Die Herren der Unterwelt 2: Schwarzer Kuss

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Er ist ein Verfluchter, der den Dämon des Todes in sich trägt: Lucien, Herr der Unterwelt, der sich vor Zeiten gegen die Götter aufgelehnt hat, die ihn nun knechten. Sich ihm zu nähern heißt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Doch Anya, Göttin der Anarchie, kann den Reizen des äußerlich so kühlen Kriegers nicht widerstehen. Gemeinsam erkämpfen sie sich eines der vier göttlichen Artefakte, den Käfig des Zwangs, und kommen sich dabei näher, als Lucien lieb sein kann. Die Liaison entgeht auch den Herrschern über die Dämonen nicht: Die Titanen befehlen Lucien, Anya zu töten.


  • Erscheinungstag 01.02.2010
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782185
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Man kannte ihn unter dem Namen Der Dunkle. Malach ha-Maet. Yama. Azreal. Der Schattenwandler. Mairya. König der Toten. All das war er und noch mehr, denn er war ein Lord der Unterwelt.

Vor langer Zeit hatte er das dimOuniak geöffnet, ein magisches Gefäß, das aus den Gebeinen einer Göttin gefertigt war, und dadurch eine Handvoll Dämonen befreit. Zur Strafe mussten er und alle Krieger, die ihm geholfen hatten, diese Dämonen in sich aufnehmen und Licht und Dunkelheit, Ordnung und Chaos in sich vereinen.

Weil er derjenige war, der die Schatulle geöffnet hatte, wurde ihm der Dämon des Todes zugeteilt. Ein fairer Handel, wie er fand, denn seine Tat hätte fast den Untergang der Welt nach sich gezogen.

Nun war es seine Aufgabe, die Seelen der Menschen zu holen und zu ihrer letzten Ruhestätte zu geleiten, auch wenn ihm das nicht gefiel. Er schätzte es überhaupt nicht, Unschuldige aus ihren Familien zu reißen. Ebenso wenig hatte er Freude daran, die Bösen der Verdammnis auszuliefern, aber er tat beides, ohne zu fragen und ohne zu zögern. Sich zu widersetzen, das hatte er schnell gelernt, zog etwas nach sich, das viel schlimmer war als der Tod. Widerstand brachte eine Höllenqual mit sich, die so mächtig, so erbarmungslos war, dass sogar die Götter bei dem Gedanken daran erschauerten.

Bedeutete sein Gehorsam, dass er sanftmütig war? Dass er sich um andere sorgte? Dass er fürsorglich war? Nein. Oh nein! Solche Gefühle konnte er sich nicht leisten. Liebe, Mitleid und Gnade hätten seinem Gelöbnis im Weg gestanden.

Wut hingegen? Zorn? Diese Gefühle hatte er durchaus manchmal.

Wehe, jemand trieb es zu weit mit ihm, dann wurde er ganz zum Dämon. Zum Tier. In solch einem Fall verwandelte er sich in ein unheimliches Wesen, das ohne zu zögern bereit war, seine Finger um ein menschliches Herz zu schließen und es herauszureißen. So stark zusammendrücken würde er es, bis dieses menschliche Wesen nach Luft rang und um den süßen Kuss des ewigen Schlafes bettelte, den nur er bringen konnte.

Oh ja. Der Mensch hielt Dämonen an einer kurzen Leine. Denn wenn du nicht aufpasst, dann kommen sie, um dich zu holen …

1. KAPITEL

Anya, die Göttin der Anarchie, die Tochter der Gesetzlosigkeit und Verbreiterin des Chaos, stand am Rand der überfüllten Tanzfläche. Wohin sie blickte, schaute sie auf schöne und fast nackte Frauenkörper. Die Herren der Unterwelt oder auch Lords, wie sie sich nannten, hatten die Mädchen ausgesucht. Sie sollten die Attraktion des Abends sein. Sowohl in der Vertikalen als auch in der Horizontalen.

Rauchwolken schwebten über ihnen wie ein Traumnebel, das Stroboskop ließ Reflexe wie Nadelstiche auf sie herabregnen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie einer der Unsterblichen seine muskulösen Lenden immer wieder an einer der ekstatischen Tänzerinnen rieb.

Genau meine Party, dachte sie und grinste boshaft. Nicht dass sie eingeladen gewesen wäre.

Als ob mich irgendetwas hätte zurückhalten können.

Die Herren der Unterwelt waren äußerst reizvolle unsterbliche Krieger, die von bösen Dämonen aus der Büchse der Pandora besessen waren. Und nun, nach einigen Runden harter Drinks und noch härterem Sex, verabschiedeten sie sich aus Budapest, der Stadt, die für Hunderte von Jahren ihr Zuhause gewesen war.

Anya wollte auch ihren Spaß haben. Und zwar mit einem ganz speziellen Krieger.

„Geht“, flüsterte sie und kämpfte gegen ihren Drang an, „Feuer“ zu rufen, um zusehen zu können, wie die menschlichen Wesen panisch und hysterisch schreiend davonrannten. Lasst uns Spaß haben.

Aus den Lautsprechern dröhnte Rock, der zu ihrem harten Herzschlag passte. Es war unmöglich, eine Stimme zu hören, dennoch gehorchten die Menschen ihr. Wahrscheinlich hatten sie etwas wahrgenommen, das sie noch nicht einmal selbst verstehen konnten.

Die Menge teilte sich und langsam … ganz langsam …

Schließlich stand sie vor dem Mann, der sie so faszinierte. Der Atem brannte ihr in der Lunge, und sie zitterte. Lucien! Seine Narben waren köstlich, er war unwiderstehlich stoisch und vom Dämon des Todes besessen. Im Moment saß er im hinteren Teil des Clubs an einem Tisch und starrte ausdruckslos Reyes an. Die beiden Unsterblichen waren gute Freunde.

Worüber sprachen sie? Falls Lucien den Hüter des Schmerzes bitten wollte, ihm eine dieser sterblichen Frauen zu beschaffen, dann würde ihn ein falscher Feueralarm nicht im Geringsten interessieren. Zähneknirschend neigte Anya den Kopf zur Seite und betrachtete die beiden aufmerksam, während sie versuchte, den Lärm zu ignorieren und zuzuhören.

„… sie hatte recht. Ich habe die Satellitenbilder auf Torins Rechner gesehen. Diese Tempel erheben sich tatsächlich langsam aus dem Meer.“ Reyes hielt einen silbernen Flachmann in der Hand und trank den Rest des Inhalts aus. „Einer befindet sich in Griechenland und einer in Rom, und wenn sie weiter so schnell aufsteigen, dann sind sie morgen hoch genug, dass wir mehr sehen können.“

„Warum wissen die Menschen nicht mehr darüber?“ Lucien rieb sich das Kinn mit seinem kräftigen Daumen und Zeigefinger – eine Angewohnheit von ihm. „Paris hat sich die Nachrichten auf allen Sendern angesehen, und dort ist nichts berichtet worden. Es gab noch nicht einmal Gerüchte.“

Dummer Junge, dachte Anya und war froh, dass wenigstens einmal nicht Sex das Thema des Abends war. Du weißt lediglich davon, weil ich dafür gesorgt habe, dass du davon erfährst. Niemand sonst konnte – und würde – die Tempel sehen. Sie hatte es so eingerichtet, dass das süße kleine Etwas, das Chaos genannt wird und ihre stärkste Waffe war, die Tempel mit Stürmen umtoste, sodass Menschen sich nicht dort hintrauten. Währenddessen hatten die Lords genügend Informationen bekommen, dass sie sich so schnell wie möglich von Buda aufmachten.

Sie wollte, dass auch Lucien die Stadt verließ und sich aus dem Staub machte. Und sei es nur für eine Weile, denn einen verwirrten Mann konnte sie leichter kontrollieren.

Reyes seufzte. „Vielleicht sind die neuen Götter dafür verantwortlich. Eigentlich glaube ich, dass sie uns hassen und darauf warten, uns zu vernichten, nur weil wir Halbdämonen sind.“

Lucien sah ihn immer noch ausdruckslos an. „Ist egal, wer dafür verantwortlich ist. Wir fahren morgen früh ab wie geplant. Mich juckt es in den Fingern, einen dieser Tempel zu suchen.“

Reyes warf die mittlerweile leere Taschenflasche auf den Tisch. Er umschloss mit den Fingern eine der Stuhllehnen, bis die Haut über den Gelenken ihre Farbe verlor. „Wenn wir Glück haben, finden wir diese verdammte Büchse, wenn wir dort sind.“

Anya fuhr sich mit der Zunge über ihre Zähne. Diese verdammte Büchse wurde dimOuniak genannt, ebenfalls bekannt unter dem Namen Die Büchse der Pandora. Sie bestand aus den Knochen der Göttin der Unterdrückung und besaß solche Zauberkräfte, dass sie sogar in der Lage war, die Dämonen einzuschließen, die sonst selbst aus der Hölle entkommen konnten. Die Büchse verfügte über eine Magie, die die Dämonen so stark anzog, dass sie dafür ihre neuen – unfreiwilligen – Wirte, die Lords, verließen. Mittlerweile waren diese wunderbar aggressiven Krieger so von den Ungetümen abhängig, dass sie ohne sie nicht mehr leben konnten. Und, überflüssig zu sagen – Anya wollte diese Büchse natürlich in ihren Besitz bringen.

Wieder nickte Lucien. „Denk darüber jetzt nicht nach, dafür hast du morgen auch noch Zeit. Geh und genieß den Rest des Abends. Du hast es nicht nötig, dich mit mir zu langweilen.“

Mit ihm langweilen? Ha! Anya hatte noch nie jemanden kennengelernt, den sie so aufregend fand.

Reyes zögerte, bevor er davontrottete und Lucien allein ließ. Keine der menschlichen Frauen näherte sich ihm. Zwar sahen sie Lucien an, das schon. Sie zuckten zusammen, wenn sie seine Narben entdeckten. Doch keine wollte irgendetwas mit ihm zu tun haben – und das wiederum garantierte den Damen das Überleben.

Der ist schon vergeben, Biyatches, meine Damen.

„Sieh mich an, schenk mir deine Aufmerksamkeit“, befahl Anya leise.

Es verging eine Weile. Lucien gehorchte ihr nicht.

Einige Menschen sahen in ihre Richtung, weil sie ihren Befehl gespürt hatten, aber Lucien starrte weiter auf den leeren Flachmann vor sich auf dem Tisch und blieb sitzen, fast schon ein bisschen wehmütig. Zu ihrem Ärger prallten ihre Befehle an Unsterblichen ab. Eine freundliche Geste der Götter.

