Ich muss die Alm beschützen. Ich werde den Betrieb für meine Töchter erhalten!“

Maximilian starrte sie überrascht an. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass diese Frau Mutter war, sie wirkte selbst noch so jung und kindlich. Wie konnte es sein, dass sie bereits Töchter hatte? Dabei hatte er ihren Ehering durchaus bemerkt. Aber wo war der Mann dazu? Es war eher untypisch, dass Paare nicht gemeinsam erschienen, wenn es um Darlehen ging.

„Ach, Sie haben Kinder?“, fragte er, um ein bisschen Duck aus der ganzen Unterhaltung zu nehmen, die ihn zunehmend anstrengte.

„Das ist doch jetzt gar nicht das Thema“, fuhr sie ihm über den Mund. „Ich muss meinen Betrieb retten, und ich lasse mich von Ihnen nicht abwimmeln.“

Maximilian konnte ein genervtes Seufzen nicht mehr unterdrücken. Ob er doch noch den Sicherheitsdienst brauchte? Allerdings wäre es schon sehr peinlich gewesen, wenn die dann kamen und dieses Fliegengewicht bei ihm sahen. Andererseits konnte er sich die Dame ja nicht einfach wie einen Kartoffelsack über die Schulter legen und auf die Straße setzen.

Noch während er über eine Lösung nachgrübelte, trat Frau Seidl dicht vor ihn. Mit in die Hüften gestemmten Händen sagte sie: „Warum kommen Sie nicht bei uns vorbei und ich zeige Ihnen alles? Und dann entscheiden Sie, ob Sie mir dieses Darlehen wirklich nicht geben wollen. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild, sehen Sie sich an, was meine Mitarbeiter und ich alles auf die Beine gestellt haben. Wie es den Tieren geht. Und dass gute Tierhaltung auch profitabel sein kann. Milchprodukte können tierfreundlich produziert werden, Tourismus muss nicht auf Kosten der Umwelt gehen.“

Sie löste die Hände aus den Hüften. „Ich schreibe Ihnen meine Adresse auf, dann wissen Sie, wo Sie hinkommen müssen.“ Wie selbstverständlich trat sie hinter seinen Schreibtisch und ließ ihren Blick darüberschweifen, als wäre es ihr eigener. Anscheinend suchte sie nach einem Zettel und Stift. Beides fand sie in der teuren Lederschatulle auf Maximilian Schreibtisch.

Irritiert beobachtete er sie einige Sekunden, dann folgte er ihr und sagte mit scharfer Stimme: „Frau Seidl, bis hierher fand ich das alles noch amüsant. Aber jetzt reicht es. Sehen Sie denn überhaupt nicht, wie übergriffig Sie sich verhalten? Sie verschaffen sich auf sehr fragwürdige Weise Zugang zu meinem Büro. Sie verhalten sich penetrant und aufdringlich, sodass ich mich gezwungen sehe, mit Ihnen zu sprechen, obwohl ich dazu gar keine Zeit habe, und nun nehmen Sie sich Sachen, die nicht Ihre sind. Außerdem akzeptieren Sie kein Nein.“

Einen Moment lang sah sie ihn an, und Maximilian dachte schon, sie würde aufgeben und endlich sein Büro verlassen. Die grünen Augen schimmerten verräterisch, sodass er sich darauf gefasst machte, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Maximilian konnte nicht gut mit Frauen umgehen, die weinten, was ihm schon so manches Folge-Date eingebracht hatte, das er eigentlich gar nicht mehr hatte haben wollen. Aber hier ging es nicht um eine Frau, mit der ihn ein One-Night-Stand verband, sondern um einhunderttausend Euro. Er verfluchte sich dafür, dass er sie überhaupt in sein Büro gelassen hatte. Warum hatte er Frau Leone nicht den Sicherheitsdienst rufen lassen?

Doch sie überraschte ihn ein weiteres Mal. Sie blinzelte und strich sich schnell und verstohlen über die Wangen, dann sagte sie mit überraschend fester Stimme: „Sehen Sie, und genauso penetrant und aufdringlich werde ich auch weiterhin sein. Bis Sie kommen und sich meine Berg-Alm persönlich ansehen. Ich möchte, dass Sie wenigstens wissen, was Sie zerstören wollen. Und wenn Sie dann, nachdem ich Sie auf meiner Alm herumgeführt habe, immer noch der Meinung sind, dass dieser Betrieb es nicht wert ist, gerettet und unterstützt zu werden, dann gebe ich Ruhe. Aber Sie müssen kommen und sich alles persönlich anschauen.“

Maximilian atmete perplex aus. Was dachte sich diese Frau? Dass er die Zeit hatte, sich jeden kleinen Bauernhof anzuschauen? Dass er sich überhaupt Zeit für dieses lächerliche Gespräch genommen hatte, schien bei ihr den Eindruck erweckt zu haben, dass er den ganzen Tag nichts zu tun habe. Ja, wenn es sich um milliardenschwere Kunden handelte, fuhr er selbstverständlich persönlich vorbei und ließ sich ihre Firmen und Anwesen notfalls auch mehrmals zeigen. Aber doch nicht bei einer Kundin ohne Vermögen!