„Mistkerle“, murmelte sie. Alle möglichen Einschränkungen hatten sie ihr auferlegt. „Alles nur, um der wunderbaren Anarchie Knüppel zwischen die Beine zu werfen.“

Anya war es nicht sonderlich gut ergangen, während sie ihre Tage auf dem Olymp verbracht hatte. Die Göttinnen hatten sie nicht leiden können, denn sie glaubten, dass sie ganz nach ihrer „Hure von Mutter“ geraten sei und darauf erpicht, ihren Göttergatten zu bezirzen. Genauso wenig war sie von den Göttern respektiert worden, ebenfalls wegen ihrer Mutter. Obwohl die Kerle sie schon gewollt hatten. Bis sie schließlich ihren heiß geliebten Wachkapitän getötet hatte. Dann war ihnen der Verdacht gekommen, Anya sei doch wilder als erwartet.

Idioten. Der Captain hatte verdient, was sie ihm zugefügt hatte. Verdammt, er hätte eigentlich noch Schlimmeres verdient. Dieses Schwein hatte versucht, sie zu vergewaltigen. Wenn er sie in Ruhe gelassen hätte, dann hätte sie auch ihn in Ruhe gelassen. Aber nein! Sie bereute es nicht, ihm sein schwarzes Herz aus der Brust geschnitten und es dann auf einem Speer vor dem Tempel der Aphrodite aufgespießt zu haben. Es tat ihr nicht im Geringsten leid. Ihre Freiheit war ihr heilig, und jeder, der versuchte, sie ihr zu nehmen, würde ihre Dolche zu spüren bekommen.

Freiheit. Das Wort hallte in ihr nach und brachte sie wieder in die Gegenwart zurück. Was zur Hölle musste sie tun, um Lucien davon zu überzeugen, dass sie für ihn geschaffen war?

„Nimm mich wahr, Lucien. Bitte.“

Noch immer ignorierte er sie.

Sie stampfte mit dem Fuß auf. Wochenlang hatte sie sich unsichtbar gemacht und war Lucien gefolgt, um ihn beobachten und kennenlernen zu können. Und zugegeben, sie war scharf auf ihn. Er hatte es nicht mitbekommen, dass sie sich in seiner Nähe aufhielt, auch als sie ihn zu zwingen versuchte, alle möglichen schlimmen Sachen zu machen: sich auszuziehen, sich selbst Lust zu verschaffen … zu lächeln. Okay, also das Letzte war nicht schlimm. Aber sie wollte sein wunderschönes vernarbtes Gesicht sehen, wenn er lachte – ebenso, wenn sein nackter Körper vor Erregung glühte.

Hatte er auch nur einer dieser freundlichen Bitten nachgegeben? Nein!

Auf der anderen Seite wünschte sie sich, dass sie ihm nie begegnet wäre. Dass sie vor einigen Monaten Cronus, dem neuen König der Götter, nie erlaubt hätte, ihr die Geschichten der Lords zu erzählen. Vielleicht bin ich hier die Idiotin.

Cronus war gerade erst Tartarus entkommen, einem Gefängnis für die Unsterblichen, das sie sofort wiedererkannt hatte, als sie es sah. Er hatte Zeus und seine Gefolgschaft dort eingekerkert, ebenso wie Anyas Eltern. Als Anya zurückgekommen war, um ihre Eltern zu befreien, hatte Cronus schon auf sie gewartet. Er hatte ihren größten Schatz verlangt. Sie hatte abgelehnt – puh –, und daher hatte er versucht, sie einzuschüchtern.

Gib mir, was ich will, oder ich werde die Lords der Unterwelt auf dich hetzen. Sie sind von Dämonen besessen, die sind so blutrünstig wie hungrige Tiere, und sie werden nicht zögern, dir das zarte Fleisch von den Knochen zu reißen … Und so weiter und so fort.

Anstatt sie zu erschrecken, hatten seine Worte ihre Neugier geweckt. Am Ende war sie losgezogen, um von sich aus die Krieger aufzutreiben. Sie wollte sie besiegen und dann Cronus ins Gesicht lachen. So stellte Anya es sich vor: Schau mal, was ich mit deinen großen fürchterlichen Dämonen angestellt habe!

Beim Anblick von Lucien war sie allerdings auf der Stelle von ihm verzaubert gewesen. Sie hatte vergessen, aus welchem Grund sie gekommen war, und hatte den vermeintlich übelwollenden Kriegern sogar geholfen.

Es waren die Widersprüche, die sie reizten, und Lucien war die Inkarnation des Widerspruchs. Zwar hatte er viele Narben, aber er war kein gebrochener Mann, er war sanft, aber unnachgiebig. Er war ein ruhiger, nach allen Regeln der Kunst Unsterblicher, aber nicht so blutrünstig, wie Cronus behauptet hatte. Lucien war von einem bösen Geist besessen, dennoch richtete er sich immer nach seinem persönlichen Ehrenkodex. Tagtäglich hatte er mit dem Tod zu tun, dennoch kämpfte er darum, zu leben.

Faszinierend.

Und als wenn das nicht schon genug gewesen wäre, um ihr Interesse zu wecken, so löste sein blumiger Duft in ihr ziemlich verruchte Gedanken aus, wann immer sie sich ihm näherte. Warum? Jeden anderen Mann, der nach Rosen duftete, hätte sie ausgelacht. Doch bei Lucien bekam sie Appetit, und ihre Haut prickelte, als würde sie von glühend heißen Nadeln gestochen, so sehr sehnte sie sich danach, von ihm berührt zu werden.

Auch jetzt, während sie ihn einfach nur ansah und sich vorstellte, dass sein Geruch sie anwehte, musste sie sich die Arme reiben, um ihre Gänsehaut zu vertreiben. Aber dann dachte sie daran, wie es wäre, wenn er das tun würde, und die köstlichen Schauer wollten einfach nicht verschwinden.

Götter im Himmel, war der Mann sexy. Er hatte die seltsamsten Augen, die sie jemals gesehen hatte: Eines war blau, das andere braun, und beide strahlten die Essenz von Mann und Dämon aus. Und seine Narben … Sie dachte daran, träumte davon und sehnte sich nach nichts anderem, als sie zu lecken. Sie waren wunderschön, ein Zeugnis dessen, was er an Schmerz alles durchgemacht hatte.

„He, meine Schöne, tanz mit mir.“ Plötzlich stand ein Krieger neben ihr.

Sie erkannte Paris an seiner erotischen Stimme. Anscheinend hatte er genug davon, mit einer der Tänzerinnen in einer dunklen Ecke heftig zu flirten, und versuchte jetzt bei ihr sein Glück. Da würde er wohl weitersuchen müssen. „Verschwinde.“

Von ihrem Desinteresse unbeeindruckt, nahm er sie beim Handgelenk. „Du wirst es mögen, das verspreche ich dir.“

Mit einer Handbewegung schob sie ihn zur Seite. Paris, besessen von sexueller Freizügigkeit, war attraktiv: Er hatte helle, fast leuchtende Haut, stahlblaue Augen und ein Gesicht, dem die Engel wahrscheinlich mit Hallelujas huldigten, aber er war nun mal nicht Lucien und löste nichts in ihr aus.

„Behalt deine Hände für dich, bevor ich sie dir abschneide.“

Er lachte, als habe sie einen Scherz gemacht, denn ihm war nicht klar, dass sie genau das und noch mehr tun würde. Vielleicht machte sie ihre läppischen Geschäfte mit dem Unfrieden, aber wenn sie eine Drohung aussprach, dann machte sie diese auch wahr. Einen Plan nicht bis zum Ende zu verfolgen, das hielt Anya für eine Schwäche. Vor langer Zeit hatte sie sich geschworen, sich nie die kleinste Schwäche zu erlauben.

Ihre Feinde warteten nur darauf, dass sie endlich einen Fehler machte.

Dankenswerterweise versuchte Paris nicht noch einmal, sie zu berühren. „Für einen Kuss …“, versprach er ihr mit rauer Stimme, „… kannst du mit meinen Händen anstellen, was du willst.“

„In diesem Fall würde ich dir auch noch deinen Schwanz abschneiden.“ Es nervte sie, dass er sie bei ihren Beobachtungen störte, besonders da sie selten die Gelegenheit hatte, diesen Anblick zu genießen. Heutzutage verbrachte sie die meisten ihrer wachen Stunden damit, Cronus abzuschütteln. „Wie findest du das?“

Paris lachte lauter und zog damit Luciens Aufmerksamkeit auf sich. Zunächst sah Lucien auf, schaute Paris an, dann wandte er sich Anya zu.

Ihre Knie gaben fast nach. Oh süßer Himmel. Paris war schon vergessen, und es fiel ihr schwer, Luft zu holen. Hatte sie sich eingebildet, dass es plötzlich in Luciens Augen aufblitzte? War es wahr, dass seine Nasenflügel bebten, als er sie genauer ansah?

Jetzt oder nie. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ohne ein einziges Mal den Blick von ihm abzuwenden. Dann schlug sie den Weg zu seinem Tisch ein, indem sie lässig, aber sinnlich auf ihn zuging. In der Mitte hielt sie an und bedeutete ihm mit dem Zeigefinger, zu ihr zu kommen. Einen Moment später stand er vor ihr, als sei er an einer unsichtbaren Leine gezogen worden, deren Kraft er nicht widerstehen konnte.

Er war zwei Meter groß, muskulös und gefährlich. Einfach verführerisch.

Langsam verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. „Endlich lernen wir uns mal kennen, Darling.“

Anya gab ihm keine Zeit zu antworten. Sie rieb ihren linken Hüftknochen an dem steilen Winkel zwischen seinen Beinen und drehte sich dann aufreizend herum. Sie wollte ihm ihren Rücken präsentieren. Ihre eisblaue Korsage wurde durch nichts als dünne Bändchen auf dem Rücken zusammengehalten, und sie wusste, dass ihr Rock so tief auf den Hüften saß, dass man ihren Stringtanga sehen konnte. Ups!

Männer, seien sie sterblich oder nicht, schmolzen für gewöhnlich dahin, wenn sie etwas sahen, das sie nicht sehen sollten.

Lucien zog geräuschvoll die Luft ein.

Anyas Grinsen wurde breiter. Aha, wir machen Fortschritte.

Ihre langsamen Bewegungen widersprachen dem schnellen Schlagen des Steins an der Stelle, wo andere Menschen ihr Herz hatten. Aber nicht einen Moment beschleunigte sie die verführerische Bewegung, mit der sie die Hände über den Kopf hob und sie wie zufällig durch ihre dicken schneeweißen Haare gleiten ließ. Dann strich sie an ihren Arme hinunter und streichelte ihre Haut, während sie sich vorstellte, dass es seine Hände seien. Ihre Brustwarzen wurden steif.

„Warum hast du mich gerufen, Frau?“ Seine Stimme war tief. Er klang so diszipliniert, wie es sich für einen Krieger gehörte.

Als sie seine Stimme vernahm, war das für sie erregender, als von einem Mann berührt zu werden. Ihr Magen zog sich zusammen. „Ich wollte mit dir tanzen.“ Sie drehte den Kopf. Hüftschwung links, Hüftschwung rechts und langsam kreisen. „Ist das verboten?“

Seine Antwort ließ nicht auf sich warten. „Ja.“

„Gut. Es hat mir schon immer Spaß gemacht, gegen die Regeln zu verstoßen.“

Er schwieg verwirrt. „Wie viel hat dir Paris gezahlt, damit du dich so aufführst?“

„Mich bezahlt? Um Himmels willen!“ Nachdem sie noch einmal ihren Hintern an seinen Lenden gerieben hatte, trat sie einen Schritt vor und drehte sich dann so verführerisch wie möglich um. Bingo! Er hatte eine Erektion. Sie spürte die Hitze, die von ihm ausging, und hatte das Gefühl, ihre Knochen würden schmelzen. „Was ist die Währung? Orgasmen?“

In ihren Träumen war das der Moment, in dem er sie packte und seine harte Rute der Länge nach in ihr vergrub. Doch in der Realität sprang er zurück, als sei sie eine Bombe, die kurz davor war, zu detonieren. Der Abstand zwischen ihnen wurde größer, was sie hasste.

Sofort spürte sie etwas, das sich wie Verlust anfühlte.

„Keine Berührung“, befahl er. Wahrscheinlich hatte er sich Mühe gegeben, ruhig zu klingen, aber seine Stimme hatte etwas Schroffes. Angestrengtes. Eher angespannt als erregt.

Sie kniff die Augen zusammen. Um sie herum sahen die Leute zu, wie sie miteinander sprachen. Alle hatten mitbekommen, dass er ihr eine Abfuhr erteilt hatte. Das hier sind nicht die Nachrichten im Fernsehen, schleuderte sie ihnen lautlos entgegen. Dreht euch gefälligst wieder um.

Einer nach dem anderen gehorchte, und die menschlichen Wesen wandten sich ab. Doch die anderen Lords kamen näher und starrten sie vielsagend an. Zweifelsohne waren sie neugierig, wer sie war und was sie dort machte.

Sie mussten vorsichtig sein, so viel hatte sie verstanden. Sie wurden immer noch von den Jägern verfolgt. Es waren Menschen, die wie Narren daran glaubten, dass es möglich war, in einer Welt voller Frieden und Harmonie zu leben, indem sie die Erde von den Lords befreiten und von den Dämonen, die sie plagten.

Ignorier sie, du hast nicht mehr viel Zeit, Baby. Sie wandte sich wieder Lucien zu und drehte sich nur so weit herum, dass sie ihn zwar ansehen konnte, aber sie sich nicht ganz gegenüberstanden. „Wo waren wir gerade?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. Sie strich mit der Fingerspitze über den Rand ihres Tangas und hielt dort inne, wo in der Mitte zwei glitzernde Engelsflügel zusammenstießen, sodass auch sein lüsterner Blick dort hängen bleiben musste.

„Ich wollte gerade gehen“, brachte er hervor.

Als er das sagte, krallte sie ihre Fingernägel in den Stoff. Hatte er immer noch vor, sie zu verleugnen? Im Ernst?

Sie hatte sich ihm gezeigt, obwohl sie wusste, dass die Götter in der Lage waren, genau zu bestimmen, wo sie sich aufhielt. Das war etwas, was man um jeden Preis vermeiden musste, weil die Götter planten, sie zu töten wie ein lästiges Tier. Sie würde diesen Club nicht ohne ihre Belohnung verlassen.

Entschlossen drehte sie sich noch einmal mit wiegenden Hüften um, sodass ihre Haare über seine Brust strichen. Während sie an ihrer Unterlippe nagte, streckte sie ihre Brüste vor. „Aber ich will nicht, dass du schon gehst.“ Gekonnt schmollte sie.

Er trat noch einen Schritt zurück.

„Was ist los, mein Süßer?“ Gnadenlos folgte sie ihm. „Hast du vor kleinen Mädchen Angst?“

Lucien presste die Lippen aufeinander. Er antwortete nicht. Aber glücklicherweise wich er auch nicht weiter zurück.

„Stimmt das?“

„Du hast ja keine Ahnung, auf was du dich einlässt, Weib.“

„Ach, das glaube ich aber schon.“ Sie betrachtete ihn von oben bis unten und hielt inne, weil er so etwas Besonderes war. Wirklich bemerkenswert. Das Licht des Stroboskops ließ regenbogenfarbene Reflexe über sein Gesicht und seinen Körper regnen, einen Körper, der so markant war, als sei er aus Stein gemeißelt. Lucien trug ein schwarzes T-Shirt und eine Jeans. Unter dem Stoff zeichneten sich so deutlich seine Muskelstränge ab, dass man als Frau das Höschen festhalten musste. Alles meins.

„Ich habe gesagt, fass mich nicht an!“, bellte er.

Sie sah ihm wieder in die Augen und hob die Hände. „Ich fasse dich gar nicht an, Baby.“ Aber ich will dich anfassen … ich habe da einen Plan … ich werde es tun.

„Dein Blick sieht aber nicht danach aus.“ Er betrachtete sie mürrisch.

„Das liegt daran, dass …“

„Ich werde mit dir tanzen“, unterbrach sie ein anderer Krieger. Schon wieder Paris.

„Nein.“ Anya ließ sich nicht ablenken. Sie wollte nur Lucien und keinen anderen.

„Könnte ein Lockvogel sein“, meldete sich ein anderer Lord zu Wort, der sie wahrscheinlich schon misstrauisch beobachtet hatte. Sie erkannte seine tiefe Stimme. Sabin, der Wächter des Zweifels.

Ich bitte euch, ein Lockvogel? Als wollte sie jemanden aus anderen Gründen als den eigenen irgendwohin locken. Lockvögel, das waren dumme Mädchen, die sich selbst opferten. Im Auftrag der Jäger verführten sie die Lords, damit sie hinterrücks von den Jägern umgebracht werden konnten. Und mal im Ernst: Welcher Idiot würde einen Lord umbringen, ohne sich vorher ein wenig mit ihm vergnügt zu haben?

„Ich glaube kaum, dass die Jäger sich so schnell nach der Seuche wieder aufraffen konnten“, gab Reyes zu bedenken.

Ach ja, die Seuche. Einer der Lords war von dem Dämon der Krankheit besessen. Sobald er einen Sterblichen berührte, infizierte er diese Person mit einer grauenhaften Pest, die innerhalb kürzester Zeit tödlich verlief.

Seitdem er dies wusste, trug Torin jederzeit Handschuhe und verließ die Burg kaum, um zu vermeiden, dass er menschliche Wesen ansteckte. Er lebte zurückgezogen und schützte so die Menschen vor seinem Fluch. Schließlich konnte er nichts dafür, dass eine Gruppe Jäger in die Burg geschlichen war und versucht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden. Das war vor einigen Wochen gewesen.

Torin hatte überlebt, im Gegensatz zu den Jägern.

Aber leider waren da draußen noch viel mehr Jäger. Im Ernst, sie waren wie die Fliegen. Sobald man einen ausgeschaltet hatte, tauchten an seiner Stelle zwei neue auf. Auch gerade jetzt warteten sie irgendwo da draußen und lauerten auf ihre Chance. Die Lords mussten weiterhin vorsichtig sein.

„Außerdem wäre sie auf keinen Fall an unseren Sicherheitsleuten vorbeigekommen“, fügte Reyes hinzu. Seine schrille Stimme holte Anya aus ihren Tagträumen.

„Genauso wie sie es niemals geschafft hätten, in die Burg zu kommen und Torin fast den Kopf abzuschlagen?“, fragte Sabin.

„Verdammt! Paris, du bleibst hier und passt auf sie auf, während ich draußen mal nach dem Rechten sehe.“

Sie hörte Schritte und leises Fluchen.

Na toll. So ein Mist. Wenn die Krieger draußen irgendwelche Spuren von Jägern fanden, dann hatte sie keine Chance mehr, sie von ihrer Unschuld zu überzeugen. Unschuld insofern, als sie zumindest mit den Jägern nichts zu tun hatte. Lucien würde ihr nie sein Vertrauen schenken und sich in ihrer Gegenwart entspannen. Er würde sie niemals anfassen, es sei denn, er wäre wütend.

Doch sie ließ sich ihre Überlegungen nicht anmerken. „Vielleicht habe ich nur die Schlange vor der Tür gesehen und bin mit den anderen hereingekommen?“, sagte sie zu Paris und einem anderen Lord, der sie aufmerksam beobachtete. Mit gepresster Stimme fügte sie hinzu: „Und vielleicht kann ich mit dem großen Kerl hier mal eine Minute allein sprechen. Das ist privat.“

Auch wenn sie den Hinweis verstanden hatten, rührten sich die übrigen Lords keinen Millimeter von der Stelle.

Gut. Dann musste es eben anders gehen.

Als sie anfing, sich langsam im Rhythmus der Musik zu bewegen, sah sie Lucien in die Augen und strich sich mit den Fingerspitzen über den flachen Bauch. Stell dir vor, das wären deine Hände, suggerierte sie ihm in Gedanken.

Natürlich gab er nicht nach. Aber seine Nasenflügel bebten auf diese aufregende Art, und sein Blick folgte jeder Bewegung ihrer Hände. Er schluckte.

„Tanz mit mir.“ Dieses Mal sprach sie die Worte laut aus und hoffte, er würde sie nicht so einfach ignorieren. Sie fuhr sich mit der feuchten Zunge über die Lippen.

„Nein.“ Seine Stimme war rau, kaum zu hören.

„Bitte, bitte!“

Sie konnte in seinen Augen beobachten, wie die Wut in ihm aufstieg. Nein, sie bildete es sich nicht ein. Hoffnung stieg in ihr auf. Aber als mehrere Sekunden verstrichen waren und er immer noch keine Hand nach ihr ausgestreckt hatte, verwandelte sich ihre Hoffnung in pure Frustration. Die Zeit war gegen sie. Je länger sie im Club blieb, desto größer wurde die Chance, dass sie aufflog.

„Findest du mich nicht begehrenswert, Honey?“

Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. „So heiße ich nicht.“

„Gut. Also … findest du mich nicht begehrenswert, Darling?“

Das Zucken zog sich jetzt bis zu seinem Kinn hinunter. „Wie ich dich finde, spielt keine Rolle.“

„Das beantwortet meine Frage nicht wirklich.“ Sie fing wieder an zu schmollen.

„Darum geht es auch nicht.“

Grr! Dieser Mann konnte einen wirklich aufregen!

Versuch etwas anderes. Etwas Direktes.

Als wenn ich nicht schon eindeutig genug gewesen wäre.

Na, dann mal los! Sie stellte sich vor ihn und beugte sich weit nach hinten. Dabei rutschte ihr Rock hoch und gab den Blick frei auf ihren blauen String mit den beiden Glitzerflügeln. Während sie sich wieder aufrichtete, ließ sie das Becken aufreizend langsam kreisen und räkelte sich.