„Oder bin ich Ihnen das nicht wert?“, fragte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Es tut mir leid, aber auf die Schnelle kann ich leider keine Millionen auftreiben, die Sie vielleicht zu mir locken würden.“

„Frau Seidl“, setzte er an und suchte nach den richtigen Worten. Er war schließlich kein Unmensch, auch wenn sie das vielleicht von ihm glaubte. Natürlich verstand er, dass es Situationen gab, in denen man auf die Hilfe anderer angewiesen war. Aber ein Geldinstitut sollte und konnte sich nicht nach persönlichen Empfindungen oder Mitleid richten. Auch er trug Verantwortung für seine Mitarbeiter und musste dafür sorgen, dass die Bank gewinnbringend arbeitete. Wenn er dieser Frau hier half, wem sollte er dann noch alles helfen? Er konnte nicht jedem Menschen, der in Schwierigkeiten war, Geld leihen, ohne die Gewissheit zu haben, es auch zurückzubekommen.

Sie beugte sich über seinen Schreibtisch und schrieb mit seinem teuren Federhalter etwas auf einen Zettel.

„Die Adresse brauche ich nicht“, knurrte er. „Ich weiß, wo es ist.“

„Gut“, sagte sie mit zufriedenem Ton in der Stimme und sah ihm fest in die Augen. „Ich gebe Ihnen zehn Tage Zeit. Heute ist der sechste Dezember. Wenn Sie bis zum sechzehnten nicht bei mir waren, komme ich wieder. Jeden Tag werde ich Ihren Angestellten auf die Nerven gehen, bis sie mich zu Ihnen bringen. So lange, bis Sie Ihr Versprechen einlösen und zu mir auf die Berg-Alm kommen!“

Einen Moment lang überlegte Maximilian, ihr zu erklären, dass er Hausrecht hatte und sie jederzeit aus seiner Bank hinauswerfen lassen konnte. Aber als er die Verzweiflung in ihren Augen erkannte, die sich mit wilder Entschlossenheit und einer Stärke mischte, die ihn erneut an seine Mutter erinnerte, blieben ihm seine Worte im Hals stecken.

Vielleicht wurde es ja wirklich Zeit, mal wieder die Passstraße zu fahren und einen kleinen Spaziergang am Dreibrunnenjoch zu machen, so wie früher. Hatte er nicht gerade darüber nachgedacht, dass er sich unbedingt mal einen Tag freinehmen sollte?

Vielleicht konnte er beides kombinieren, einen Ausflug zur Berg-Alm und einen Ausflug in die Berge? Außerdem hatte diese Frau etwas an sich, das ihn faszinierte. Zu gern hätte er sie näher kennengelernt, was aber natürlich auf keinen Fall infrage kam. Auch wenn er ihr keinen neuen Kredit geben würde, war sie immer noch Kundin bei seiner Bank, und einer seiner wichtigsten Grundsätze war, dass er niemals etwas mit einer Kundin oder Mitarbeiterin anfing.

Da konnte sie noch so gut aussehen und noch so verlockend erscheinen.

„Also schön“, seufzte er. „Ich werde mir Ihre Alm ansehen. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich meine Meinung ändere.“

3. KAPITEL

Tirol, Berg-Alm, zwischen Thiersee und Kufstein, 16. Dezember

Der Tag begann wie jeder andere um fünf Uhr morgens. Normalerweise fiel Mathilda das frühe Aufstehen leicht, aber jetzt, bei tiefster Dunkelheit, bei minus sieben Grad und hohem Schnee vor der Tür, musste sie sich zwingen, einen Fuß nach draußen zu setzen. Sie hatte sich in der Küche einen schnellen Kaffee gegönnt, was sie normalerweise erst nach der Arbeit tat, aber heute brauchte sie unbedingt eine Wach-mach-Hilfe.

Zuerst musste sie einen Weg zum Stall f...

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