Er zog geräuschvoll die Luft ein, während sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. „Du riechst wie Erdbeeren mit Sahne.“ Als er das sagte, sah er aus wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung.

Bitte, bitte, bitte, dachte sie. „Du kannst darauf wetten, dass ich auch genauso schmecke.“ Sie machte ihm schöne Augen, obwohl er darauf geachtet hatte, sein vermeintliches Kompliment wie eine Beleidigung klingen zu lassen.

Er murmelte etwas und trat einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. Er hob die Hand, um sie … festzuhalten? Zu schlagen? Wow, was sollte das denn? … Dann hielt er inne und ballte seine Hand zur Faust. Bevor er sich über ihren Duft ausgelassen hatte, hatte er distanziert, aber nicht völlig desinteressiert gewirkt. Nun sah es so aus, als wolle er sie einfach nur erwürgen.

„Du hast Glück, dass ich dir nicht hier und jetzt eine runterhaue“, raunte er und bestätigte so ihren Eindruck. Dennoch ließ er die Hand sinken.

Anya hatte aufgehört, sich zu bewegen und starrte ihn erschrocken an. Ihr Mund stand offen. Nur weil sie nach Früchten roch, wollte er sie schlagen? Das war … das war extrem enttäuschend. Ihr kam das Wort katastrophal in den Sinn, aber das war zu stark. Sie kannte diesen Mann kaum, er konnte bei ihr keine Katastrophe auslösen.

Sie hatte ja nicht von ihm erwartet, dass er gleich vor ihr auf die Knie fiel, aber auf ein wenig positive Resonanz hatte sie schon gehofft. Wenigstens ein bisschen Begeisterung wäre schön gewesen.

Männer mochten Frauen, die sich ihnen an den Hals warfen, oder? Sie hatte die Sterblichen zu viele Jahre lang beobachtet, und immer schien es so gewesen zu sein. Stichwort Mädels und Sterbliche. Lucien war nicht sterblich und war es nie gewesen.

Warum will er mich nicht?

Die ganze Zeit über, die sie ihn schon beobachtete, hatte er sich keiner einzigen Frau genähert. Ashlyn, die Freundin seines Freundes, hatte er mit Respekt und Entgegenkommen behandelt. Cameo, die einzige weibliche Kriegerin, die in Budapest lebte, begegnete er mit Freundlichkeit und fast elterlicher Fürsorge. Aber keiner gegenüber zeigte er Verlangen.

Er stand auch nicht auf Männer. Er betrachtete Männer weder mit Begehren noch anderen Gefühlen. Hieß das, dass er in eine bestimmte Frau verliebt war und es keine andere sein durfte? Falls ja, dann würde diese Schlampe was erleben!

Anya fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und ballte die Fäuste. Trockeneisdunst waberte weiterhin durch den Raum und hüllte alles in einen verträumten Nebel. Die sterblichen Frauen begannen wieder, auf die Tanzfläche zu strömen und versuchten abermals, die Aufmerksamkeit der Lords auf sich zu ziehen.

Aber die Krieger beobachteten Anya weiter und warteten auf den entscheidenden Hinweis darauf, wer oder was sie war.

Lucien hatte sich keinen Zentimeter bewegt: Es schien, als sei sein gesamter Körper am Boden festgewachsen. Sie sollte einfach aufgeben und gehen. Sie sollte nichts riskieren und verschwinden, bevor Cronus sie fand. Nur die Schwachen geben auf. Das stimmte. Entschieden hob sie das Kinn. Mit einem einzigen Gedanken sorgte Anya dafür, dass die Musik wechselte. Sofort ertönte ein ruhiger Song.

Sie schlenderte auf Lucien zu, um diese furchtbare Distanz zwischen ihnen abzubauen. Mit den Fingerspitzen fuhr sie seine muskulöse Brust hinauf und zitterte. Nicht anfassen –ha! Das würde er noch lernen. Sie war nun einmal die Göttin der Anarchie und kein gehorsames Schoßhündchen.

Zumindest wich er nicht zurück.

„Du wirst mit mir tanzen“, schnurrte sie. „Das ist der einzige Weg, wie du mich loswerden kannst.“ Nur um ihn noch ein wenig zu verhöhnen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und biss ihm sanft ins Ohrläppchen.

Er räusperte sich, als er sie in die Arme schloss. Zuerst dachte sie, er würde sie von sich stoßen. Dann aber zog er sie fester an sich heran, sodass ihr Körper eng an seinem lag. Das reichte, um sie feucht werden zu lassen.

„Du willst tanzen, also tanzen wir.“ Langsam und verführerisch bewegte er sich, während ihre Körper sich weiter ineinander verwoben und sie ihre Mitte an seinem Oberschenkel rieb.

Sie spürte die Lust wie glühende Pfeilspitzen, die durch ihre Blutbahnen schossen und auch die letzte Faser ihres Körpers erreichten.

Götter im Himmel, das war besser, als sie es sich vorgestellt hatte. Ergeben schloss sie die Augen. Er war groß. Überall. Seine Schultern waren so breit, dass sie sich wie ein Zwerg vorkam. Sein Oberkörper war so muskulös, dass sie in seinen Armen verschwand, wenn er sie umarmte. Und währenddessen spürte sie seinen warmen Atem auf ihrer Wange wie den Hauch eines aufmerksamen Liebhabers. Zitternd schob sie die Arme über seinen Rücken hinauf bis zum Hinterkopf und vergrub ihre Finger in seinen dunklen, seidigen Haaren. Ja. Mehr.

Schön langsam, Mädchen. Auch wenn er sie genauso wollte, wie sie ihn begehrte, durfte sie ihn nicht bekommen. Nicht ganz und gar. Nicht bis zum Ende. In dieser Hinsicht lastete auf ihr genauso ein Fluch wie auf ihm. Aber immerhin konnte sie sich diesem Moment hingeben. Oh, wie sehr konnte sie diesen Augenblick genießen. Endlich reagierte er auf sie!

Er berührte ihr Kinn mit der Nasenspitze. „Jeder Mann in diesem Gebäude will dich“, murmelte er leise, dennoch war sein Ton scharf. „Warum ich?“

„Einfach so.“ Sie sog seinen Duft tief ein.

„Das heißt gar nichts.“

„Darum geht es auch nicht“, wiederholte sie, was er zu ihr gesagt hatte.

Ihre Brustwarzen waren immer noch hart, sodass sie gegen ihre Korsage rieben und sich ihr Verlangen weiter steigerte. Ihre Haut war wunderbar empfindlich, sie nahm jede Bewegung von Lucien übergenau wahr. Hatte sich jemals etwas so erotisch angefühlt? So … richtig?

Lucien griff ihr in die Haare, bis sie das Gefühl hatte, er würde ihr fast einige Strähnen herausreißen. „Findest du es lustig, den hässlichsten Mann hier zu ärgern?“

„Den hässlichsten?“ Wenn er ihr doch besser gefiel als all die anderen, die sie jemals kennengelernt hatte? „Aber ich sehe Paris nirgends, Darling.“

Das gab ihm zu denken. Er runzelte die Stirn und ließ sie los, bevor er den Kopf schüttelte, als wolle er die Gedanken vertreiben. „Ich weiß, wie ich aussehe“, knurrte er mit leicht bitterem Unterton. „Und hässlich ist noch nett ausgedrückt.“

Anya stand ruhig da und schaute in seine verführerischen Augen mit den unterschiedlichen Farben. Wusste er wirklich nicht, wie attraktiv er war? Er strahlte Kraft und Lebendigkeit aus. Sein Auftreten war unglaublich männlich. Alles an ihm fesselte sie.

„Wenn du wüsstest, wie du aussiehst, Honey, dann wüsstest du auch, wie sexy und aufregend gefährlich du bist.“ Und sie wollte mehr von ihm. Es fröstelte sie, Gänsehaut zog ihr Rückgrat hinauf, und die Kühle strahlte bis in die Arme und Beine aus. Fass mich noch einmal an.

Er starrte sie an. „Gefährlich? Soll das heißen, du stehst darauf, wenn man dir etwas antut?“

Langsam fing sie an zu grinsen. „Nur wenn das Schlagen mit einschließt.“

Wieder bebten seine Nasenflügel. „Ich nehme an, dir machen meine Narben nichts aus“, sagte er nun extrem sachlich.

„Mir etwas ausmachen?“ Diese Narben verunstalteten ihn nicht, sondern machten ihn unwiderstehlich.

Näher … näher … ja, Berührung. Oh, Götter im Himmel! Sie ließ ihre Hände über seinen Brustkorb gleiten und genoss das Gefühl seiner Brustwarzen, die nach ihr zu rufen schienen. Sie liebkoste die Muskelstränge, die sich unter ihren Handflächen wölbten. „Sie machen mich an.“

„Lügnerin.“

„Manchmal“, gab sie zu. „Aber nicht in diesem Fall.“ Anya betrachtete sein Gesicht genau. Die Verletzungen, die zu diesen Narben geführt haben, müssen furchtbar gewesen sein. Er muss sehr gelitten haben. Sehr lange und viel gelitten haben. Dieser Gedanke machte sie plötzlich ebenso wütend, wie er sie faszinierte. Wer hatte ihm das angetan? Und warum? War es eine eifersüchtige Liebhaberin gewesen?

Es sah aus, als habe jemand Lucien mit einem scharfen Messer wie eine Frucht zerteilt und dann schief wieder zusammengesetzt. Es schien, als würde etwas in seinem Körper nicht mehr zusammenpassen. Aber die Wunden der meisten Unsterblichen heilten schnell, ohne Narben zu hinterlassen. Also hätte er keine Spuren von einem Kampf behalten sollen, auch wenn er aufgeschlitzt gewesen wäre.

Hatte er ähnliche Narben auch am ganzen Körper? Anyas Knie schienen vor Lust nachzugeben, als sie sich das überlegte. Sie hatte ihn seit Wochen beobachtet, aber in dieser Zeit keinen einzigen Blick auf seinen nackten Körper werfen können. Immer hatte er es geschafft, sich zu duschen oder umzuziehen, wenn sie gerade nicht da war.

Hatte er vielleicht ihre Anwesenheit gespürt und sich vor ihr versteckt?

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich wie meine Leute für einen Köder halten“, stellte er knapp fest.

„Und woher willst du es besser wissen?“

Er hob eine Augenbraue. „Bist du ein Lockvogel?“

Das musstest du jetzt fragen, oder? Wenn sie ihm versicherte, sie wäre kein Köder, dann würde sie zugeben, dass sie wusste, was das war. Sie glaubte ihn gut genug zu kennen, dass in seinen Augen dieses Eingeständnis bedeuten würde, dass sie ein Lockvogel war. Dann würde er sich genötigt fühlen, sie zu töten. Wenn sie aber behauptete, dass sie kein Lockvogel sei, dann würde er sie ebenfalls töten müssen.

Es war eine verfahrene Situation.

„Fändest du es gut, wenn ich ein Köder wäre?“, fragte sie in einem verführerischen Ton. „Denn ich kann alles für dich sein, was du willst, mein Herz.“

„Stopp“, knurrte er. Für einen winzigen Moment hatte er seinen Gesichtsausdruck nicht mehr unter Kontrolle, und hinter seiner Coolness wurde Leidenschaft sichtbar. Sie verbrannte sich fast daran.

„Ich mag dieses Spielchen nicht, das du mit mir spielst.“

„Es ist kein Spiel, Honey, das verspreche ich dir.“

„Was willst du von mir? Und wage es ja nicht, mich anzulügen.“

Es war eine gefährliche Frage. Sie wollte, dass er sich auf sie konzentrierte, und dass ihr seine ganze Männlichkeit gehörte. Sie wollte Stunden damit verbringen, ihn auszuziehen und seinen Körper zu erforschen. Sie wollte, dass er sie auszog und ihren Leib entdeckte. Sie wollte, dass er sie anlächelte. Sie wollte seine Zunge schmecken.

In diesem Moment schien nur Letzteres realistisch. Und nur dann, wenn sie sich nicht ganz fair verhielt. Gott sei Dank war Betrug ihr so vertraut wie ihr Name.

„Ich würde einen Kuss nehmen.“ Sie betrachtete seine rosafarbenen weichen Lippen. „Um genau zu sein, ich bestehe auf einen Kuss.“

„Ich habe draußen keine Jäger gefunden“, berichtete Reyes, der plötzlich neben Lucien auftauchte.

„Das muss nichts heißen“, entgegnete Sabin.

„Sie ist kein Jäger, und sie arbeitet auch nicht mit ihnen zusammen.“ Luciens ließ sie keinen Moment aus den Augen, während er seine Freunde zur Seite winkte. „Ich will eine Minute mit ihr allein sein.“

Seine Gewissheit erstaunte sie. Und er wollte mit ihr allein sein? Endlich! Nur dass seine Freunde dort stehen blieben, wo sie waren, die Idioten.

„Wir sind Fremde“, erklärte Lucien und nahm ihr Gespräch wieder auf, als sei es nicht unterbrochen worden.

„Ach? Leute, die sich zuerst fremd waren, lernen einander ständig kennen.“ Sie lehnte sich zurück und drängte ihre Mitte gegen seinen Schaft. Ah! Eine Erektion. Er war immer noch scharf auf sie. „Ein kleiner Kuss kann doch nicht so schlimm sein, oder?“

Seine Hände glitten hinab zu ihren Hüften und packten sie. „Wirst du mich hinterher verlassen?“

Sie hätte auf seine Frage beleidigt reagieren können, aber sie war zu beschäftigt damit, seine Berührungen zu genießen, auch wenn es nur eine simple Umarmung war. Ihr Herz fing an zu rasen. In ihrem Magen machte sich eine seltsame, lüsterne Wärme breit.

„Ja.“ Mehr als einen Kuss hätte sie von ihm sowieso nicht haben können, auch wenn sie gewollt hätte. Und sie nahm das, was sie bekommen konnte: Nötigung, Gewalt, Betrug. Sie war es leid, sich nach seinem Kuss zu sehnen. Sie wollte ihn erleben. Sie musste ihn erleben. Endlich. Sicherlich schmeckte er nicht halb so gut, wie sie es sich vorgestellt hatte.

„Das verstehe ich nicht“, murmelte er und schloss halb die Augen. Seine dunklen Wimpern warfen Schatten auf seine verunstalteten Wangen und ließen ihn gefährlicher denn je aussehen.

„Das ist in Ordnung, ich verstehe es auch nicht.“

Er beugte sich zu ihr herab. Sein heißer, duftender Atem verbrannte ihr die Haut. „Was ist mit einem einzigen Kuss erreicht?“

Alles. Während die Erwartung in ihr hochstieg, fuhr sie mit der Zungenspitze den Rand ihrer Lippen entlang. „Bist du immer so redselig?“

„Nein.“

„Nun küss sie, Lucien, bevor ich es tue. Ob sie nun ein Köder ist oder nicht“, rief Paris lachend herüber. Auch wenn es ein freundliches Lachen war, der scharfe Unterton war nicht zu überhören.

Lucien schaffte es weiterhin, sich zurückzuhalten. Sie konnte spüren, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug. War es ihm unangenehm, dass man ihnen zuhörte? Das war egal. Sie hatte alles riskiert für diesen Moment, und sie wollte Lucien jetzt nicht gehen lassen.

„Das ist sinnlos.“

„Na und? Sinnlos kann auch Spaß machen. Komm schon, zier dich nicht länger. Tu was.“ Anya zog seinen Kopf zu sich herunter und presste ihre Lippen auf seine. Sofort öffnete er den Mund, und ihre Zungen trafen sich in einem tiefen Kuss.

Sie drängte ihren Körper noch enger an seinen. Sie wollte alles von ihm, wollte ihn ganz. Glühende Lava schien durch ihren Körper zu schießen. Sie rieb sich an seinem harten Schaft, sie konnte sich nicht länger zurückhalten. Er packte ihr Haar und übernahm die Kontrolle. Im Handumdrehen war sie in einem Mahlstrom der Leidenschaft gefangen und verspürte einen Durst, den nur Lucien stillen konnte. Sie war im siebten Himmel gelandet, ohne einen Schritt getan zu haben.

Jemand feuerte sie an. Ein anderer pfiff.

Einen Moment lang fühlte sie sich, als berührten ihre Füße den Boden nicht mehr, als fehle ihr jeder Halt. Im nächsten Augenblick spürte sie, wie sie gegen eine kalte Mauer gepresst wurde. Irgendwie waren die Beifallsrufe verstummt, und sie spürte eine empfindliche Kälte auf ihrer Haut.

Sind wir draußen?, fragte sie sich. Doch im nächsten Moment war es ihr bereits egal, und ihrer Kehle entfuhr ein erregter Seufzer, während sie die Beine um Luciens Hüfte schlang. Mit einer Hand umfasste er energisch ihren Po, sodass es fast weh tat – Gott, wie sie das liebte –, und die andere griff in ihre Haare. Mit den Fingern fuhr er in ihre Mähne und zog ihren Kopf ein wenig zur Seite, um mit der Zunge tiefer in ihren Mund eindringen zu können.

„Du bist … du bist…“, flüsterte er heiser vor Leidenschaft.

„Verzweifelt. Nicht reden. Nur küssen.“

Er hatte sich nicht länger unter Kontrolle. Seine Zunge glitt noch tiefer in ihren Mund, bis ihre Zähne gegeneinander schlugen. Ihre Leidenschaft und Erregung waren wie eine lodernde Feuersbrunst, ein tobendes Inferno. Sie stand in Flammen. Sie war außer sich. Ihr Körper schmerzte. Seine Hände berührten sie überall. Er war schon ein Teil ihres Leibes. Sie wollte, dass es nie aufhörte.

„Mehr“, sagte er heiser, während er seine Hände auf ihre Brüste legte.

„Ja.“ Ihre Brustwarzen wurden noch härter. Sie wollte, dass er sie noch fester packte. „Mehr. Mehr. Mehr.“

„Das tut so gut.“

„…“

„Fass mich an“, beschwor er sie.

„Das tue ich.“

„Nein. Fass mich an.“

Es dämmerte ihr, dass er sie tatsächlich wollte. Und damit wurde auch ihr Begehren stärker. Er wollte ihre Hände auf seiner Haut spüren, er wollte mehr als nur einen Kuss.

„Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.“ Mit einer Hand griff sie nach dem Saum seines T-Shirts und hob es hoch. Mit der anderen streichelte sie die Haut über den Muskelsträngen seines Bauches. Sie spürte die Narben und erschauerte, denn die zerklüftete Haut war wunderbar heiß.

Mit jeder ihrer Bewegungen presste er seinen Bauch stärker gegen sie und biss sie in die Unterlippe. „Ja, genau so.“

Fast wäre sie gekommen. Seine Reaktion war Wasser auf ihre Mühlen, Öl in das Feuer ihrer Leidenschaft. Sie stöhnte auf.

Ihre Finger zogen die Rundung seiner Brustwarzen nach, bevor sie die Spitzen betastete. Jedes Mal, wenn sie sie streifte, spürte sie ihre empfindliche Stelle pochen, als würde sie sich selbst berühren. „Ich mag es, wie du dich anfühlst.“

Lucien fuhr mit der Zunge ihren Hals hinab. Sie öffnete die Augen und musste fast nach Luft ringen, als sie bemerkte, dass sie tatsächlich draußen waren. Sie lehnten in einer dunklen Ecke gegen die Mauer des Clubs. Er musste sie blitzartig dorthin gezaubert haben, der böse Junge.

Er war der einzige der Lords, der sich mithilfe eines Gedankens von einem Ort zum anderen befördern konnte. Das war eine Fähigkeit, über die auch Anya verfügte. Sie wünschte sich nur, er hätte sie in ein Schlafzimmer gezaubert.

Nein, ein Schlafzimmer war keine gute Idee. Das gehörte sich nicht. Schlimm, so etwas zu denken. Andere Frauen konnten sich an dem elektrisierenden Gefühl von Haut auf Haut und auch daran erfreuen, mit einem anderen Körper gemeinsam die Erlösung zu suchen, aber das war ihr nicht vergönnt. Anya durfte das nicht.

„Ich will dich.“ Er biss zu.

„Tatsächlich?“, flüsterte sie.

Er hob den Kopf, und seine blaue und seine braune Iris flackerten wild, bevor er Anya wieder leidenschaftlich küsste. Bis in ihr Innerstes berührt, war sie nicht mehr Anya, sondern Luciens Frau. Luciens Sklavin. Sie konnte einfach nicht genug von ihm bekommen. Nur zu gern hätte sie ihm an Ort und Stelle erlaubt, sie zu nehmen, wenn sie gekonnt hätte. Bei den Göttern, die Wirklichkeit konnte so viel schöner sein als die Fantasie.

„Ich will dringend mehr von dir spüren. Ich will, dass du mich mit deinen Händen berührst.“ Sie ließ die Beine sinken. Sobald sie stand, griff sie nach seinem Hosenbund, denn sie wollte seine Rute befreien und seine Härte umfassen. Da hörte sie Schritte.

Auch Lucien musste die Geräusche gehört haben, denn er hielt inne und löste sich schnell von ihr.

Er atmete hektisch, so wie sie. Ihr wurden die Knie weich, als sie sich in die Augen sahen. Die Zeit schien still zu stehen, und es knisterte zwischen ihnen wie in der aufgeladenen Atmosphäre vor einem Gewitter. Sie hätte nie gedacht, dass ein einziger Kuss solche Gefühle bei ihr auslösen konnte.

„Zieh dich wieder richtig an“, befahl er.

„Aber … aber …“ Sie wollte noch nicht aufhören, und es war ihr egal, ob man sie beobachtete oder nicht. Wenn er ihr nur einen Moment Zeit gab, konnte sie sie an einen anderen Ort zaubern.

„Nein. Mach schon.“

Enttäuscht sah sie ein, dass es nicht dazu kommen würde. Sein unnahbarer Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er eine Entscheidung getroffen hatte.

Sie zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden und sah an sich herunter. Ihr Top war ihr unter die Brüste gerutscht. Da sie keinen BH trug, sah man ihre rosafarbenen Brustwarzen hervorstehen wie zwei kleine Blüten. Ihr Rock war auf die Taille hochgeschoben und gab den Blick auf das Vorderteil ihres Stringtangas frei, der ziemlich verrutscht war.

Anya strich den Rock herunter und zog ihr Oberteil hoch. Zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren spürte sie, dass sie rot wurde. Warum jetzt? Macht es einen Unterschied? Ihre Hände zitterten. Die Schwäche war ihr peinlich. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber der einzige Befehl, dem ihr Körper gehorchen würde, war, sich wieder in Luciens Arme sinken zu lassen.

Die Lords bogen um die Ecke. Sie alle sahen düster und wütend drein.

„Es ist mir immer ein ganz besonderes Vergnügen, wenn du einfach so verschwindest“, erklärte einer, dessen Name Gideon lautete. Sein Ton verriet allerdings, was er tatsächlich davon hielt. Er war besessen vom Dämon der Lüge, das wusste Anya, also war er nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen.

„Halt den Mund“, fuhr ihn Reyes an. Der arme, gequälte Reyes, der Hüter des Schmerzes. Er schlitzte sich. Einmal hatte Anya sogar gesehen, wie er sich von den Zinnen der Kriegerburg stürzte, um sich Schmerzen zuzufügen und sich sämtliche Knochen zu brechen. „Vielleicht wirkt sie unschuldig, Lucien, aber du hast vergessen, sie nach Waffen zu durchsuchen, bevor du ihr die Zunge in den Hals gesteckt hast.“

„Ich bin so gut wie nackt“, stellte sie verärgert klar, obwohl ihr niemand Beachtung schenkte. „Wo sollte ich denn eine Waffe versteckt haben?“ Okay, sie hatte einige Messer versteckt. Na und? Ein Mädchen musste sich ja irgendwie schützen.

„Ich habe alles unter Kontrolle“, stellte Lucien trocken fest. „Ich glaube, mit einer einzigen Frau, bewaffnet oder nicht, komme ich schon klar.“

Seine ruhige Art hatte Anya schon immer fasziniert. Nur jetzt war sie davon genervt. Wo war seine unterschwellige Leidenschaft geblieben? Es war nicht fair, dass er bereits wieder Herr seiner Sinne war, während sie noch nach Luft rang. Ihre Beine hatten noch nicht mal aufgehört zu zittern. Und was noch schlimmer war: Ihr Herz schlug immer noch wie wild.

„Also wer ist sie?“, wollte Reyes wissen.

„Vielleicht ist sie kein Lockvogel, aber irgendwas stimmt nicht mit ihr“, fügte Paris hinzu. „Du hast sie an einen anderen Ort portiert, aber sie hat keinen Ton von sich gegeben.“

Das war der Moment, in dem sich alle Blicke Anya zuwandten. In all den Jahrhunderten, die sie durchlebt hatte, hatte sie sich noch nie so nackt und verletzlich gefühlt wie jetzt. Lucien zu küssen, war das Risiko wert gewesen, erwischt zu werden. Aber das hieß ja nicht, dass sie sich jetzt ausfragen lassen musste. „Ich bin euch keinerlei Rechenschaft schuldig.“

„Dazu habe ich dich auch nicht aufgefordert, und Reyes hat mir erzählt, dass du nicht behaupten kannst, du hättest hier Freunde“, stellte Paris fest. „Warum hast du versucht, Lucien zu verführen?“

Weil niemand freiwillig mit dem vernarbten Krieger losziehen würde, suggerierte sein Ton. Das irritierte sie, auch wenn sie wusste, dass dieser Unterton nicht verletzend oder grob gemeint war. Möglicherweise drückte er einfach aus, was alle als gegeben annahmen.

„Ist das hier ein Kreuzverhör?“ Sie starrte alle der Reihe nach an. Bis auf Lucien, dessen Blick sie mied. Würde er nun immer noch keine Regung zeigen, wäre sie geliefert. „Ich habe ihn gesehen, er gefiel mir, also habe ich mich an ihn herangemacht. Da ist nichts dabei. Mehr gibt es nicht zu sagen.“

Sämtliche Lords verschränkte die Arme über der Brust, als wolle jeder „Ja, klar“ sagen. Die Krieger standen in einem Halbkreis um sie herum, bemerkte Anya, obwohl sie nicht gesehen hatte, dass sie sich überhaupt bewegt hatten. Es fiel ihr schwer, nicht die Augen zu verdrehen.

„Du willst ihn doch gar nicht wirklich“, sagte Reyes. „Das wissen wir alle. Also erzähl uns, wohinter du wirklich her bist, bevor wir dich dazu zwingen, es uns zu sagen.“

Sie zwingen? Oh, bitte! Auch Anya verschränkte die Arme. Noch vor wenigen Minuten hatten sie Beifall geklatscht und Lucien aufgefordert, sie zu küssen. Oder etwa nicht? Vielleicht hatte sie sich selbst angefeuert. Aber jetzt wollten sie, dass sie ihnen schrittweise ihre Gedanken erläuterte? Jetzt taten alle so, als sei Lucien noch nicht mal in der Lage, eine blinde Frau zu verführen? „Ich wollte seinen Schwanz haben. Begreifst du das, Arschloch?“

Die Lords schwiegen geschockt.

Lucien trat vor und stellte sich zwischen die Männer und sie. Wollte er sie … beschützen? Wie reizend. Unnötig, aber reizend. Sie beruhigte sich ein wenig und hätte ihn am liebsten umarmt.

„Lass sie in Ruhe“, sagte Lucien. „Sie ist egal. Sie ist nicht wichtig.“

Ebenso schnell verpuffte Anyas kurzer Glücksmoment. Sie und nicht wichtig? Er hatte nur gerade ihre Brüste gestreichelt und seinen Schaft zwischen ihren Beinen gerieben. Wie konnte er es jetzt wagen, so etwas zu sagen?

Vor ihre Augen legte sich ein roter Nebel. So muss sich meine Mutter immer gefühlt haben. Fast alle Männer, die Dysnomia in ihr Bett geholt hatte, hatten die Frau beschimpft, sobald ihr Verlangen befriedigt worden war. Alles klar, hatten sie gesagt. Sie ist zu nichts anderem zu gebrauchen.

Anya kannte ihre Mutter gut. Sie wusste, dass Dysnomia sowohl Sklavin ihrer willenlosen Natur war als auch immer nach Liebe suchte. Ihre Geliebten waren Götter mit Beziehungen und Götter ohne. Das war ihr gleichgültig. Wenn sie sie begehrt hatten, hatte sie sich ihnen hingegeben. Vielleicht war sie für die Dauer, die sie in den Armen ihres Liebhabers gelegen hatte, akzeptiert und geschätzt worden und ihre dunkleren Begierden wurden gestillt.

Was den anschließenden Verrat nur noch schmerzhafter machte, dachte Anya und beobachtete Lucien. Von all den Dingen, die sie gern von ihm gehört hätte, war unwichtig so ziemlich das allerletzte. „Sie gehört mir“ vielleicht. Oder: „Ich brauche sie“. Sehr gern auch: „Fass meine Frau nicht an .

Sie wollte nicht das gleiche Leben wie ihre Mutter führen, auch wenn sie sie sehr liebte. Und vor langer Zeit hatte sich Anya geschworen, es nie zuzulassen, dass jemand sie benutzte. Aber seht mich jetzt an. Ich habe Lucien um einen Kuss angefleht, und er fand das unwichtig, mehr nicht.

Knurrend versetzte sie ihm einen Stoß, wobei sie all ihre Kraft, Wut und Enttäuschung zusammennahm, und die war nicht zu gering. Er schoss mit der Wucht einer Pistolenkugel nach vorn und knallte gegen Paris. Beide Männer gaben einen undefinierbaren Laut von sich und krachten zu Boden.

Als Lucien sich wieder aufrichtete, drehte er sich blitzschnell zu ihr um. „Das war das letzte Mal.“

„Oh nein, das wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein.“ Sie schritt mit erhobener Faust auf ihn zu. Gleich würde sie dafür sorgen, dass er sich an seinen perfekten weißen Zähnen verschluckte.

„Anya.“ Es klang wie ein Flehen. „Stopp!“

Sie hielt inne, ihr gefror jeder einzelne Tropfen Blut in den Adern. „Du weißt, wer ich bin.“ Es war eine Aussage, keine Frage. „Wie?“ Sie hatten vor einigen Wochen miteinander gesprochen, aber an diesem Abend hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Dafür hatte sie gesorgt.

„Du bist mir gefolgt. Ich erkenne deinen Duft.“

„Erdbeeren und Sahne“, hatte er vorhin in beleidigendem Ton gesagt. Ihre Augen wurden groß. Ein Schreck, aber auch Freude durchfuhr sie. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie ihm gefolgt war.

„Warum hast du mich so ins Verhör genommen, wenn du doch gewusst hast, wer ich bin? Und warum hast du nicht verlangt, dass ich mich dir zeige?“ Die Fragen schossen aus ihr heraus wie Speerspitzen.

„Erstens“, erklärte er, „habe ich dich nicht erkannt, bis die Diskussion über die Jäger aufkam. Zweitens wollte ich dich nicht verscheuchen, bis ich nicht wusste, was du von mir wolltest.“ Er schwieg und wartete, was sie antworten würde. Als sie schwieg, fügte er hinzu: „Also was willst du?“

„Ich … du …“ Verdammt! Was sollte sie ihm erzählen? „Du schuldest mir einen Gefallen! Ich habe deinem Freund das Leben gerettet und ihn von seinem Fluch befreit.“ Na also. Das klang rational und ehrlich und würde hoffentlich das Gespräch von ihren wahren Beweggründen ablenken.

„Aha.“ Er nickte und nahm die Schultern zurück. „Das erklärt alles. Du willst dir deine Belohnung abholen.“

„Eigentlich nicht.“ Auch wenn es ihren Stolz nicht angekratzt hätte, wenn er der Überzeugung gewesen wäre, dass sie ihre Küsse freimütig verteilte. Doch das wollte Anya nicht. „Noch nicht.“

Er runzelte die Stirn. „Aber du hast doch gerade gesagt…“

„Ich weiß, was ich gesagt habe.“

„Warum bist du dann gekommen? Warum folgst du mir auf Schritt und Tritt?“

Ärgerlich presste sie die Zunge gegen den Gaumen. Doch sie hatte keine Zeit zu antworten, denn Reyes, Paris und Gideon kamen näher. Ihr Blick war finster. Wollten sie sie festhalten?

Anstatt Lucien zu antworten, drehte sie sich zu den drei Männern um und fuhr sie an: „Was? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich euch gebeten habe, an dieser Unterhaltung teilzunehmen?“

„Du bist Anya?“ Reyes musterte sie von oben bis unten und machte keinen Hehl aus seiner Abscheu.

Abscheu? Dankbar sollte er sein! Hatte sie ihn nicht von dem Fluch befreit, der ihn dazu gebracht hatte, jede Nacht seinen besten Freund zu erstechen? Aber diesen Blick von ihm kannte sie nur zu gut, und er schaffte es immer wieder, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten. Aufgrund der Vergangenheit ihrer Mutter, das heißt aufgrund ihrer amourösen Abenteuer, erwartete man von ihr, dass sie, ausgestattet mit dem gleichen Freigeist, in ihre Fußstapfen treten würde. Jeder griechische Gott auf dem Olymp ging davon aus, dass sie ihrer Mutter glich und begegnete ihr früher oder später mit Abscheu.

Zuerst hatte die selbstgefällige Geringschätzung der Götter Anya verletzt. Und einige Jahrhunderte lang hatte sie versucht, das liebe Mädchen zu spielen: Sie hatte sich wie eine durchgeknallte Nonne angezogen, hatte nur etwas gesagt, wenn sie gefragt wurde, und immer brav den Blick gesenkt. Irgendwie hatte sie es sogar geschafft, ihr dringendes Verlangen, Unheil zu stiften, zu unterdrücken. Sie hatte alles getan, um den Respekt von Leuten zu gewinnen, die sie nie anders als eine Hure bezeichnet hatten.

Eines schicksalhaften Tages, als sie von dem blöden Göttinnen-Unterricht nach Hause kam, musste sie weinen, denn sie hatte Ares angelächelt, und die Zicke Artemis hatte sie eine ta ma de genannt. Daraufhin hatte Dysnomia sie zur Seite genommen. „Du kannst machen, was du willst und dich verhalten wie du willst, sie werden dich immer gnadenlos verurteilen“, hatte ihr die Göttin gesagt. „Aber wir müssen uns selbst immer treu bleiben. Wenn du dich so verhältst wie die anderen und nicht wie du selbst, bringt dir das nur Unglück, und du wirkst, als würdest du dich dafür schämen, wer und was du bist. Andere werden sich an deiner Scham ergötzen und dich auslachen. Du bist ein wunderbares Geschöpf, Anya. Sei stolz darauf, wer du bist. Ich bin stolz auf dich.“

Von diesem Moment an zog Anya sich so sexy an, wie sie wollte, sprach, wann immer und wie sie wollte und blickte nur dann zu Boden, wenn sie sich an ihren Riemchenstilettos nicht sattsehen konnte. Auch ihren Drang, Unordnung zu stiften, unterdrückte sie nicht länger. Es war ein Weg, allen, die sie nicht mochten, deutlich zu machen, dass sie bleiben konnten, wo der Pfeffer wuchs. Vor allem aber war es ihr wichtig, dass sie sich selbst mochte.

Nie wieder wollte sie sich schämen.

„Es ist … interessant, dich einmal persönlich zu sehen, nachdem ich mich in der letzten Zeit so intensiv mit dir beschäftigt habe. Du bist die Tochter von Dysnomia“, fuhr Reyes fort. „Du bist die nicht so bedeutende Göttin der Anarchie.“

„Nicht so bedeutend bin ich keineswegs.“ Nicht so bedeutend hieße nichts anderes als unwichtig, und sie war genauso wichtig wie die anderen „höheren“ Wesen, verdammt noch mal! Nur weil niemand wusste, wer ihr Vater war – nun, mittlerweile wusste sie selbst es zumindest – war sie als weniger bedeutend eingestuft worden. „Aber, das stimmt. Ich bin eine Göttin.“ Sie hob das Kinn und sah ihn kalt an.

„In der Nacht, als du dich uns gezeigt und Ashlyn das Leben gerettet hast, hast du uns erzählt, du seiest keine Göttin“, bemerkte Lucien. „Du hast behauptet, du seiest lediglich eine Unsterbliche.“

Sie zuckte die Schultern. Sie hasste die Götter so sehr, dass sie diesen Titel kaum benutzte. „Ich habe gelogen. Ich lüge häufig. Es ist Teil meines Charmes, findet ihr nicht auch?“

Niemand antwortete ihr. Das sagte alles.

„Früher waren wir einmal die Krieger der Götter und lebten im Himmelreich, wie du wahrscheinlich weißt“, fuhr Reyes fort, als sei sie Luft. „Ich kann mich nicht an dich erinnern.“

„Vielleicht war ich da noch nicht auf der Welt, Klugscheißer.“

Sein Blick wirkte irritiert, aber er sagte ruhig: „Wie ich dir schon gesagt habe, seitdem du vor einigen Wochen aufgetaucht bist, habe ich Nachforschungen angestellt und so viel wie möglich über dich herausgefunden. Vor langer Zeit hast du für den Mord an einem unschuldigen Mann im Gefängnis gesessen. Nachdem du ungefähr hundert Jahre im Verlies gesessen hast, waren die Götter zu einer Entscheidung gelangt, welche Strafe sie über dich verhängen wollten. Aber bevor sie das Urteil vollstrecken konnten, hast du etwas geschafft, was zuvor keinem Unsterblichen gelungen war. Du bist entkommen.“

Anya versuchte gar nicht, es zu leugnen. „Das stimmt.“ Zum größten Teil zumindest.

Der Sage nach hast du den Hüter des Tartarus mit einer Krankheit infiziert, denn kurz nachdem du entkommen warst, ist er krank geworden und hat sein Gedächtnis verloren. An jeder Ecke wurden Extrawachen postiert, um dafür zu sorgen, dass niemand hinein- oder hinauskam, denn die Götter waren überzeugt, dass die Sicherheit in einem Gefängnis von der Zuverlässigkeit seines Hüters abhing. Mit der Zeit haben tatsächlich die Mauern nachgegeben. Sie sind gerissen und eingestürzt, was am Ende dazu führte, dass die Titanen entkommen konnten.“

Er gab ihr dafür natürlich auch die Schuld. Oder etwa nicht? Anya kniff die Augen zusammen. „Das Problem an den Überlieferungen ist“, gab sie knapp zurück, „dass die Wahrheit verzerrt wird, um Dinge zu erklären, die Sterbliche sonst nicht begreifen können. Komisch, dass du, ein Held so vieler Sagen, so etwas nicht weißt.“

„Du hast dich zwischen den menschlichen Wesen versteckt.“ Reyes ignorierte ihre Worte schon wieder. „Aber du bist auch dann nicht zufrieden gewesen, obwohl du in Frieden gelebt hast. Du hast Kriege angezettelt, hast Waffen gestohlen und sogar Schiffe verschwinden lassen. Du hast gewaltige Brände entfacht und andere Katastrophen heraufbeschworen, die wiederum zu Massenpanik und Aufständen unter den Menschen führten. Hunderte von ihnen sind aufgrund deiner Taten eingekerkert worden.“

Anya spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Ja, sie hatte all diese Dinge getan. Als sie am Anfang auf die Erde gekommen war, hatte sie nicht gewusst, wie sie ihre rebellische Ader unter Kontrolle bringen sollte. Die Götter waren in der Lage gewesen, sich davor zu schützen, aber die Menschen konnten das nicht. Außerdem war sie durch die vielen Jahre im Gefängnis wild und unberechenbar geworden. Ein einfacher Satz von ihr – Du willst doch nicht etwa zulassen, dass dein Bruder in so einem Ton mit dir redet, oder? – konnte blutige Fehden zwischen Clans provozieren. Wenn sie vor Gericht zitiert wurde – manchmal lachte sie über die dort herrschenden Regeln und Vorgehensweisen –, konnte es passieren, dass die adeligen Richter es vorzogen, ihren König zu ermorden anstatt Recht zu sprechen.

Was die Feuer anging – nun, eine innere Stimme hatte ihr befohlen, aus Versehen die Fackel „fallenzulassen“ und den Flammen dabei zuzusehen, wie sie sich tanzend ausbreiteten. Bei den Diebstählen war es dasselbe gewesen. Die Stimme hatte gesagte: Greif zu. Keiner wird es merken.

Schließlich hatte sie gelernt, dass wenn sie ihrem Bedürfnis nach Chaos in den kleinen Dingen nachgab – Diebstahl, Notlügen und hin und wieder eine Schlägerei auf der Straße –, dann konnten schlimmere Katastrophen abgewendet werden.

„Ich habe, was dich angeht, auch meine Hausaufgaben gemacht,“, sagte sie leise. „Hast du nicht auch einmal ganze Städte zerstört und Unschuldige umgebracht?“

Jetzt war es Reyes, der rot wurde.

„Du bist nicht mehr derselbe Mann, der du einmal warst. Genauso wenig wie ich dieselbe bin, die ich einmal …“ Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, erhob sich plötzlich eine Brise und pfiff ihr kalt um die Ohren. Anya blinzelte und war nur einen kurzen Moment lang abgelenkt. „Verdammt!“, rief sie, denn sie wusste, was nun kommen würde.

Natürlich hielten die Krieger inne, als für sie die Zeit aufhörte zu existieren. Eine Macht, die größer war als sie, übernahm die Herrschaft über die Welt um sie herum. Auch Lucien, der ihr Gespräch mit Reyes aufmerksam verfolgt hatte, erstarrte zu Stein.

Und selbst Anya verwandelte sich.

Oh nein, nein, nein, dachte sie und mit diesen Worten befreite sie sich aus ihrem unsichtbaren Gefängnis. Nichts und niemand würde sie je wieder einsperren können. Dafür hatte ihr Vater gesorgt.

Anya ging hinüber zu Lucien, um ihn zu befreien. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Schließlich hatte er all diese schrecklichen Dinge über sie gesagt. Aber der Wind legte sich so schnell, wie er aufgekommen war. Ihr Mund war trocken, und sie spürte, wie ihr Herz unruhig schlug. Cronus, der vor wenigen Monaten den himmlischen Thron bestiegen und neue Regeln, neue Wünsche und neue Strafen mitgebracht hatte, war kurz davor, sein Ziel zu erreichen.

Er hatte sie gefunden.

Na toll! Als ein leuchtend blaues Licht vor ihr erschien und die Dunkelheit verdrängte, löste sie sich in Rauch auf, um der unglaublichen Kraft, die es verströmte, zu entkommen. Irgendwie bedauerte sie es, Lucien zurücklassen zu müssen, aber sie nahm die Erinnerung daran, wie sein Kuss schmeckte, mit auf ihre Reise.

2. KAPITEL

Ein schwarzer Nebel schien sich über Lucien zu senken, und seine Gedanken kreisten nur noch um Anya. Er hatte sich gerade mit ihr unterhalten, hatte dabei versucht zu vergessen, wie perfekt sich ihr Körper an seinen schmiegte. Sein Begehren war beinah übermächtig gewesen. Ihm war bewusst, dass er alle, die er kannte, verraten hätte, um noch eine Weile mit ihr zusammen sein zu dürfen und sie in den Armen zu halten. Die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, war viel zu kurz gewesen.

Noch nie zuvor hatte ihn ein Kuss so tief ergriffen.

Irgendetwas konnte mit ihm nicht stimmen.

Warum sonst hatte es ihn fast umgebracht zu sagen, dass Anya keine Bedeutung für ihn habe, dass sie ein Nichts sei? Aber er hatte es aussprechen müssen. Zu ihrem, aber auch zu seinem eigenen Wohl. Sein Bedürfnis, mit ihr zusammen zu sein, war gefährlich. Und ihm zu folgen, konnte tödlich enden. Außerdem setzte er seine legendäre Selbstbeherrschung aufs Spiel.

Selbstbeherrschung. Wenn er in der Lage gewesen wäre, sich zu bewegen, hätte er verächtlich geschnaubt. Es war offensichtlich, dass er keine Kontrolle hatte, was diese Frau anging.

Warum hatte sie so getan, als würde sie ihn begehren? Warum hatte sie ihn so verzweifelt geküsst? Frauen begehrten ihn einfach nicht auf diese Art und Weise. Zumindest nicht mehr. Das wusste er nur zu genau. Und dennoch hatte Anya ihn geradezu angebettelt, mehr von ihm zu bekommen.

Und nun konnte er ihr Bild nicht mehr aus seinen Gedanken vertreiben. Sie war groß, sie hatte die perfekte Größe für eine Frau mit einem perfekten Elfengesicht und einer perfekten Haut, die samtig und von der Sonne gebräunt war: zart und so erotisch schimmernd, dass ihm unwillkürlich das Wasser im Mund zusammenlief. Er stellte sich vor, jeden einzelnen Zentimeter mit seiner Zunge zu liebkosen.

Ihre Brüste hatten fast die himmelblaue Korsage gesprengt, und unter ihrem schwarzen Minirock hatten schier endlos lange Beine hervorgeschaut, die in schwarzen, hochhackigen Stiefeln steckten.

Ihr Haar war hell und fiel einem Schneesturm gleich über ihre Schultern. Sie hatte große blaue Augen, die perfekt zur Farbe ihres Tops passten, eine niedliche Nase, volle rote Lippen, zum Küssen wie geschaffen, und gerade weiße Zähne. Sie strahlte eine gewisse Verdorbenheit aus und versprach höchsten Genuss, als sei sie seine Traumfrau, die zum Leben erweckt worden war.

Eigentlich hatte er sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen können, seit sie vor Wochen in sein Leben getreten war und Ashlyn gerettet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich nicht zu erkennen gegeben, aber ihr Geruch nach Erdbeeren hatte ihn zutiefst erfüllt.

Bei der Erinnerung daran wie sie schmeckte, spürte Lucien sein Herz pochen, seine Kehle brennen und seine Haut vor Hitze kribbeln. Die gleichen Gefühle übermannten ihn, wenn er seine Freunde Maddox und Ashlyn zusammen sah, wenn sie miteinander turtelten und schmusten. Die beiden liebten sich so sehr und hielten einander fest, als hätten sie Angst, sich jemals loslassen zu müssen.

Überraschenderweise hob sich der Nebel auf einmal und gab ihn frei. Als er wieder klar denken konnte, bemerkte Lucien, dass er immer noch draußen war. Anya war fort, und seine Freunde um ihn herum schienen wie eingefroren. Er kniff die Augen zusammen, während er nach hinten zu seinem Hosenbund griff und den Schaft seines Dolches umfasste. Was ging hier vor?

„Reyes?“ Er bekam keine Antwort. Reyes zwinkerte noch nicht einmal. „Gideon? Paris?“

Nichts.

Etwas weiter im Schatten bewegte sich etwas. Langsam zog Lucien seine Waffe aus der Scheide und wartete. Er war auf alles gefasst … bis ihm ein Gedanke kam. Anya hätte seinen Dolch nehmen und ihn gegen ihn richten können, und er hätte es niemals rechtzeitig geahnt. Es wäre ihm egal gewesen, denn er war zu verzaubert von ihr gewesen. Aber sie hatte ihn nicht angegriffen, obwohl es für sie ein Leichtes gewesen wäre. Sie wollte ihm also tatsächlich nichts antun.

Warum hatte sie ihn dann angesprochen? Er war ratlos.

„Hallo Tod“, sagte eine sehr ernste männliche Stimme. Niemand war da, aber etwas oder jemand nahm Lucien die Waffe aus der Hand und warf sie auf den Boden. „Weißt du, wer ich bin?“

Lucien ließ sich nichts anmerken, doch in ihm stieg eine derartige Angst auf, dass er stocksteif wurde. Er hatte die Stimme noch nie gehört, dennoch wusste er, wem sie gehörte. Tief in seinem Innersten wusste er es. „Lord Titan“, sagte er heiser. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte es Lucien gefreut, von diesem Gott angesprochen zu werden. Aber jetzt sah die Sache anders aus.

Vor einem Monat hatte Aeron, der Hüter des Zorns, die Aufmerksamkeit des Lords erregt. Er sollte den Auftrag bekommen, vier Menschenfrauen umzubringen. Den Grund wollten die Titanen nicht preisgeben. Aeron hatte abgelehnt und war nun im Verlies der Herren der Unterwelt gefangen. Ihn herauszulassen, war viel zu gefährlich, denn er war für sich und die Welt zu einer Bedrohung geworden. Jede Minute des Tages verzehrte sich der Krieger nach Blut.

Lucien bedauerte es, seinen Freund in dieser Verfassung sehen zu müssen, denn er glich eher einem Tier als einem Lord. Noch schlimmer war für Lucien das Gefühl, so machtlos zu sein und ihm trotz seiner Stärke nicht helfen zu können. Und daran war das Wesen schuld, das jetzt vor ihm stand.

„Wem verdanken wir denn heute diese … Ehre?“, erkundigte er sich gespannt.

Lautlos und fließend wie Wasser trat Cronus aus einem orangefarbenen Mondstrahl. Sein Haar war silbergrau, ebenso sein Bart. Seinen großen, schlanken Körper hatte er in einen Umhang aus Leinen und Dalmatinerfell gehüllt, das wie Seide glänzte. Seine Augen waren dunkle abgrundtiefe Höhlen.

In seiner linken Hand hielt er die Sichel des Todes. Es war eine Waffe, die Lucien dem grausamen Gott nur zu gern entwunden und gegen ihn selbst gerichtet hätte, denn sie konnte einen Unsterblichen mit nur einem Streich enthaupten. Als das Symbol des Todes hätte die Sichel ohnehin ihm zugestanden, aber sie war verschwunden, als Cronus ins Gefängnis geworfen worden war. Lucien fragte sich, wie Cronus an sie herangekommen war – und ob er die Büchse der Pandora ebenso leicht würde finden können.

„Mir gefällt dein Ton nicht“, antwortete der König schließlich mit trügerischer Ruhe. Dieses Timbre kannte Lucien nur zu gut, denn er selbst bemühte sich immer um einen möglichst ruhigen Ton, wenn er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

„Ich entschuldige mich.“ Mistkerl. Abgesehen von der Waffe wirkte Cronus nicht mächtig genug, um sich aus Tartarus zu befreien und Zeus zu entmachten. Doch er hatte es geschafft. Mit Brutalität und Durchtriebenheit hatte er bewiesen, dass man es sich mit ihm lieber nicht verscherzte. Daran gab es keinen Zweifel.

„Du hast Anya kennengelernt, das kleine widerspenstige Biest.“ Der Gott sprach jetzt in einem flüsternden, sanften Ton, der dennoch die Nacht zerschnitt und eine Kraft besaß, die eine ganze Armee zu Fall gebracht hätte.

Luciens Furcht steigerte sich ins Unermessliche. „Ja, ich habe sie kennengelernt.“

„Du hast sie geküsst.“

Er ballte die Fäuste – aus Unbesonnenheit und aus Wut, dass das Wesen diesen, einen leidenschaftlichen Augenblick beobachtet hatte. Nur ruhig bleiben. „Ja.“

Lautlos schwebte Cronus durch die Nacht auf ihn zu. „Irgendwie hat sie es geschafft, mir seit Wochen zu entkommen. Dich hingegen sucht sie auf. Woran liegt das, glaubst du?“

„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung.“ Lucien wusste es tatsächlich nicht. Für ihn ergab es keinen Sinn, dass sie ihm solche Aufmerksamkeit schenkte. Bestimmt war die Leidenschaft in ihrem Kuss nur vorgetäuscht gewesen. Und dennoch hatte sie es geschafft, dass er sich mit Leib und Seele nach ihr verzehrte.

„Macht nichts.“ Der Gott stand nun direkt vor ihm und starrte ihm in die Augen. „Du wirst sie töten.“

„Ich soll sie töten?“

„Du klingst überrascht.“ Damit wandte der Gott sich von Lucien ab und entfernte sich, als sei die Unterredung beendet. Obwohl er ihn dabei nur ganz leicht berührte, wurde Lucien mit einer Wucht zu Boden geworfen, als habe ihn ein Wagen gestreift. Seine Muskeln verkrampften sich, seine Lunge brannte. Während er nach Atem rang, sah er sich nach Cronus um. Doch der verschwand in die Nacht und war schon kaum noch zu sehen.

„Wenn du schon darauf bestehst …!“, rief Lucien ihm nach. „Darf ich erfahren, warum du willst, dass … sie stirbt?“

Ohne sich umzuwenden, erwiderte der Gott: „Sie ist die pure Anarchie und bereitet allen, auf die sie trifft, nur Ärger. Das ist Grund genug. Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir diese Ehre zuteil werden lasse.“

Ihm danken? Lucien biss sich auf die Unterlippe, um nicht auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. In diesem Moment wollte er dem Gott mehr als je zuvor den Kopf abschlagen. Aber er blieb, wo er war, denn er wusste, wie brutal die Rache der Götter sein würde, wenn er es versuchte. Er, Reyes und Maddox waren erst vor Kurzem von einem alten Fluch freigesprochen worden, der Reyes gezwungen hatte, Maddox jede Nacht aufs Neue zu erdolchen. Und Lucien hatte die Seele des gefallenen Kriegers Nacht für Nacht in die Hölle begleiten müssen.

Autor

Gena Showalter
<p>Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.</p>
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